Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Neuntes Kapitel

Es war die Zeit nicht fern, wo der ruhige Bürger sittsam zu Frau und Kindern nach Hause geht, der unruhige in seine Stammkneipe; aber der ganz wilde von Kneipe zu Kneipe. Die Tante Lina hat sich nicht nur gewaschen, sondern auch gekämmt, und trat erfrischt, in grauer Seide, aus der ihr angewiesenen Kemenate.

Vor einer Viertelstunde hatte ihr Käthchen des Nachbars Musterstrauß in die Tür gereicht mit den Worten:

»Wir sollten uns keine grauen Haare darum wachsen lassen. Wahrscheinlich meint er des Papas Weglaufen. Er ist doch sehr freundlich, der Herr Kommerzienrat; mein armer Papa ist meistens auch sehr gut –«

»Aber viel zu sehr ein Nebelung, um so rasch das Schmollen aufzugeben und sich herzlich und gutmütig zu fassen. Bitte, Kind, laß dem Herrn Nachbar vorerst meinen besten Dank und Gruß zurücksagen. Was wir weiter zu tun haben, werden wir uns überlegen.«

Und die Tante ging der Welt von neuem auf mit dem Strauße des Nachbars Nürrenberg in der Hand.

Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne trafen sie; im Salon wartete der Teetisch auf sie; sie aber – die Tante, stand zum zweiten Male auf dem Balkon und sah sich um nach dem Kavalier jenseits der Hanauer Landstraße, und der Kavalier konnte nicht umhin, sich zu zeigen.

Er trat heraus und nahm das Hauskäppchen ab, verbeugte sich und legte sogar die Hand auf das Herz. Die Tante verneigte sich gleichfalls und drückte die Blumen an die Nase.

Obgleich der Kommerzienrat nun höflichkeitshalber seinen Operngucker nicht benutzen durfte, erkannte er doch trotz der Entfernung die Lage der Dinge.

»Bei Allah, sie versteht meinen Selam! Sie macht sich nicht so leicht lächerlich als ihr Bruder! Es ist eine Dame, die Vernunft annimmt. Na, recht lieb ist das mir, alles in allem genommen.«

»Wenn es dir nun gefällig ist, Tantchen?!« flötete Käthchen im Gemache, und es war der Tante Lina gefällig. Sie verneigte sich nochmals gegen den zartgefühligen Nachbar und trat zurück durch die Balkontür.

»Da sitzen wir denn alleine – o es ist eine Schande, und der Braten wird auch verbrennen – die Köchin hat schon gefragt, was sich der Papa eigentlich dächte!« rief Käthchen weinerlich. »Am Ende tut er sich gar noch ein Leid an, und sie bringen ihn uns naß aus dem Main ins Haus. Jetzt, wo wir hier uns so ruhig hinsetzen wollen, fällt mir das auch noch zentnerschwer aufs Herz.«

Lächelnd erwiderte die Tante:

»Naß aus dem Main? Meinen Bruder? Meinen Bruder Alex mit einem Stein hinten in jeder Rocktasche aus dem Wasser? Na, Kind, da kennst du die Nebelungen nicht, obgleich du ihren Namen gleichfalls trägst. In das Wasser geht kein Nebelung aus Zorn – den läßt er ruhig und giftig an seiner nächsten Umgebung aus. Ja, ganz ruhig trotz allen äußerlichen Gebärden, Sprüngen und Verrenkungen. Ein Nebelung, der in seiner Wut sich umbrächte, würde dadurch nur zugestehen, daß er unrecht habe, und das tut kein Nebelung.«

»Aber Tante – Liebe Tante –«

»Es ist so, mein Mädchen, – verlaß dich darauf, ich habe zwanzig Jahre in der Fremde darüber nachgedacht. Und jetzt – nochmals – ich freue mich unendlich, hier in Frankfurt bei euch zu sein. Du gefällst mir, und der Empfang, den mir das Schicksal bereitet hat, bringt sicherlich meinen guten Humor nicht um. Und weißt du, jetzt mache ich den ersten Gebrauch von meinem Rechte als Erbtante und lade mir meinen Freund, diesen guten Nachbar Nürrenberg, zu diesem Tee ein. Ziehe doch einmal die Glocke und laß die Jungfer hereinkommen.«

