Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Sechstes Kapitel

Unter den Redensarten, die den Wandel der Menschen über die Erde begleiten und nach dem Weltende wohl noch unter dem Throne des höchsten Richters der Jury des Jüngsten Gerichts in die Ohren klingen werden, befinden sich einige von außergewöhnlich einschmeichelndem Wohlklang. Da ist zum Exempel das schöne Wort: Sich für andere aufopfern, – welches bei Lichte besehen und gar beim fahlen Schein des Weltbrandes – nichts anderes gewöhnlich bedeutet, als anderen ihr Dasein mit aller Gewalt und der unermeßlichsten Rücksichtslosigkeit nach dem eigenen Geschmack und Neigungen einrichten zu wollen.

Diese Redensart stammt wahrscheinlich von Eva her; aber auch Adam, wie er heute noch ist, weiß recht gut mit ihr umzugehen. Die Herren sind immer so klug, nie ihren Weg quer durch das Behagen des Gegenparts zu nehmen, ohne sich innerlich oder auch mündlich vor sich selber und der Nachbarschaft durch das drollige heillose Wort zu rechfertigen. In vorliegender Geschichte wirkt die Tante Lina am wenigsten und ihr guter Bruder am meisten damit.

Sich a n das Ganze hingeben, ist ein ähnliches schönes Diktum, wird jedoch mehr von Leuten angewandt, die durch ihre Anlagen sich gedrungen fühlen, den Betrug über das Privatleben hinaus zu spielen.

Am schönsten freilich ist die Redensart: Sich f ü r das Ganze hingeben, und damit wollen wir es diesmal hier bewenden lassen. Wir machen uns keineswegs besser, als wir sind, aber auch nicht schlechter, als die anderen sind; wir geben uns auch für das Ganze hin, wenn auch diesmal nur für das ganze dieser Geschichte.

Während die Tante Lina Toilette macht, d.h. sich gründlich von dem Staub und Schweiß des Reisetages reinigt, spazieren wir vergnüglich im holden Abendschein dem Papa Nebelung, der sich sein ganzes Leben durch für andere aufgeopfert zu haben behauptet, nach durchs Affentor. Die Unterhaltungen, die er mit sich selber und später noch mit einem andern führt, sind uns sehr wichtig.

Sachsenhausen lag längst hinter dem zur Ruhe gesetzten Diplomaten, und wenn er auch, wie wir sagen, allgemach im gemächlicheren Tempo schritt, so hatte er seine Aufregung doch bei weitem noch nicht genug verlaufen. Die Rachegeister begleiteten ihn immer noch dicht an seinen Rockschößen auf der Darmstädter Chaussee, und so deutlich wie in dieser Stunde war es ihm sehr selten geworden, daß er sich sein ganzes Leben fort und fort, bei Tage und bei Nacht für die anderen geopfert und hingegeben habe. Hin und her wendete er das verruchte Wort in seinem Gemüte; – das war ganz die richtige Stimmung, in welcher der Mensch seiner bodenlosen, unglaublichen Gutmütigkeit und Herzlichkeit wegen vor Gift und Galle ersticken möchte! Das war die Laune, in der der gekränkte, erboste Mensch sich nur zu gern in ein Brett verwandelt sähe, unter der Bedingung, daß die ganze nichtsnutzige Welt kommen müßte, um sich den Hirnschädel dran einzurennen!

Alle Kränkungen, Zurücksetzungen, Beleidigungen, die ihm, Alexius Nebelung, während seines mehr denn sechzigjährigen Lebenslaufes zuteil geworden waren, traten ihm auf diesem Abendspaziergange frisch und unverblaßt vor die Seele; und, das goldbeknopfte spanische Rohr gen Himmel schwingend, schwur er unter dem Läuten der Pfingstglocken wieder einmal, sich von heute an aber wirklich zu bessern, an nichts anderes mehr zu denken als sich selbst und sein Leben für keinen anderen mehr zu verbrauchen als für sich selber.

