Raabe
Fabian und Sebastian
Raabe

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Neuntes Kapitel

Also sie erwarteten den Attrappenonkel in Schielau zum Mittagessen; und wer die Gewißheit, daß ein hoher Gast im Anzuge sei, durch alle fünf Sinne hätte in sich aufnehmen wollen, der hätte nur einen Augenblick die Nase in die stattliche Küche der Frau Amtmann stecken dürfen. Das siedete und prasselte, zischte und brätelte da, das klapperte und klirrte mit allem möglichen Geräte und warf mit allen möglichen geflügelten und beflügelnden Worten um sich, das machte mit Redensarten von jeglicher Art, lieblichen und sehr unangenehmen, jedermann Beine und trieb jedermann von der ersten Mamsell bis zur letzten Magd die schwersten Angsttopfen auf die Stirn. Und – alles eigentlich pour le roi de Prusse, wie die Franzosen sagen, das heißt ganz und gar vergeblich, denn dem Onkel Fabian war’s im Grunde gleichgültig, was er auf seinem Teller vorfand, und selbst ein Haar würde er ohne Mißvergnügen darauf attrappiert haben, ja sogar mit Interesse, wenn es von einem ihm freundlich geneigten Haupte in die Suppe geraten wäre.

Ein Haar in der Suppe der Frau Therese, der Frau Amtmann Rümpler! – Wenden wir uns von der allzu fabelhaften Idee mit dem Lächeln ab, das ihm zukommt. Seit acht Uhr morgens befindet er sich auf dem Wege zu seinem Kinde und den guten Freunden auf Schielau und könnte längst angekommen sein, wenn nicht alles ihm auf diesem fröhlichen Pfade zu einem Hindernis würde und er selber sich alle zehn Minuten zum größten. Den Wald hat er hinter sich, zwischen den Dorfschaften der Hochebene brätelt er seinerseits auf den Feldwegen zwischen den Roggen- und Weizenbreiten, längs der grünen Hecken und der bunten Wiesen; er, der es immer noch so gut hätte haben und so bequem hätte fahren können auf der Staatsstraße.

Wer überhaupt hatte je den Senior der Firme Pelzmann und Kompanie nur auf den Wegen, welche alle verständigen Leute zu fahren und zu wandeln pflegen, erblickt?

Vivat der Attrappenonkel! Krumm um kommt er auch heute und verdient sich seinen Spitz- und Kosenamen von neuem unter dem alten verblaßten getreuen Regenschirm, der ihm, solange sehr viele Leute denken können, zum Schutze gegen den Regen wie die Sonne dient und unter welchem ihn neulich auf der Cannebière zu Marseille die schlaue französische Menschheit sofort als das erkannte, was er doch eigentlich gar nicht war, nämlich den barbare prussien sans phrase und den deutschen Pendülendieb ganz ohne die mots sonores, die Herr Renan so unbeschreiblich schmerzlich an unseren großen Feldherren vermißt in seinem discours vom dritten April 1879 in der französischen Akademie.

Hurra, der Attrappenonkel! Ob ein großer General mit großmauligen Redensarten unter Umständen nicht auch in ihm steckte, wissen wir nicht; wir sehen nur, daß auch er von Heerscharen begleitet einherzieht, wenngleich nur von Kinderscharen, und auf dem Richtewege aus der Bocksdorfer Feldmark in die von Langensalm: der Mann mit den Wunderrocktaschen, der wahre Geschäftsträger der Firma Pelzmann und Kompanie.

Ja, sie kannten ihn alle – die Kinder auf dem Wege von der Stadt nach der Domäne Schielau –

»Von einem Jahrgang lumpiger Brut zum andern steckt ihm jedwedes Balg die Zunge entgegen, sowie er nur um die Ecke biegt oder über den Busch guckt« pflegte Knövenagel verdrießlich zu brummen. »Ich glaube auch, er ist nur allein deshalb als Teilhaber bei der Firma geblieben, um so den Knecht Nikolaus durch Sommer und Winter spielen zu können und sich von einer flachsköpfigen Freßbande und einer des Himmels Segen auf ihn herabflehenden Bettelmadam an die andere weitergeben zu lassen. Und auch das soll unseren Herrn Bruder nun nicht ärgern?!« ächzte Knövenagel und wurde – der Schonung seiner Gefühle wegen – auf diesen fröhlichen Wegen von seinem Prinzipal am liebsten zu Hause belassen.

