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Wie ich vermutet hatte, ehe ich Frau von Villeparisis in Balbec kennen lernte, bestand ein großer Unterschied zwischen der Umgebung, in der sie lebte, und der der Frau von Guermantes. Frau von Villeparisis gehörte zu den Frauen, die, in einem glorreichen Hause geboren und durch ihre Ehe in ein nicht minder glorreiches eingetreten, doch keine große gesellschaftliche Stellung genießen: außer ein paar Herzoginnen, die ihre Nichten oder Schwiegertöchter sind, und vielleicht ein oder zwei gekrönten Häuptern, die von altersher Beziehungen zu der Familie haben, gibt es in ihren Salons nur ein Publikum dritten Ranges, Bürgerschaft, Adel aus der Provinz oder von zweifelhaftem Ruf; und die Anwesenheit solcher Gäste hat schon seit langem die eleganten Leute und die Snobs vertrieben, soweit sie nicht verwandtschaftliche Pflichten oder langjährige Vertrautheit hinzukommen zwangen. In wenigen Augenblicken hatte ich mühelos begriffen, warum Frau von Villeparisis so genau und besser als wir in Balbec über die geringsten Einzelheiten der Reise unterrichtet war, die zu dieser Zeit mein Vater mit Herrn von Norpois durch Spanien machte. Aber es war nicht daran zu denken, daß die mehr als zwanzigjährige Verbindung der Frau von Villeparisis mit dem Botschafter der Grund sein könnte, daß die Marquise ihre Stellung in einer Gesellschaft eingebüßt hatte, in der die glänzendsten Frauen sich öffentlich zu weniger achtbaren Liebhabern bekannten; und, nebenbei bemerkt, war Herr von Norpois der Marquise vermutlich nur noch ein alter Freund. Hatte Frau von Villeparisis ehedem andere Abenteuer gehabt? Hatte sie damals leidenschaftlicher gestimmt als jetzt in ihrem ruhigen frommen Alter, das gleichwohl heißer ausgekosteten Jahren etwas von seiner Farbe verdanken mochte – während ihres langen Aufenthalts in der Provinz gewisse Skandale nicht vermeiden können? Und konnte ein neues Geschlecht, das von diesen Dingen nichts wußte, doch ihre Spuren feststellen in der gemischten und mangelhaften Zusammensetzung ihres Salons, der doch eigentlich mit am reinsten von jeder mittelmäßigen Beimischung hätte sein müssen? Hatte die »böse Zunge«, die ihr Neffe ihr zuschrieb, in jenen Zeiten ihr Feinde gemacht? Und sie gewisse Erfolge bei Männern benutzen lassen, um sich an Frauen zu rächen? Das war alles möglich, und die erlesene, feinfühlige – in Ausdrücken und selbst im Tonfall zart abgestufte – Art, wie Frau von Villeparisis über Scham und Güte sprach, konnte diese Vermutung nicht entkräften; zwar entstammen die, welche über gewisse Tugenden gut zu sprechen wissen und sogar für ihren Reiz Empfindung und wunderbares Verständnis haben, (sie werden sie in ihren Erinnerungsbüchern würdig darstellen können) einer schweigsamen, altertümlich herben und kunstlosen Generation, welche diese Tugenden ausübte, gehören aber selbst nicht mehr zu ihr. Die Generation spiegelt sich in ihnen, aber sie setzen sie nicht fort. Anstelle des alten Charakters findet man bei ihnen Empfindungen und eine Intelligenz, die sich nicht mehr in Tat umsetzen. Und ob es nun im Leben der Frau von Villeparisis Skandale gegeben haben mochte, die den Glanz ihres Namens austilgten, oder nicht –, diese Intelligenz, fast mehr die eines Schriftstellers zweiten Ranges als einer Frau von Welt, war sicherlich die wahre Ursache für den Verfall ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Wohl predigte Frau von Villeparisis vorwiegend