»Nach dem Bahnhofe komm’ ich doch zu spät, selbst wenn ich jetzt noch umkehren würde«, hing er sodann epilogisch an den Schluß seiner guten Vorsätze; und die Rachegeister – wendeten sich mit verächtlicher Entrüstung von ihm; sie hatten ihr möglichstes getan und ihn doch nicht zum Sprung über seinen eigenen Schatten gebracht. Der Legationsrat von Nebelung begann eine neue Reihe von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Plötzlich griff er sich über der linken Hüfte in die Seite; er fühlte den ersten Gewissensbiß, und aus der Erbosung über den Nachbar Nürrenberg fiel er in den Ärger über sich selber.

»Ich hätte doch nach dem Bahnhof gehen sollen!« murrte er und stieß heftig mit dem Stock auf.

Man kann mancherlei auf der Darmstädter Landstraße sehen und empfinden. Da ist z.B. ein Buch auf Erden, genannt: Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben, – das handelt unter vielem anderen auch mehrmals von diesem Wege. Wir rufen es auf, indem wir den Beweis der Wahrheit des eben Gesagten antreten.

Da ist ein junger Mensch, dem die Lage von Frankfurt zustatten kam, weil es »zwischen Darmstadt und Homburg mitten inne« lag.

»Oft ging ich allein oder in Gesellschaft durch meine Vaterstadt, als wenn sie mich nichts anginge – mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel Wanderers Sturmlied, übrig ist:

Wen du nicht verlässest, Genius,
Nicht der Regen, nicht der Sturm
Haucht ihm Schauer übers Herz.
Wen du nicht verlässest, Genius,
Wird dem Regengewölk,
Wird dem Schloßensturm
Entgegen singen – –
Wandeln wird er
Wie mit Blumenfüßen
Über Deukalions Flutschlamm,
Python tötend, leicht, groß,
Pythius Apoll.«

Mit Blumenfüßen über Deukalions Flutschlamm wandelte der Legationsrat gerade nicht. Er ging jetzt mit vorgeneigtem Kopfe, krumm, mit den Augen im Staube des Weges, und hätte um ein Haar einen ihm von der Sachsenhäuser Warte her entgegenkommenden Wanderer angerannt, welches Mißgeschick wahrscheinlicherweise von den schlimmeren Folgen für ihn selber begleitet gewesen wäre. Dieser die Straße herabschreitende Spaziergänger war ein alter, frischer Herr mit weißem Backenbart, weißer Halsbinde, im Frack und begleitet von einem braunen Pudel. Er trug gleichfalls ein spanisch Rohr mit einem Goldknopf und wich dem Zusammenstoß mit einem verdrießlichen Grunzlaut aus, und zwar nach rechts hin. Da nun aber der Rat sofort nach links fuhr, so standen beide wieder voreinander, und der Alte mit dem Pudel grunzte um ein bedeutendes grimmiger und sprach dazu leise ein englisches Wort. Mit einer deutschen Entschuldigung zog der Legationsrat den Hut, und der Alte seinem Grundsatze: Give the world its due in bows, nach, hob mit wütendster Höflichkeit den seinigen gleichfalls von der breiten Stirn, schritt kurz und schnell weiter dem zornwütigen Sachsenhausen zu und schnurrte das Wort: »Bipes!« indem er wie zu seiner Selbstberuhigung und Besänftigung hinzufügte:

»Die Klötze werden es nicht lernen, nach rechts auszuweichen!«

Der Legationsrat Alexius von Nebelung vernahm im Weitergehen diese Bemerkung ganz wohl; allein er wendete sich nicht, um sich eine Erläuterung auszubitten. Nicht, daß er sein Gift schon völlig verspuckt gehabt hätte, aber augenblicklich fühlte er die Zähne etwas stumpf und hatte das Wiederzusammenlaufen der Galle abzuwarten. Den klaräugigen Alten im Frack kannte er aber auch zu gut vom Lesezimmer des Kasinos und der Table d’hote im Englischen Hofe her, um sich mit ihm auf dem nämlichen Fuße einzurichten wie mit dem guten Nachbar und braven großherzoglich darmstädtischen Kommerzienrat Florens Nürrenberg.