Der Attrappenonkel war gottlob sehr vergnügt. Die kurze Zeit, die er bis jetzt mit dem Kinde seines Bruders, mit seinem Kinde zugebracht hatte, war voller an Behagen und Freude gewesen, als manches liebe lange Jahr, während welchem er, von dem scharfen jüngern Bruder vollständig in den Schatten gedrückt, als wunderlicher Tausendkünstler in seiner dunklen Fadengasse gehaust hatte. So hell war sein Dasein noch nie gewesen und soweit sein Reich in dieser Welt nimmer gegangen wie jetzt!

Soweit das letztere, das Reich, sich in dem alten Familienhause der Pelzmanns erstreckte, gab nun alles von Winkel zu Winkel, von Wand zu Wand, von Schrank zu Schrank bis in die dunkelsten vergessensten Ecken hinein einen andern Schein. Sie »kramten« zusammen durch das Haus und vergaßen oft alles andere und sich selbst dazu dabei. Da war aber auch kein Gegenstand, von dem der Alte dem jungen Mädchen nicht eine Geschichte hätte erzählen können, und keiner, dem nicht die Eigenschaft innegewohnt hätte, das Kind zum Weinen und zum Lachen zu bringen. Und wohl hundertmal hat Konstanze Pelzmann mit wehmütigem Entzücken gerufen: »O, davon hat mir der Papa auch erzählt, und in seiner letzten Krankheit, in seinem schlimmen Fieber ist er noch hier in seiner Stube gewesen, in welcher er als Knabe gewohnt hat, und hat alles noch gewußt, was er darin zurückgelassen hat. O Gott, und nun bin ich darin an seiner Stelle und sehe alles, wie er es sah in seinen Phantasien, und möchte immer so in der alten Zeit sitzen und gar nicht mehr hinausgehen zu anderen Leuten und in Gesellschaft! O bitte, bitte, lieber Onkel Fabian, nimm mich nur nicht jetzt schon fort daraus; laß mich mich erst so ganz und gar zurecht finden in diesem Vaterhaus und in diesem Vaterlande!«

»Zu Hause und im Vaterlande!« hat dann wohl der Attrappenonkel mit einem leisen Seufzer gemurmelt. »Sie werden sich wohl ohne Beschwerde in Geduld fassen, bis wir zu ihnen zur Visite kommen. Nun, denn krame zu, mein Mädchen; aber das sage ich dir, Achtung gebe ich genau, und fühlt dir morgen der Hofmedikus, der Baumsteiger, noch einmal mit Kopfschütteln den Puls, schaffe ich dich auf der Stelle nach Schielau.«

Vivat hoch Schielau! Da schwenkt der Attrappenonkel den Hut im Hoftor, und da laufen sie ihm alle entgegen und hängen sich sämtlich an ihn, – wenn auch nicht gerade an seine Rocktaschen!

An seinem Halse hängt das Kind; über die Brüstung der Vortreppe hängt sich die Frau Amtmann und ruft: »Jesus, wie er schwitzt! So laßt ihn doch am Leben oder bringt ihn mir wenigstens noch lebendig in den Gartensaal, dort ist’s am kühlsten!« In den Gartensaal wird er wohl noch lebendig gelangen, aber hinkend gewiß, denn einen Fuß, auf den der Herr Amtmann in seinem Vergnügen seinen Stiefel setzt, steckte man, wie Knövenagel sich ausdrücken würde, am liebsten in die Tasche. – »Guten Morgen, Herr Pelzmann!« Mamsellen und Verwalter wünschen ihm denselbigen glücklicherweise aus etwas respektvollerer Ferne. An den Scheunentoren und Stalltüren drängen sich, bereits im halben Sonntagshabit, Knechte und Mägde, um gleichfalls einen Blick auf den Weihnachtsmann am hellen Sommertag zu tun und einen freundlichen Gruß von ihm zu erhalten.

Dann, über alles, sofort natürlich ein Ruf: »Zu Tisch, zu Tische!«, und im großen Eßsaale, inmitten der tafelfähigen Haus- und Hofgenossenschaft, sitzt der Attrappenonkel obenan zwischen der Frau Amtmann in schwarzer Seide und der Nichte in Hellblau und hat den Amtmann mit gelöstem Halstuch, offener Weste und der offensten Absicht, dem Gastfreund sowohl wie sich selber einen kleinen Sonntagsrausch anzuhängen, sich gegenüber.

