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»Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft!«
Es schläft auf allen Hügeln in der Ferne der Erinnerung für den rechten Menschen: die Sonne mag ihm noch so häufig hell und scharf aufgegangen sein im Leben.
Und Porzia sagt:
»Das Licht, das wir da sehen, brennt im Saal:
Wie weit die kleine Kerze Schimmer wirft!«
Und Porzia sagt:
»Horch, Musik!«
»Es sind die Musikanten Eures Hauses«, antwortet Nerissa; und – one touch of nature makes the whole world kin: wer möchte nicht immer so nach Hause kommen bei Mondenlicht und wenn der Schein der heimatlichen Lampe durch die Bäume flimmert und des Hauses Musik dem Heimkehrenden, der den heißen Tag mit seinen Freuden, Nichtigkeiten und Widerwärtigkeiten durchwanderte, leise und wehmütig, aber süßer und herzlösender als alles, was der Tag zu bieten hatte, von fernher entgegenklingt?
Das ist nicht bloß in Belmont so gewesen, das war lange vorher so, ehe Venedig existierte, und wird hoffentlich auch wohl noch so sein, wenn es längst wieder in dem Sumpfe, aus dem es emporstieg, versunken ist.
Wie oft sind wir so heimgekommen, wir glücklichen Kinder damals?! Aus den grünen Wäldern und aus den bereiften Wäldern. Aus der Maiblumenzeit und aus dem Herbststurm. Von der Johanniswürmerjagd und vom Eislauf. Sie behaupteten dann jedesmal, daß sie sich recht sehr um uns geängstigt hätten; aber dieses gehörte ja ganz und gar zu der Musik, mit der uns die Heimat empfing, und wer möchte in späteren Jahren einen Ton der besorgten Liebe, die früher auf ihn achtete, in der Erinnerung vermissen?
Sie haben es uns nicht merken lassen, oder aber wir haben auch wohl nicht darauf geachtet, daß viel grimmigere Sorgen als unser spätes Nachhausekommen das Schloß Werden ängstigten. Der Herr Graf hat es seiner Tochter nicht mitgeteilt, welch einem schlimmen Shylock mit Messer und Waagschale seine Existenz verpfändet war. Er hat seine Lebensnot für sich behalten, wie meine Mutter ihre Ahnungen davon gleichfalls nicht laut werden ließ. Selbstverständlich haben doch viele Leute darum gewußt; wir aber nicht, denn zu den »Leuten« gehörten wir eben damals noch nicht. Es gehört erst das richtige Alter dazu, ehe man zu seinem eigenen Schaden von der Welt unter jenes Sammelwort mit einbegriffen wird.
Daß es schlecht um den Steinhof stand, wußten wir; denn Jule Grote tat ihrer Zunge keinen Zwang an in ihren Warnungen und Vorwürfen, mit denen sie ihn (den Vetter Just einbegriffen) immer noch zu retten oder, wie sie sich ausdrückte, »herauszureißen« hoffte; – aber wie schlimm es um Schloß Werden stand, das haben wir erst erfahren, als nichts mehr herauszureißen war. Die Leute hatten eben viel zuviel Respekt vor dem Herrn Grafen, um ihm mit ihren Warnungen, Redensarten, gutem Rat und Vorwürfen zu kommen.
Aber aus Kindern werden Leute. Die Zeit steht nicht still – weder in dem grünen Walde noch im entblätterten, weder über der Weizensaat noch über dem Stoppelfelde, nicht auf dem Flusse noch diesseits und jenseits desselben, weder in Bodenwerder noch auf dem Steinhofe und auf Schloß Werden.
Wir sind vier oder fünf Jahre älter geworden und, was uns Knaben anbetrifft, eben dem Gymnasium entwachsen. Ich habe mich der Philologie gewidmet und treibe die dahin einschlägigen Studien in der großen Stadt Berlin; was daraus werden wird, ist mir augenblicklich noch recht dunkel; ich habe eigentlich nicht gerade viel Lust, später einmal den gelehrten Schulmeister zu spielen und meinesgleichen wiederum heranzubilden und großzuziehen. Ewald Sixtus befindet sich auf einem süddeutschen Polytechnikum. Er hat die Absicht, Baumeister, Ingenieur oder dergleichen zu werden, und kostet vorderhand seinem »Alten« in dem »billigen Süden« ein Erkleckliches.
