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Die Beichte eines jungen Mädchens

»Die Begierden unserer Sinne reißen uns hier und dort hin, aber, ist die Stunde vorbei, was bleibt uns In Händen? Reue des Gewissens und Vergeudung des Geistes. Man geht freudig fort, oft kommt man traurig zurück, und die Vergnügungen des Abends machen den nächsten Morgen düster. So schmeichelt anfangs die Sinnenfreude, aber zum Schluß verletzt sie und tötet sie.«

Nachfolge Christi 1. Buch K. 18

I

Man sucht Vergessen in falscher, lauter Fröhlichkeit, aber durch alle Trunkenheit kommt, jungfräulich wie am ersten Tag, der süße Duft des Flieders geschwebt, süß und traurig zugleich.

Henri de Régnier

Bald ist die Erlösung da. Ich war ungeschickt, ich habe schlecht geschossen, fast hätte ich mich überhaupt nicht getroffen. Sicherlich wäre es besser gewesen, sofort zu sterben, aber schließlich ist man nicht imstande gewesen, die Kugel zu extrahieren, und Komplikationen von seiten des Herzens haben begonnen. Das kann nicht mehr lange dauern, immerhin acht Tage, und während dieser ganzen Zeit werde ich nichts anderes tun können, als mit aller Kraft den furchtbaren Knoten des Schicksals noch einmal zu knüpfen. Wäre ich nicht so schwach, hätte ich genug Willenskraft, um mich zu erheben, abzureisen, dann wollte ich nach Oublis sterben gehen, in den Park, wo ich alle meine Sommer bis zu meinem fünfzehnten Jahr verlebt habe. Kein Ort auf Erden ist mehr erfüllt von meiner Mutter, so sehr haben ihre Gegenwart und noch mehr ihre Abwesenheit jeden Fußbreit Landes durchtränkt. Für den Liebenden ist die Abwesenheit die allersicherste, die allerlebendigste, die wirksamste, die unzerstörbarste aller Gegenwarten und die treueste.

Meine Mutter brachte mich nach Oublis Ende April, reiste nach zwei Tagen, kam dann noch auf zwei Tage Mitte Mai zurück und holte mich in der letzten Juniwoche ab. Diese kurzen Besuche waren das Süßeste und Grausamste zugleich. Während dieser zwei Tage überschüttete sie mich mit Zärtlichkeiten, mit denen sie im allgemeinen sehr sparsam war, denn sie wollte meine krankhafte Empfindsamkeit abhärten und beruhigen. An den beiden Abenden, die sie in Oublis verbrachte, kam sie an mein Bett, um mir gute Nacht zu sagen. Sonst hatte sie diese alte Gewohnheit längst aufgegeben, denn ich fand darin viel zuviel Freude und viel zuviel Leid; statt zu schlafen, rief ich sie unaufhörlich wieder zurück, um ihr noch einmal gute Nacht zu sagen. Zum Schluß wagte ich es gar nicht mehr, und da ich doch mehr denn je die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr empfand, ersann ich stets neue Vorwände, zum Beispiel, mein heißes Kopfkissen wenden, meine eiskalten Füße in ihren Händen wärmen zu lassen, wie nur sie es konnte. Diese zärtlichen Augenblicke gewannen einen besonderen Zauber dadurch, daß ich fühlte, daß jetzt meine Mutter sich ganz echt gab und daß ihre sonstige kühle Zurückhaltung ihr schwergefallen sein mußte. Der Tag der Abreise war ein Verzweiflungstag, ich klammerte mich bis zum Waggon an ihr Kleid, flehte sie an, mich doch nach Paris mitzunehmen. Ich unterschied sehr gut das Echte unter ihrer Maske und die echte Traurigkeit unter den heiteren und beleidigten Vorwürfen wegen meiner Traurigkeit: »Ach, was hast du nur, lächerlich.« Sie wollte mich lehren, Herr über das zu werden, was sie im Grunde teilte. Noch fühle ich meine Aufregung an einem dieser Abschiedstage (klar und deutlich dieses Gefühl, nicht verändert durch die schmerzvolle Rückkehr zum Heute), es war der Tag; an dem ich die süße Entdeckung ihrer Zärtlichkeit machte, die der meinen glich und doch über der meinen stand. Wie alle Entdeckungen war sie vorher gefühlt und geahnt, aber die Tatsachen schienen ihr so oft zu widersprechen. Meine süßesten Eindrücke stammen aus den Jahren, in denen sie nach Oublis zurückkehrte, wohin man sie wegen meiner Krankheit gerufen hatte. Das zählte nicht nur als ein Besuch mehr, auf den ich nicht hatte rechnen dürfen, sondern vor allem war meine Mutter nichts als Süßigkeit und Zärtlichkeit, die sich ganz aus dem Grunde des Herzens und ohne Hemmungen offenbarten. Diese Süßigkeit und Zärtlichkeit waren zu dieser Zeit noch nicht von dem Gedanken umwoben, daß sie mir eines Tages fehlen könnten, damals bedeuteten sie so viel für mich, daß das Wunder der Genesung mir immer furchtbar traurig war, denn mit ihm kam der Tag, wo ich hergestellt war und meine Mutter zurückreisen konnte, und bis dahin war ich doch nicht mehr so krank, als daß sie nicht ihren Ernst und ihre Gerechtigkeit wie vorher aufnehmen konnte, und ihre besondere Milde und Nachsicht waren schon zu Ende.

