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Es war ein schöner, sonniger Morgen, an welchem wir meinen Vater begruben. Mit einem stattlichen Gefolge, an dem er wohl seine Genugtuung haben mochte und wie es ihm da, wo man sonst wohl am wenigsten an so etwas denkt, auf seines Lebens Höhe, als etwas sehr Wünschenswertes, sehr Erstrebenswertes erschienen sein mag. Wie oft hat er von dem Fenster unseres Wohnzimmers aus die Kutschen gezählt, die bei solchen Gelegenheiten die Teilnahme der Besten im Volke leer, aber würdig zur Darstellung bringen! ... Und nicht, daß ich nun von einem erhabenern Standpunkt hierüber hinweggesehen hätte: o, als der rechte Sohn meines Vaters habe ich sehr genau darauf geachtet, wer ihm und mir die gebührende Ehre gab und wer nicht! –
Aber wo war das Fenster im Vogelsang, an dem die Krumhardts seit Generationen von Vater zu Sohn ihre statistischen Bemerkungen in dieser Hinsicht gemacht hatten, bis – sie selber für einen andern in gleiche hineinfielen? Ein vierstöckiges Haus hatte Arnemann auf das alte Familiengrundstück gesetzt, und vom Erdstock bis zum Dache kamen Dutzende von Gesichtern jeder Art an die neuen Fenster, um das »schöne Begräbnis« zu sehen. Und, was sonst ein lieber, zum Übrigen, Gleichen gehöriger Schmuck der Feld- und Gartengasse gewesen war, das Stück grüne Hecke der Frau Doktor Andres, das war nunmehr ein Etwas, das seine Zeit ganz und gar überlebt hatte und durch sein Nochvorhandensein nur kümmerlich-lächerlich wirkte.
Und wie an dem betrübten Tage, in dem traurigen Zuge mein Auge doch nur diesen grünen Punkt in all dem neuen, fremden Mauerwerk suchte und sich der Exbürger des Orts mit einer Art von Heimwehgefühl dort festzuklammern suchte! Und nun – grade vor dem Anwesen der Familien Krumhardt und Andres redeten die beiden würdigen geistlichen Herren, zwischen denen ich hinter dem Sarge schritt, so treulich und wohlmeinend das Passende auf mich ein, daß es eine rechte Unhöflichkeit von mir gewesen sein würde, wenn ich ihnen nicht nach rechts und nach links hin das Ohr geliehen hätte! So habe ich damals trotz allem nur flüchtig hingrüßen können nach der greisen Freundin und Nachbarin an dem zerfallenden morschen Gartentürchen und ganz außer acht gelassen, daß sie nicht allein an der Pforte zu ihrem so tapfer festgehaltenen Reiche stand, um den Familienfreund vorbeiziehen zu sehen. Es hätte auch doch wohl eine Störung im Zuge gegeben, wenn – Velten Andres an dem Morgen aus seinem Garten sofort an meine Seite getreten wäre! – – –
Er hat sich an das Ende des Zuges angeschlossen und mich also auf dem ernsten Wege davor bewahrt, Aufsehen durch eine augenblicklich unschickliche Aufregung über ein plötzliches, unvermutetes Wiedersehen zu erwecken. Auf dem Friedhofe selbst aber, wo die frühere Freundschaft auch jetzt noch nach Möglichkeit gute Nachbarschaft hielt und ihren Grundbesitz im Grundbuche, wenn auch nicht Hypothekenbuche, fest zusammen hatte schreiben lassen, konnte er mir die Überraschung nicht ersparen.
Dicht neben seinem Vater war dem meinigen die Grube gegraben (Nachbar Hartleben lag nur ein paar Schritte weiter ab, und der übrige Vogelsang, hier noch immer im Grün und mit der Aussicht auf den Osterberg und Schluderkopf, rundum) und standen die Schaufeln für die Liebes-, Ehren- und Achtungsgabe des Grabgefolges in die frisch aufgeworfenen Schollen fruchtbaren Gartenbodens gestoßen.
Und wenn man den gleichgültigsten Kanzleiverwandten, den langweiligsten Klub- und Stammtischgenossen so, mit einem dieser Spaten, die letzte Achtung erweist, liegt nicht nur die nächste Umgebung, sondern die ganze Welt in einer Beleuchtung, die für den Schreibtisch und den L'hombretisch kaum die rechte sein würde: begrabe aber deinen Vater, deine Mutter, dein Kind und achte dann in dem Licht, das eben kein Licht ist, darauf, wer dir zu dem »Erde zu Erde« das Werkzeug in die Hand gibt und an wen du es weitergibst! ...