»Unser römischer Namensvetter würde wohl andere Saiten gegen seinen Jungen aufgezogen haben, wenn die Wechsel nie reichen wollten«, brummt der Alte in dem Försterhause. »Aber der Wildkater weiß es einem immer so plausibel zu machen, Herr Graf; – und dann ist da jedesmal, wenn die Ferien kommen, seine Schwester für ihn da, Frau Langreuter, und geht einem um den Bart; und so ein gutes Kind wie das Mädchen, Frau Langreuter, das hat die Gegend hier herum noch nicht weiter aufgezogen; die gnädige Komtesse ist natürlich ganz anders ein nettes, vornehmes Frauenzimmer. – Ei, sieh mal, Fritze, bist du auch mal wieder da? Jaja, der alte Kessel! Nicht wahr, es rudelt sich doch immer wieder ganz gut daselbsten? Na, morgen kommt auch mein Junge; da werden ja denn wohl das stille Leben und die Friedlichkeit für anderthalb Monate ihr Ende haben.«
Ich sollte nun auch wie der Papa Sixtus von den zwei jungen Damen oder den beiden Mädchen, Irene und Eva, in zwei Worten ein Charakterbild geben. Und dies wunderbare Thema läßt sich im Grunde auch wirklich so abmachen. Sie waren Fräulein, die eben zu Jungfräulein geworden waren; und sie übersahen uns weit.
»Sie können einen verrückt machen mit ihrer klassisch großartigen Süffisance«, sagte Meister Ewald und meinte hauptsächlich die Komtesse Irene. »Ho, ich glaube wahrhaftig, man muß sie erst geheiratet haben, um ganz genau zu erfahren, was eigentlich hinter ihnen steckt!«
Großartige Selbstgenügsamkeit hatte ich Even in ihrem Verkehr mit mir nicht vorzuwerfen; aber es kam ziemlich auf dasselbe hinaus, wenn ich dann und wann ihr Betragen für höchst sonderbar und sie für ein merkwürdig unberechenbares Frauenzimmer erklärte. Daß man ein »Frauenzimmer« heiraten könne, war mir in dem Kreise meiner Vorstellungen als etwas Mögliches und vielleicht auch zu Erstrebendes noch nicht deutlich und faßlich. Die geniale Äußerung Ewalds in dieser Beziehung überhörte ich zuerst ganz, dachte dann am nächsten Tage zufällig wieder daran und schrieb sie mir erst in der folgenden Nacht als eine kolossale Frechheit und als – etwas ungemein Interessantes fest ins Gedächtnis.
Gewachsen sind unsere Nußbüsche an der Gartenhecke nicht mehr; sie sind aber noch mehr ins Breite gegangen mit ihren Zweigen und überschatten einen weiteren Kreis. Unsere alten Kindernester hängen noch in diesen Zweigen; aber es sind ausgeflogene Nester. Die jungen Damen klimmen nicht mehr zu ihnen empor, und nur Freund Ewald ruft noch dann und wann hoch in einem Wipfel das Gedächtnis früherer, seliger fauler Stunden in seinem Busen wach und läßt seine langen Beine mit alter Grazie uns auf die Köpfe niederbaumeln; denn unser Lieblingsplatz sind die Bänke in diesem lieblichen Schatten doch geblieben, trotzdem daß wir so sehr erwachsen und verständig und anständig geworden sind.