»Der hätte meine Schwester Lina heiraten müssen!« sagte der Legationsrat im langsamen Weiter- und Hügelan-Schleifen. »Jetzt wird sie angelangt sein und sich sehr darüber wundern, mich nicht am Main-Weser-Bahnhofe zu finden. Und mit Recht! Es war meine Schuldigkeit, dort zu sein; zumal unter den obwaltenden Verhältnissen. Wie wird sie mich nun ihrerseits empfangen, wenn ich nach Hause komme? Werde ich sie überhaupt zu Hause finden? Wenn sie ihren Charakter über das Weltmeer wiedergebracht hat – wenn Käthchen sie vielleicht – was der Himmel verhüten möge! – gleichfalls verfehlt hat – wenn das Kind, das die Tante gar nicht kennt, sie im Menschengewühl nicht herausgefunden hat, ist sie imstande, in gerader Richtung vom Bahnhof nach irgendeinem Hotel zu fahren, mir eine Visitenkarte zu schicken und mit dem nächsten Zuge wieder abzureisen. Und das alles nach zwanzigjähriger Trennung! Das alles, nachdem sich so manches verändert – nachdem wir beide – – milder, bedächtiger, gelassener – ja, milder geworden sind! Zwanzig Jahre – und ihre freundlichen Briefe aus der Fremde! – Zwanzig Jahre, seit wir uns nicht sahen; seit die ganze Welt eine andere geworden ist! Ei, so wollte ich doch –«

Er stand still und blickte auf den Weg nach Sachsenhausen zurück und – sah nach der Uhr.

»Es ist zu spät!« murmelte er mit einem Seufzer. »Jetzt ist es gleichgültig, ob ich bei eingebrochener Dämmerung oder erst bei vollständiger Nacht heimkehre. Ich werde noch bis zur Warte hinaufsteigen, mir überlegen, was ich daheim sagen werde, und dann ruhig heimgehen. Ist es denn meine Schuld, daß uns dieser schöne Abend so schändlich verdorben worden ist?«

Nun schlich er unter dem Gesange der Feldgrillen um ihn her und sah, fühlte und empfand das Seinige auf der Landstraße, die von Frankfurt nach Darmstadt führte. Von nun an blieb er dann und wann stehen, entweder mit dem Kopfe schüttelnd oder mit ihm nickend. Er geriet immer tiefer in die Vergangenheit, in jene Zeit, als er noch mit der Schwester Lina im Elternhause zu 0x0burg lebte, und für einen Mann ohne jegliche Phantasie malte er sich die Bilder bunt und farbig genug aus; da fand sich freilich nicht die Stimmung und Anlage, Wanderers Sturmlieder zu singen oder über die Welt als Wille und Vorstellung nachzugrübeln. Wie eine Claurensche Novelle wuchs das empor in seiner Seele, und es fehlte nichts von allen Zubehörigkeiten dabei. Nur die Schwester Lina paßte ganz und gar nicht hinein, und das war auch der Grund, weshalb sie vor zwanzig Jahren daraus wegging.

Da war die kleine Residenz mit dem Fürsten Alexius dem Dreizehnten, der auf Alexius dem Zwölften gefolgt war; – die kleine Residenz mit dem hochfürstlichen Ministerio, dem Hofmarschallsamte, dem Leibgarde-Jägerbataillon, dem Landeskonsistorio, dem Landeszuchthause, dem Hoftheater, dem hohen Adel und verehrungswürdigen Publiko, wie es in den achtzig oder hundert Bänden der gesammelten Werke des berühmten Autors genau verzeichnet steht.

