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»So wie der Krebs, der Widder, der Skorpion, die Waage ihren niedern Sinn verlieren als Zeichen des Tierkreises, so kann man die eigenen Fehler ohne Zorn in den Schattenbildern ferner Personen erkennen.«
Emerson
Die Geliebte Fabrices war klug und schön, das war ihm fürchterlich. »Sie sollte sich nicht so gut auskennen in ihrem Innenleben!« rief er unter Stöhnen. »Ihre Schönheit ist mir durch ihre Intelligenz verleidet. Könnte mich denn die Gioconda, wenn ich das Bild sehe, so tief ergreifen, wenn ich gleichzeitig die Dissertation eines Kritikers über sie hören müßte, und wäre sie noch so ausgezeichnet?«
Er verließ sie, nahm eine andere Geliebte, die schön war und dumm wie die Nacht. Aber sie hinderte ihn beständig, ihren Reiz zu genießen, denn sie war taktlos bis zur Schonungslosigkeit. Überdies erhob sie intellektuelle Ansprüche, las viel, ward pedantisch und wurde ebenso gehirnlich wie die erste, nur weniger anmutsvoll, und ihre Plumpheit streifte das Lächerliche. Er bat sie, sie möge den Mund halten. Aber auch wenn sie schwieg, spiegelten die schönen Züge ihre ganze Dummheit wider.
Endlich lernte er eine Frau kennen, deren Klugheit sich nur durch eine besonders subtile Grazie verriet, eine Frau, die nichts anderes wollte als nur leben und die sich hütete, in allzu wissenschaftlichen Unterhaltungen das bezaubernde Geheimnis ihrer Natur zu vergeuden.
Sanft war sie wie die anmutsvollen Tiere, die leichtfüßigen mit den tiefen Augen; und sah man sie, konnte sie verwirren wie beim Erwachen morgens das ergreifende, unfaßbare Erinnerungsbild unserer Träume. Aber sie hatte nicht das für ihn, was die andern zwei gehabt hatten: Liebe.
Myrto, geistreich, hübsch, gütig, aber versessen auf Schick, zieht allen Freundinnen Parthenis vor, die Herzogin ist und brillanter als alle. Indessen findet Myrto Freude auch an Lalage, die ihr an Eleganz genau gleichkommt, und ist nicht unempfindlich für die Freundlichkeiten von Cleanthis, die im verborgenen blüht und keinen besonderen Ehrgeiz hat. Aber wen Myrto durchaus nicht leiden kann, das ist Doris; die gesellschaftliche Stellung von Doris ist etwas niedriger als die von Myrto, Doris legt auf Myrto Wert, wie es Myrto mit Parthenis tut, ihrer größeren Eleganz wegen.
Wenn wir nun bei Myrto diese Vorliebe und diese Antipathien wahrnehmen, so liegt der Grund erstens darin, daß die Herzogin Parthenis unserer Myrto Vorteile bietet, ferner darin, daß Parthenis, wenn sie Myrto liebt, es doch nur Myrtos selbst wegen tun kann, wohingegen Lalage ihrerseits sie nur egoistisch lieben kann, denn in jedem Falle sind beide auf derselben Stufe der Leiter, brauchen daher einander. Endlich ist es so, daß, wenn Myrto Lalage Freundlichkeiten erweisen soll, die sich unter Umständen uneigennützig verhalten kann, indem sie sich auf ihren eigenen Geschmack verläßt im Verstehen und Sympathisieren. Das gibt ihr einen gewissen Stolz, denn sie ist elegant genug, um im Notfall auf Eleganz zu verzichten. Andererseits appelliert Doris nur an Myrtos Luxusbedürfnis, kann es aber persönlich nicht befriedigen; sie kommt zu Myrto wie ein Wald- und Wiesenköter zu einem Fleischerhund, der die Knochen gezählt hat; sie möchte zu gern von ihren Herzoginnen verkosten, ihr gern eine fortnehmen, wenn's ginge. Schließlich mißfällt sie, genau wie Myrto selbst, durch das Mißverhältnis zwischen ihrem wirklichen Rang und dem, den sie anstrebt, und so zeigt sie Myrto ihr eigenes Bild in ihrem Spiegel. Dieselbe Freundschaft, die Myrto für Parthenis übrig hat, erkennt sie unter außerordentlichem Mißvergnügen in den Gunstbezeigungen der Doris wieder. Lalage, selbst Cleanthis erinnern sie an ihre ehrgeizigen Träume, Parthenis war wenigstens im Begriff, diese zu verwirklichen: Doris hingegen spricht ihr nur von ihrer Kleinheit. Nun empfindet sie Doris gegenüber (allzu gereizt, als daß sie die amüsante Rolle der hohen Beschützerin spielen könnte) das, was ganz genau Parthenis ihr gegenüber empfinden sollte. Aber Parthenis ist hoch erhaben über Snobismus: sie haßt Myrto von ganzem Herzen.
Ercole war Zeuge einer etwas lockeren Szene und wagte nicht, sie der Herzogin Adelgise zu erzählen, hatte aber nicht dieselben Bedenken bei der Kurtisane Heldémone.
»Ercole«, rief Adelgise, »Sie trauen mir also nicht zu, diese Geschichte zu verstehen? Ach, ich weiß nur zu genau, daß Sie hierin die Kurtisane Heldémone anders behandeln. Mich achten Sie nur, Sie lieben mich nicht.«
»Ercole«, rief Heldémone, »haben Sie nicht genug Scham im Leibe, um mir derartiges zu verschweigen? Seien Sie selbst Richter! Würden Sie sich dies der Herzogin Adelgise gegenüber erlauben? Sie achten mich nicht. Sie können mich nicht lieben.«
Fabrice glaubt Beatrice auf ewig zu lieben und möchte es auch; er denkt aber daran, daß er in gleicher Weise je sechs Monate lang geglaubt und gewollt hat, Hippolyta, Barbara oder Clelia zu lieben. Nun versucht er in den wirklichen Eigenschaften von Beatrice irgendeinen Grund zur Gewähr zu finden für die Hoffnung, auch nach dem Ende der großen Leidenschaft weiter mit ihr verkehren zu können; denn der Gedanke, er könne eines Tages ganz ohne sie auskommen, ist durchaus unvereinbar mit einem Gefühl, das die Illusion einer ewigen Dauer nicht entbehren kann. Dann will er sich aber als kluger Egoist nicht ganz, nicht mit allen seinen Gedanken, seinen Handlungen, seinen augenblicklichen Absichten, mit seinen alles umfassenden Zukunftshoffnungen einem Menschen hingeben, der eigentlich nur der Gefährte einiger seiner Stunden gewesen ist.