Es ist aber einerlei; auf dem Grunde unserer Seele schlafen doch alle alten fröhlichen Neigungen. Wir gehen noch von dem »großen Nußbaum« aus den Unserigen durch; der einzige Unterschied ist, daß die Mädchen (auch Irene) noch ein wenig mehr Einwendungen zu machen haben und daß wir es zu Hause mitteilen, daß wir »ausgehen«, und uns die Erlaubnis nicht ohne weiteres selbst nehmen. Früher freilich ließen wir alle unsere Sorgen den lieben Angehörigen, heute nehmen wir schon ein gut Teil unserer eigenen Sorgen auf alle unsere Wege, auch auf die lustigsten, mit uns.
Und da sind wir wieder auf dem Wege, von dem wir erst im Anfange dieses Kapitels beim süßen Licht des Mondes und beim Lampenschimmer der Heimat zurückkehrten. Es ist wieder Sommer, und wieder steht Mondschein im Kalender. Wir gehen wieder auf Besuch zu dem Vetter Just nach dem Steinhofe; aber nicht nur, wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe: auch wenn man zweimal dasselbe tut, ist es gleichfalls nicht mehr dasselbige. Die Namen, die Adam den Dingen gab, bleiben wohl, und die Menschheit darf sie dreist dabei nennen; aber flüchtig sind des Menschen Auffassungen und Begriffe: was er heute so nennt wie gestern, ist heute nicht mehr das, was er gestern darunter verstand. Wir gehen tausendmal den nämlichen Weg, aber nimmer wieder denselben; –
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.
Gottlob, das Echo in unseren Bergen und Wäldern wachzurufen, haben wir noch nicht verlernt – Ewald und ich nämlich.
»Holla, der Steinhof: Heda, he, Vetter! Vetter Just Everstein!«
»Holla, holla, hier!« klingt es zurück, und der Vetter, nunmehr fünfundzwanzig Jahre alt, kommt langsam und langbeinig, unbeholfen, fett und äußerlich unsagbar vertiert, die kurze Pfeife im Munde, über seinen Hof uns entgegen, nach dem Hause zurückrufend:
»Jule, da sind sie.«
Und wieder erscheint Jule Grote auf der Haustürtreppe, um fünf Jahre hexenhafter von außen und weichmütiger von innen geworden.
»O mein Je, die jungen Herrschaften! Die Ehre und das Vergnügen werden ja jedesmal größer; denn so wie die jungen Leute, mit Erlaubnis zu sagen, heranwachsen, das glaubt gar keiner, der es nicht immer von neuem mit ansieht.«
»Und du hast uns wieder voraufgeahnt, Vetter Just?« lacht Ewald.
»Natürlich! Und sowohl von wegen der Seelenkunde als der Witterungskunde. Nach wem habt ihr euch denn wohl am meisten während des vierzehntägigen Landregens hingesehnt als nach mir? Meteorologie nennt man dieses, wenn man seine Freunde genau kennt und zu gleicher Zeit mit der Landwirtschaft zu schaffen hat.«
»Wahrlich, so ist es, Herr Vetter!« lacht auch Irene, die Hände zusammenschlagend, und Eva lacht auch, und der Vetter gibt der letzteren zuerst die Hand; denn sie macht sich immer noch von allen am wenigsten über ihn lustig, das heißt gar nicht; und er weiß das um so mehr zu schätzen, je »gelehrter« er geworden ist und weiter wird. Der Ernst und die ernsthafte Teilnahme seiner Umgebung und guten Bekannten hält selbstverständlich nicht Schritt mit seinen Fortschritten in Bildung und Wissenschaften. Im Gegenteil, sie bleibt sehr zurück dahinter, und die gute Bekanntschaft nimmt ihn immer vergnügter, was man ihr schon hätte hingehen lassen können, wenn nicht leider bereits Leute darunter gewesen wären, die auf seine »Verrücktheit« spekuliert hätten und eigene Bestrebungen darauf bauten. Die lachen nur hinter seinem Rücken, und er hat keine Ahnung von ihnen, trotzdem daß Jule Grote ihn tagtäglich auch auf das aufmerksam macht und mit der Nase darauf hinstößt.
Die Lacher nimmt er in gewohnter Weise leicht.