Eigenschaften, die nicht gerade begeisternd wirken, wie Gleichmut und Mäßigung; um aber von der Mäßigung in ganz angemessener Weise zu sprechen, genügt es nicht, selbst Maß zu halten, es bedarf gewisser schriftstellerischer Vorzüge, die eine wenig gemäßigte Begeisterungsfähigkeit voraussetzen. In Balbec war mir aufgefallen, daß Frau von Villeparisis für das Genie einiger großer Künstler kein Verständnis hatte; sie wußte nur fein über sie zu spotten und ihrer Verständnislosigkeit eine geistreiche und anmutige Form zu geben. Aber dieser Geist und diese Anmut hatten bei ihr einen ungewöhnlich hohen Grad erreicht und wurden – auf einer anderen Ebene, und obwohl sie sie anwandte, um die höchsten Meisterwerke herabzusetzen – selbst zu wahrhaft künstlerischen Qualitäten. Solche Qualitäten üben auf jede gesellschaftliche Stellung eine krankhafte Selektion aus, wie die Arzte sagen, die so zersetzend wirkt, daß ihr die am festesten begründete kaum einige Jahre widerstehen kann. Was die Künstler Verständnis nennen, scheint der eleganten Gesellschaft reine Anmaßung: sie ist nicht imstande, sich auf den einzigen Standpunkt zu stellen, von dem jene alles beurteilen, sie begreift nie den eigentümlichen Reiz, den es für sie hat, einen bestimmten Ausdruck zu wählen oder einen Vergleich anzustellen, und so empfindet sie den Künstlern gegenüber eine Ermüdung und Gereiztheit, aus der rasch Abneigung erwächst. Gleichwohl zeigte Frau von Villeparisis in ihrer Unterhaltung (und ebenso in den Erinnerungen, die sie später veröffentlicht hat) eine Art rein gesellschaftlicher Anmut. Große Dinge hatte sie aus der Nähe mitangesehn, ohne sie zu ergründen, manchmal sogar, ohne sie zu erkennen; von den Zeiten, die sie erlebt hatte und sehr treffsicher und reizvoll darzustellen verstand, hatte sie nur die leichtfertigste Seite behalten. Mag aber ein Werk sich auch nur mit Gegenständen befassen, die nicht verstandesmäßig sind, so kann es doch ein Werk des Verstandes sein; und um einem Buch oder einer literarischen Unterhaltung das vollendete Wesen der Leichtfertigkeit zu geben, bedarf es eines Zusatzes Ernst, zu dem eine rein frivole Person unfähig wäre. In gewissen Memoiren von Frauenhand, die als Meisterwerke angesehn werden, hat mich gerade eine Wendung, die man als Muster leichter Anmut anführt, immer auf den Gedanken gebracht: um zu solcher Leichtheit zu gelangen, habe die Verfasserin ehemals ein etwas schwerfälliges Wissen, eine abstoßende Bildung besitzen und als junges Mädchen bei ihren Freundinnen für einen unerträglichen Blaustrumpf gelten müssen. Zwischen gewissen literarischen Vorzügen und gesellschaftlichem Mißerfolg besteht ein notwendiger Zusammenhang: Liest man heute die Erinnerungen der Frau von Villeparisis, so genügt dem Leser ein treffendes Beiwort, eine Reihe Vergleiche, um mit ihrer Hilfe den tiefen, aber eisigen Gruß zu rekonstruieren, den eine snobistische Dame wie Frau Leroi auf der Treppe einer Botschaft an die alte Marquise gerichtet haben mochte; die gab vielleicht auf dem Wege zu den Guermantes ihre Karte bei Frau von Villeparisis ab, setzte aber nie den Fuß in ihren Salon, aus Furcht, zwischen all den Arzt- und Notarfrauen sich etwas zu vergeben. In ihrer ersten Jugend war Frau von Villeparisis vielleicht ein Blaustrumpf gewesen und hatte, trunken von ihrem Wissen, gegen weniger verständige und weniger unterrichtete Leute der Gesellschaft scharfe Ausfälle nicht unterdrücken können, die der Betroffene nicht vergißt.