»Aber Tante –?«

Nun ja, und wenn der Mr. Elard wieder nach Hause kommt, kann er ja nachkommen.«

»O Tante Lina! Denke doch –«

In diesem Augenblick erschien die Jungfer in der Pforte, ohne herbeigeläutet worden zu sein, und meldete:

»Da ist das Liesle von drüben zum zweitenmal und frägt an, ob der Herr Kommerzienrat so spät noch die Ehre haben könne, den Damen aufzuwarten. Er hat dem Liesle die Bestellung diesmal auf ein Papier geschrieben und sie liest’s ab.«

»Wenn der Mann Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden will, so gebe ich ihm nicht nur meine Stimme, sondern ich verschaffe ihm überhaupt die Majorität!« rief die Tante, auf ihrem Sessel sich gegen die Dienerin wendend. »Augenblicklich soll das Liesle bestellen, der Herr wäre uns recht herzlich willkommen, und Miß Lina Nebelung ließe ihm im besonderen sagen, er möge sich nur beeilen, der Tee werde kalt.«

Die Jungfer verschwand, und die amerikanische Tante, sich zu der deutschen Nichte wendend, sprach:

»Du, dieser Nachbar hat sich das Wort darauf gegeben, sich und das deutsche Vaterland mir sofort bei meiner Ankunft von der liebenswürdigsten Seite zu zeigen!«

Das war in der Tat, wie wir wissen, die Absicht dieses Nachbars gewesen, und wir wenden uns nunmehr noch einmal zu ihm, um die Vorgänge in seiner biedern Seele bis zu diesem Augenblicke in ihrer Entwicklung uns deutlich zu machen. Da er gottlob! eine gänzlich unfaustische und unmephistophelische Natur war, so kostet das wahrlich keine Mühe; und hätten wir ihn nicht so gern, so würde es uns sicherlich schon genügen, bei seinem Eintritt in den Salon des Hauses Nebelung gegenwärtig zu sein.

Nachdem er seinen Monstre- und Musterstrauß bis in die Haustür drüben verfolgt hatte, war ihm der Rüdesheimer bis zur Rückkehr seines Liesle nicht zuwider. Im Gegenteil, da ihn sein Gewissen lobte, erschien ihm das Weinle sogar noch süffiger. Mit vollen Zügen zog der alte muntere Kenner seine Belohnung in sich hinein.

Nun kam Liesle mit dem Gruße und Dank der Tante Lina und gab ihre Notizen dazu zum besten:

»Hu, sieht das da drüben aus! Die fremde Dame hab’ ich nicht gesehen, aber Fräulein hat mich angesehen aus Augen wie gekochte Krebse; und sie hielt sich kaum noch auf den Beinen! Ach, Herr Rat, Herr Kommerzienrat, und die Nanny sagt, ein Unglück gäb’s doch noch, und unser Herr Professor sei auch nicht ohne seine Gründe so schnell weggelaufen. Erst haben die beiden jungen Herrschaften sehr schön miteinander getan, aber dann haben sie sich auch verunzürnt, und unser Herr Professor hat auf der Treppe vom Fluch der Väter oder vom Mutterfluch gesprochen – ganz wie im Theater! Und das Fräulein ist in der Droschke ohnmächtig geworden und hat dem Kutscher zugerufen, er solle sie in den Main fahren. Von der Tante weiß Nanny noch nichts Schlimmes; aber Augen hat sie auch gemacht, und das Hauptunglück, meint Nanny, kommt erst, wenn der Herr Legationsrat nach Hause kommt.«