»Das ist mir ganz einerlei«, meint er. »Ich denke sie mir allesamt rückwärts, wie sie alle an ihrer Mutter Brust gesogen oder eine Amme gehabt haben oder mit Brei aufgefüttert sind, und wie keiner was für seine Natur kann und ich auch nicht. Wenn ich da muffig werden wollte, so hätte ich wohl manche andere bessere Gelegenheit zur Wut. Ich habe doch alles versucht. Ich habe mir eine Kanarienvögelhecke angelegt, und ich habe mich auf die Bienenzucht geworfen – oben stehen die Bücher über beides, und es ist eine ganze Reihe geworden. Ich habe es mit der wissenschaftlichen Verbesserung der hiesigen Ackerstelle in ökonomischer Hinsicht probiert und – oben stehen die Bücher auch, und da habe ich nicht den tausendsten Teil von dem, was darüber erschienen ist, aber eine schöne Reihe ist es doch. So wahr ich hier stehe, es ist mir bitterer Ernst um meiner Väter Erbe, obgleich ich noch nicht einmal wie sie verheiratet bin und Nachkommenschaft habe. Der liebe Gott weiß es, wie oft ich mich schon dem Teufel vor Angst und Verdruß hätte übergeben mögen!«
Dieses pflegte er zu sagen; augenblicklich aber brummt er im höchsten Behagen:
»Wir sind eben beim Frühstück. Kommt nur rasch herein. Jule!«
»Ich weiß ja schon, Just«, ruft die Alte, die harte treue Hand im Kreise herumreichend. »Alles, wie es sich schickt. Vorliebnehmen ist auch was, was der liebe Gott gern hat.«
Da ist nun die alte gute Bauernstube des Steinhofes zum zweitenmal. Wieder voll Augustfliegen und mit all dem übrigen Zubehör – auch den Hühnern.
»Alles immer noch so wie sonst«, grinst der Vetter. »Tretet mir nur die Küken nicht tot. Aber ein Skandal ist es eigentlich und schickt sich gar nicht, Fräulein Eva. Wenn ich mir die Mastviehzucht – ich will mal sagen, die Schweine – aus dem Salon entfernt halte, so komme ich damit an die Grenzen des Menschenmöglichen, Fräulein Irene. Das Gedicht von Goethe ›Grenzen der Menschheit‹ ist da ganz auf meinen Fall und meine Umstände gemacht.«
»Weil wir alle wissen, daß wir hier jederzeit so, wie wir erschaffen wurden, willkommen sind, deshalb sind wir alle Augenblicke bei Ihnen, Vetter«, lacht die Komtesse. »O, kümmern Sie sich Evas und meinetwegen gar nicht um die Grenzen der Menschheit. Lassen Sie dreist alles herein, was von Rechts wegen zum Steinhofe gehört.«
»Und dies ist wieder Schinken!« stottert der Vetter blöde glückselig. »Und zu empfehlen, Fräulein. Sehen Sie, ein Barbar bin ich auch gegen diese lieben Borstentiere nicht. Ein jeder muß doch nach seinem Nutzen in der Welt taxiert werden – auch das Porcus! Nicht wahr, Ewald? Nicht wahr, Fritz? Jule, mehr Milch für die Damen!«
Wir tun ihm den Gefallen und lachen über seinen Witz herzlich; nur Ewald bemerkt dazu:
»Drehe mal den Schlüssel dort im Schrank und rücke mit einem Nordhäuser auf den Schrecken heraus!«
Wir sind diesmal mehr unter uns. Die Leute sind draußen im Felde oder sonst in Adams Berufe tätig. Die alte Jule geht ab und zu.
Wenn der Vetter eben noch behauptete, bereits gefrühstückt zu haben, so könnte ihm ein magenkranker Millionär dreist zwei Drittel von seiner Million für den Appetit bieten, mit dem er in unserer liebenswürdigen Gesellschaft frisch von neuem ans Werk geht. Sein Hang in das Geistige hinein und sein Sehnen nach den weniger materiellen Interessen der Menschheit haben ihm da gottlob bis jetzt noch keinen Abbruch getan.