Eines Tages hatten mir die Onkel, bei denen ich in Oublis wohnte, verheimlicht, daß meine Mutter ankommen sollte – denn ein kleiner Vetter sollte ein paar Stunden mit mir verbringen, und ich hätte mich in der angstvollen Freude dieser Erwartung nicht mit ihm abgegeben. Dieses Versteckenspiel war vielleicht der erste von allen Umständen, die, von meinem Willen unabhängig, mitgeholfen haben bei den Vorbedingungen für das Unglück, die ich (wie alle Kinder meines Alters und übrigens nicht in höherem Grade als sie) in mir selbst umhertrug. Dieser kleine Vetter, der fünfzehn Jahre zählte – ich war vierzehn –, war bereits sehr lasterhaft und brachte mir Dinge bei, die mich sofort zittern ließen vor Reue und vor Wonne. Es machte mir Freude, ihn anzuhören, ich ließ seine Hände die meinigen liebkosen; es war eine Freude, die schon an der Quelle vergiftet war; bald hatte ich die Kraft, ihn zu verlassen, ich rettete mich in den Park mit einer wütenden Sehnsucht nach meiner Mutter, die ich, ach so weit, in Paris wußte und deren Namen ich gegen meinen Willen laut in den Alleen ausrief. Plötzlich kam ich an einem Hagebuchenhain vorbei, und da sah ich sie auf einer Bank, lächelnd, mit offenen Armen. Sie hob ihren Schleier, um mich zu umarmen, ich stürzte an ihre Wange und zerfloß in Tränen. Ich weinte lange Zeit, erzählte ihr tausend häßliche Dinge, und es brauchte die Naivität meines Alters, um sie ihr zu sagen. Sie aber wußte sie wunderbar anzuhören, ohne sie ganz zu verstehen, sie minderte ihre Wichtigkeit durch eine Güte, welche das Gewicht meiner Gewissensschuld erleichterte. Leicht und leichter wurde dieses Gewicht; meine vernichtete, zu Boden gedrückte Seele erhob sich mehr und mehr in freiem, kraftvollem Fluge; sie strömte über die Ufer, ich war ganz Seele. Eine göttliche Sanftheit ging von meiner Mutter aus und von meiner wiedergewonnenen Unschuld. Ich fühlte sofort einen wie die Unschuld reinen, ebenso frischen Duft vor meinem Gesicht, es war ein Fliederbusch, wovon ein Zweig, halb verborgen vom Sonnenschirm meiner Mutter, bereits in Blüte stand und der aus seinem unsichtbaren Versteck heraus alles mit Duft erfüllte. In den Wipfeln der Bäume sangen die Vögel mit aller Kraft, über diesen grünen Gipfeln aber erhob sich ein Himmel von so tiefem Blau, daß er fast wie der Vorraum eines Himmels erschien, in den man ohne Ende aufschweben konnte. Ich umarmte meine Mutter; nie habe ich die Süßigkeit dieses Kusses wieder empfunden. Am nächsten Tage reiste sie zurück, und diese Abreise war grausamer als alle die früheren. Zugleich mit der Freude verließen mich nun, da ich einmal gesündigt hatte, scheinbar die Kraft und der notwendige innere Halt.

