Wilhelm Raabe
Alte Nester
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Kapitel

Die Nacht war still, und ich überdachte den ersten Tag, den ich wieder auf dem Steinhofe zugebracht hatte. Die Nacht war ungemein still, und, Gott sei Dank, auch in mir ging's nicht außergewöhnlich lebhaft und lärmhaft zu. Was übrigens in dem gewohnten Laufe der Dinge und Stimmungen in der Welt durchaus nicht so hätte sein dürfen, denn ich befand mich in dem Hause meines außerordentlich glücklichen Freundes, und der Vetter Just hatte mir wiederum viel von der Vortrefflichkeit des Preises, der mir entgangen ist, gesprochen. Ich aber kann darüber nur sagen, was ich schon gesagt habe, und da es eine Nacht der Wiederholungen war, so will ich es auch an dieser Stelle noch einmal zu Papiere bringen: ich gönnte dem Vetter aus vollstem Herzen alles Gute, Liebe und Schöne, das er, weil er's verdient hatte, sich gewonnen hatte – so kurz noch vor Torschluß! Von alten Nestern handeln diese Lebenshistorien: die Zeiten, wo wir sie jung ins Grüne bauten, die waren für uns alle lange, lange vorüber; aber Just Everstein und Eva Sixtus wurden ein stilles, solides Paar, auch ein stattlich Paar und eine Krone der Gegend. Eine Herrin gehörte noch an die fürstliche Tafel, die der Bauer vom Steinhofe Punkt zwölf Uhr mittags öffentlich, d. h. bei offenen Türen hielt, und wer hätte den Platz währschafter und freundlicher auszufüllen vermocht als die jetzt so stattliche Jungfrau vom Försterhofe zu Werden – meine rehhafte, leichtfüßige, liebliche Jugendliebe?!...

Ich war aber auch dem Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode nicht umsonst unterwegs begegnet; ich hatte nicht umsonst mit ihm gefrühstückt in Finkenrode: Stadtrat zu Bodenwerder wurde ich mein Lebtage nicht und noch viel weniger Bürgermeister daselbst. Die den Ort sonst betreffenden historischen Studien hatten mir der Justizamtmann Bürger zu Göttingen und der Obergerichtsrat Immermann in Düsseldorf schon längst vor der Nase weggefischt. Um es mit ein paar kurzen Worten auszudrücken: mein Name war Dr. Langreuter, der irische Baukünstler Ewald Sixtus hatte mich nur für einige Wochen aus einem mir völlig angemessenen Lebensberuf weggeholt, und ich gehörte einfach nach Berlin und nicht nach Dorf Werden; letzteres ebensowenig wie der internationale Ingenieur Ewald Sixtus nach dem dort noch befindlichen, aber sehr zur Ruine gewordenen Herrensitz der Grafen von Everstein.

Ich lag lange in dieser Nacht im offenen Fenster auf dem Steinhofe, und die Kühle war sehr erfrischend und die Monddämmerung sehr wohltätig nach dem heißen, blendenden Heumondstage. Sie hatten ihr Heu wohl meistens glücklich unter Dach gebracht, aber der Duft davon durchzog noch immer angenehm, wenngleich etwas betäubend die Nacht; ich aber konnte zu keiner besseren und günstigeren Zeit als zur Zeit der Heuernte auf dem Steinhofe wieder zu Gaste sein. Es ist immer ein anderes, wenn die Wiesen in voller Pracht und Blüte stehen, mit seinen Illusionen und Herzensneigungen abzuschließen, und ein anderes ist's, zur Zeit des Heumachens anderer seine Lebensruhe sicher und trocken unter Dach zu bringen. Was dabei meine Gemütsstimmung nicht verschlechterte, war die im Verlauf des Tages gewonnene feste Überzeugung, daß auch zwei anderen Leuten und lieben Freunden sich der Pfad sanft abwärts führend viel leichter glätten werde, als sie augenblicklich noch beide für möglich hielten.