Beatrice hat, das weiß er, Klugheit und gutes eigenes Urteil: »Welche Freude steht mir nach dem Ende meiner Liebe bevor! Mit ihr über andre, über sie selbst auch zu sprechen, über meine vergangene Liebe für sie ...« (Freilich sollte diese, so hofft er, verwandelt in dauernde Freundschaft, wiederaufleben.)
Kaum ist aber seine Leidenschaft für Beatrice vorbei, da bricht er den Verkehr ab, geht zwei Jahre lang nicht zu ihr, hat nicht einmal Lust, sie zu sehen, und leidet darunter nicht im mindesten. Eines Tages ist er gezwungen, sie doch aufzusuchen, er tut's wider Willen, bleibt zehn Minuten. Warum? Er träumt Tag und Nacht von Giulia, die zwar unbegreiflich dumm ist, aber deren blaßblonde Haare duften wie ein feines Gras und deren Augen unschuldig sind wie zwei Blumen.
Außerordentlich leicht und seltsam angenehm lebt es sich mit gewissen Personen von großen natürlichen Anlagen, die geistreich sind und leidenschaftlich, dabei doch fähig zu allen Lastern, wenn sie auch keines in der Öffentlichkeit treiben oder es von auch nur einer Person ahnen lassen. Sie haben eine gewisse Fülle, ein bestimmtes Geheimnis. Dann gibt diese Verderbtheit auch ihren unschuldigsten Handlungen einen aufreizenden Hauch, es ist, als ginge man nachts spazieren in den Gärten.
Ich sah Sie eben zum erstenmal, Cydalise, und bewunderte vor allem Ihr blondes Haar, das wie ein kleiner Helm Ihr kindliches, melancholisches, reines Haupt bedeckte. Ein Kleid von blaßrotem Samt machte dieses eigenartige Gesicht noch sanfter, dessen Geheimnis die gesenkten Wimpern für immer zu versiegeln schienen. Aber dann erhoben Sie den Blick, Sie richteten ihn auf mich, und als ich Ihre Augen sah, glaubte ich das unberührte Kristall des frühen Morgens in ihnen abgespiegelt oder die Reinheit fließenden Wassers am ersten schönen Frühlingstage. War es nicht, als hätten diese Augen nichts davon gesehen, was andern Menschenaugen schon zur trüben Gewohnheit geworden ist? Augen, noch im Stande der Jungfräulichkeit, noch frei von jeder erdenhaften Erfahrung?
Aber je länger ich Sie ansah, desto mehr drückten Sie eine Mischung von Liebe und Leiden aus, als seien Sie eine von denen, welchen eine böse Fee alle Wünsche schon vor der Geburt versagt hat. Selbst der Stoff Ihres Kleides fiel an Ihnen in einer schmerzvollen Grazie herab, besonders traurig auf Ihre Arme, die so verschüchtert wirkten in ihrer Einfachheit, in ihrem Zauber. Nun phantasierte ich Sie in eine Prinzessin, die weither gekommen ist, quer durch die Jahrhunderte, die sich hier nicht wohl fühlte, nie ihr verzichtendes Schmachten ablegte, Prinzessin in der Kleidung, deren altertümliche, seltene Harmonie zu betrachten den Augen bald zur süßen, entnervenden Gewohnheit wurde. Ich wollte Ihnen Ihre Träume erzählen, Ihre Leiden. Ich hätte so gern in Ihren Händen einen alten Becher gesehen oder noch besser eine Trinkschale, ein Gefäß von so stolzer und so trauriger Form, wie man sie jetzt leer in unsern Museen stehen sieht. Dort heben sie mit vergeblicher Grazie ihren ausgeschöpften Kelch in die Höhe. Aber einst waren sie wie Sie, Cydalise, die frische Wonne bei den Gastmählern Venedigs, und etwas von den letzten Rosen dieser Feste scheint noch in dem blinkenden Fluß des trüb und undurchsichtig gewordenen Glases zu schweben.
»Wie können Sie Hippolyta fünf andern Damen vorziehen, die ich Ihnen eben genannt habe und die nach allgemeinem Urteil als die fünf wundervollsten Schönheiten Veronas gelten? Vor allem ist Hippolytas Nase viel zu lang und zu sehr gekrümmt.« – Nun sagen Sie nur noch, daß ihre Haut zu dünn ist, die Oberlippe zu kurz, daß sie den Mund zu sehr schürzt beim Lachen, so daß ein spitzer Winkel sich bildet. Und doch; bezaubert mich ihr Lachen grenzenlos, das reinste Profil läßt mich kalt neben der nach Ihrer Ansicht allzusehr gekrümmten Nasenlinie, die mich so aufregend an einen Vogel erinnert. Auch ihr Kopf hat für mich etwas Vogelartiges, er ist so lang von der Stirngegend bis zum blonden Nacken, mehr noch von einem Vogel haben ihre durchdringenden sanften Augen. Oft sehe ich sie im Theater, über den Rand der Loge gebeugt, ihre weißbehandschuhten Arme sprühen geradezu empor bis zu den Fingergliedern der Hand, auf die sich ihr Haupt stützt.
Ihr vollendet schöner Körper füllt sein gewohntes weißes Gazekleid, als hätte er nach rückwärts zusammengefaltete Flügel. Man denkt an einen Vogel, der auf seinem zarten, eleganten Bein träumend dasteht. Auch ist es bezaubernd, zu sehen, wie Hippolytas Federfächer um sie flattert und mit seinem weißen Fittich schlägt.
Ich habe nie ihren Söhnen oder Neffen begegnen können, die alle ihre gekrümmte Nase haben, die schmalen Lippen, die durchdringenden Augen – ohne in Verwirrung zu geraten, denn ich erkannte ihre Rasse wieder, die zweifellos der Verbindung eines Vogels mit einer Göttin entsprossen ist. Durch die Metamorphose hindurch, die jetzt einen geflügelten Traum in die Weibesform bannt, erkenne ich den kleinen königlichen Kopf des Pfauen, hinter dem nun nicht mehr Wogen meerblau, meergrün wallen und schillern und hinter dem nicht mehr der Schaum seines mythologischen Gefieders sich ergießt. Sie aber gibt die Gestalt eines Fabelwesens, verbunden mit dem heiligen Schauer der Schönheit.