Alle diese Trennungen lehrten mich wider Willen, daß einmal eine Trennung ohne Rückkehr kommen würde, wenngleich ich zu dieser Zeit nie ernstlich die Möglichkeit erwogen habe, meine Mutter zu überleben. Ich war entschlossen, mich in der Minute zu töten, die ihrem Tode folgte. Später gab mir ihre Abwesenheit noch andere sehr bittere Lehren, nämlich die, daß man sich an die Abwesenheit gewöhnt und daß es die furchtbarste Vernichtung des eigenen Ichs bedeutet und zugleich das erniedrigendste Leiden, wenn man fühlt, daß man nicht einmal leiden kann. Diese Lehren sind übrigens in der Folge Lügen gestraft worden. Ich erinnere mich jetzt des kleinen Gartens, wo ich mit meiner Mutter das Frühstück nahm und wo es unzählbare Stiefmütterchen gab; diese Blumen, die mir immer etwas traurig erschienen sind, waren würdig wie Wappenschilder, aber süß und sammetartig, oft malvenfarbig, manchmal violett, beinahe schwarz, mit zierlichen, geheimnisvollen gelben Bildern. Andere wieder ganz weiß und von einer zarten, gebrechlichen Unschuld. Ich pflücke sie jetzt alle in meiner Erinnerung, diese Stiefmütterchen; seitdem ich sie verstanden habe, ist ihre Traurigkeit noch gewachsen, die holde Süße ihres sammetartigen Wesens ist auf immer verschwunden.

II

Wie kann diese frische Quelle der Erinnerungen noch einmal meiner unreinen Seele von heute entspringen und dahinrieseln, ohne schmutzig zu werden? Welche Wunderkraft besitzt dieser Morgenduft des Flieders, daß er so viel üble Dünste überwinden kann, ohne sich mit ihnen zu mischen und ohne sich zu verlieren? Ach! Er ist zugleich in mir selbst und doch so weit fort von mir! Dies ist so weit außerhalb des Bereichs meines Ichs, daß meine Seele, die ich mit vierzehn Jahren hatte, noch einmal erwacht. Denn ich weiß wohl, es ist nicht mehr meine Seele, und es hängt nicht mehr von mir ab, daß sie es werde. Und doch, ich habe nie geglaubt, daß ich eines Tages so weit kommen würde, sie zu vermissen. Sie hatte nur ihre Reinheit für sich, es wäre meine Sache gewesen, sie stark zu machen und fähig, in Zukunft nach dem Höchsten zu streben. Oft war ich in Oublis mit meiner Mutter am Ufer des Wassers, das voll war von Spielen der Sonne und von Fischen, während der warmen Stunden des Tages – oder es war morgens oder abends, und ich ging mit ihr in den Feldern spazieren, ich träumte vertrauensvoll von einer Zukunft, die an Schönheit niemals das Maß ihrer mütterlichen Liebe erreichte, nie meiner Sehnsucht, meiner Mutter zu gefallen, Genüge tat. Die seelischen Kräfte, wenn nicht des Willens, so doch der Phantasie und des Gefühls, regten sich in mir. Sie riefen förmlich nach einem Schicksal, an dem sie zur Wirklichkeit werden konnten, sie pochten in immer wiederholtem Schlage an die Wand meines Herzens, als wollten sie es öffnen und sich aus mir mitten in das Leben stürzen. In solchen Augenblicken konnte ich mit aller meiner Kraft laufen und springen, tausendmal meine Mutter umarmen, weit vor- und zurückrennen wie ein junger Hund oder zurückbleiben, um Mohnblumen und Kornblumen zu pflücken, und dann brachte ich sie unter lauten Rufen der Freude zu ihr: Es war weniger die Freude am Spaziergang und an diesen gepflückten Blumen – sondern ich wollte mein inneres Glück ausgießen, ich fühlte, wie es in meiner Seele darauf wartete, emporzuquellen, sich ins Unendliche zu verbreiten – in weitere und zauberhaftere Fernen als der äußerste Horizont der Wälder und des Himmels, den ich in einem einzigen Sprung hätte erreichen mögen. Wenn ich euch, ihr Sträuße von Mohnblumen, Kleeblüten und Kornblumen, so trunken an mein Herz preßte, ganz außer Atem und die Augen in Flammen, wenn ihr mich lachen machtet und weinen, war's nicht deshalb, weil ich mit euch alle meine Hoffnungen von damals zum Kranze band, die nun, nicht anders als ihr, vertrocknet und verwest sind und die, ohne Blüten getragen zu haben wie ihr, nun in den Staub zurückgekehrt sind?