»Donnerwetter, jetzt wird’s mir aber zu bunt!« rief der alte Patrizier, auf den Tisch schlagend. »Scher dich ins Haus, Mädle, aber halt’ dich parat, vielleicht verschick ich dich noch mal. – Sapperment, so verderben sie mir doch das ganze Fest! Es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt, schreibt mein Landsmann Schiller, und recht hat er. Was tue ich nun, um die Dinge noch ins rechte Geleise zu bringen? Tue ich das Äußerste? Gehe ich selber ’nüber?«

Er war beim letzten Glase – und jetzt war die Flasche Rüdesheimer auch gewesen. Herr Florens stand auf, stemmte die Arme in die Seiten und sagte:

»Wenn’s mir so gelänge, wär’s ein Triumph, an dem ich ein Jahrhundert zu zehren hätte. Zum Abendessen hat er mich ja eingeladen, und zurück hat er die Invitation nicht genommen. He, he, wenn ich ihn so unterkriege mit Hilfe der Tante, sollte er mir nur noch mal kommen mit seinem – seligen Landesvater. Bei den Frankfurter Pfingstglocken, ich stelle mich der Tante persönlich vor, erobere ihr Herz im Sturme, bringe die beiden Kinder endlich fest zusammen und fresse mich so fest da drüben, daß zehn Legationsräte außer Dienst mich nicht vom Tische bringen sollen. Herrgott von Blaubeuren, so soll es sein, und jetzt wünsche ich nur, daß der verrückte Herr Nachbar nicht vor zehn Uhr heimkommt; nachher mag er verzehnfacht anrücken.«

Ohne sich noch die geringste Zeit zu besserem Besinnen zu gönnen, sprang er mit schier ebenso großer Behendigkeit ins Haus wie vorhin sein Sohn. Zappelnd vor Eilfertigkeit fuhr er in sein stattliches Gesellschaftskostüm und brachte seine Haushälterin, die Frau Drißler, fast ums Leben durch die Fieberhaftigkeit, mit der er nach allen möglichen notwendigen Toilettengegenständen schrie und suchte. Dazwischen wurde Liesle zum zweiten Male über die Gasse mit der bekannten Anfrage in das Haus Nebelung gesendet und kam mit der uns gleichfalls bekannten Antwort der Tante zurück. Frisch war die Tante aus ihrer Kammer getreten: als der Kommerzienrat Herr Florens Nürrenberg aus der seinigen hervorging, glänzete er.

Mit einer Rosenknospe im Knopfloch über dem weiß emaillierten, rot eingefaßten Malteserkreuz des großherzoglich hessischen Verdienstordens, dicht über der Inschrift: Gott, Ehre und Vaterland, dicht über dem schwarzroten Bande, durchschritt er den Garten, kehrte an der Pforte aber noch einmal um und – irrte sich.

Er glaubte in der Flasche einen Rest zurückgelassen zu haben, und als nun die letzten Tropfen in den Römer träufelte und die Flasche wieder hinsetzte, murmelte er:

»Der Elard wird sich auch wieder einmal über seinen Papa verwundern. Er läßt das immer noch nicht, obgleich er doch nun schon seit einer geraumen Reihe von Jahren das Vergnügen hat, ihn zu kennen.«

Nun schritt er gravitätisch, an der Krawatte zupfend, über den knirschenden Sand und überhüpfte dann in einem munteren Kurztritt die staubige Straße. Madame Drißler aber erschien in der in den Garten führenden weinlaubumsponnenen Hauspforte, stemmte ihrerseits beide Hände in die Hüften und sprach:

»Seit er sich vor einem Jahr als wohlkonservierter Witwer in die Zeitung setzte mit achttausend Gulden jährlichen Einkommens und einem versorgten Kinde – was unser Professor war – und wegen Schüchternheit und Mangel an Damenbekanntschaft sich aus Spaß eine Photographiesammlung anlegte und oben in seiner Stube sechs dicke Albums voll hat, sah er mir nicht so verdächtig aus. Die Alte da drüben, die sie heute den ganzen Tag erwartet haben, mag sich nur in acht nehmen; – ich sage nichts!«


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