Wir holen ihn natürlich mehr oder weniger harmlos aus über seine gegenwärtigen Studien. Vierschrötig sitzt er heute vor mir da, mit beiden Ellenbogen auf dem Tische das mecklenburgische Wappen zur Darstellung bringend, und – verschämt wie irgendeine Jungfer im durchlauchtigsten Deutschen Bunde. Und doch ziert er sich nicht. In seinem Kauen, Schlingen und Schlucken gibt er ganz naiv und auch etwas geschmeichelt Nachricht von sich. Eva findet ihn im geheimen rührend, Irene von Everstein rührend-komisch, Herr Ewald Sixtus »einfach zum Wälzen!« und ich – ich finde, daß sie alle recht haben in ihren Meinungen von ihm; denn ich bin leider am festesten davon überzeugt, ihn längst herausgefunden zu haben, und zwar als einer von den ersten. Gütiger Himmel!
Gütiger Himmel! O du lieber Gott!... Das ist auch so ein Ausruf, durch den sich der Mensch Luft macht, ohne dabei viel an das zweite Gebot zu denken.
Ich stütze den Kopf auf die Hand, und die Rechte, die ihre Federzüge weiterführt, ist nicht mehr imstande, auf jedes Komma und jeden Punkt zu achten. Ist es möglich, daß die Sonne so hell und der Mensch so sorgenlos sein kann? Wir haben es an unserem eigenen Leibe und in unserer eigenen Seele erlebt; also möglich muß es doch wohl sein! Ich habe bis jetzt meistens im Präsens geschrieben: in den Zeitformen der Vergangenheit fahre ich von jetzt an fort zu schreiben.
Unser Behagen an dem guten Tage, an der guten Stunde war wieder einmal auf das Höchste gestiegen, als Jule Grote den Kopf in die Tür steckte und uns benachrichtigte:
»Es steht ein Mann draußen, der will die jungen Herrschaften sprechen; und hier ist ein Brief für dich, Just. Der Landbriefträger von Bodenwerder hat ihn auch eben gebracht; aber er hatte es eilig, und was darin steht, wußte er nicht.«
»Hurra!« riefen Just, Ewald und ich, die Mädchen sahen lächelnd auf und nach der Tür. Daß uns da etwas Unangenehmes oder gar noch etwas viel Schlimmeres kommen könne, fiel uns nicht in den Sinn. Die ganze Welt: die Erde, dieser treffliche Bau, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackere umwölbende Firmament, dies majestätische Dach, mit goldenem Feuer ausgelegt, – war alles in zu guter Ordnung, als daß wir uns auch nur den allergeringsten Riß durch es hätten vorstellen können.
»Man hat doch keinen Augenblick vor ihnen Ruhe!« hatte Ewald gerufen und war aufgesprungen, um den Boten von Schloß Werden hereinzuholen oder draußen auszufragen nach dem, was man von uns wünsche. Der Vetter hatte seinen Brief ruhig neben seinen Teller gelegt und nur gesagt:
»Er ist von Stakemann in Bodenwerder. Weshalb kommt der alte Junge nicht selber, wenn er mir was zu sagen hat? Na ja, es ist eben keine Jagdzeit.«
Er wischte langsam und behaglich die fettglänzenden Finger an seiner Lederhose ab, ehe er das Schreiben von neuem aufnahm und es erbrach. Als Gelehrter wußte er natürlich, daß man jedwedes Schriftstück mit dem gehörigen Respekt (selbst wenn es nur vom Freund Stakemann in Bodenwerder war) und vor allen Dingen mit Reinlichkeit zu handhaben habe.
»Komm doch mal heraus, Fritz«, sagte Ewald Sixtus dann von der Schwelle, und auf seinem Gesicht war keine Spur mehr von der Lust der Minute vorhanden.