In die Hand reicht es uns Christenleuten nach geschriebenem und ungeschriebenem Recht die Kirche, wenn es gewünscht worden ist; aus der Hand nahm es mir der Nächste mir zur Seite und sagte:
»Das war ein wohlmeinender, braver und kluger Mann, Krumhardt. Mögen deine spätesten Enkel noch süße Früchte mit seinen wackeren Knochen vom Baume des Lebens werfen ...«
Velten! ... Velten Andres! Nun verletzte ich doch den Anstand, indem ich zurücktretend den Chef des Entschlafenen, der nach mir nach der Schaufel hatte greifen wollen, auf den Fuß trat. Den Spaten reichte Velten ihm:
»Bitte, Herr Obergerichtspräsident!«
Später sind keine Störungen mehr vorgefallen. Es ist nur getan und gesagt worden, was bei solchen Gelegenheiten getan und gesagt zu werden pflegt. Ich, der ich mehr als ein anderer (auch als der Freund) von den Vorzügen des alten Herrn Kenntnis hatte und überzeugt war, kann es bezeugen, daß mir nichts über ihn gesprochen wurde, was nicht die volle Wahrheit war. Als wir ihn dann ließen und ein jeder, der ihm die letzte Ehre gegeben hatte, aus solcher Störung des tagtäglichen Tages- und Geschäftslaufs heimging oder -fuhr, hatten wir, der Vater und der Sohn, es freilich uns gleichfalls gefallen lassen müssen, was dann noch mehr oder weniger anekdotenhaft aus dem Lebensverlauf des Obergerichtssekretärs Krumhardt heraufgeholt wurde, bis noch näherliegender Tages- und Daseins-Gesprächsstoff den Ruhenden in seiner Ruhe ließ neben seinen nächsten guten Nachbarn: seinem Weibe und dem Doktor der Heilkunde Valentin Andres. – –
Er fuhr nicht mit mir nach Hause. Er sagte mir auf dem Kirchhofe nur noch: »Später, mein Junge! Wir haben für alles Zeit«, brachte mich aber doch an den Wagen an der Friedhofspforte, ließ den hohen Chef des weiland Obergerichtssekretärs Krumhardt und seinen Sohn einsteigen, drückte mir über den Schlag noch einmal die Hand: »Ich hoffe, dich schon heute noch gemütlicher sprechen zu können. Guten Morgen, Alter!«
»Was war denn das für ein eigentümlicher Herr, lieber Assessor?« fragte der hohe, amtlich dem Hause Krumhardt Vorgesetzte; und als ich ihn, soweit das möglich war, darüber in Kenntnis gesetzt hatte, sagte er:
»Hm, hm, ja, ich erinnere mich dunkel. Der Sohn eines Vorstadtarztes und ein toller Christ vor Jahren. Nahm nicht einmal Seine Durchlaucht einiges Interesse an ihm? Jawohl, jawohl, ganz richtig! Andres! Eine Zeitlang hatte der junge Mensch hier wirklich die besten Avancen. Sie und er waren Nachbarn, Herr Assessor, und scheinen noch in freundschaftlichem Verkehr mit ihm zu stehen. Man hielt ihn damals für ein junges Genie; aber er ist uns doch, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt, dann bald gänzlich aus den Augen gekommen. Es würde wirklich auch mich ein wenig interessieren, zu erfahren, was jetzt eigentlich aus ihm geworden ist.«
Wahrscheinlich hat der würdige Mann es nur auf die Zeit und Umstände, unter welchen er seinen Wunsch äußerte, geschoben, daß ich ihm nur sehr ungenügend Aufklärung gab. –
Zu Hause fand ich, was man zu finden pflegt, wenn man von einem solchen Geschäft heimkehrt: das Haus nach Möglichkeit gereinigt und aufgeräumt – nach der Katastrophe so viel frische, sonnige Alltagsluft als möglich eingelassen – nach Möglichkeit alles in der alten Ordnung – so wenig als möglich Stearin-, Chlor- und Blumengeruch, das alte Geräte in gewohnter Ordnung, nur noch etwas peinlicher, um einen herum und – eine Lücke in sich, eine Leere, eine Öde um sich, die, natürlich je den Umständen nach, mehr oder weniger empfindlich empfunden werden. Aber ich konnte auch mein gutes kleines Weibchen in der schwarzen, ernstgemeinten Trauerkleidung in den Arm nehmen und »Schlappen«, dem jüngsten Regierungsrat des Landes und meinem Schwager, sowie einigen anderen, meiner Frau zum Trost und zur Aufrichtung gegenwärtigen Mitgliedern ihrer Familie für ihre Teilnahme danken.
