Raabe
Fabian und Sebastian
Raabe

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Drittes Kapitel

 

Am anderen Morgen beleuchtete eine helle, klare Wintersonne die Welt und war in der großen Fabrik alles im gewohnten lebendigsten Gange. Kein Rad und Rädchen versagte seinen Dienst in dem merkwürdigen Getriebe, und von den zwei- bis dreihundert Arbeitern und Arbeiterinnen, die das Haus Pelzmann und Kompanie beschäftigte, wußte ein jeder und eine jede, wofür sie in der Welt waren.

In der Schreibstube kritzelte die scharfe Feder des Herrn Sebastian ununterbrochen über das Papier, und ein gut halb Dutzend anderer Federn folgte ihr in fliegender Hast. Niemand sah auf.

In dem Kesselhause arbeiteten die Dampfmaschinen, überall durch immer andere Säle anderes Räderwerk in Bewegung setzend. Es glühen die Röstöfen, es rasselt die Mühle, in den Trichtern der Walzmaschinen verschwinden ununterbrochen Karrenladungen der gebräunten Bohnen, um als dickflüssige Kakaomasse von dem »Melangeuer« oder der hydraulischen Presse weiter verarbeitet und im »Klappersaal« im tollsten Lärm von auf und ab, hin und her fliegenden Platten und Tafeln in bekanntere Formen gerüttelt und geschüttelt zu werden.

In dem Klappersaal hört natürlich keiner sein eigen Wort vor dem Getöse des Maschinenwerkes, aber in den Etikettiersälen hindert nichts, daß die Mädchen bei der Arbeit singen, wenn die Herren Prinzipale nichts dagegen einzuwenden haben. Ebenso in den Packräumen, wo das Fabrikat von Männerhänden in Kisten vernagelt wird und die Rollwagen in fast ununterbrochener Folge an- und abfahren.

Wer dies alles doch im ganzen zu würdigen vermöchte, wie es im letzten Grunde im einzelnen auch gewürdigt wird; nämlich mit der ganzen Konsumfähigkeit eines Kindes! Und vor allem auf der Zuckerseite des Wunderhauses, in den Konfektensälen, in der Makronenbäckerei, in dem Zauberreiche der Pralinés und Dragées, wo die Fülle des Süßen so überwältigend wirkt, daß der Erwachsene anfängt, beim bloßen Anblick an Magensäure und Sodbrennen zu leiden und, wenn er von etwas regerer Phantasie ist, mit dem grimmigsten Magendrücken und dem furchtbarsten Leibweh behaftet, sich an den begriff »Rhabarber« wie an einen rettenden Felsen in dem klebrigen Meer von breiigem Zuckerschaum, Fruchtsäften aller Arten und Likören aller Gattungen anzuklammern.

Aber auch der Genius der Kunst schwebt über der großen süßen Firma Pelzmann und Kompanie und reicht uns mit christfestlichstem Lächeln im Notfall auch noch kurz vor dem Übelwerden seine rettende Hand. Da sitzen Künstler und Künstlerinnen an den Arbeitstischen, die vermittelst einer einfachen, mit einem Loch in der Spitze versehenen Düte alles zustande bringen, was der liebe Gott in seinen sieben Schöpfungstagen durch das Wort: Es werde! in die Erscheinung rief. Alle Formen und Farben stehen ihnen zur Verfügung. Was im Wasser schwimmt, was in der Luft fleugt, was auf der Erde wohlgerundetem Runde umherhüpft, -stolziert und -kriecht, wird durch einen Druck der hand nachgebildet. Was da sprießt, wächst und blüht: sprießt, wächst und blüht auch hier aus Zucker auf. Und was der Mensch im Traume sah und was er je auf Erden im Wachen war und ist, hier gewinnt es von neuem farbigste und noch obendrein wohlschmeckendste Gestalt. Hier haben wir den Fürsten Bismarck zum Fressen liebenswürdig und den Kaiser Napoleon zum Ablecken verlockend, und hier – hier vor allem ist das Reich, die Herrschaft und der unbegrenzte Tummelplatz der Kinderphantasie des »Attrappenonkels«, des Herrn Fabian Pelzmann, nominellen Mitinhabers der großen, sehr ernsthaften Firma Pelzmann und Kompanie; und wenn der andere, wirkliche Mitinhaber, Herr Sebastian, diese Räume durchwandelte, um auch seinerseits daselbst nach dem Rechten zu sehen, so mochte er selber noch so sehr von seinem Rechte dazu überzeugt sein, von einem anderen war dieses durchaus nicht zu verlangen.