»Was ist denn?« fragten die beiden Mädchen immer noch lachend; doch schon im nächsten Augenblick hatten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Vetter Just Everstein zu richten, der mit seinem jetzt geöffneten Briefe in der Hand wortlos und mit offenem Munde dasaß, dann sich über die Stirn strich wie einer, dem der kalte Angstschweiß ausbricht, wieder das Geschreibsel ansah, aber doch nur, als ob er den Inhalt desselben träume, dann die Hand schwer auf den Tisch und auf seinen Teller fallen ließ, daß die Scherben davon nach allen Richtungen hin auseinanderflogen, und zuletzt aufstand und starr dastand und in jenen Riß blickte, der einem jeden zu irgendeiner Stunde mehr oder weniger durch sein Universum gegangen ist. Die Wand und die Stubendecke fällt wohl nicht so leicht ein, wohl aber das mit goldenem Feuer ausgelegte Firmament – die ganze Welt, wie wir sie uns dachten in unserer Unerfahrenheit von ihr.
Den Boten hatte uns meine Mutter eine Stunde nach unserem Weggange von Schloß Werden nachgejagt. Der Herr Graf war in einem Gartenwege vom Schlage gerührt, gelähmt und bewußtlos aufgefunden worden. Als der Bote sich aufs Pferd warf, lebte der arme Herr zwar noch; aber es stand schlimm mit ihm, und – »die Frau Langreuter wäre am liebsten selber gekommen, um die gnädige Komtesse nach Haus zu holen«, sagte der Bote. »Was ich sonst vernommen habe, ist, daß kurz vor dem Unglück ein Brief von dem Herrn Doktor Schleimer in Bodenwerder angekommen war.«
Das war ein jäher Schrecken, der an dieser Stelle kurz abgemacht werden muß.
Den Brief hatte der gute Freund des Vetters aus Bodenwerder geschrieben, und er lautete:
»Paß auf, Vetter Just! Seit vorgestern fehlt der Doktor Schleimer, und seit heute morgen ist es sicher, daß er, wenn er es irgend möglich machen kann, fürs erste nicht nach Hause kommen wird. Du solltest das Aufsehen hier sehen; aber natürlich hat's jetzt jeder längst vorausgewußt. Ob ihn die Gerichte durch ihre Steckbriefe und Signalements wieder einholen werden, ist die Frage. Aber eine andere Frage ist's, wie Du eigentlich mit ihm stehst. Du weißt, er hatte einen sicheren Schuß, das muß man ihm lassen; aber daß er auch zu anderen Dingen als bloß zur Jagd nach dem Steinhof hinaufgekommen ist, glaubt mehr als einer, der manchmal nach Euch hingehorcht und seine Augen offen gehabt hat, z. B. ich. Kannst Du ihm ruhig nachsehen, so ist's mir sehr lieb, und ich bitte Dich, gib baldigst Nachricht, daß ich aus der Sorge komme. Hast Du da Dreck am Stecken, so bin ich Dein Freund und habe Dich hiermit verwarnet. Du bist dann aber zu Deinem Trost der einzigste nicht, der sich vor Gift die Haare auszuraufen hat. Hier sind Dutzende, die dem Notar den Kalk von den Wänden herunter nachfluchen, und darunter am meisten die, welche mit dem urfidelen Kerl (und das war er!) auf der Kegelbahn und an unserem runden Tisch beim Posthalter Brüderschaft gemacht oder ihn zum Gevatter gebeten haben. Aber das will noch gar nichts sagen; meine feste Überzeugung ist, daß der Gegend das richtige Licht erst dann aufgesteckt wird, wenn es jeder von Euch biederen Landleuten zu den Akten gegeben hat, wie er unter Euch gewirtschaftet hat. Wahrhaftig, mir sollte es recht leid tun, Vetter, wenn Du auch in diesem Falle mit zu seinen besten Bekannten gehörst, und ich kann nur wünschen, daß Dir Dein verrücktes Latein und sonstige unsinnige Liebhabereien zum erstenmal was genützt und zu dem richtigen Mißtrauen in Geldsachen und Unterschriften gegen die Menschheit verholfen haben. Dieses alles habe ich Dir als Freund geschrieben; denn daß es mir recht käme, wenn dem Steinhofe durch solchen abgefeimten, nichtswürdigen Spitzbuben und Durchgänger ein Malheur passierte, wirst Du wohl aus alter Bekanntschaft und von wegen der vielen vergnügten Stunden daselbst nicht meinen«, usw.