Ferner ist das Talent nicht ein künstliches Anhängsel, das man andern Eigenschaften, die gesellschaftlichen Erfolg verschaffen, beliebig anfügen kann, um das Ganze zu bilden, welches die vornehme Welt eine »vollendete Frau« nennt. Es ist das lebendige Produkt einer bestimmten seelischen Beschaffenheit, der im allgemeinen viele Fähigkeiten mangeln, während eine Empfindlichkeit in ihr vorherrscht, die noch andere Äußerungsformen hat: im Buch nehmen wir diese nicht wahr, im Lauf des Lebens aber können sie sich recht lebhaft fühlbar machen, zum Beispiel gewisse Arten der Neugier, gewisse Launen, der Wunsch, hier oder dort nur zum eigenen Vergnügen hinzugehn, nicht um gesellschaftliche Beziehungen zu erweitern, aufrechtzuerhalten oder einfach spielen zu lassen. In Balbec hatte ich gesehn, wie Frau von Villeparisis sich zwischen ihren Leuten abschloß und nie einen Blick auf die Personen warf, die in der Halle des Hotels saßen. Aber ich ahnte, diese Enthaltsamkeit sei nicht Gleichgültigkeit, und offenbar hatte sie sich nicht immer so verschanzt. Sie setzte sichs manchmal in den Kopf, diese oder jene Person, die keinen Anspruch darauf hatte, bei ihr empfangen zu werden, kennen zu lernen, manchmal, weil sie sie schön fand, oder auch nur, weil man ihr gesagt hatte, sie sei amüsant, oder weil sie ihr anders vorkam als ihre Bekannten; und diese gehörten damals, als sie sie noch nicht schätzte, weil sie meinte, sie würden sie nie im Stiche lassen, alle zum reinsten Faubourg-Saint-Germain. Irgendeinen Bohemien oder Kleinbürger, den sie ausgezeichnet hatte, fühlte sie sich verpflichtet – ohne daß er es zu würdigen wußte – mit einer Dringlichkeit einzuladen, die sie nach und nach in den Augen der Snobs herabsetzte, welche gewöhnt waren, einen Salon weniger nach den Leuten, die die Hausherrin empfing, einzuschätzen als nach denen, welche sie nicht empfing. Hatte sich Frau von Villeparisis in ihrer blasierten Jugend nichts daraus gemacht, zur Blüte der Aristokratie zu gehören, hatte sie ihren Spaß daran gehabt, bei den Leuten, unter denen sie lebte, Ärgernis zu erregen und sich keck im gegebenen Moment über ihre gesellschaftliche Stellung hinwegzusetzen – jetzt nachdem sie diese Stellung verloren hatte, fing sie an, ihr Wert beizumessen. Als sie alles sagte und tat, was Herzoginnen nicht zu sagen und zu tun wagen, hatte sie ihnen zeigen wollen, daß sie mehr sei als sie. Jetzt, da diese, soweit sie nicht zu ihrer nahen Verwandtschaft gehörten, sie nicht mehr besuchten, fühlte sie sich herabgesetzt und wünschte noch zu herrschen, aber anders als durch Geist. Gern hätte sie jetzt alle herangezogen, die sie so sorgsam ferngehalten hatte. Wie viele Frauenleben – man kennt sie wenig: jedermann hat seinem Alter entsprechend eine andere Welt, und die Verschwiegenheit der Alten hindert die Jungen, sich eine Vorstellung von der Vergangenheit zu machen und den ganzen Kreislauf zu umfassen – wieviele Frauenleben zerfallen dergestalt in gegensätzliche Abschnitte, der letzte wird ganz darauf verwandt wiederzuerobern, was man in dem zweiten lustig in den Wind geschlagen hat. Und auf welche Art in den Wind geschlagen? Das können sich die jungen Leute eben nicht vorstellen: sie haben eine alte, ehrwürdige Frau von Villeparisis vor Augen, und kommen nicht darauf, daß die ernste Memoirenschreiberin von heute – so würdig unter ihrer weißen Perücke – ehedem eine lustige Lebedame war, vielleicht das Entzücken und der Ruin von Männern, die längst im Grabe liegen. Daß sie sich mit natürlichem, beständigem Eifer bemüht hatte, die Stellung, welche ihre hohe Geburt ihr verschaffte, preiszugeben, besagt übrigens durchaus nicht, sie habe in jener weit zurückliegender. Zeit dieser Stellung keinen hohen Wert beigemessen. So kann ein Neurastheniker an seiner Vereinsamung und Untätigkeit vom Morgen bis zum Abend arbeiten, ohne daß sie ihm deshalb erträglich erscheinen, und während er sich beeilt, eine neue Masche in das Netz zu stricken, das ihn gefangen hält, träumt er vielleicht nichts als Bälle, Jagden und Reisen. Wir sind beständig beschäftigt, unserm Leben Form zu geben, bilden aber dabei wider Willen wie eine Zeichnung die Züge der Person nach, die wir sind, und nicht der, die zu sein uns angenehm wäre. Der verächtliche Gruß von Frau Leroi konnte in bestimmter Weise die wahre Natur der Frau von Villeparisis zum Ausdruck bringen, entsprach aber durchaus nicht dem, was sie sich wünschte.