Ich hatte dem jetzigen Herrn von Schloß Werden mein Wort gegeben, ihm in dieser Nacht sofort zu schreiben; ich wußte, daß der Mann und wilde Irländer in der Försterei zu Werden ebenfalls wenig schlief in dieser Nacht, hatte mir auch gewissenhaft einen Briefbogen zurechtgelegt und dem Vetter Just sein Dintenfaß mir aus seiner Giebelstube geholt; aber – wozu eigentlich immer selber stets Wort halten in einer Welt, in der es einem selber so häufig nicht gehalten wird, sowohl vom Wetter wie vom Schicksal?... Ihrem Schicksal entgingen sie – Ewald und Irene – darum doch nicht; was ich aber brieflich mitteilen konnte an den Freund, war wenig und hatte in der Tat vollkommen Zeit bis morgen. Wie sich das stolze Herz der Frau noch sperrte und flatterte und mit den Flügeln schlug, das ließ sich doch nur schwer mit des Vetters schlechter Dinte und noch schlechterer Feder hinschreiben, und dazu hatte der Vetter selbst mich vom Schreiben abgehalten. Er war ganz meiner Meinung gewesen; aber bis über die Mitternacht hinaus hatte er bei mir gesessen und die Sache immer wieder von einer anderen Seite her beleuchtet und geredet wie der außerordentlichste Professor der Psychologie.

Der irländische Baumeister Ewald Sixtus hatte manche Nacht durchwacht, um Schloß Werden sich zu gewinnen; weshalb sollte er nicht die eine und die andere Nacht durchwachen, um zu dem Entschluß zu kommen, es wieder aufzugeben?

»Gute Nacht, Just. Dein Schreibzeug läßt du mir wohl bis morgen früh?«

»Ist denn noch Dinte drin? Wohl mehr tote Fliegen und dergleichen?« fragte der Vetter, lächelnd sich hinter dem Ohre kratzend. »Lieber Bruder, die Zeiten haben sich ganz besonders in dieser Hinsicht sehr geändert. Ich habe schon mehrmals einen reitenden Boten nach Bodenwerder schicken müssen, um mir den notwendigen Tropfen zu einer Namensunterschrift holen zu lassen.«

Ich stieß den Federstumpf durch den Schimmelüberzug und fand noch genügendes schwarzes Naß, um aller Welt Glück und Leid dreintauchen zu können und meine Ansicht, Meinung, Weisheit und guten Ratschläge dazu; der Vetter war gegangen, und ich hatte – die Feder neben den Briefbogen gelegt und mich in das Fenster.

Was konnte ich eigentlich dem Freunde in Werden schreiben?

Daß ich sie in der heißen Sonne am Wege sitzend fand, daß sie in der Abenddämmerung an meinem Arm durch die Felder wandelte, daß sie viel und hastig, aufgeregt und verworren sprach, und ganz und gar nicht wie ein Professor der Psychologie? Daß wir bis spät in die Nacht hinein in der Gesellschaft des Vetters Just im Baumgarten saßen, und zwar sehr still? Daß ich noch eine Viertelstunde zwischen Jule Grote und Mamsell Martin auf der Bank vor dem Hause hockte und daß ich die beiden guten Alten reden ließ, ohne sie nur ein einziges Mal zu unterbrechen? Daß alles in der Welt von den verschiedensten Seiten angesehen werden kann? Daß aber, gerade weil dem so ist, alles auf Erden viel offener und sozusagen wehrloser daliegt, als der Mensch in seiner täglichen Verwirrung sich einzubilden pflegt? Daß der Mensch viel zu häufig Furcht hat? Daß es im Grunde keine Gespenster gibt – auch in und um Schloß Werden nicht? Daß die Nacht wundervoll klar und lieblich war und daß die Nachtkühle außerordentlich beruhigend auf den Menschen wirkte und daß es trotz alle, alle dem sehr leicht sei, über mittelalterliche Geschichte, und sehr schwer, über das lebendige Leben der Gegenwart zu schreiben?

Mit der letzteren Bemerkung begann ich selbstverständlich am folgenden Morgen meinen Brief und schloß ihn mit einer ganz ähnlichen.