Eine Frau macht aus ihrer Vorliebe für Bälle, Rennen und selbst für Glücksspiel kein Geheimnis. Sie sagt es, sie gesteht es offen oder rühmt sich dessen. Aber versuchen Sie ja nicht, sie dazu bringen zu wollen, daß sie ihre Vorliebe für den Schick zugibt, sie würde Zeter und Mordio schreien und ernstlich böse werden. Das ist die einzige Schwäche, die sie den Augen der andern verbirgt, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil einzig durch diese ihre Eitelkeit gedemütigt würde. Von Karten abhängig zu sein, das kann ihr recht sein, aber nicht von Herzogen. Wenn sie eine Tollheit macht, so glaubt sie sich deshalb noch niemandem unterlegen, aber im Gegensatz dazu begreift ihr Snobismus in sich, daß sie bestimmten Menschen gegenüber unterlegen ist oder es doch wird, indem sie in ihrer Spannkraft nachläßt. So kann man das Schauspiel erleben, daß eine Frau den Schick proklamiert, eine stumpfsinnige Angelegenheit, hierbei aber eine Feinheit entfaltet, einen Geist, eine Intelligenz, groß genug, um mit ihnen eine reizende Geschichte zu schreiben oder genial die Freuden und Leiden ihres Geliebten zu variieren.
Vor nichts haben geistvolle Frauen mehr Angst als davor, daß man sie der Liebe zum Schick bezichtigen könnte, die sie immer verschweigen; werden sie in der Unterhaltung bedrängt, so flüchten sie in eine Umschreibung, um den Namen dieses Geliebten nicht nennen zu müssen, der sie kompromittieren könnte. Im Notfall werfen sie sich auf das Wort Eleganz, das den Verdacht ablenken kann und ihre Lebensrichtung mehr in die Regionen der Kunst als in die der Eitelkeit zu steuern scheint. Bloß wer noch nicht bis zum Schick vorgedrungen ist oder ihn verloren hat, nennt das Wort mit der ganzen Glut und Gier unbefriedigter oder verlassener Liebesseelen. So kommt's, daß gewisse junge Frauen, die vorwärts wollen, und ältere, die über die Höhe hinaus sind, gern vom Schick der andern sprechen, ob diese ihn haben oder, noch besser, nicht haben. Der Wahrheit die Ehre, von dem nicht vorhandenen Schick der andern zu sprechen macht mehr Spaß, aber mehr Stoff gibt das Gespräch über den wirklich existenten Schick, es nährt die ausgehungerte Phantasie als richtig kräftiges Gericht.
Ich habe Frauen gekannt, denen der Gedanke an die Liaisons einer Herzogin einen Schauer (mehr des Vergnügens als des Neides) verschaffte. Scheinbar gibt es in der Provinz Krämerfrauen, deren Hirn wie ein enger Käfig die brennenden Begierden nach Schick gefangen hält, als seien es wilde Tiere.
Der Postbote bringt ihnen den »Gaulois«. Die neuen Moden sind in einer Sekunde überflogen. Das unruhvolle Herz der Provinzdame hat seinen Trost, und für eine Stunde sind ihre Blicke heiter geworden, denn in ihren weit gewordenen Augensternen will der Genuß brennen und die leuchtende Bewunderung.
Wenn Sie nicht zur Gesellschaft gehören und man erzählt Ihnen, daß Elianthe jung ist, schön, angebetet von ihren Freunden und verliebt, daß sie trotzdem ohne einen Augenblick der Ruhe um die Gunst gewisser Männer buhlt und sich die harte Abweisung seitens dieser Männer gefallen läßt, die oft häßlich, alt, stumpfsinnig sind, ferner, daß sie wie im Bagno arbeitet, um ihnen, die sie kaum kennt, zu gefallen, ferner, daß sie ihnen zuliebe verrückt wird, nüchtern wird, daß sie sich durch ungezählte Liebesdienste zu ihrer Freundin macht, wenn sie arm sind, zu ihrer Schützerin, durch sinnliche Hingabe zu ihrer Mätresse – dann werden Sie denken: Welch ein Verbrechen muß Elianthe begangen haben, und wer sind die strengen, furchteinflößenden Amtspersonen, die sie unter allen Umständen gewinnen muß, denen sie ihre Freunde opfert, ihre Liebesbeziehungen, ihre Geistesfreiheit, die Würde ihres Daseins, ihr Vermögen, ihre Zeit, die intimsten weiblichen Antipathien? Nein, Elianthe hat kein Verbrechen begangen. Die Zeugen, die sie zu bestechen sucht, haben sich nie um sie gekümmert und hätten den ruhig und klar fließenden Strom ihres heiteren Lebens friedlich weiterwallen lassen. Aber ein furchtbarer Fluch lastet über der Unseligen: sie ist eine Snobdame.
Wohl ist Ihre Seele, wie Tolstoi sagt, ein dunkler Forst. Aber die Bäume sind von besonderer Art, es sind Stammbäume. Man nennt Sie eitel? Aber das Universum ist ja nicht ganz leer für Sie, solange es ein Wappenschild gibt. Auch dieses ist eine Weltschöpfung, die glänzend ist und der Symbole nicht ermangelt. Auch Sie haben Ihre Chimäre, und sie trägt Farben, wie man sie gemalt sieht auf heraldischen Feldern. Fehlt es Ihnen an Bildung? Sie sind durch die Schule des Tout-Paris, des Gotha, des High-life gegangen. Sie lesen die Schlachtberichte, welche die Namen der Altvorderen enthalten, die sich ausgezeichnet haben, und so finden Sie die Namen der Leute, die man zum Diner einladen muß, und auf dem Wege dieser Mnemotechnik ist Ihnen die Geschichte Frankreichs vertraut geworden. Daher eine gewisse Größe in Ihrem ehrgeizigen Traum, dem Sie Ihre Freiheit geopfert haben, Ihre Stunden der Muße und des Nachdenkens, Ihre Pflichten, Ihre Freundschaften, ja selbst die Liebe. In Ihrer Phantasie wird die Gestalt eines Ihrer neuen Freunde von dem großen Heer der Ahnenbilder begleitet und umgeben. In der allerältesten französischen Erde wurzeln die Stammbäume, die Sie mit so viel Liebe hegen und deren Früchte Sie alljährlich, mit so viel Lust pflücken. Ihr Traum baut die Gegenwart auf dem Fundament der Vergangenheit auf. Die Seele der Kreuzfahrer belebt die nichtssagenden Gesichter der zeitgenössischen Nachkommen, und wenn Sie fieberhaft die Namen auf den Visitenkarten immer wieder durchstudieren, so ist es deshalb, weil Sie bei jedem Namen fühlen, wie das prunkvolle alte Frankreich aufersteht, lebt und fast zu singen beginnt, als sei es ein Toter, auferstanden aus seinem wappengeschmückten Gruftgewölbe.