Was meine Mutter so trostlos machte, war das Fehlen von Willenskraft bei mir. Ich tat alles unter dem Einfluß des Augenblicks. Solange dieser Augenblick von Quellen des Geistes und des Herzens gespeist wurde, solange war mein Leben, wenn auch nicht ganz gut, so doch nicht ganz schlecht. Vor allem schwebte uns die Verwirklichung aller meiner vielen schönen Pläne vor, als da sind: Arbeit, Ruhe, vernunftgemäßes Leben, denn wir beide, meine Mutter und ich, fühlten, sie klarer und ich verworrener, aber auch ich mit großer Kraft, daß diese Verwirklichung nichts anderes ist als eine Neuschöpfung meines Lebens von mir selbst aus und in mir selbst, ein Zauberbild, auf die Wände der Zukunft geworfen, ein Ergebnis dieser Willenskraft, die alles in ihrem Schoß empfangen hatte, alles darin hatte groß werden lassen. Aber immer verschob ich es auf den nächsten Tag. Ich ließ mir Zeit; oft tat es mir leid, den Augenblick vorübergleiten zu sehen, aber ich hatte doch noch so viel vor mir! Indessen hatte ich doch ein wenig Angst, unklar begriff ich, daß mein gewohnter Verzicht auf die Willensentfaltung immer mehr und mehr auf mir lastete, durch je mehr Jahre er sich hinzog. Traurig fragte ich mich, ob die Dinge sich nicht mit einem Schlage ändern könnten, mir wurde bewußt, ich dürfe nicht auf ein schmerzloses Wunder rechnen, um mein Leiden umzugestalten, meine Willenskraft aus der Erde zu stampfen. Es war nicht genug, Sehnsucht nach der Willensentfaltung in sich zu tragen, es brauchte gerade das, was ich nicht ohne Willenskraft konnte: wollen.

III

Krachen läßt der wüste Sturm der sinnlichen Begierden dein armes Fleisch als wie ein altes Fahnentuch.

Baudelaire

Während meines sechzehnten Lebensjahres überstand ich eine Krise, die mich kränklich machte. Um mich zu zerstreuen, ließ man mich in der Welt debütieren. Junge Männer nahmen die Gewohnheit an, mich aufzusuchen. Einer von ihnen war verderbt und böse. Sein Benehmen war zugleich kühn und sanft, ich verliebte mich in ihn. Meine Angehörigen hörten davon, überstürzten aber nichts, um mir jedes Leid zu ersparen. Wenn ich ihn nicht sah, dachte ich unaufhörlich an ihn, und schließlich erniedrigte ich mich so weit, ihm so ähnlich zu werden, als es nur möglich war. Er führte mich in schlimme Geheimnisse ein, fast durch Überraschung, dann gewöhnte er mich daran, daß ich in mir schlechte Gedanken wach werden ließ, denen ich keine Willenskraft entgegenzusetzen hatte, und doch wäre sie die einzige Macht gewesen, diese bösen Gedanken in das höllische Dunkel zurückzustoßen, woher sie kamen. Als die Liebe zu Ende war, hatte die Gewohnheit ihren Platz eingenommen, und es fehlte nicht an unmoralischen jungen Leuten, welche die Gelegenheit wahrnahmen, sie auszubeuten. Sie waren die Genossen meiner Fehltritte und wurden auch ihre Verteidiger meinem Gewissen gegenüber. Anfangs empfand ich bittere Reue, ich machte Geständnisse, die aber nicht verstanden wurden. Meine Kameraden brachten mich davon ab, weiter bei meiner Familie darauf zu bestehen. Nach und nach brachten sie mir die Überzeugung bei, alle jungen Mädchen täten das gleiche, und die Eltern machten nur so, als wüßten sie nichts davon. Wenn ich gezwungen war, zu lügen, so war meine Einbildungskraft bald imstande, diese Lügen mit einem Schimmer von Schweigen still zu umgeben, das, einer unentrinnbaren Notwendigkeit gegenüber gewahrt, der allgemeinen Sitte entsprach. In diesem Augenblick lebte ich nicht mehr im wahren Sinne des Wortes, aber noch träumte ich, ich dachte und fühlte.