Ganz Indien, holländisch wie englisch, Inseln wie Festland, kommt nicht dagegen auf, wenngleich noch fortwährend von seinen Vorzügen dem Schielauer Amtshofe gegenüber die Rede ist.

Sie haben allesamt in der letzten Zeit ihre geographischen Schulerinnerungen von neuem aufgefrischt und in populären Zeitschriften und in den Winkeln vergessenen Bilderbüchern und derlei trefflichen Quellen die merkwürdigsten Studien über »Fräulein Konstanzens Insel« gemacht. Schriftlich wissen sie ganz kurios genau Bescheid, aber was ist das doch gegen das Wunder, das Fräulein so zwischen sich zu haben und es mündlich darüber ausfragen zu können, wie es in dem und jenem Falle »bei ihr zu Hause« gehalten wird und zugeht.

»Immer ganz anders als hier bei uns«, sagt der Amtmann kopfschüttelnd. »Dein Wohl, Fabian! Aber nimm nur mal an, nimm nur einzig und allein den Unterschied an zwischen unserer Canaille, dem Marder, und ihrem nichtsnutzigen Vieh, dem Tigertier, was ihnen allnächtlich, grade wie bei uns, in die Ställe steigt, und wo es denn das ganz Normale ist, daß jeden Morgen der Junge kommt und berichtet: ›Herr, er ist wieder diese Nacht auf dem Taubenschlag gewesen.‹«

»Ein guter Schweinebraten soll ihm lieber sein, sagt Alexander von Humboldt in seinen Ansichten von seiner Natur«, lacht der Attrappenonkel. »Nun, wie ist es damit, Konstanze? Wie lautet das Bulletin des Hofjungen über euere nächtlichen Raubtiervisiten auf Sumatra?«

»Unsere Schweine sind ihm lieber, als was er auf dem Taubenschlage und im Hühnerhof erwischen könnte, lieber Onkel«, meint das Fräulein, »und Herr Alexander von Humboldt hat da ganz recht. Er kommt gewiß gern genug auf Besuch, der Tiger, Mijnheer Rümpler, aber eigentlich kümmert sich keiner viel um ihn, und er ist auch lange nicht so schlimm, als wie es in den Büchern steht. Menschen frißt er nur, wenn sie in den Wäldern eingeschlafen sind oder sich hingesetzt haben, um auszuruhen, sonst fürchtet er sich sehr vor uns. O Mijnheer, die Schlangen sind viel schlimmer und auch viel unangenehmer! Vor denen muß man sich zu sehr in acht nehmen, und immer grade dann am meisten, wenn es anfängt, am Abend draußen hübsch und kühl zu werden. Das mögen sie leider gleichfalls zu gern; dann kommen sie auch hervor, und es gibt ihrer fast zu viele im Grase und auf den Blumenbeeten, und sehr viele sind sehr giftig –«

»Oh, wie wohl ist mir am Abend«, summt der Amtmann zwischen den Zähnen, und der Onkel Fabian lächelt:

»Dein Wohl, Rümpler! Vergiß aber auch den Moskito nicht, der dann gleichfalls am liebsten hervorkommt und die menschliche Gesellschaft sucht, wenn zur Ruh’ die Glocken läuten –«

»Oh, das ist schlimmer als alles, alles, als Tiger und Schlangen, Elefanten und Rhinozerosse!« ruft Mejuffrouw Konstanze Pelzmann jetzt wirklich aufgeregt, rot und schauernd in der Erinnerung, und sie drängt sich dichter an die Frau Amtmann, als müßte sie jetzt noch in dem kühlen Eßsaale auf Schielau, am deutschen Frühsommer-Sonntagsmittage Schutz vor dem Entsetzlichen suchen. Die Frau Amtmann aber wirft einen würdigen Blick über die gesamte grinsende Tafelrunde und sagt:

»Apropos, die Elefanten, Kind! Das ist ein Tier, für welches ich von Kindesbeinen an ein Faible gehabt habe und was ich mir eigentlich gar nicht als wild vorstellen kann. Nun sollen sie bei euch wirklich, ohne einen Turm und einen Indianer auf dem Rücken, wild, und zwar in Herden herumlaufen und auch in die Gärten kommen, und dabei muß ich mir doch sagen, daß mir ganz blümerant zumute wird, wenn ich mir das hier in Schielau denke, und daß du auch ihre Bekanntschaft in der Art und außerhalb dem Geschichtenbuch und der Historie von dem Schneider, der ihm mit der Nadel in den Rüssel stach, gemacht hast. Seit ich einen von ihnen unten in der Stadt in der Meßbude gesehen habe, kann ich es mir so ziemlich genau taxieren, wieviel zweihundert ruinieren, wenn sie euch mir nichts dir nichts über die Hecke in eure Plantagen und den Garten steigen. Zwischen den Rabatten gehen die sicherlich nicht.

