Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Nun bin ich mit meinen Erinnerungen wieder am Abend jenes Tages, an welchem wir in Hartlebens Gartenhause den Tod des Alkibiades aufgeführt hatten. Es waren damals schon einige Jahre seit der Rückkehr der Mistreß Trotzendorff in den Vogelsang hingegangen, und Miß Ellen hatte, auch mit unserer, Veltens und meiner, Beihülfe, doch allgemach ganz gut Deutsch gelernt, hörte (wenn sie Lust hatte) auch auf den Ruf: Helene! Lene! Lenchen! und – wir waren alle drei in den echtesten und gerechtesten Flegeljahren.

Daß die Deutsch-Amerikanerin eine dumme, aufgeblasene, einfältige Gans sei, hatten wir zwei Jungen längst heraus, und ebenso, daß sie doch ein Gutes hatte, nämlich daß man mit ihr aufstellen konnte, was man wollte, wenn man sie nur recht zu nehmen wußte. Mein Vater hatte nichts getan, den Eindruck, den die Arme auf uns gemacht hatte, zu verbessern. Meine Mutter war natürlich der Meinung meines Vaters, wenn auch in einem etwas mildern Grade. Und nur die Nachbarin Andres war ganz und gar dabei geblieben, daß man Mitleid mit ihr haben müsse, und gab der Ansicht bei jeder vorkommenden Gelegenheit nicht bloß Worte, sondern fügte auch die Tat hinzu. –

Ach, wie ich es mir jetzt überlege, kamen die Gelegenheiten recht häufig! Viel häufiger als die Briefe und Geldsendungen des Gatten und Vaters Trotzendorff aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dem wollte es noch immer nicht wieder recht glücken, und aus meines Vaters Munde schnappte ich das Wort auf: »Gib acht, Adolfine, und erinnere mich seinerzeit an mein heutiges Wort: demnächst hören wir gar nichts mehr von ihm. Wir und die Stadt haben die Frau und das Mädchen allein auf dem Halse. Von Heimatberechtigung kann ja wohl nicht die Rede sein; aber wohin sollte die Kommune sie abschieben, wenn der Gauner seinen Verpflichtungen gegen seine Familie genügend nachgekommen zu sein glaubt oder, was mir wahrscheinlicher ist, wenn sie ihn irgendwo da drüben an einem Strick an einem Baume in die Höhe gezogen haben werden. Nach oben strebte er ja auch schon hierzulande; aber hier hatte er doch nur mit den ordentlichen Behörden, Gerichten und nicht mit dem Lynchsystem zu tun.« –

In einem Hause, in welchem solche Reden über ihren Papa geführt wurden, fühlten sich weder die Mutter noch das Kind des exotischen Sünders so wohl und in verhältnismäßiger Sicherheit, wie es sich für eine treue Nachbarschaft im Vogelsang eigentlich gebührte. Da bot das Häuschen und Stübchen der Nachbarin Andres einen behaglichern Unterschlupf. Es wurde dort allen Sündern viel leichter vergeben als – bei uns. Ich habe eben wahr zu sein, wenn ich durch diese Blätter bei meiner Nachkommenschaft irgendeinen Nutzen stiften will, und so sage ich, daß auch ich selber mich lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern als bei meinen eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. –

Also das Unglück war wieder einmal geschehen, und hier hole ich es noch einmal hinein in die Akten aus der fernen unaufgeschriebenen Vergangenheit, unseren Kindertagen: es hatte Feuerlärm im Vogelsang gegeben. Ich hatte die Hand meines Vaters am Kragen gefühlt, meine Mutter hatte die Hände gerungen, der Nachbar Hartleben hatte seiner »Amerikanischen« zum zwanzigstenmal gedroht, sie mit ihrem Balge beim nächsten Quartal auf die Gasse zu setzen – »einerlei, wer mir dann zu meiner rückständigen Miete verhilft!« – Lenchen-Timandra hatte sich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, auf dem Osterberge in den Wald geschlagen und vergeblich nach sich rufen und suchen lassen, der Hauptsünder, mit seinen »nichtsnutzigen Pfoten« wahrlich in Leinöl und Watte, agierte in der Sofaecke den Heros weiter, indem er seine nicht kleinen Schmerzen so gut als möglich verbiß, und Frau Amalie seufzte:

»Junge, Junge, dein seliger Vater! Das war wieder ein Tag und Streich, bei dem wir beide ihn mit Tränen von neuem vermissen. Großer Gott, Velten, wen haben wir denn jetzt, der uns sagen könnte, was aus dir, du Strick, noch mal werden soll?«

»Oh heaven, und mein Mann!« ächzte Mistreß Trotzendorff; doch da zuckte die Doktorin Andres nur die Achseln und meinte ablehnend:

»Die Hauptsache ist jetzt Hartleben mit seiner Drohung für dich, Agathe.«

»Der Grobian! Der unverschämte Mensch!« wimmerte die Exmillionärin vom New Yorker Breiten Weg. »O wenn doch mein Mann hier wäre!«

»Nun, nun«, meinte Veltens Mutter, »der würde uns wohl nicht viel helfen. Jawohl, grob war er, der gute Nachbar, und recht hätte er eigentlich wohl, Ernst zu machen und dich mit deinem armen Würmchen auf die Gasse zu setzen. Velten, Velten, was habt ihr angerichtet.«

»Puh«, rief aber jetzt Andres der Jüngere, die umwickelten Hände erhebend und wie ein kranker Affe grinsend, »da ist doch mein Vater noch!«

»Dein Vater, dein armer seliger Vater?« stammelte Frau Amalie.

»Hat der etwa nicht dem Nachbar Hartleben und seiner Frau und seiner Schwiegermutter ein halb dutzendmal das Leben gerettet? Hat er ihn nicht wieder zurechtgebracht, als das Wagenrad über ihn weggegangen war? Und hat Hartleben dir nicht geschworen, Mutter, du solltest nicht bloß deinetwegen, sondern auch wegen meines Vaters zu jeder Stunde bei Tage und bei Nacht bei ihm anklopfen, wenn du was von ihm brauchtest? Und hat er dir nicht zugeschworen, wenn er dich nötig hätte, käme er auch zu dir, und du solltest immer das letzte und beste Wort bei ihm haben und dafür bedankt sein?«

»Man muß die Güte der Menschen aber auch nicht zu sehr in Anspruch nehmen, Kind«, lächelte die Nachbarin Andres trotz aller Aufregung und Sorge des Tages.

»Soll das etwa wieder ein Stich auf mich sein, Amalie?« fragte die Nachbarin Trotzendorff, ihr Taschentuch in Bereitschaft setzend und im Begriff, ihren fragbedenklichen Lebensjammer der Schlechtigkeit und Bosheit der Welt überhaupt und also auch der Mutter Veltens aufzuladen.

»Da kommt Herr Hartleben und bringt Lenchen!« Ich war's, der vom Fenster her dieses erlösende Wort in diese »Gesellschaft am Krankenlager« warf, und es war der Kranke, der aufsprang und gegen die Tür lief, und zwar mit den Worten:

»Was schreit es denn so? ... Wenn Herr Hartleben ihm –«

Er kam nicht zum Schluß seiner Rede. Hartleben hatte »ihm«, das heißt dieser anderen jungen Sünderin nicht ihren Lohn dahin aufgezahlt, wohin er von Rechts wegen gehörte, er zog nur die »widerborstige Range« am Arm hinter sich her durch den Garten und trat mit ihr jetzt ins Haus und in die Stube und sagte, ohne sich um seine Madam Trotzendorff im geringsten zu kümmern:

»Sehen Sie doch mal nach, Frau Doktern. Ich meine, sie hat auch eine häßliche Brandwunde am Ellbogen. Ich habe sie oben am Osterberge mit dem Gesicht im Grase und mit dem Arm im feuchten, kühlen Erdboden und Moose begraben gefunden. Ich war wegen einer Holzabfuhr da oben und bin dem verbissenen Geschluchze seitwärts in den Busch nachgegangen. Ist das eine Komödie! Ist das eine Schwefelbande! Na, nu fangen Sie nur nicht auch an zu schluchzen, Madam – Mistreß Trotzendorff. Lieber Gott, Frau Doktern, und nun fangen auch Sie noch an, den alten Hartleben wehleidig anzusehen! Ja, das ist recht, sehen Sie erst nach dem Kinde. Nicht wahr, eine arge Brandblase. Und damit in den Wald laufen, so weit als möglich von den Menschen weg. Je ärger der Schmerz, desto dickköpfiger die Verstockung, der Trotz und Eigensinn. Na, na, die beiden passen zusammen, Frau Doktern, Ihr Junge und dies kuriose Geschöpfe, unser Lenchen Trotzendorff. Ich sage nichts, aber wenn diese zwei sich durch die Jahre und in der Nachbarschaft noch näher aneinander heranspielen, so gibt das mal 'nen Haushalt mit Mord und Totschlag.«