Gewiß konnte sie sich im Augenblick, da Frau Leroi sie nach einer Lieblingsredensart von Frau Swann »schnitt«, zu trösten suchen, wenn sie sich erinnerte, daß einmal die Königin Marie-Amélie zu ihr gesagt hatte: »Ich liebe Sie wie eine Tochter«. Aber solche geheim und unbekannt gebliebenen Liebenswürdigkeiten von Königinnen existierten nur für die Marquise selbst und waren staubig geworden wie das Diplom eines alten ersten Preises vom Konservatorium. Wirkliche gesellschaftliche Vorteile sind nur die, welche Leben schaffen und verschwinden können, ohne daß der, dem sie nutzen, sie festzuhalten oder zu verbreiten bestrebt sein müßte; am selben Tage können ihnen ja hundert andere folgen. Solche Worte der Königin, die ihr einfielen, hätte Frau von Villeparisis gern vertauscht gegen die beständige Sicherheit, eingeladen zu werden, wie Frau Leroi sie besaß. So würde im Restaurant ein großer unbekannter Künstler, dem das Genie weder in den schüchternen Zügen seines Gesichtes noch in dem altmodischen Schnitt seines abgeschabten Rocks geschrieben steht, gern der junge Börsenmakler dritten Ranges sein, der am Nebentisch mit zwei Schauspielerinnen frühstückt. Zu dem drängen sich in beständiger ehrerbietiger Eile Wirt, Oberkellner, Kellner und Chasseure, und selbst die Küchenjungen kommen aus der Küche herauf und ziehen an ihm vorbei, um ihn zu grüßen wie in einer Zauberposse; der Kellermeister aber nähert sich staubig wie seine Flaschen, krummbeinig und geblendet schiebt er sich her, als habe er, aus seinem Keller steigend, bevor er ans Licht kam, sich den Fuß verrenkt.

Immerhin muß betont werden: wenn die Abwesenheit der Frau Leroi Frau von Villeparisis selbst betrübte, einer großen Anzahl der Gäste ihres Salons fiel sie gar nicht auf. Die eigentümliche Stellung der Frau Leroi, von der nur die elegante Welt wußte, war ihnen ganz unbekannt, sie zweifelten nicht daran – und darin stimmen heute die Leser der Erinnerungen von Frau von Villeparisis mit ihnen überein –, daß die Empfänge bei der Marquise die glänzendsten von Paris seien.