Sie haben sich heute nacht nicht zur Ruhe begeben und haben sich heute morgen noch nicht gewaschen?
Muß das gesagt sein, Oranthe?
Sie haben doch so viel Gaben mitbekommen. Glauben Sie nicht, daß dies genügt, um sich von der übrigen Welt zu unterscheiden; wozu dann noch dies triste Maskenspiel?
Die Gläubiger halten Sie in Ihren Fängen, Ihre Frau wird von Ihrer Untreue zur Verzweiflung gebracht. Sollen Sie einen Abendanzug tragen, so heißt das für Sie soviel wie sich in eine Livree zwingen, und keine Macht auf Erden kann Sie dazu bringen, anders in Gesellschaft zu erscheinen als zerzaust. Sitzen Sie beim Diner, dann behalten Sie Ihre Handschuhe an, um zu zeigen, daß Sie nicht essen, und haben Sie nachts Fieber, lassen Sie Ihre Viktoriakutsche anspannen, um ins Bois zu fahren.
Lamartine können Sie nur in einer Schneenacht lesen, und Wagner zu hören macht Ihnen nur Spaß, wenn Sie dazu Räucherwerk anzünden.
Trotzdem sind Sie ein Ehrenmann, reich genug, um ohne Schulden auskommen zu können, glauben aber diese Ihrem Genie schuldig zu sein; Sie sind zärtlich genug, um zu wissen, welchen Schmerz Sie Ihrer Frau bereiten, aber Sie würden es kleinbürgerlich finden, ihr den zu ersparen. Sie fliehen nicht die Menschen, wissen ihnen zu gefallen, und auch ohne Ihre langen Locken würden Sie durch Ihren Geist hervorstechen. Sie haben guten Appetit, essen hinreichend vor dem Diner und versteifen sich darauf, dort nüchtern zu bleiben, keinen Bissen zu essen. Nur bei den nächtlichen Spaziergängen, zu denen Ihre Originalität Sie verpflichtet, holen Sie sich Ihre Krankheiten. Ihre Phantasie ist stark genug, um Schneefall und verbranntes Räucherwerk zu erleben ohne Winter und ohne Parfümverbrenner, Sie sind gebildet und musikalisch genug, um Lamartine und Wagner zu lieben im Geiste und in Wirklichkeit. Alles vergebens! In der Seele eines echten Künstlers hegen Sie die Vorurteile eines Kleinbürgers, und selbst davon haben Sie uns durch einen für uns unfruchtbaren Tausch nur die Schattenseiten zu zeigen.
Es ist nur klug, sich gleichmäßig vor Percy, Laurence und Augustin in acht zu nehmen. Laurence zitiert Verse, Percy hält Konferenzen ab, Augustin sagt Wahrheiten. »Eine offenherzige Person«, das ist der Titel, und sein Beruf heißt: »Der wahre Freund.«
Augustin tritt in einen Salon. Ich schildere ihn, wie er ist, halten Sie sich zurück, vergessen Sie nie, er ist Ihr wahrer Freund. Vergessen Sie nicht, ebenso wie Percy und Laurence kommt er nie ungestraft, er wird gar nicht abwarten, daß Sie ihn um seine Wahrheiten fragen, ebensowenig wie Laurence damit wartet, mit seinem Monolog loszulegen, oder Percy mit seinen Ansichten über Verlaine. Er duldet ebensowenig eine Verzögerung des Beginns als eine Unterbrechung, denn er ist frank und frei, ebenso wie Laurence den Conférencier macht nicht etwa Ihnen zuliebe, sondern für sich, zu seinem eigenen Spaß. Ihr Mißfallen würzt sicher sein Vergnügen, nicht anders als Ihre Aufmerksamkeit dem Herzen von Laurence wohltut. Aber im Notfalle würden sie darauf verzichten. Also drei unverschämte Schurken, denen man jede Ermutigung versagen müßte, da diese das Festmahl oder geradezu die Nahrung ihres Lasters ist. Aber sie haben, ganz im Gegenteil, ihr eigenes Publikum, das sie am Leben läßt, und das Publikum Augustins, des Wahrheitskünders, ist sogar sehr zahlreich. Dieses Publikum ist durch die banale Theaterpsychologie und die absurde Sprichwörterweisheit »Wer gut liebt, der züchtigt gut« ganz aus dem Häuschen gebracht. Nun ist es durch nichts dazu zu bringen, zuzugeben, daß Schmeichelei manchmal einem überströmend wohlwollenden Herzen entspringen kann, während Freimütigkeit bisweilen der Geifer einer üblen Laune ist. Was, Augustin soll seine schlechte Sinnesart an einem Freunde auslassen? Das Publikum stellt in seinem unklaren Geiste der Römerfestigkeit die Kriecherei der Byzantiner entgegen, und stolz ruft es glänzenden Blicks im Vollgefühl seines höheren, weil banalen und taktlosen Wesens aus: »Er ist der letzte, der gut von Ihnen spricht. Fürwahr, Hut ab! Welch ein aufrichtiger Freund!«
Ein elegantes Milieu ist jenes, in dem die Meinung des einen sich nach der der anderen richtet. Ist die Meinung auf dem Widerspruch aufgebaut, haben wir untrüglich ein literarisches Milieu vor uns.
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Auch die Forderung des Wüstlings nach Jungfräulichkeit ist eine Form der ewigen Huldigung, in der die Liebe ihr Knie vor der Unschuld beugt.
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Sie gehen von den x zu den y, und die Dummheit, Gemeinheit, die miserable Situation der x liegt klar vor Augen. Die fabelhafte Einsicht der y flößt Ihnen Bewunderung ein, sie schämen sich jetzt dessen, daß Sie etwas für die x übriggehabt haben. Aber kehren Sie wieder zu denen zurück, dann erleben Sie es, daß diese die y fast mit denselben Mitteln in Stücke reißen. Man geht von einem zum andern, man geht von einem Schlachtfeld zum andern. Nur hört der eine nie die Flintenschüsse des andern, daher glaubt er, er allein habe Waffen. Hat man einmal festgestellt, daß die Bewaffnung, die Stärke oder besser gesagt die Schwäche die gleiche ist, so hört man auf, den, der schießt, zu bewundern und den zu verachten, der aufs Korn genommen wird. Hier fängt wahre Weisheit an. Die wahre Weisheit würde freilich damit enden, mit beiden Parteien zu brechen.