»O doch, Tante Rümpler! Grade die! Kein ander Tier nimmt sich so gutherzig in acht, dem Menschen unnötigen Schaden anzurichten, wie der Elefant. Sie halten sich immer in den Furchen und schonen alles, was sie nicht essen mögen. Wenn sie auf ihren Zehen gehen könnten, ich glaube, sie täten’s; aber freilich, gern sieht man sie doch nicht auf Besuch kommen.«

»Das glaube ich jedem dortigen Ökonomiker aufs Wort«, brummt der Amtmann. »Nicht wahr, Mutter, so etwas fehlte uns hier in Schielau grade noch bei der enormen Pacht? Vivat da denn doch in Gottes Namen der Mäusefraß, Alte! – Na, freilich, einmal in meinem Dasein möchte ich aber doch wohl als Unbeteiligter so’n Elefanten zwischen den Rabatten trappen und sich so’n vollgefressen Rhinozeros im Zuckerrohr wälzen sehen.«

»Das Rhinozeros ist recht unangenehm und kümmert sich um nichts und wird deshalb auch gern in Gruben gefangen«, benachrichtigt Konstanze Pelzmann eifrig-treuherzig die Tischgesellschaft. »Mijnheer de Major van Brouwers hat mir eins mit allen Jägern gezeigt, wie es sich in der Falle auf einen spitzen Pfahl gespießt hat, und es ist selbst im Bild schauderhaft anzusehen, und der Onkel Fabian will es in Schokolade nachbilden.«

Der kunstreiche Onkel nickt träumerisch behaglich in das tropische Tischgespräch hinein; zwischen all dem bunten unheimlichen Getier, von welchem die Rede ist, wandelt seine bewegliche Künstlerseele unter der bunten Flora des Geburtslandes seiner Nichte; und die Fadengasse und der Modellsaal der Firma Pelzmann und Kompanie gehören ohne alle Zweifel auch zu dem Behagen der Stunde und haben nicht das mindeste Unerquickliche an sich, wenn er sich erinnert, daß weit über fünfzig Jahre hinaus sein Leben in ihrer Halbdämmerung sich abgesponnen hat. Der Saft ist wahrlich wieder in dem alten Stamm und Strunk emporgestiegen, grün und lustig schlägt es aus den Wurzeln aus, und der jüngste Busch im Lande hat da nichts mehr voraus vor dem Onkel Fabian Pelzmann!

Aber auf Schielau folgt der gesegneten Mahlzeit das ebenso gesegnete Stündlein stillen Nachdenkens in einer Sofaecke oder gar dem Lehnstuhl, halb hinter der Fenstergardine und halb in dem von draußen aus dem Garten hereintanzenden Licht und Blätterschatten. Dann der Kaffeetisch im Garten und der Inspektionsgang mit der langen Pfeife, dem Amtmann, der Frau Amtmann, der Nichte und sämtlichen Hunden des Hauses durch die Feldmark, bis die Schatten länger werden über dem Segen des Jahres und wenn auch nicht die Schlangen aus Indien, so doch die deutschen Werkeltagsbegriffe lebendig werden.

»Ja, wenn nur nicht morgen wieder ein Tage wäre, und zwar ein Montag! – In einer Stunde – spätestens – wirst du leider anspannen lassen müssen, Rümpler!«

»Meinetwegen, alter Schokoladenpapst. Deine Sehnsucht nach Knövenageln und dem Herrn Bruder ist mir ja längst bekannt. Aber das Kind läßt du uns wenigstens noch acht Tage länger hier in Schielau.«

»Das ist auch meine Ansicht«, meint die Frau Amtmann, und der Attrappenonkel wäre wieder einmal wehrlos gegen die Welt, wenn ihm das indische Fräulein nicht sofort zu Hilfe käme, sich an ihn hinge und leise bäte:

»Ich bin so gern hier und komme so gern immer wieder, wenn Sie mich haben wollen; aber bitte, bitte, heute muß ich doch mit dem Onkel nach Hause!«

Nach Hause! Das ist nur ein Wort aus einem feststehenden Programm, aber für die junge Fremde im Lande eines, das ihr über alle anderen geht. Zu Fuße kommt der Attrappenonkel am Morgen von der Stadt herauf, aber heim fährt er und zwar bis an den Rand der Hochebene, bis an das Bocksdorfer Holz, von welchem aus sich der Weg zur Stadt absenkt. Seit Jahren ist dies so gewesen und wird hoffentlich noch lange so sein.