Und nun war dem so. Gegen zehn Uhr hatte Herr Sebastian Pelzmann zum erstenmal an diesem Morgen seine Feder ausgespritzt, sie hinter das Ohr geschoben und seinen scharfen Inspektionsrundgang »durch sein Geschäft« begonnen. Wenn einer, nach der alten Haushaltsregel, es verstand, seine Augen zu seinem Nutzen überall zu haben, so war er der Mann; und eine feste Stunde für diese Gänge hatte er natürlich auch nicht. Im Gegenteil, er zog es nach eben derselbigen alten, guten, mißtrauischen Regel vor, stets dann zu kommen, wenn niemand es vermutete, und liebte es, immer gerade da zu sein, wo man in diesem Augenblicke seine Gegenwart mit Vergnügen entbehrt haben würde. Und es war merkwürdig! So leise er einherzugehen pflegte, Menschen und Maschinen schienen es instinktmäßig vorzufühlen, wenn er sich ihnen näherte. Schon ehe er einen Saal betrat, drehten sich darin die Walzen und Kessel hastiger, schnurrten die Räder an den Decken rascher und flogen die Hände fleißiger bei der Arbeit, aber verstummte auch alles Geschwätz und schwieg jedes Lied. Er hatte zwar nichts dagegen, daß in einigen Räumen gesungen wurde, denn das gab gewissen Beschäftigungen sogar eine taktmäßige Aufmunterung; jedoch daß er ein warmherziger Freund vom Gesange als solchem, das heißt außerhalb des Konzertsaales und des Opernhauses, sei, konnte gewiß niemand behaupten.

Man mußte ihn sehen, wie er sich, stets dunkelfarbig und mit möglichster Eleganz gekleidet, hinschob, unhörbar, den Oberkörper ein wenig vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken, um sofort ebenfalls der allgemeinen Überzeugung anheimzufallen, daß er die »Seele« des berühmten Geschäftes sei. Man mußte ihn beobachten, wie er vielleicht vor dem Röstofen ein Handvoll seiner gebräunten Kakaobohnen aus den unendlichen Haufen aufgriff und sie wieder zwischen den Fingern durchlaufen ließ, um zu erfahren, wie er lächeln konnte. Man mußte ihn aber auch gesehen und gehört haben, wenn er irgendwo einen Unrat gewittert, seine Nase hineingeschoben und sich gar einen einzelnen armen Sünder aus der Menge herausgelangt hatte, um es zu merken, wie grob er werden konnte, und daß dann und wann aller Zucker, der sich unter seiner Direktion zu Menschenfreude, Kinderlust und Wohlgeschmack gestaltete, es nicht vermocht hätte, ihn jetzt selber menschenfreundlich, dem Auge lieblich und, kurz und gut, dem Seelenkenner wohlschmeckend zu machen.

An diesem gegenwärtigen hellen Morgen nun erschien er verstimmter als gewöhnlich. Wie auch die schwarzen Gesellen im Kesselhause die Glut in ihren Öfen bei seinem Nahen schüren mochten, wie seine Schornsteine in völlig kompakten, wühlenden Massen ihre Rauchwolken zum blauen sonnigen Winterhimmel emporstießen, wie es in allen Sälen um ihn her sauste, klapperte und rasselte, wie die Walzen sich drehten, wie eine ganze exotische Welt mit verdoppelter Hast für seinen Betrieb anmutig Geschmack, Form und Farbe annahm: Herr Sebastian Pelzmann ging hindurch mit Bitterkeit auf der Zunge und Verdruß im Herzen, und zuletzt, wie gesagt, im Hof neben dem großen Magazingebäude in eine Tür, von der gleichfalls eine Treppe zu den Räumen seines Bruders empor führte. Was sonst alle Jahre kaum dreimal vorkam, geschah in diesem jetzigen laufenden Jahr merkwürdigerweise schon zum vierten Mal. Der jüngere Chef der Firma Pelzmann und Kompanie machte dem älteren einen Besuch; uns aber bietet sich hiermit die beste Gelegenheit, Herrn Fabian Pelzmann zum ersten Mal gleichfalls bei Tage in seiner sonderlichen Häuslichkeit aufzusuchen und ihn und sie um ein Merkliches genauer kennenzulernen.


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