Um alle diese bösen Begierden zu zerstreuen und zu verjagen, ging ich viel in Gesellschaft. Ihre Vergnügungen dörrten meine Seele aus, sie brachten mir die Gewohnheit bei, stets in großer Gesellschaft zu leben, und mit der Freude an der Einsamkeit ging mir auch das Geheimnis der Freuden verloren, die ich bis jetzt der Natur und der Kunst verdankt hatte. Nie war ich so oft in Konzerten wie in diesem Jahr, ich war ganz dem Wunsche hingegeben, in einer eleganten Loge bewundert zu werden, und nie hat Musik weniger tief auf mich gewirkt. Ich hörte alles, verstand nichts. Wenn ich sie zufälligerweise doch verstand, so hatte ich trotzdem aufgehört, das bei ihr zu empfinden, was nur die Musik entschleiern kann. Auch meine Spaziergänge waren mit Unfruchtbarkeit geschlagen; früher konnte mich ein Nichts für den ganzen Tag glücklich machen: ein wenig Sonnengold auf dem Rasen, der Duft der Blätter unter den letzten Regentropfen, nun hatte all dies für mich seine Süße und seine Heiterkeit verloren. Wälder, Himmel, Gewässer schienen sich von mir abzuwenden. Blieb ich allein mit ihnen, Angesicht zu Angesicht, dann stellte ich ängstlich Fragen an sie, aber sie flüsterten mir nicht ihre rätselvollen Antworten entgegen, die mich einst entzückt hatten. Die himmlischen Gäste, welche aus den Wassern, aus dem Laubwerk, aus dem Himmelsrund sprechen, würdigen ihres Besuches nur die Herzen, die in sich selbst ruhen und die geläutert sind.

Ich war auf der Suche nach einem Gegenmittel, ich hatte nicht den Mut, das richtige zu wählen, das so nah und ach so weit von mir war, das in meiner eigenen Brust wohnte – und so gab ich mich von neuem sträflichen Freuden hin und glaubte, so die Flamme wieder anzufachen, welche die große Welt ausgelöscht hatte. Vergebens. Gefesselt von der Lust, zu gefallen, verschob ich von Tag zu Tag die endgültige Entscheidung, die Wahl, den wirklich freien Willensakt, mich für die Einsamkeit zu entschließen. Ich verzichtete nicht auf eins von meinen beiden Lastern zugunsten des anderen. Ich mischte sie miteinander – was sage ich, jedes von diesen Lastern setzte seine Kraft ein, alle Hindernisse des Gedankens und des Gefühls zu durchbrechen, die vielleicht dem anderen Einhalt geboten hätten –, so schien eins das andere zu rufen. Denn ich ging in die Gesellschaft, um mich nach einem Fehltritt zu beruhigen, und ich beging einen neuen, sobald ich ruhig geworden war. Dies ist der furchtbare Augenblick, meine Unschuld hatte ich verloren, noch hatte ich nicht die Gewissensbisse von heute, nie in meinem ganzen Leben bin ich weniger wert gewesen, und nie ward ich mehr von allen vergöttert. Früher hatte man mich für ein prätentiöses, übertriebenes kleines Mädchen gehalten, jetzt, gerade im Gegenteil, waren es die Aschenreste meiner Phantasie, die der Welt behagten und die man köstlich fand. Jetzt, während ich gegen meine Mutter das allerschwerste Vergehen beging, nannte man mich, weil meine Haltung gegen sie zärtlich und achtungsvoll war, ein leuchtendes Beispiel für alle Mädchen. Nach dem Selbstmord meines Denkens bewunderte man meine Klugheit, man geriet außer sich vor meinem Reichtum an Geist; meine Einbildungskraft war verdorrt, mein zartes Fühlen verroht, und gerade jetzt konnte ich den höchsten Ansprüchen des geistigen Lebens in der Gesellschaft genügen, denn diese Ansprüche waren ja nur künstlich gemacht, lügenhaft war der Trunk genauso wie die Quelle, aus der man ihn löschen wollte. Übrigens ahnte niemand das geheime Laster meines Lebens, allen erschien ich als ein ideales junges Mädchen. Wie viele Eltern sagten nun zu meiner Mutter, sie würden keine andere Frau für ihren Sohn gewollt haben, hätten sie nur an mich denken dürfen und stünde ich nicht zu hoch. Auf dem Grunde meines versteinerten Gewissens empfand ich trotzdem ein verzweifeltes Schamgefühl bei diesen Schmeicheleien und bei diesen Lobsprüchen.