Honoré sitzt in seinem Zimmer. Er steht auf und betrachtet sich im Spiegel:
Seine Krawatte: Wie oft schon hast du mit Sehnsucht meinen Knoten angezogen und ihn wieder in Träumerei gelockert, bis er Ausdruck bekam und etwas unordentlich aussah! Also verliebt, mein Freund ... aber warum so trüb?.
Seine Feder: Ja, weshalb so traurig? Seit einer Woche hetzt du mich zu sehr, mein Meister, und doch habe ich mich schon sehr geändert in meiner Lebensführung. Ich war gewappnet für die ruhmreichsten Taten, und jetzt glaube ich, daß ich nur Liebesbriefe schreiben werde, wenn ich nach dem Briefpapier Schlüsse ziehen darf, das du dir hast kommen lassen. Aber diese Liebesbriefe werden traurig sein, das sagt mir die nervöse, verzweifelte Geste, mit der du nach mir greifst, um mich sofort wieder hinzulegen. Du bist verliebt, mein Freund, aber warum so traurig?
Rosen, Orchideen, Hortensien, Venushaar, die alle im Zimmer sind: Immer hast du uns geliebt, aber niemals hast du uns alle so oft zu dir gerufen, damit wir dich bezaubern durch unsere stolze oder übermütige Haltung, durch unsern beredten Ausdruck, durch die rührende Stimme unserer Düfte. Gewiß, du siehst in uns die frische Anmut deiner Vielgeliebten gespiegelt. Du bist verliebt, aber warum so traurig?
Die Bücher: Wir waren dir immer kluge Berater, du hast uns oft befragt und hast uns nie gehorcht. Bei deinen Handlungen haben wir dir nicht geholfen, wir haben dir gute Winke gegeben, du bist trotzdem ins Verderben gerannt. Aber du hast dich wenigstens nicht im dunkeln geschlagen und nicht wie unter einem Alpdrucke: Wirf uns nicht zur Seite wie alte Lehrer, die man nicht mehr mag. Schon als Kind hast du uns in Händen gehalten. Deine reinen Augen taten sich weit auf im Staunen, als du uns damals betrachtetest. Liebst du uns nicht um unserer selbst willen, dann doch wegen der Erinnerung an dich, der Erinnerung an dein früheres Selbst, Erinnerung an alles, was aus dir hätte werden können – und ist die bloße Möglichkeit, daß aus dir so viel hätte werden können, nicht auch schon ein Stück Wirklichkeit, wenn du daran denkst?
Komm, hör unsere traute, wortreiche Rede! Wir sagen dir nicht, weshalb du verliebt bist, nur, weshalb du traurig bist! Und verliert unser Kind seinen Mut und weint es, wir wiegen es in Schlummer wie einst, wenn die Stimme der Mutter unsern Worten die milde Würde lieh, vor dem Feuer, das hell in tausend Funken brannte und in den tausend Lichtern deiner Träume und deiner Hoffnungen strahlte.
Honoré: Ich liebe sie und glaube, sie wird mich lieben. Aber mein Herz sagt mir, daß ich, der bisher so Wandelbare, immer sie lieben werde; und meine gute Fee weiß, daß ihre Liebe nur einen Monat dauern wird. So zögere ich, bevor ich in das Paradies allzu flüchtiger Wonnen eintrete, auf der Schwelle und trockne meine Augen.
Seine gute Fee: Teurer Freund, ich bringe dir deine Begnadigung vom Himmel. Dein Glück soll nur von dir abhängen. Willst du während eines Monats, auf die Gefahr hin, dir die erhofften Freuden dieses Liebesbeginns zu trüben, deine Geliebte verschmähen, und weißt du die Koketterie so weit zu treiben, daß du den Gleichgültigen spielst, indem du nicht zu den verabredeten Rendezvous kommst, deine Lippen wegwendest, wenn sie dir, als sei es ein Strauß von Rosen, ihre Brust reicht – dann wird eure treue, gegenseitig geteilte Liebe sich auf dem Grund ewiger Dauer erheben, auf dem unverrückbaren Grundstein deiner Geduld.
Honoré (springt vor Freude auf) Meine gute Fee, ich bete dich an, ich gehorche dir!
Die kleine Uhr aus Meißner Porzellan: Deine Freundin ist unpünktlich; mein Zeiger hat bereits die Minute überschritten, zu der, so lang ersehnt, deine Freundin kommen sollte. Ich fürchte, ich muß noch lange mit meinem monotonen Pendelschlag die Zeit deiner melancholisch wonnigen Erwartung durchmessen; wohl weiß ich, was Zeit ist, nicht aber, was Leben ist; traurige Stunden wandeln den gleichen Gang auf meinem Zifferblatt wie die frohen, sie wimmeln in mir unerkennbar durcheinander wie Bienen im Sack.
Die gute Fee: Vergiß nicht, mir zu gehorchen, die ewige Dauer deiner Liebe hängt davon ab!
Die Uhr schlägt fieberhaft, die Rosen werden unruhig, die Orchideen beugen, sich in ihrer angstvollen Bedrängung vor Honoré, eine hat ein mißgünstiges Gesicht. Die tatenlose Feder betrachtet ihn mit Trauer, es tut ihr weh, sich nicht regen zu dürfen. Die Bücher setzen ihr ernstes Murmeln ohne Pause fort. Alles sagt ihm: »Gehorch der Fee und denk daran, daß die ewige Dauer deiner Liebe davon abhängt!«
Honoré (zögert nicht einen Augenblick); Wie sollte ich nicht gehorchen, wie könnt ihr an mir zweifeln?
Die Vielgeliebte tritt ein. Die Rosen, die Orchideen, die Uhr aus Meißen und der keuchende Honore, alles vibriert im gleichen Einklang mit ihr.
Honoré (stürzt auf ihren Mund) »Ich liebe dich!«
Epilog: Und es war, als hätte er der Sehnsuchtsflamme seiner Geliebten das Lebenslicht ausgeblasen. Sie tat, als ob sie beleidigt sei über die Unschicklichkeit seines Benehmens, sie floh, und nie sah er sie wieder, ohne daß sie ihn marterte mit ihrem strengen, gleichgültig feindlichen Blick ...