Mit der Dämmerung hält die Schielauer Kalesche an der Haustürtreppe; dem Onkel Fabian ist ein wenig voll zumute, und gegen das Öffnen einer letzten Weinflasche hat er sogar mit ziemlicher Nachdrücklichkeit Protest einlegen müssen; aber wohl zumute ist es ihm auch. Wiederum hat sich das ganze Haus um die abfahrenden Stadtgäste versammelt; der Amtmann, immer noch mit dem Korkenzieher in der Faust, lehnt sich schwer über den Kutschenschlag, sucht noch eine letzte Schielauer Schnurre zum Abschluß zu bringen, hat aber leider die Pointe vergessen und »das beste Ende« bis aufs nächste Mal aufzusparen.

Bis aufs nächste Mal! Da jedermann weiß, daß der Abschied nicht für ewig ist, so gibt man sich zuletzt doch drein mit einem simpeln:

»Na, denn kommt gut heim.«

»Guten Abend« und »glückliche Fahrt« wünscht ringsum das Hofvolk; in das Froschgequak des Abends klingt von einem Feldwege her das Singen einiger vom nächsten Dorfe heimkehrender Mägde. Die Gäule ziehen an, der Wagen rasselt aus dem Hoftor, und der Onkel und die Nichte befinden sich auf dem Wege – nach Hause.

Es kann nichts auf der Welt programmgemäßer für Herrn Fabian Pelzmann verlaufen wie diese Fahrt von Schielau bis in das Bocksdorfer Holz.

Die Landstraße durchschneidet in einer schnurgeraden Linie das Bocksdofer Holz, langsam ansteigend. Von der letzten Höhe führen nur noch einige hundert Schritte bis an den Rand der Waldung, und der Wagen hält – »weil Sie es denn so wollen, Herr Pelzmann« – und kehrt um. Arm in Arm wandeln Onkel und Nichte auf einem Fußpfade entlang der Landstraße die kurze Strecke durch das nächtliche Dunkel fürder.

»Wie schön und kühl und still das ist«, sagt Konstanze leise. »Bei uns ist der Wald in der Nacht nur allzu laut und schrecklich. Es heult und schnattert und kreischt. Die großen feuertragenden Schmetterlinge sind wohl auch schön, aber ich habe eure blauen kleinen Funken im Grase doch lieber. Sieh – wetterleuchtet es da über uns? Und horch, ist das schon die Stadt?«

Der Onkel bestätigt es, daß das dumpfe Summen und Rauschen aus der Tiefe die Stadt bedeutet.

»Es sind kaum achtzigtausend Menschen, aber man hört sie mit ihrem Vergnügen, ihrer Hast, Sorge und Not doch weit genug in der Stille.«

»Oh!« ruft Konstanze Pelzmann. Die beiden stehen nun unter den letzten Bäumen des Gehölzes und haben die tausend Lichter der zusammengedrängten Menschenwohnungen unter sich; in ziemlich grader Richtung zieht sich der weiße Streifen der Landstraße abwärts.

Es ist nicht leicht, sich von diesem Anblick loszureißen; der Onkel Fabian sucht unwillkürlich unter den Schatten und Lichtern nach dem Dache der großen Firma Pelzmann und Kompanie; aber dem Kinde kommt seltsamerweise die Erinnerung an die liebliche Morgenstunde am Bache auf der Schielauer Feldflur, an die Sonne, die tanzenden Wasserjungfern, die Vergißmeinnicht und das Brachfeld und darüberhin die weite Heide jenseits des Baches. Sie sieht wieder den Schäfer von Schielau mit seiner Herde heranziehen, und sie sieht ihn, auf seine Schippe gelehnt, mit so wunderlichem Blicke sich gegenüber, und sie weiß selber nicht, wie es kommt, daß sie grad jetzt fragt:

»Weshalb wollte mir Mijnheer Rümpler nicht sagen, was seinem Schäfer Thomas fehlt? Weshalb ist es besser, daß du es mir sagst, lieber Onkel? Es ist ein so guter Bekannter von mir gewesen, der Baas Thomas, und ich möchte ihm gar zu gern helfen, wenn ich es könnte!«

Das junge Mädchen fühlte, wie plötzlich der Arm des alten Herrn zuckt.