Aber dieses Gefühl kam nicht an die Oberfläche, denn so tief war ich gesunken, daß ich die Unwürdigkeit beging, lachend diese Lobsprüche den Genossen meiner Laster zu erzählen.

IV

»Gewidmet dem, der verloren hat,
was sich nie wiederfindet ... nie.«

Baudelaire

Im Winter meines zwanzigsten Lebensjahres wurde die Gesundheit meiner Mutter, die nie die stärkste gewesen war, sehr erschüttert. Ich erfuhr, daß ihr Herz erkrankt war, noch ohne besondere Gefahr, aber doch so, daß man ihr alles Störende fernhalten sollte. Einer meiner Onkel sagte mir, meine Mutter wünsche mich verheiratet zu sehen. Eine wichtige, klare Pflicht wurde mir vor Augen gestellt, ich sollte meiner Mutter beweisen, wie sehr ich sie liebte. Ich nahm die erste Werbung an, die sie mir übermittelte und die sie billigte, und setzte so, mangels Willenskraft, die Notwendigkeit an die erste Stelle, damit sie mich zwingen sollte, mein Leben zu ändern. Mein Verlobter war ein junger Mensch, dessen außerordentliche Intelligenz, dessen Sanftheit und Energie gerade einen besonders glücklichen Einfluß auf mich ausübten. Außerdem war er entschlossen, mit uns zu wohnen, ich mußte mich nicht von meiner Mutter trennen, was mir den bittersten Schmerz bereitet hätte.

Nun fand ich den Mut, alle meine Fehler meinem Beichtvater zu bekennen. Ich fragte ihn, ob ich dasselbe Geständnis auch meinem Verlobten schulde, er war mitleidig genug, mich von diesem Gedanken abzubringen, aber er ließ mich schwören, nie meine Verirrungen zu wiederholen, und gab mir dann die Absolution. Die späten Blüten, welche die Freude in meinem Herzen (ich hatte es längst für ewig verdorrt gehalten) sprießen ließ, trugen bald ihre Früchte. Die Gnade Gottes, das Gnadengeschenk einer Jugend, in der so viele Wunden sich von selbst dank der Lebenskraft dieses Alters schließen, hatten mich geheilt.

Wenn es schwerer ist, Keuschheit wiederzugewinnen als sie zu verlieren – ein Ausspruch des Heiligen Augustin –, so lernte ich jetzt eine eigene Tugend kennen. Kein Mensch zweifelte daran, daß ich nun viel mehr wert sei als zuvor, und meine Mutter küßte jeden Abend meine Stirn, nie hatte sie aufgehört, daran zu glauben, daß diese Stirn rein war. Mehr noch, man machte mir in diesem Augenblick wegen meines zerstreuten Wesens, wegen meines Schweigens, wegen meiner Schwermut in der Gesellschaft ungerechte Vorwürfe. Aber ich wurde nicht böse, zwischen mir und meinem beruhigten Gewissen war ein Geheimnis, dem ich viel innere Freude verdankte. Einen unendlich zarten Zauber hatte die Genesung meiner Seele, sie lächelte mir jetzt wie das Antlitz meiner Mutter, wie mit zärtlichem Vorwurf durch gestillte Tränen. Ja, meine Seele begann ein neues Leben, nun verstand ich nicht mehr, wie ich diese Seele hatte mißhandeln, quälen, ja fast töten können, und ich dankte Gott aus strömendem Herzen, sie noch im letzten Augenblick gerettet zu haben.