»Ich bin nicht trotzig! Ich bin nicht eigensinnig! Ich ging nur auf den Osterberg hinauf, weil Velten wieder alles allein für sich haben wollte und den Großartigen spielen. Mir tat es so weh, mir tat es weher als wie ihm. Karlchen weiß es, wie er ist, und ich will mich nicht von euch allen eine Heultrine schimpfen lassen!« weinte, schluchzte unter wahrem Tränenstrome Helene Trotzendorff jetzt unter den Händen der beiden Mütter. Das heißt, eigentlich nur unter den Händen der Nachbarin Andres; denn die Nachbarin Trotzendorff konnte Verwundungen nicht gut ansehen, geschweige denn hülfebringend fest und kräftig anrühren.

Das Kind stand große Schmerzen aus; aber es behielt während des Verbandes den Unheilskameraden im Auge und rief, mit dem Fuße aufstampfend: »Ja, gucke nur. Bilde dir nur nichts drauf ein, dummer Junge, daß du ein Junge bist. Und wenn uns Herr Hartleben jetzt deiner Dummheit wegen aus dem Hause wirft, so will ich auch allein schuld daran sein und gehe wieder in die Welt und nach Amerika und suche meinen Papa. Nicht wahr, Ma, und wenn wir den gefunden haben, dann können wir wieder auf den Vogelsang aus unserer eigenen Kutsche heruntersehen?«

»Nun höre einer! höre sie einer!« brummte Hartleben. »Und was schwatzt der kleine Racker von mir und dem, was ich tun werde oder nicht? Aber da sie denn einmal die Rede auf die Sache gebracht hat, so wollen wir auch bei ihr bleiben. Frau Doktern, was Hartlebens Anwesen angeht, so wissen Sie, wie Sie dazu stehen – Sie im Vogelsang! Und also auch zu dem Wohnungskündigen und dergleichen. Also wenn es Madam Trotzendorff nicht mehr bei mir – aber eigentlich bei Ihnen nicht mehr gefällt, so muß sie das mit Ihnen ausmachen. Von wegen meiner ist sie sicher. Wir zu unserer Zeit waren ja eben auch Kinder und Jungen im Vogelsang und haben ihn oft unsicher genug gemacht. Was mich aber nicht abhält, dem Haupträuberhauptmann, dem Musjeh Velten, da ein bißchen anzuraten, sich doch manchmal ein warnendes Beispiel an seinem Freunde Karlchen hier, dem Karl Krumhardt, zu nehmen. Wenn ein Randalmacher im Vogelsang existiert, dem ich noch nicht mit einer Tracht Prügel habe drohen oder aufwarten müssen, so ist er das. Also grüße du deinen Herrn Vater, Karl, und mache ihm fernerhin alle Freude. Mistreß – Madam Trotzendorff: Hartleben kann wohl grob, sackgrob werden, wenn er das Recht dazu hat; aber ein Unmensch ist er nicht, und wo er sieht, daß weder Hart- noch Sanft-Dreinreden hilft, da weiß er sich auch zu bescheiden – vorzüglich bei Damens. Also empfehle ich mich und, liebe Frau Trotzendorff, wenn unsere Frau Doktern Ihrem Wurm für diese Nacht ein Lager da auf ihrem Sofa machen würde, wie sie's auch mal meinem kleinen seligen Hans getan hat, so hielte ich das für das beste. Das Kind wird doch wohl diese Nacht durch ein bißchen unruhig sein und Pflege verlangen und Sie, liebe Madam, recht stören. Habe ich schon wieder zuviel gesagt? Na, denn guten Abend rundum! Zwischen uns beiden bleibt alles wie es ist, Frau Doktern.«

Er war gegangen, und Lenchen Trotzendorff bekam ihr Lager für diese Nacht und manche folgende im Andresschen Hause, dem rechten Nachbarhause.

»Ich bin dir so dankbar, Amalie! Aber meine unglückseligen Nerven! Und dann bist du ja auch eine Doktorsfrau, und selbst eine halbe Ärztin, du liebe, liebe Seele«, wimmerte die Nachbarin Agathe.


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