Da war das Haus des Papas, welcher der Großpapa unseres Käthchen Nebelung in der Hanauer Straße da drunten in Frankfurt am Main war. Wilhelm Hauff hat es ganz genau kennen gelernt, und die Tante Lina las als ein ganz, ganz junges Backfischchen den Mann im Monde nebst der daran gehängten Kontroverspredikt und Vermahnung an die deutsche Nation. Sie hätte beinahe für die letztere ein Danksagungsschreiben, einen Belobungsbrief an den jungen Stuttgarter Hauslehrer geschrieben, und zwar ganz verstohlen, denn ihre sämtlichen älteren und jüngeren Bekanntinnen waren entrüstet über den schwäbischen Doktor und sein heimtückisches, frivoles, lästerliches Vorgehen gegen den herrlichen, liebenswürdigen Hofrat im Generalpostamt zu Berlin, Karl Gottlieb Samuel Heun. Sie schrieben nach dem Eßlinger Prozeß ganz offen ein Gratulationsschreiben an den Hofrat und gaben das duftende Briefchen am hellen Tage auf die Post, und ihre Mamas hatten nicht das mindeste dagegen einzuwenden.

Auch der Studiosus der Jurisprudenz Alex Nebelung las damals seinen Clauren und las ihn in den Ferien den Schwestern seiner Studiengenossen vor.

»Hm, ha!« sagte der Legationsrat Alexius von Nebelung auf der Darmstädter Chaussee.

Er dachte immer inniger daran, wie schön es doch sei, jung zu sein und sich begeistern zu können. Er dachte an den ersten Hofball, auf dem er als jugendlicher Auskultator, seiner Tanzfüße wegen, wenn auch nicht seiner sozialen Stellung nach hoffähig war, und dann – dann dachte er an das, was während dieses Balles zu Hause vorging, und wie damals das Wohlbehagen in 0x0burg durch Schuld der Schwester Karoline in eine Katastrophe auslief.

Die Schwester Lina war nicht hoffähig. Tänzerinnen gab es nur allzuviel in den höchsten gesellschaftlichen Sphären der Residenz Seiner Durchlaucht Alex des Dreizehnten. Es war wirklich nicht notwendig, ihre Überzahl durch Zufuhr aus den Reihen der Bourgeoisie zu vermehren, und wenn die guten Kinder mit noch so gutem Rechte in diesem winzigen Staatswesen zur noblesse de robe zu rechnen waren.

Während also der Bruder im fürstlichen Palais sich mit dem weiblichen Teile des hohen Adels des Landes, im Glanz der Girandolen und unter der Musik des fürstlichen Leibgarde-Jägerbataillons im Kreise drehte, hatte Schwesterchen Lina still zu Hause bei ihrem Strickstrumpf und hinter einem Bande von Börnes gesammelten Schriften (wiederum verstohlen) gesessen und – an ihren Fritz gedacht.

An ihren Fritz! Es war zu Boden schmetternd, und es war um so zerschmetternder, da niemand im Hause eine Ahnung davon hatte, daß das Kind, während andere tanzten, sich auf ihr eigen Fäustchen einen Tänzer, und zwar für den Ball des Lebens ausgesucht haben könnte! Einen Tänzer nach ihrem Geschmack! Den braven Fritz Hessenberg, den anrüchigsten aller Bewohner der Stadt!

Und Fritze hatte auch die Rechtskunde studiert oder sich doch unterm Vorgeben, sie zu studieren, von verschiedenen Universitäten relegieren lassen. Und Fritze war politisch anrüchig und die Entrüstung über ihn war um so größer in der Residenz, als er ihre Verachtung mit vollkommener Gemütlichkeit auf seinem breiten Rücken trug. Seine Lasterhaftigkeit hatte lange zum Himmel – einen üblen Geruch gesendet, – der gutmütige Fürst hatte ihn persönlich gewarnt, und es hatte alles, alles nichts geholfen.