»Es ist doch recht betrübt, daß du heute gar keine eigenen Verwandten hast«, sagte, nachdem sie alle ihre Pflicht getan hatten und gegangen waren, meine Frau, sich an meinem Schreibtische an meine Seite schmiegend und gottlob so dicht als möglich. »Armer Mann! Aber mich hast du doch, und nicht wahr, das ist doch auch ein Trost? Und nun wollen wir von jetzt an noch fester zusammenhalten und uns immer lieber haben – nicht wahr, du armer, lieber Mann? Und daß du dich gleich wieder in dein Arbeitszimmer gesetzt hast, das ist sehr unrecht von dir und gehört sich gar nicht! Deine Frau gehört heute zu dir, und wenn du nicht zu mir herüberkommst, so bleibe ich hier bei dir, und draußen habe ich schon Bescheid gegeben: sie sollen, wenn es nicht ganz und gar nötig ist, keinen Menschen mehr zu uns hereinlassen!«
Bei allem, was der Mensch auf Erden je der Götter Wohlwollen, die Güte Gottes genannt hat, konnte es mir noch deutlicher gemacht werden, was ich an sicherm Eigentum, an dem Reichtum dieser Erde gewonnen hatte, was mir davon gegeben worden war auf meinem Wege bis zu diesem betrüblichen Tage? –
Wir blieben den Tag über für uns allein. Als ich meiner Kleinen aber von der Heimkehr Velten Andres' erzählte, sagte sie:
»Oh, der gehört natürlich zu uns, dein bester Freund! Ich kenne ihn ja eigentlich kaum; aber wie oft ist bei uns, in meiner Eltern Hause, von ihm, und was er an meinem Bruder getan hat, die Rede gewesen! Ich war zu jener Zeit, als er für uns sein Leben gewagt hat, noch ein zu junges Kind, um seine Heldentat ganz zu fassen; aber ich sehe heute noch meine Mutter in Ohnmacht und im Weinekrampf und meinen Vater außer sich. Nachher ist leider weniger gut von ihm gesprochen worden, und Papa hat ärgerlich gemeint, es sei schade, daß so ganz und gar nichts mit ihm anzufangen sei; und dabei bin ich denn, weißt du, auch so nach und nach herangewachsen und habe mir meine eigene Meinung gebildet, und du bist gekommen und hast mir dabei geholfen, das heißt, du weißt es wohl selber am besten, wie du mich nicht nur aus meines Vaters Hause, sondern auch in alle möglichen anderen Ansichten über Gott und die Welt hinein- und für dich zurechtgezogen hast. Nun weiß ich heute fast ebensogut wie du in eurem alten Vogelsang und um Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres und deinen Velten und alles übrige Bescheid – freilich, wenn ich auf einen Menschen gespannt sein muß, so ist das dein Freund Velten, aus dem keiner von euch je recht klug geworden zu sein scheint, nimm das mir nicht übel. Und ganz derselbe wie sonst, nach eurer Beschreibung, scheint er auch geblieben zu sein: ich wäre in seiner Stelle jetzt schon längst bei dir – noch dazu an solch einem bösen, schmerzlichen, traurigen Tage wie heute!«
So plauderte sie und versuchte es immer von neuem, mit dem lieben Zeigefinger mir die Stirnfalten wegzustreichen und mir über den »traurigen Tag« leichter hinwegzuhelfen.
Es war ein wunderlicher, gespenstischer Tag, ein unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns zwei ließ oder der Anweisung an der Vorsaaltür zufolge lassen mußte. Der frische Hügel auf dem Vogelsangkirchhofe war nicht schuld daran: so etwas drückt den Menschen nur in den Winkel und womöglich einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewordenen Großvaterstuhl oder auch wohl auf ein niederes Kinderschemelchen, drückt ihm die schwere Hand auf die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb.
Es konnte doch keine Täuschung gewesen sein! Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an meiner Seite gesehen! Er hatte zu mir gesprochen; ich fühlte noch immer den Druck seiner Hand auf der meinigen; und – ich hatte im Auf- und Abschreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über seine Rückkehr in die Heimat nicht zu den Akten abgegeben haben würde. Als er dann in der Dämmerung kam, fand ich mich über dem Reichsstrafgesetzbuch, dem Paragraphen: Fahrlässiger Meineid und in der kopfschüttelnden Gewißheit, daß die meisten Justizverbrechen hierbei begangen werden und daß Jupiter, der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die Urteile der hier zuständigen Richter sehr häufig mit den Zähnen zu knirschen hätte. – Daß ich solches aber jetzt hier niederschreibe, beweist nur auch, in welche Ferne mir heute, in dieser Winternacht, während der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieselt, jener so dunkle, unruhvolle Sommersonnentag, der Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an welchem Velten Andres ihm vom Hause seiner Mutter aus die letzte Ehre erwies, gerückt ist.
Er aber, mein Freund Velten, steht wieder grade so gespenstisch wie damals neben meinem Sessel, legt mir die Hand auf die Schulter und fragt:
»Nun, Alter, noch nicht des Spiels überdrüssig?«
Da habe ich denn in dieser heutigen kalten, farblosen Winternacht, mit den ewig von neuem sich aufhäufenden Aktenstößen um mich her, mit all den Enttäuschungen, Sorgen, Ärgernissen, die nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das Privatleben mit sich bringt, und im grimmen Kampf mit dem Überdruß, der Enttäuschung, der Langeweile und dem Ekel an der schleichenden Stunde, doch noch einmal ein »Nein!« gesagt, dem stolz-ruhigen Schatten gegenüber, der so wesenhaft Velten Andres in meinem Dasein hieß.
Ich habe und halte meiner Kinder Erbteil. Das Spielzeug des Menschen auf Erden, das ja auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen sie aufgreifen, und ich – ich fühle mich ihnen gegenüber dafür noch verantwortlich! –