Gnädige Frau, für Sie habe ich diesen Fächer gemalt.
Möge er Ihren Wünschen gehorchen, möge er Ihnen in Ihrer stillen Zurückgezogenheit die reizenden Schattenbilder vors Auge zaubern, wie sie einst Ihren anmutsvoll lebendigen Salon erfüllt haben, dessen Türen jetzt für immer geschlossen sind.
Ihre Kronleuchter, von deren Armen überall große weiße Blüten herabhängen, beleuchten Kunstgegenstände aus allen Zeiten und Ländern.
Ich dachte an den Geist unserer Zeit, während ich mit meinem Pinsel die neugierigen Blicke nachzeichnete, die Ihre Kronleuchter auf die Vielfalt Ihrer Nippes warfen. Beide haben die Schöpfung des Gedankens in gleicher Weise erschaut, das Leben der Jahrhunderte gesehen, quer über das Erdrund hinweg. Und maßlos hat der Geist der Zeit den Kreis seiner Fahrten ausgespannt. Getrieben von Langeweile, gierig nach Vergnügen, hat er sie abgewandelt und geändert wie Spaziergänge, nicht so sehr in ihrem Ziel als vielmehr in dem Weg der Reise; und fühlte er unterwegs seine Kräfte erlahmen, seinen Mut schwinden, dann legte er sich mit dem Gesicht zur Erde wie ein stumpfes Tier und wollte nichts mehr sehen. Ich habe dennoch die Strahlen Ihres Kronleuchters mit Liebe nachgezeichnet. Diese haben mit verliebter Melancholie so viel Dinge und Wesen gestreichelt, und nun sind sie erloschen für immer.
Trotz des winzigen Formats werden Sie vielleicht die Personen im Vordergrund erkennen und werden bemerken, daß der unparteiische Maler, gleichmäßig wohlwollend wie Sie, alle Personen mit derselben Liebe und Treue gemalt hat, mögen es große Herren sein, schöne Frauen oder begabte Männer. Dies ist ein zweifelhafter Trost in den Augen der Welt, unzureichend und im Gegenteil sogar ungerechtfertigt in den Augen der Vernunft, aber er hat Ihre Gesellschaft in einen kleinen Kosmos verwandelt, der innerlich weniger zerrissen, ja harmonischer ist als der andere, trotzdem von Leben erfüllt, und seinesgleichen sah man nie. So möchte ich auch nicht, daß irgendein Jemand diesen Fächer sähe, der nicht einen Salon wie Ihren besucht hat und der nur mit betroffenem Staunen sähe, wie hier »die gute Lebensart« Herzoge ohne Stolz mit Romanschriftstellern ohne Arroganz an einen Tisch bringt. Möglicherweise würde dieser »Jemand« ebensowenig die Schattenseiten dieser Annäherung begreifen, deren Übermaß nur einen einzigen Tauschverkehr fördert, nämlich den der Lächerlichkeiten. Zweifellos würde in seinen Augen die Wirklichkeitsschilderung pessimistisch scheinen – zum Beispiel die Schilderung eines hochlehnigen Sorgenstuhles, worin ein großer Schriftsteller mit den Allüren eines Snobs ruht und dem Gerede eines großen Herrn lauscht, der gerade eine Dichtung durchblättert, während sein (des großen Herrn) Gesichtsausdruck, wenn anders er mir in seiner Albernheit gut gelungen ist, zur Genüge beweist, daß er von der Sache nicht die geringste Ahnung hat.
Nahe dem Kamin werden Sie C. wiedererkennen.
Er hebt den Stöpsel von einem Parfümfläschchen und erklärt seiner Nachbarin, es sei ihm gelungen, die abenteuerlichsten, die stärksten Gerüche zu konzentrieren.
B. ist verzweifelt, ihn nicht überbieten zu können, er denkt, die sicherste Methode, an der Spitze der modernsten Errungenschaften zu stehen, sei die, mit Eklat sich zur alten Mode zu bekennen, und während er das billige Veilchenparfüm einatmet, betrachtet er C. mit Verachtung.
Und Sie selbst, haben Sie nie diese künstlichen Umwege zur Natur gekannt? Zu gern hätte ich (was aber wegen der Winzigkeit der Details unausführbar ist) in einem versteckten Winkel (wie in einer Rumpelkammer) Ihrer sonst so musikalischen Bibliothek die Opern von Wagner und Symphonien von Franck oder D'Indy abgezeichnet, aber auf Ihrem Piano lagen, vor allen Augen sichtbar und noch aufgeschlagen, einige Hefte von Haydn, Händel, Palestrina.
Ich habe keine Angst gehabt, Sie auf dem rosenfarbenen Sofa abzuschildern. T. sitzt neben Ihnen und beschreibt Ihnen sein neues Zimmer, das raffiniert geteert ist, auf daß es in ihm die Illusion einer Seereise erwecke, und nun entschleiert er vor Ihnen alle Quintessenz seiner Toilette und seiner Einrichtung.
Ihr sprödes, kühles Lächeln beweist, wie niedrig Sie eine Phantasie einschätzen, welcher in ihrer Kraftlosigkeit ein leeres Zimmer nicht genügt, um in ihm alle Visionen des Universums aufzurollen, und welche Kunst und Schönheit unter einer so erbärmlich niederen Form begreift.
Ihre bezauberndsten Freundinnen sind da. Werden sie es mir verzeihen, wenn sie von Ihnen diesen Fächer zu sehen bekommen – ich weiß es nicht. Mag eine Frau die eigenartigste Schönheit tragen und vor unsern hingerissenen Augen sich abzeichnen wie ein aus dem Rahmen entsprungenes Bild von Whistler, sie wird sich doch nur in einem Porträt von Bougereau geschmeichelt wiedererkennen. Die Frauen verwirklichen die Schönheit mit ihrer Person, verstehen sie aber nicht.
Vielleicht werden sie sagen: »Wir lieben einfach eine Schönheit, die anders ist als die Ihre. Weshalb sollte sie weniger schön sein als die Ihre?«
Aber gestatten Sie mir wenigstens die Bemerkung, wie selten die Frauen sind, die das Ästhetische verstehen, das sie tadeln. Hier ist eine Jungfrau von Botticelli, sie würde, wenn nicht gerade Botticelli Mode wäre, diesen Meister häßlich und ungeschickt finden.