»Ich reite wie gewöhnlich erst diesen Abend hinüber«, sagte der Vetter Just, dem ich die Lektüre gern gestattet hatte. »Offen gestanden, Fritz, ich glaube, einen expressen Boten brauchen wir nicht damit hinzuschicken. Recht hübsch, Fritze!... Und daß euch euer Abendspaziergang, ganz ohne daß ihr es merktet, dem Flusse zuführte und daß ihr erst auf den letzten Hügeln umdrehtet, nachdem ihr längere Zeit nach den Bergen gegenüber ausgeguckt hattet, – ist auch – recht hübsch, Doktor. Wenn du meinst, daß die Sendung Zeit hat bis zum Abend, so kannst du dich darauf verlassen, daß ich deine Schilderungen dem armen Teufel drüben getreulich überliefern werde. Übrigens – wenn ein Mensch auf eine prompte Korrespondenz gar keinen Anspruch hat, so ist das unser braver Freund Ewald auf Schloß Werden. Jetzt entschuldige mich freundlichst bis Mittag. Wir haben gerade heute einen ziemlich scharfen Arbeitstag vor uns. Bekümmere du dich um nichts als die Frau Irene und laß dir soviel als möglich von ihr Gesellschaft leisten. Über mittelalterliche Geschichten läßt sich wohl besser und leichter schreiben; aber in dem lebendigen Leben der Gegenwart stecken wir eben drin und haben uns durchzufühlen. Ich drücke mich wohl schlecht aus?... Aber – nimm es mir nicht übel, ich spreche nur nach, was du geschrieben hast, und in deinem Briefe an Ewald steht wirklich wenig von dem, was wir augenblicklich an uns und in uns und in der allmächtigen Schicksalswelt um uns erfahren. Dein Brief ist sehr nett und sehr freundschaftlich und sehr ausführlich – du hast den gestrigen Tag gut geschildert, und daß er zwischen den Zeilen wird lesen können, das ist noch besser; aber das beste und einfachste wäre meiner Meinung nach – sie ginge einfach zu ihm

Das Wort kam wie etwas so Selbstverständliches heraus, so ruhig und sozusagen gemütlich, daß ich im Anfange glaubte, mich verhört zu haben:

»Was sagtest du, Vetter?«

»Ich bin bei eurer ersten Unterhaltung gestern auf dem Feldwege nicht gegenwärtig gewesen; aber das war auch gar nicht notwendig. Wenn einer weiß, wie dem anderen in seiner Verwirrung zumute ist, dann weiß er auch, welche Worte er gebraucht, um sich Luft zu machen; vorzüglich wenn er ihm ein jedes an den rotgeweinten Augen absieht. Bei einem lachenden Gesicht ist es freilich schon schwieriger, und daß ein Menschenelend wahr ist, erkennst du viel leichter, als wie ob ein Glück und Jubel dir nur als Komödie aufgeführt werde. Lache nicht über den Bauer vom Steinhofe, der ein Gelehrter werden wollte und es wirklich einmal für eine Zeit zum Schulmeister gebracht hat. An sich selber muß der Mensch in Erfahrung bringen, wie es dem anderen zumute ist, und in dieser Hinsicht glaube ich das Meinige gelernt zu haben.«

Es war nicht das erstemal, daß der Mann es sich ausbat, daß man nicht über ihn lache. Es lohnte sich also nicht der Mühe, ihm noch einmal hierauf die gehörige Antwort zu geben. Wir saßen in seiner Giebelstube am Tisch; die Wände und die schräge Decke waren dieselben geblieben. Ich war wieder ein Knabe, ein Kind; im Grasgarten unter den Kirschbäumen trieben die anderen als Kinder ihr Spiel, und ihr helles Lachen und Jauchzen drang zu uns her; und – es war geblieben, wie es schon damals war: nur der Vetter Just achtete darauf in sich selber nach der richtigen Weise, wie ihm und der Welt ums Herz war.