Diesen selben Gleichklang der tiefen, reinen Freude und der frischen Heiterkeit des Himmels genoß ich an dem Abend, wo »alles sich erfüllt hat«. Trotzdem mein Verlobter, der auf zwei Tage zu seiner Schwester gereist war, abwesend war, trotzdem der junge Mann, den die schwerste Verantwortung für meine begangenen Fehltritte traf, am Diner teilnahm, empfand ich an diesem klaren Maienabend nicht die geringste Traurigkeit. Keine Wolke am Himmel, keine auf seinem Spiegel, meiner Seele. Als bestehe zwischen meiner Mutter und meiner Seele eine geheimnisvolle Verbindung (obwohl die Mutter von meinen Verfehlungen absolut nichts wußte), war mit meiner Seele auch meine Mutter fast geheilt. »Man muß sie noch acht Tage schonen«, hatte der Arzt gesagt, »dann wird ein Rückfall kaum zu befürchten sein.« Diese Worte allein genügten, mir eine so glückliche Zukunft zu versprechen, daß ich bei dem Gedanken an all diese Milde in Tränen zerfloß. An diesem Abend trug meine Mutter ein etwas eleganteres Kleid, als es sonst ihre Gewohnheit war, und obwohl mein Vater seit zehn Jahren schon tot war, hatte sie heute zum erstenmal etwas Malvenfarbiges an ihr gewohntes schwarzes Kleid getan. Sie war ganz verwirrt, jetzt wie in jüngeren Jahren gekleidet zu sein, traurig und erfreut zugleich, daß sie ihren Schmerz und ihre Trauer bezwungen hatte, um mir Vergnügen zu bereiten und meine Freude zu feiern. Ich nestelte eine rosa Nelke an ihren Gürtel, sie stieß sie erst zurück, doch weil sie von mir kam, steckte sie sie verschämt und mit zögernder Hand an. Als wir uns zu Tisch setzen wollten, zog ich sie in die Nähe des Fensters und küßte leidenschaftlich ihr Gesicht, das sich von den früheren Leiden zart erholt hatte. Es ist nicht wahr, was ich gesagt habe – daß ich die Süßigkeit ihres Kusses in Oublis nie wieder empfunden hätte. Der Kuß an diesem Abend war mir süßer als jemals ein anderer. Oder – es war derselbe Kuß wie in Oublis, denn der Zauber einer ähnlichen Minute hatte ihn geweiht; er schwebte leise aus den Tiefen der Vergangenheit empor und legte sich zwischen die noch ein wenig blassen Wangen meiner Mutter und meine Lippen.

Man trank auf das Glück meiner bevorstehenden Ehe. Ich war gewohnt, nur Wasser zu trinken, denn der Wein erregte meine Nerven zu sehr. Doch mein Onkel erklärte, bei einer solchen Gelegenheit könnte ich schon eine Ausnahme machen. Ich erinnere mich genau des lustigen Gesichtes, das er bei diesem dummen Ausspruch machte ... Mein Gott! Mein Gott! Ich habe mit so viel Ruhe alles gebeichtet, soll ich nun hier nicht mehr weiterkönnen? Ich weiß nichts mehr! Doch, ja ... mein Onkel sagte, bei solch einer Gelegenheit könnte ich eine Ausnahme machen. Er sah mich dabei lachend an, und ich trank sehr schnell und ohne meine Mutter anzusehen, aus Angst, daß sie es mir verbieten würde. Sie sagte sanft: »Man soll dem Bösen nie einen Platz einräumen, und sei es ein noch so geringer.« Aber der Champagner war so kühl, daß ich noch zwei Gläser trank. Mein Kopf war nun schwer und benommen, ich sehnte mich sowohl nach Ruhe als auch danach, meine erregten Nerven zu entspannen. Man erhob sich. Jacques kam auf mich zu und sagte, indem er mich unverwandt ansah:

»Wollen Sie mit mir kommen? Ich möchte Ihnen ein paar Verse zeigen, die ich geschrieben habe.«

Seine schönen Augen leuchteten sanft aus seinem frischen Gesicht, langsam kräuselte er mit einer Hand seinen Schnurrbart. Ich verstand sofort, daß ich verloren sei, und fand keine Kraft, zu widerstreben. So sagte ich zitternd:

»Ja, es wird mir Freude machen.«

Mit diesen Worten, nein, vielleicht schon vorher, als ich das zweite Glas Champagner trank, beging ich die wirklich verantwortungsvolle, die schändliche Tat. Danach ließ ich mich nur noch treiben. Wir hatten beide Türen zugeschlossen, und er preßte mich an sich, ich fühlte seinen Atem an meiner Wange, fühlte seine Hände, die an mir entlangtasteten. Die Lust ergriff mich mehr und mehr: doch gleichzeitig mit dieser Wollust erwachte eine unendliche Traurigkeit, eine grenzenlose Verzweiflung in der Tiefe meines Herzens. Es schien mir, als machte ich die Seele meiner Mutter, die Seele meines Schutzengels und meines Gottes um mich weinen. Niemals hatte ich ohne zitterndes Entsetzen lesen können, daß Verbrecher Tiere, ihre eigenen Frauen und ihre Kinder quälen. Nun schien es mir in meiner Verwirrung, daß in jeder wollüstigen, sträflichen Handlung ebensoviel Grausamkeit von Seiten des genießenden Körpers enthalten ist und daß in uns die guten Vorsätze, die reinen Engel, gemartert werden und weinen.

Bald mußten meine Onkel ihr Kartenspiel beendet haben und zurückkommen. Wir konnten ihnen entgegengehen, ich würde nicht mehr sündigen, es war das letztemal ... Plötzlich sah ich mich über dem Kamin im Spiegel. Von der unbestimmten Angst meiner Seele war auf meinem Gesicht nichts zu sehen; aber es strahlte, angefangen von den leuchtenden Augen bis herab zu den brennenden Wangen und dem dargebotenen Mund, es strahlte förmlich in einer sinnlichen, stumpfsinnigen und brutalen Lust. Sofort dachte ich, wie müßte sich irgend jemand entsetzen, der mich gesehen hätte, wie ich meine Mutter vorhin mit melancholischer Zärtlichkeit geküßt hatte, und mich jetzt so zum Tier verwandelt sah. Doch im Spiegel preßte sich gierig unter seinem Schnurrbart der Mund Jacques' an meine Wange. Bis ins Tiefste verwirrt näherte ich meinen Kopf dem seinen, als vor mir, ja, ich kann sagen, wie es war, hört mich, denn ich weiß es, vor mir auf dem Balkon sehe ich meine Mutter, die mich entgeistert anstarrt. Ich weiß nicht, ob sie geschrien hat, ich habe nichts gehört, aber sie ist hinterübergefallen und ist mit dem Kopf zwischen zwei Stangen eingeklemmt liegengeblieben...

Was jetzt kommt, erzähle ich euch nicht zum letzten Male, auch habe ich es schon gesagt: fast hätte ich mich gefehlt, ich hatte gut gezielt, aber schlecht geschossen. Doch man hat die Kugel nicht extrahieren können, und Komplikationen von seiten des Herzens haben begonnen. Aber nun kann ich womöglich noch acht Tage leben, und bis dahin werde ich nicht aufhören, über den Anfang nachzugrübeln und das Ende zu schauen.

Lieber wäre es mir sogar gewesen, wenn mich meine Mutter auch bei der Verübung der anderen Verbrechen gesehen hätte, ja und sogar auch noch bei diesem – nur hätte sie den Ausdruck von Freude nicht sehen sollen, den mein Gesicht im Spiegel hatte. Nein, sie hat ihn nicht sehen können ... es ist ein zufälliges Zusammentreffen ... der Schlaganfall hat sie getroffen, eine Minute, bevor sie mich sah... Sie hat es nicht gesehen ... Es kann nicht sein! Gott, der ja alles wußte, kann das nicht gewollt haben.


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