»Kind, Kind«, ruft der Attrappenonkel, »was ist das? Geht es wirklich nicht anders, als daß du nun auch schon dir das arme Köpfchen über die bösen Geschichten und Schicksale der Menschen zerbrichst?! Ach, auch das ist das Schicksal. Aber wie soll ich es dir jetzt schon deutlich machen, was wir dem Manne zuleid getan haben?«

»Wir?« fragte das junge Mädchen.

»Jawohl, wir, wir, wir! Komm, Kind. Ja, wir müssen hinunter. Hier oben ist die Luft wohl leicht und klar und gut zu atmen; aber es hilft nichts, wir müssen abwärts, wieder hinein in all das Elend, die Qual und das Leid, das die Schatten und die leuchtenden Punkte, der Nebel und brütende Dunst da unten bedeuten!«

Wie zu sich selber murmelte er dann:

»Es hilft nichts, – die Wahrheit liegt am Wege, und wir können nicht ausweichen. Es ist wohl auch am besten so.«

Laut wieder rief er dann:

»So komm nach Hause, Kind! Es liegt an unserem Wege, was seit manchem bösen Jahr dem Schielauer Schäfer und dem Hause Pelzmann das Atemholen in dieser Stadt und dieser Welt gar schwer macht.«

Er faßte die Hand seiner Nichte und führte sie talwärts, und freilich wurde die Luft um sie her immer schwüler, je mehr sie sich der Stadt näherten. Aber aus Gartenhäusern und Lauben an den Berghängen fiel fröhlicher Lichtschein. Auf Terrassen unter Weingehängen saßen lustige Menschen und sangen; hübsche Mädchen beugten sich über die Mauern herab und lachten und kicherten. Aus Vergnügungsgärten erscholl Konzertmusik, und in einem derselben wurde auch ein Feuerwerk abgebrannt. Aber der schwere, weiße Staub des Weges machte die Schritte des alten Herrn und des jungen Mädchens doch müde, und die Obstbäume drückten mit ihrem dunkel sich über die Straße legenden Gezweig und Blätterwerk die Luft auch noch zusammen. Und dann kam gar nicht weit der eigentlichen Stadt ein Fleck, der in dem lustigen, vergnüglichen Abendleben wie tot war. Eine hohe Mauer umzog wenig seitwärts von der Straße ein hohes, weitläufiges, sehr regelmäßig gebautes Gebäude. Wie eine turmartige Schattenmasse richtete das sich auf gegen den Schimmer des Nachthimmels und im Schein der Gaslaternen – das Zuchthaus der Hauptstadt!

»Komm vorbei, Kind!« flüsterte der Onkel Fabian. »In dem Hause halten sie die Tochter des Schielauer Schäfers eingesperrt seit manchem Jahr. Deshalb geht er so in Kummer hinter seiner Herde her. Du aber frage mich jetzt nicht weiter – noch bist du zu jung, um dir von solchen schlimmen Lebensgeschichten erzählen zu lassen. Auch du wirst älter werden und sehr verständig und klug, und wirst auf die Reden der Leute um dich hören – jetzt aber, mein liebes, liebes Kind, denke nur, aus wie weiter Ferne du zu mir gekommen bist und mir einen hellen Schein in mein mürrisch, kümmerlich, verdrießlich Leben mitgebracht hast. Frage mich nicht, wie das Haus Pelzmann mit dem schrecklichen Hause da zusammenhängt. Laß uns rasch vorüber; sieh nicht hin! sieh nicht hin! Komm nach Hause – nach unserem Hause!«

»Ja, lieber Onkel Fabian!« sagte leise das Kind. Seine Hand zitterte in der des alten Herrn, und Herr Fabian Pelzmann hielt den zierlichen Arm so fest, daß er ihm fast wehe dadurch tat. So folgte Konstanze erschrocken und betäubt durch die heißen, menschenvollen Straßen der Stadt bis in die Fadengasse, und hier schloß der Attrappenonkel wieder vorsichtig alle Türen hinter ihr und sich, als ob er nur so sein schönstes Eigentum vor der argen Welt in Sicherheit bringen könne, und zwar nicht rasch und nicht verstohlen genug.


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