»Verlaß dich drauf, Fritz, sie will zu ihm, und weil sie Angst hat, daß es zu spät sei, schiebt sie die Schuld auf die Ruinen, die zwischen ihm und ihr liegen. Auf das alte brave Nest, Schloß Werden, gebe ich dabei gar nichts; aber ihr kommt es zupaß. Sie möchte es in ihrer heutigen Ratlosigkeit um alles in der Welt nicht anders haben, als wie es jetzt daliegt. Das kommt ihr gerade recht! Das ist der Nagel, an dem sie ihren Weiberstolz am bequemsten aufhängen kann, um ihn zu – schonen! Und Kinder sind sie alle beide, soweit sie in den Jahren vorangekommen sein mögen. Wie sie heute in sich hineingraben, ist ihnen keines der goldenen Schlösser, die sie (und du auch, Fritz Langreuter!) in die berühmten italienischen Nußbüsche in Werden hingen, so lieb wie der Zorn und die verhaltene Reue von heute. Du willst wissen, was sie dir gestern gesagt hat?... Hat sie dir nicht in einem Atem von ihrem Alter, ihrer Armut und ihrem Stolze gesprochen? Sie, welche die Jüngste von uns allen ist und soviel zu verschenken hat und alles so gern hergäbe, wenn nur das Schicksal sie wie ein verweintes Kind an der Hand nehmen und führen wollte. – Hat sie nicht gesagt, daß sie alles begreift und würdigt, was ihr Freund nur in dem Gedanken an sie erarbeitet und getan hat? Daß sie mit klopfendem Herzen ihm dafür dankbar ist, hat sie wohl nicht gestanden – das umschreiben die Weiber immer am liebsten oder drücken es anders aus, zum Exempel durchs Gegenteil, und das letztere hat auch sie getan. Nämlich, daß sie um keinen Preis der Welt sich durch ihn demütigen lassen könne, hat sie gesagt. – Wenn es nicht schade wäre um jeden Tag, den sie unnützerweise dadurch verlieren, so könnte man wirklich einfach darüber lachen... und sich ärgern! Sag mal, Fritz, glaubst du nicht auch, daß der Ärger die einzige wirklich konservierende Zutat in unserem irdischen Zustand ist? Ich habe darüber nachgedacht; im höchsten Schmerz, im edelsten Zorn und Kummer schmeckt man ihn durch. Er ist, wie das Salz, das Gemeine oder Allgemeine, aber doch das, was unter allen Umständen dazu gehört. Schicksal kann man nicht spielen; ohne Ärger kommt man nicht aus – in seinen Einbildungen lebt man – warten, warten muß man – heute wie morgen – auf das, was mit einem geschieht: in das Glück kann sich kein Mensch unterwegs retten, so fallen die Besten und Edelsten in die Entsagung, um nicht dem Verdruß zu verfallen, und das ist der Fall heute mit Ewald und Irene. Wenn aber einer von uns zweien hier am Tisch sagt: ›Es schmerzt mich!‹, so könnte er dreist ebensogut sagen: ›Ärgert mich nicht!‹ – Und jetzt siegele ruhig deinen Brief zu, du hast es wirklich sehr hübsch ausgedrückt, wie dir zumute war, als du nach längerer Abwesenheit zum erstenmal wieder den Steinhof besuchtest.«

»Just!« klang es vom Hofe her in unser offenes Fenster.

»Hier sitzt er, Jule! Was soll er?«

Neben dem Brunnen stand die Alte in der Sonne, blinzte unter übergehaltener Hand vor zu uns empor und brummte:

»Jawohl sitzt er da! Als ob ich das nicht wüßte! Sowie der – andere wieder im Lande ist, geht richtig das alte Elend augenblicks wieder von frischem an; – na, ich weiß schon, Herr Langreuter, und will auch nichts Despektierliches gesagt haben. Aber, Just, im Lämmerkampe weiß kein Mensch mehr, wo er mit sich hin soll, und so haben sie sich lieber allesamt unter die Bäume gelegt und warten, daß der Meister kommt und nach ihnen sieht. Und mit der Steinfuhre für den neuen Schweinekoben sind sie am Tillenbrinke vermalhört. Da liegt die ganze Prostemahlzeit, Schiff und Geschirr im Graben, wie der Junge sagt, und bis jetzt haben sie nur die Pferde ausgespannt und sitzen und besehen sich die Angelegenheit, sagt der Junge. Nach dem Herrn Doktor aus Berlin aber sucht sich Mamsell Martin schon stundenlang die Augen aus dem Kopfe; mir flackert das Feuer in der Küche unter den Händen weg und brennt mir auf den Nägeln; und so geht denn alles wie gewöhnlich ja recht hübsch kopfunter kopfüber.«