Nachher ist es herausgekommen: der Unhold hatte sogar während der Audienz, während sein langmütigster Landesvater ihn so väterlich ermahnte, sich zu bessern – auf der bloßen Brust, nur vom Hemde verdeckt, ein schwarzrotgoldenes Band getragen. Der Legationsrat von Nebelung unter der Isenburger Warte erinnerte sich des Entsetzens der Residenz bis in die leisesten Schwingungen. Wegen demagogischer Umtriebe wurde der biedere Fritze in jener Ballnacht verhaftet; und mit der Welt, die selten etwas anderes sagt, als was schon vordem gesagt worden ist, meinte der Auskultator Alex Nebelung: »Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.«

Der in den höheren Kreisen so gut angeschriebene junge Rechtsgelehrte sollte aber auch noch über verschiedenes andere seine Meinung abgeben. Vom Schlosse heimkehrend, fand er auch die Schwester eingesperrt, den Papa in sich zusammengekniffen und die Mama auseinander gegangen. Fritzes Papiere hatte man von Amts wegen versiegelt, aber mit Linas Papieren war ganz das Gegenteil vorgenommen worden. Linas Papiere lagen auf dem Tische, offen und teilweise von einer scharf zugreifenden Hand arg geknittert: die Mama hatte die geheimsten Verstecke im Schreibtische des Töchterleins sofort aufgefunden; und für den soliden Gang ihres Hauswesens war es ein Glück, daß der deutsche Bund ihre Talente in dieser Hinsicht nicht gekannt hatte.

Großer Gott, die Schriftstücke, die das Gericht in der Wohnung des Verbrechers gefunden und eingesiegelt hatte, waren nichts, gar nichts gegen die Dokumente von seiner Hand, die Papa und Mama Nebelung im Besitze ihrer Tochter fanden. Der hatte Fritze sein Herz aufgeschlossen, – der hatte er gesagt, wie er dachte – der hatte er nichts verhehlt, gegen die war er gerade herausgegangen! O, und was für einen Stil er schrieb! einen braven Stil, einen biederen Stil; der Landesvater selbst schrieb keinen braveren. Und er schrieb, wie er war; und bei allen Mächten im Himmel und auf Erden, er war ein alter guter Junge, und Linchen hatte ihn mit dem eingeborensten Instinkt für altdeutsche Treue und Redlichkeit für sich aus der Blüte des Vaterlandes herausgefunden und herausgepflückt: was konnte sie dafür, daß er der Residenz und dem durchlauchtigen Deutschen Bunde so schlecht gefiel?

Das war nun dreißig Jahre her, aber für einen Mann ohne Phantasie, wie der Rat Nebelung, war’s um so merkwürdiger, wie scharf und klar jegliche Einzelheit jener denkwürdigen Nacht aus dem Dunkel emportauchte. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Sachen standen ganz deutlich an diesem Abend vor Pfingsten 1858 vor dem inneren Auge des Legationsrates. Nicht nur der Papa und die Mama, sondern auch ihre Porträts über dem Sofa, die Uhr in dem antiken Tempel an der Wand gegenüber, und vor allem der Tisch mit der roten wollenen Decke und den konfiszierten Papieren des Schwesterchens, – der Tisch, an dem das Schwesterchen selbst lehnte, die Hand fest auf die Platte gestützt und trotz ihrer verweinten Augen mit einem lachenden Zug um diese Augen und einem trotzigen um die Lippen.

Der Wanderer hörte die teilweise so lange verklungenen Stimmen, und vor allem anderen hörte er die Rede des bildhübschen, schlanken, naseweisen neunzehnjährigen Dinges, der Schwester Lina.