So nehmen denn Sie diesen Fächer mit Milde entgegen! Wenn eine von den Schattengestalten, die sich mir, nach ihrem Fluge durch meine Erinnerung, hier als Modelle gestellt haben, nachdem sie einst lebendig am Dasein gesogen, wenn eine von diesen Schattengestalten Ihnen einmal eine Träne entlockt hat, dann nehmen Sie es hin ohne Bitterkeit und bedenken Sie, es ist ein Schatten nur, an dem Sie nicht mehr leiden werden.
In aller Unschuld habe ich diese Schattengestalten auf dieses dünne Papier getragen, dem eine Bewegung ihrer Hand Flügel geben kann, denn Schmerz bereiten können Sie ihr nicht mehr, dazu sind sie zu unwirklich, zu drollig ...
Am meisten unwirklich, am drolligsten vielleicht in der Stunde, da Sie sie einladen, sie mögen erscheinen, um einige Stunden dem Tode vorwegzunehmen und ihr Scheinleben als Phantome in der künstlichen Freude Ihres Salons zu entfalten, unter den Kronleuchtern, deren Arme bedeckt sind von großen blassen Blüten.
Warum sieht man Sie, Olivian, jeden Abend in die Komödie eilen? Ihre Freunde haben also weniger Geist als ein Pantalon, Scaramouche und Pasquarello? Wäre es nicht netter, mit ihnen zu dinieren? Aber Sie können noch Besseres tun. Ist das Theater die Hilfsquelle aller Plauderer, deren Freunde zu verstummen haben, deren Geliebte zu wortreich sind –so bleibt die Konversation, selbst die gewählteste, nur das Vergnügen der phantasielosen Naturen. Es gibt Dinge, die man nicht erst beim Kerzenschein einem geistvollen Menschen zeigen muß, denn er sieht sie während des Gesprächs –diese Dinge aber Ihnen, Olivian, klarzumachen, ist reiner Zeitverlust. Die Stimmen der Phantasie und der Seele sind die einzigen, die ein glückliches Echo wecken im ganzen Umkreis der phantasievollen Seele; und wenn sie nur einen winzigen Teil der Zeit, die Sie totgeschlagen haben, um zu gefallen, dazu verwendet hätten, sie lebendig zu machen, so hätten Sie mit einem Buche, mit ein wenig Nachdenken an Ihrem Kamin im Winter oder in Ihrem Parke zur Sommerszeit einen tausendmal reicheren Erinnerungsschatz sammeln können an Stunden der Fülle und Tiefe. Scheuen Sie nicht vor der Harke, dem Rechen zurück! Eines Tages erleben Sie mit Freude, wie ein süßer Duft aus Ihrem Erinnern hervorsteigt wie aus einem Gartenkarren, der bis an den Rand gefüllt ist.
Wozu die vielen Reisen? Die Wagenpferde führen Sie nur so langsam dorthin, wohin Sie ein Traum in Sekundenschnelle bringt. Wollen Sie am Meeresstrande sein, müssen Sie nur die Augen schließen. Überlassen Sie es denen, die nur leibliche Augen haben, mit ihrem ganzen Gefolge zu übersiedeln und sich nach Pozzuoli oder Neapel zu begeben. Sie wollen, wie Sie sagen, dort ein Buch vollenden? Wo arbeitet es sich aber besser als daheim? Zwischen den Mauern von Paris können Sie die herrlichsten Bauten errichten nach den Wünschen Ihres Herzens, hier können Sie leichter als in Pozzuoli den Einladungen der Prinzessin von Bergamo entgehen, und die Versuchung, ohne Arbeit herumzuflanieren, ist hier nicht so gefährlich. Weshalb sich darauf versteifen, nur die Gegenwart zu genießen und darüber zu weinen, daß es nie gelingt? Mensch der Phantasie, du kannst nur genießen im Verzicht oder in der Erwartung, das heißt: in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Das ist der Grund Deiner Unzufriedenheit, Olivian, mit Deiner Geliebten, mit Deinen Landhäusern, mit Dir selbst. Vielleicht hast Du die Wurzel dieser Übel bereits entdeckt. Aber warum sich daran genügen lassen, statt die Heilung zu versuchen? Es liegt daran, daß Sie sehr bemitleidenswert sind. Noch sind Sie kein Mensch, und schon sind Sie ein Mensch der Literatur.
Immer ist in den Komödien Scaramouche ein Prahlhans, Harlekin stets ein Tölpel, das Benehmen des Pasquino ist reine Intrige, das des Pantalon Habsucht und Leichtgläubigkeit –ebenso hat die Gesellschaft dekretiert, daß Guido geistreich aber perfid ist, daß er für einen guten Witz seinen besten Freund opfert –daß Girolamo unter der Außenseite einer rohen Freimütigkeit Schätze des Herzens verborgen hat –daß Castruccio, dessen Laster man brandmarken kann, dennoch der rührendste Freund in seiner Treue ist und daß er als Sohn die zarteste Hand beweist –daß Jago trotz zehn schöner Bücher als Dilettant anzusehen ist, während ein paar schlechte Zeitungsartikel Ercole zum Dichter stempeln –daß Cesare irgendwelche Verbindungen mit der Polizei haben muß, als Reporter oder Spion; Cardenio ist ein Snob, Pippo ein falscher Biedermann, trotz seiner freundschaftlichsten Versicherungen. Was Fortunata anlangt, so ist's auf ewig beschlossene Sache, man ist sich einig: sie ist gut. Sie ist so rund, das ist die Garantie für ihr wohlmeinendes weiches Herz: Wie könnte denn auch eine so üppige Dame eine Kanaille sein?