»Da hast du es, Fritz!« meinte der Vetter ein wenig kläglich lächelnd. »Der Mensch mag sich noch so sehr abarbeiten, um ein anderer zu werden, das Durcheinander um ihn her bleibt immer dasselbe, und alle Erfahrung und der beste Wille richtet wenig dabei aus. Wieviel Zeit von seinem eigenen Tage behält man übrig für die Bedrängnisse der anderen? Jetzt geh du nur hin und erhalte der treuen Seele, der Mamsell Martin, ihre guten ängstlichen Augen, mich ruft das Schicksal zuerst nach dem Tillenbrink und dann nach dem Lämmerkamp. Das ist ganz richtig, weg läuft mir niemand dort. Sie liegen allesamt ganz behaglich und warten, bis ich komme.«

»Und durch die Abendkühle reitest du nach Werden. Das ist dein Trost, und zwar ein recht behaglicher.«

»Ja!« sagte der Vetter Just leise und innig und faßte meine Hand. »Es ist so. Und wenn mir manchmal in allem Behagen etwas melancholisch zumute wird, daß ich in meinem und meiner Eva Glück doch eigentlich nur auf die beginnende Dämmerung und Kühle des Abends angewiesen worden bin, so tröste ich mich: Wir bleiben eben länger jünger als die anderen!... Und nun, alter Freund, hänge noch ein Postskript und guten Rat über das Jungbleiben an deinen Brief. Ich trage ihn dann noch einmal so gern hinüber heute am Abend. Wenn nachher wieder die Rede auf Schloß Werden kommt, weiß man dann doch etwas genauer, was man sagen kann. Daß es mir immer lieb gewesen ist, wenn ein Wort das andere gab, das weißt du ja.«

Ich sah ihm von dem Fenster der Giebelstube aus nach, wie er über den Hof stieg. Vom Tor aus winkte er mir noch einmal zu, und ich sah ihm nach auf dem Wege nach dem Tillenbrink und seufzte:

»Der hat wohl gut reden von seiner Jugend! Sind es bloß die großen Künstler mit Stift, Feder und Meißel, die die Welt festhalten, während sie allen übrigen entgleitet? Ich meine, solch ein Lebenskünstler, solch ein Mann des Lebens wie der da, hat auch einen guten Griff. Was er faßt, läßt er so leicht nicht los, und was er weitergibt, das reicht er weit in die Zeiten hinein. Welch ein Kunstwerk hat dieser Mann aus seinem Leben gemacht – treuherzig! Und ist nicht Treuherzigkeit das erste und letzte Zeichen eines wahren Kunstwerks? Was haben wir ihm alles aufgebunden, wenn wir aus unseren Nestern im Grün zu ihm kamen. Und er glaubte alles! O, welch ein weiser Mensch steckte in jenem Jungen, der da am Wege über dem alten Broeder saß und Glauben hatte und sich wie von Schloß Werden so von Bodenwerder zum besten halten ließ und gelassen auf menschliche Schicksale wartete. Aber Glück hat er auch gehabt, und – das ist und bleibt gleichfalls in alle Zeit hinein der Trost und die Entschuldigung derer, die wie die Fliegen und der gegenwärtige Doktor der Philosophie Friedrich Langreuter aus Berlin an der geschlossenen Fensterscheibe kriechen.«

Es fand sich in dem mit Fliegen, Staub und Schimmel mehr als gebührlich gefüllten Dintenfasse des Vetters Just auch der schwarze Tropfen noch, mit dem ich das angeratene Postskriptum an meinen Brief an den Freund in Werden hängen konnte. Ich tat's, faltete das Blatt und ließ es ungesiegelt; – Geheimnisse meinerseits standen nicht drin, und der gute Rat, den der Vetter gab, lag wie alles Echte und Rechte auf der Hand.