Der Vetter Just stand auf, setzte sich wieder, ließ die Hände matt und flach auf die Kniee fallen und stöhnte:
»Kinder, das ist freilich wohl für uns alle die letzte vergnügte Stunde auf dem Steinhofe gewesen. O Fräulein Irene – sehen Sie nicht so stier hin! Vielleicht und hoffentlich steht es wohl noch nicht so schlimm mit dem Herrn Papa. Medizinisch kann der Mensch mehr als einen Schlag aushalten, ehe er für immer zu Boden liegt. O Jule, liebe alte, arme, alte liebe Jule, ich wollte gleich für alle Ewigkeit nicht wieder von der Erde aufstehen, wenn ich dir dieses erspart hätte. Ja, ich habe dem Doktor Schleimer den Steinhof auf lateinisch in die Tasche gesteckt, und er nimmt ihn mit hinüber nach Amerika!«
Die alte Jule Grote fiel aus dem Weinkrampf in den Lachkrampf –
»O Just, Just, Just, sprich doch nicht von mir!«
Was wir anderen sagten, läßt sich nicht genau durch Wort und Schrift ausdrücken; es war auch nicht von Bedeutung. Auch von unserem Heimwege durch den heißen, glühenden Tag ist wenig zu reden. Weiße schwere Wolken wälzten sich, als wir in dem morschen Kahne des Vaters Klaus wieder auf dem Flusse schwammen, über die Berge empor und in das lichte Blaue hinein! Irene lag auf der Bank, mit dem Kopfe an Evas Brust, Ewald hatte eine Ruderstange ergriffen, blickte von Zeit zu Zeit auf die beiden Mädchen und nahm ingrimmig unserem Charon den schwersten Teil seiner Arbeit ab. Ich ließ mir wieder die Flut des Stromes über die heiße Hand spülen; aber Kühle war nicht in dem Wasser.
»Ich weiß es wohl, daß es da nicht gut steht«, flüsterte mir der weißhaarige Schiffs- und Fischersmann beim Aussteigen zu, indem er verstohlen mit dem Daumen nach den heimatlichen Bergwäldern deutete. »Jaja, junger Herr, es fließt alles hin wie das da!«, und er deutete auf seinen Fluß.
Das war kein neues Bild; ich aber sah doch auf die eiligen Wasser zurück und fand den Vergleich von neuem tiefsinnig und einzig zutreffend. Wie kommt es, daß wir den Eindruck der höchsten Weltweisheit nie aus dem Verkehr mit den Herren vom Metier, wohl aber gar nicht selten aus der Bekanntschaft und dem Umgange mit dem Vater Klaus in seiner Fischerhütte, mit der alten Tante in ihrem Erkerstübchen und mit dem Unbekannten, dem wir seit vier Wochen täglich in der Gasse begegnen und mit dem wir noch nie ein Wort gesprochen haben, – ziehen?! Weil es die Gemeinplätze, d. h. die höchsten Wahrheiten sind, auf denen unser Leben sprießt, wächst und wuchert, und nicht die hohen Offenbarungen des Menschen im einzelnen. In ruhiger Stimmung bereiten wir uns durch die letzteren wohl auf die entgegengesetzte vor, aber doch mehr, um die gute Stunde noch behaglicher zu machen: die böse Stunde hat noch keiner behaglicher dadurch gemacht.
Es donnerte hinter den Bergen – ein langgezogenes feierliches Rollen dann und wann den ganzen Nachmittag über. Wir kamen nach Hause, und der Herr Graf konnte mit seiner Tochter nichts mehr sprechen. Er starb in der Nacht. Wir anderen von Schloß Werden durchwachten sie, und wir hörten den heftigen Sommerregen in den Blättern rauschen.