Nun ist jeder schon von Natur anders als der Charakter, den die Gesellschaft aus ihrem Hauptmagazin von Kostümen und Eigentümlichkeiten hervorgesucht und ihm ein für allemal geborgt hat, und von hier entfernt sich jeder um so mehr, als die Charakterisierung früher da war als der wirkliche Charakter, und auf diese Weise wird ihm ein weites Feld gerade entgegengesetzter Fehler geöffnet, und zu seinem Vorteil genießt er jetzt eine Art Straffreiheit. So steht der Charakter Castruccios als »treuer Freund« unerschütterlich fest, dies erlaubt ihm, jeden seiner Freunde einzeln zu belügen und zu betrügen. Wer darunter doppelt leiden muß, ist aber der andere: »Was für ein Schuft muß dieser sein, wenn auch Castruccio, der Treueste der Treuen, ihn verläßt!« Fortunata darf in langen Strömen böse Nachrede verbreiten. Wer sollte verrückt genug sein, die Quelle unter dem Busenhalter ihrer Brust zu suchen, deren weite Fülle schützend alles verbirgt? Girolamo darf ohne Furcht eine Schmeichelei wagen, welcher seine sonst geübte Freimütigkeit den Zauber des Unvorhergesehenen verleiht. Er darf einem Freunde gegenüber seine Rauheit bis zur Brutalität treiben, denn man ist sich darin einig, daß es nur im Interesse des Freundes liegt, daß dieser vergewaltigt werde. Cesare erkundigt sich nach meiner Gesundheit, es geschieht, weil er's dem Dogen rapportieren will. Er hat mich gar nicht darum gebeten. Wie fein versteht er sein Spiel zu verbergen! Guido nähert sich mir, er macht mir Komplimente über mein gutes Aussehen. »Niemand hat so viel Geist wie er«, schreien sie alle im Chor, »aber er ist ein richtiger Teufel!« Zwischen den wahren Charakteren dieser Castruccio, Guido, Cardenio, Ercole, Pippo, Cesare und Fortunata und dem Typus, den sie unwiderruflich in den Augen der scharfsichtigen Gesellschaft verkörpern, ist eine tiefe Kluft, aber diese Kluft ist für Träger dieser Masken gefahrlos, denn die Gesellschaft will sie nicht sehen. Aber wie streng ist sie in ihrer Abgrenzung! Girolamo mag tun, was er will, er ist ein böswilliger Grobian. Fortunata mag sagen, was sie will, sie ist eine gute Seele. Die Widerstandsfähigkeit des Typus ist absurd, niederschmetternd, unangreifbar; und doch kann sich unaufhörlich jeder persönlich von ihm entfernen, ohne dessen heitere Festigkeit im geringsten zu stören, dafür aber zwingt dieser Typus mit einer immer wachsenden Anziehungskraft alle Personen ohne Persönlichkeit zu sich heran, alle, deren Haltung zuwenig inneren Zusammenhang besitzt: Schließlich unterliegt der einzelne der Faszination dieses Brennpunkts, der sich mitten im Wandel der Dinge gleichbleibt. Wenn Girolamo einem Freunde »Wahrheiten« sagt, so ist er jenem dankbar dafür, daß er ihm das Stichwort gegeben hat und ihm das Spiel ermöglicht, er »züchtigt ihn, weil er ihn liebt«, und spielt dabei eine ehrenhafte, fast kann man sagen, prachtvolle Rolle, und er ist sogar nicht mehr weit davon entfernt, echt zu sein. Zu der Grausamkeit seiner Sprüche fügt er einen Tropfen duldsamen Mitgefühls, der sehr natürlich ist gegenüber einem Tieferstehenden, der die Folie für seinen Ruhm bildet. Da darf jener ihm aufrichtig dankbar sein, und schließlich hat er die Herzensgüte, die ihm die Gesellschaft bisher bloß angedichtet hatte, wirklich erworben. Bei Fortunata hat ihre wachsende Beleibtheit, ohne ihren Geist zu mindern und ohne ihre Schönheit zu zerstören, ein wenig das Interesse an den andern verringert, und zwar in dem Maße, als die Sphäre ihrer eigenen Persönlichkeit zugenommen hat, und jetzt fühlt sie eine Milderung ihrer Bitterkeit, und damit fällt das einzige Hindernis für sie, würdig die verehrungswürdigen, bezaubernden Pflichten zu erfüllen, welche die Gesellschaft ihr übertragen hat. Der Geist der Worte »Wohlwollen«, »Güte«, »Rundung«, die man unaufhörlich vor ihr und hinter ihr ausgesprochen hat, mußten allmählich ihre Sprache durchtränken, die nun von Lobesworten überquillt und der auch der weite Leibesumfang eine besondere Autorität gewährleistet, die doppelt schmeichelhaft ist. Sie hat das unbewußte, aber starke Gefühl, als übe sie eine wichtige, friedliche Beamtentätigkeit. Manchmal scheint sie über die Grenzen ihrer Persönlichkeit zu treten, sie kommt daher wie eine ganze Ratsversammlung, mit hochgehenden Wogen, aber weichherzig, da gibt es wohlwollende Richter, deren Vorsitz sie führt, die allgemeine Zustimmung berührt sie tief ... Es kommt vor, daß man in Abendgesellschaften plaudert, keiner stößt sich an den Widersprüchen im Benehmen der Masken, noch auch bemerkt jemand ihre langsame Assimilation an den vorgeschriebenen Charakter; jedermann ordnet ihre Handlungen in das Fach im Schreibtische, in die genaue Definition des idealen Charakterbildes; jeder stellt mit Ergriffenheit und Genugtuung fest, daß sich das Niveau der Unterhaltung unzweifelhaft hebt. Allerdings unterbricht man diese Arbeit bald, um nicht den hierzu nicht genügend geschulten Köpfen zuviel ermüdende Arbeit zuzumuten (denn man ist Mensch der Gesellschaft). Man hat den Snobismus des einen getadelt, die Böswilligkeit der andern, die lockere Lebensführung, die Härte eines dritten, nun trennt man sich, jeder hat reichlich seinen Tribut an das Wohlwollen, die Nächstenliebe, das Schamgefühl entrichtet, nun kann sich jedermann ohne Gewissensbisse in der Ruhe seines Herzens, das sich eben herrlich bewährt hat, den eleganten Lastern hingeben, die dessen Krone bilden.
Diese Reflexionen wurden angeregt durch die Gesellschaft von Bergamo; auf eine andere Gesellschaft angewendet, verlieren sie einen Teil ihrer Wahrheit. Als Arlekin die Bergamesker Szene verließ, um die französische zu betreten, wurde aus dem Tölpel ein feiner Kopf. So erklärt es sich, daß Liduvina in gewissen Gesellschaften als Frau von Bedeutung gilt und Girolamo als bedeutende Intelligenz. Man muß hinzufügen, daß sich manchmal ein Mensch zeigt, für den die Gesellschaft entweder überhaupt keinen ›Charakter‹ findet oder doch keinen disponiblen, da den seinen ein anderer innehat. Sie verleiht ihm dann einen, der ihm durchaus nicht zu Gesicht steht. Ist er nun wirklich ein origineller Mensch und paßt kein fertig gekaufter Charakter auf seine Schultern und kann man ihn auf keine Weise verstehen und gibt es keinen nach Maß gearbeiteten ›Charakter‹ für ihn, schließt man ihn eben aus – oder läßt ihn den jugendlichen Liebhaber spielen, denn an denen herrscht stets Mangel.