Im Gemüsegarten fand ich dann Mamsell Martin, Raupen vom Kohl suchend. Sie stellte diese Beschäftigung natürlich sofort ein, um sich einer ganz ähnlichen an mir zu widmen:

»Oh monsieur, wenn ich es nicht tagtäglich mir vorsagte, daß auch ihr Männer durch die sehr böse Welt kommen müßt und daß ihr es dann und wann à peu près drin ebenso schlimm habt als wir anderen armen Frauen, so wäre es wohl manchmal nicht auszuhalten mit euch. Sind Sie nur deshalb nach diesem Steinhof gekommen, um meinem armen Kinde das Herz noch schwerer zu machen, monsieur Frédéric?«

»O, bestes Fräulein –«

»Ich bin keines Menschen bestes Fräulein! Wir leben hier nicht auf diesem Steinhofe aux bains. Wir sind hier nicht in Baden-Baden, Homburg oder Aix-la-Chapelle! Wir wohnen hier nicht, um uns zu erholen de nos études und um hineinzuschlafen in den Tag und um Ökonomie zu treiben mit dem Cousin Just. Wir sind hier in großer Angst des Lebens, mein armes Kind mit mir, wie auf einem Steinfelsen im Meer, und um uns her ist nur, wie M. Viktor Hugo sagt in den Orientales: das Meer und stets das Meer, die Welle, stets die Welle! Und wo Länderei – nein, Land ist, da sind für uns nur Ruinen, und es kann kein Mensch und auch nicht Mademoiselle Julie verlangen, daß ich soll haben ein Interesse für die Ökonomie auf diesem Steinhof. Eh!«

Sie hatte sich noch mal gebückt und aus einem ganzen Nest ein fett, grün sich ringelnd Geziefer von einem westfälischen Kohlblatt abgenommen.

»V'là une du paquet!« rief sie mit ihrem unnachahmlichsten Nanziger Klosterakzent, nämlich wenn die jungen Schulschwestern sich vollkommen unter sich allein wußten. Mit spitzigen, dürren Fingern hielt sie das unselige Insekt, und wenn sie einen Basilisken gefangen hätte, so hätte sie mir denselbigen nicht mit stärkerem Grimm, Ekel und Widerwillen, aber auch nicht mit größerer Energie unter die Nase halten können.

»Nur der ganz gewöhnliche, sehr gemeine Kohlweißling, Pieris brassicae, Mademoiselle.«

»Ja, monsieur, nichts weiter als das!«

Das Gewürm flog zu Boden und wurde, fast ehe es daselbst anlangte, vermittelst der Schuhsohle aus der Reihe der Lebendigen weggewischt. Die sœur ignorantine trat mit böse aufgerafften Röcken über die nächsten Kohlköpfe hinweg und hinein in den Gartenweg. Wie eben die Raupe hielt sie jetzt mich, doch glücklicherweise nur am Arm.

»Da war auch die Altesse – die Durchlaucht – o diese Durchlaucht, die auch unser Cousin war und uns besuchte und sehr gut zu uns sprach und auch mit für uns sorgen wollte und – sous cape – unser armes, liebes Kind mit in sein armes, kleines, kleines Grab brachte, welches sehr leicht war und sehr wenig kostete, weil schon der gute Vetter Just, monsieur Just Everstein, das kleine Kind in seinen kleinen Sarg gelegt hatte. Was hat monsieur le prince weiter von sich hören lassen? Nichts hat er von sich hören lassen. Was hat er für uns getan? Nichts hat er für uns getan!«

»Was sollte er auch für uns tun?« fragte eine ruhig traurige Stimme hinter uns. Irene hatte sich uns unbemerkt genähert; es kam nichts weiter von dem, was Mademoiselle Martin auf der guten, gequälten Seele hatte, zum Vorschein, sie ließ auch meinen Arm frei und seufzte nur noch:

»Oh, mon dieu! Nun hab ich mir wieder einmal die Zunge angebrannt!«

Aber Irene hielt nur meine Hand fest; sie stand mit gesenktem Haupt, ohne weiter etwas zu bemerken. Sie hatte keine Heimat, aber sie wußte, wo sie zu Hause war; und (der Vetter Just hatte vollständig recht!) das einfachste war, daß sie hinging, wohin sie gehörte oder – geführt wurde. Sonderbar ist es und bleibt es, daß wir Menschen immer nur im höchsten Notfall auf unser Schicksal zurückgreifen, d. h. davon reden. Wir schämen uns unseres Schicksals, und in das große Geheimnis hinein hängen alle Wurzeln unseres Daseins.


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