»Nun, was wollt ihr denn eigentlich! Ja, es ist so, wie es jetzt herausspioniert ist; ich habe ihn gern und er mich, und das sind seine Briefe an mich! Mit mir könnt ihr machen, was ihr wollt; aber was ihr ihm anhaben könnt, das will ich doch erst einmal sehen. Festung? Er auf die Festung? Ach, du lieber Gott, da baut euch doch erst eine! ... Und ich – Wasser und Brot? Gütiger Himmel, Papa, ganz so tief im hohen Mittelalter und im tanzenden Schädel am Rabenstein, im Konrad von Strahlenburg und dem wandelnden Geist auf der Kuksburg stecken wir doch nicht mehr. Eine schlechte Kreatur bin ich? Ach, Mama, liebe Mama, das bin ich auch; denn ich habe ihn verführt, und ich will es auch vor Gericht aussagen, ich will alles gestehen, und ich will auch Seiner Durchlaucht selber mein Geständnis ablegen. Ja, ja, es ist so, wir beide – ich und Fritz, wir haben ebenfalls die deutsche Republik gründen und Seine Durchlaucht als deutschen Kaiser an die Spitze stellen wollen, – wir haben uns unser Wort darauf gegeben, und Fritz hat einen Ring mit einer Haarlocke von mir.«

Der Legationsrat hatte sich auf dem Wege nach der Isenburger oder Sachsenhäuser Warte überlegen wollen, was er nach seiner Nachhausekunft der Tante sagen könne, aber nicht, was vor dreißig Jahren in jener schrecklichen Nacht die Tante sagte.

»Ich versuche vergeblich, es von mir zu weisen«, murmelte er jetzt. »Es ist stärker als ich, und mir ist schlecht zumute! Ich hätte doch nach dem Bahnhof gehen sollen. Es war meine Pflicht. Den Verdruß über den Nachbar Nürrenberg hätte ich mir auf eine andere Art von der Seele schütteln können, als durch dieses tolle Gerenne ins Blinde. Da ist die Warte, und es ist mir, als ob mir eine Gerichtspedellenhand die Kehle zusammendrücke. Setzen muß ich mich einen Augenblick; ich komme sonst gar nicht wieder nach Hause – wenigstens nicht lebendig.«

Er arbeitete sich schwer und mühsam dem alten Turme zu, und scharf und hell vernahm er während dieser letzten hundertfünfzig Schritte die Stimme seiner seligen Mutter:

»Ich will dir etwas sagen, Karoline. Morgen mittag, sobald dein Koffer gepackt ist, schaffe ich dich aus der Stadt; hörst du?! Ich werde dich selbst der Tante Nebelbohrer in Bernburg bringen. Du bleibst mir keinen Augenblick länger als nötig ist, im Hause. Bilde dir ja nicht ein, vielleicht den Papa allmählich durch Trotz oder Krokodilstränen herumzubringen. Dafür bin ich auch noch da; – nach Bernburg gehst du morgen mittag, und jetzt gehst du auf der Stelle zu Bett, und ich gehe mit dir, um die Tür hinter dir zu verriegeln – in diesem Leben traue ich dir nicht wieder. O Vater, Vater, ist es denn möglich, daß wir diese Nacht überleben?« –

Das war doch möglich gewesen.

Am folgenden Morgen hatte Alex Nebelung das Protokoll beim ersten Verhör seines Schul- und Universitätsgenossen Fritz Hessenberg zu führen und war seiner Aufgabe in einer Weise nachgekommen, die ihm die Achtung aller seiner Vorgesetzten erwarb. Am Nachmittage befand sich Linchen Nebelung verstockt und leider gänzlich reulos auf dem Wege in die Verbannung.

Selten von jener Nacht an hatten sich die Geschwister wiedergesehen und seit zwanzig Jahren gar nicht. Im Verlaufe dieser zwanzig Jahre waren die Eltern gestorben; Alex Nebelung war als Legationssekretär nach Frankfurt geschickt worden und Lina nach Amerika gegangen. Fritze Hessenberg hatte einige Jahre still auf der Festung eines benachbarten größeren Staates (es lohnte sich doch nicht, seinetwegen eine im Heimatlande zu bauen!) zugebracht und war dann auch in die Fremde verschwunden. Einmal kam das Gerücht, er habe geheiratet. Daß er seine erste Liebe nicht geheiratet habe, stand jedoch fest. – Alexius der Dreizehnte war auch gestorben, und heute schrieb man den 22. Mai 1858. Wie doch die Jahre und die Leben vergehen! –

Der Legationsrat hatte die Isenburger Warte erreicht, und der Atem zum Rückwege mangelte ihm in der Tat. Dazu wühlte es immer seltsamer in ihm. Was er widerwillig Rührung nannte, hätten andere wahrscheinlich Verdrießlichkeit benamset. Sentimental angehaucht war er augenblicklich, allein nur zu einem Drittel, was die anderen beiden Drittel anbetraf, so krittelte er sich, und zwar nicht allein über sich. Wie ein von Entozoen und Epizoen geplagter diplomatischer Lachs suchte er sich durch einen Schwung und Sprung Luft zu verschaffen und in seine gewöhnliche Seelenstimmung zurückzuschnellen. Mit giftiger Energie rief er sich ins Gedächtnis zurück, was der satanische Nachbar und Kommerzienrat am Nachmittag in der Jasminlaube verbrochen hatte. Nur um einen Augenblick die Tante Lina aus dem Gewissen los zu werden, malte er es sich noch mal recht grell aus, und in das Wirtschaftslokal guckend, rief er:

»Einen halben Schoppen Äpfelwein!«

Der wurde schnell gebracht, und ein Glas des edlen Trankes in die Abenddämmerung emporhebend, brachte der Legationsrat einen Trinkspruch aus und sagte laut und feierlich-grimmig:

»Es lebe Alexius der Dreizehnte!« – – als worauf sich etwas ganz Kurioses ereignete.

An einem Nebentisch im Grün unter dem alten Wachtturm horchte ein anderer Gast – ein breitschultriger, jovialer Herr mit einem dicken Eichenstock zwischen den Knien und in einem langen blauen Rock – hoch auf, erhob dann gleichfalls sein Glas Eppelwei’, erhob sich selbst, trat an den erstaunten Diplomaten heran und sagte:

»Hören Sie, Herr, wenn wir denselben Landesvater im Sinn haben, so stoße ich mit Ihnen an auf den fidelen alten Hahnen. Vivat Alexius der Dreizehnte!«

»Mein Herr?« stammelte der Legationsrat.

»Na, na,« sagte der andere gutmütig, »kommen Sie, setzen Sie sich hierher, hier zieht es am wenigsten. Wissen Sie, ich bin ein Schweizerbüger und habe längst keinen Konnex mehr mit Ihren respektiven Landesvätern. Aber auf den stoße ich doch an, und noch gar in diesem angenehmen Getränke. Sie sind wohl auch ein 0x0burger? Wissen Sie, vor dreißig Jahren war ich auch mal einer. Damals war ich ein forscher Studente, eben frisch von Göttingen her, und hatte das Jus studiert. Heute aber bin ich Lohgerber in Romanshorn am Bodensee und habe daselbst ein forsch, florierend Ledergeschäft. Mein Name ist Hessenberg; – wenn Sie mir den Ihrigen sagen wollen, so kommen wir als Landsleute einander vielleicht ganz nahe, – freuen sollt’s mich schon. Herrgott, was ist Ihnen aber denn?«

Er mochte wohl fragen: Der Legationsrat Alex Nebelung saß auf dem nächsten Schemel mit geschlossenen Augen und schnappte wie jener vorhin erwähnte brave Fisch, wenn er, statt sich in sein gewohntes Element zurückzuschnellen, sich aufs Trockene geschleudert fühlt und findet.


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