Bei meinem ersten Besuch, den ich, dem Rat des Herrn von Norpois an meinen Vater folgend, der Frau von Villeparisis machte, nachdem ich Saint-Loup verlassen hatte, fand ich sie in ihrem gelbseiden bespannten Salon; in rosa, fast violettem Ton reifer Himbeeren hoben sich die Kanapees und wunderbaren Stühle mit Beauvaisstickerei von den Wänden ab. Neben den Bildnissen der Guermantes und Villeparisis sah man – vom Modell selbst geschenkt – die der Königin Marie-Amélie, der Königin von Belgien, des Prinzen Joinville und der Kaiserin von Österreich. Frau von Villeparisis trug ein schwarzes Spitzenhäubchen aus alter Zeit (daran hielt sie mit demselben klugen Sinn für historisches und Lokalkolorit fest wie ein bretonischer Hotelwirt, der seine Hausmädchen immer noch die Haube und die weiten Ärmel tragen läßt, mag seine Kundschaft auch noch so pariserisch geworden sein), sie saß an einem kleinen Schreibtisch, auf dem vor ihr neben Pinsel, Palette und einem angefangenen Blumenaquarell in Gläsern, Tassen und Untertassen Moosrosen, Zinnien und Venushaar standen; sie hatte gerade, da besonders viel Besuch kam, aufgehört zu malen, und die Blumen standen da wie die, welche auf einem Stich aus dem achtzehnten Jahrhundert den Verkaufstisch einer Blumenhändlerin schmücken und Kundschaft anlocken. Da die Marquise sich auf der Rückreise von ihrem Schloß erkältet hatte, war der Salon leicht geheizt. Unter den Personen, die bei meinem Eintritt zugegen waren, befand sich ein Archivar, mit dem Frau von Villeparisis vormittags Handschreiben historischer Persönlichkeiten geordnet hatte, die an sie gerichtet waren und in den Erinnerungen, die sie aufzusetzen anfing, als Beweisstücke im Faksimile abgebildet werden sollten; ferner war da ein feierlicher eingeschüchterter Historiker, der erfahren hatte, sie besäße durch Erbschaft ein Bildnis der Herzogin von Montmorency, und gekommen war, sie um Erlaubnis zu bitten, dies Bild in einem Stich seines Werkes über die Fronde zu reproduzieren; zu diesen Besuchern hatte sich mein alter Kamerad Bloch gesellt, der jetzt junger Theaterschriftsteller war; sie zählte auf ihn, um für ihre nächsten Matineen unentgeltlich Schauspieler beschafft zu bekommen. Wohl war das gesellschaftliche Kaleidoskop gerade im Begriff, sich zu drehen, und der Fall Dreyfus sollte die Juden auf die unterste Sprosse der sozialen Leiter stoßen. Aber so sehr der antisemitische Wirbelwind bereits wütete, im Anfang eines Sturmes erreichen die Wogen noch nicht ihre höchste Wut. Und dann hatte Frau von Villeparisis einen großen Teil ihrer Familie ruhig gegen die Juden wettern lassen, war bisher dem Fall Dreyfus ganz fern geblieben und kümmerte sich nicht um ihn. Schließlich konnte ein junger Mensch wie Bloch, den niemand kannte, unbemerkt mit durchschlüpfen, während die großen, ihre Partei repräsentierenden Juden schon bedroht waren. Er trug jetzt einen winzigen Kinnbart, Kneifer und langen Gehrock und hielt einen Handschuh wie eine Papyrusrolle in der Hand. Rumänen, Ägypter und Türken mögen die Juden verabscheuen; aber in einem französischen Salon sind die Unterschiede zwischen diesen Völkern nicht so deutlich wahrnehmbar, und ein Israelit, der eintritt, als käme er mitten aus der Wüste, den Körper überhängend wie eine Hyäne, den Nacken schief gedreht, und tiefen »Salaam« nach allen Seiten macht, befriedigt vollkommen den Geschmack am Orientalischen, wobei vorausgesetzt ist, daß er nicht zur »Gesellschaft« gehört, denn dann nimmt er leicht das Aussehn eines Lords an, und seine Manieren sind so französiert, daß bei ihm eine rebellische Nase, die wie Kapuzinerkresse in unvorhergesehener Richtung wächst, mehr an die Nase Maskarillos als an die Salomons gemahnt.

Bloch aber war weder durch die Gymnastik des »Faubourg« geschmeidigt, noch durch eine Kreuzung mit England oder Spanien veredelt und blieb für einen Liebhaber des Exotischen trotz seines europäischen Kostüms so seltsam und köstlich anzusehn wie ein Jude von Decamps. Wunderbare Kraft der Rasse, die aus der Tiefe der Jahrhunderte bis in das moderne Paris vordringt und in den Wandelgängen unserer Theater, hinter den Schaltern unserer Bureaux, bei einem Begräbnis, auf der Straße in ungebrochener Schlachtreihe erscheint. Sie hat der modernen Kopfbedeckung Stil gegeben, den Gehrock absorbiert, vergessen lassen, angepaßt und ist im Grunde der Schar assyrischer Schriftgelehrten gleich geblieben, die, im Feierkleid auf den Fries eines Gebäudes aus Susa gemalt, die Tore des Palastes von Darius bewachen. (Eine Stunde später sollte Bloch sich einbilden, es geschehe aus antisemitischer Gehässigkeit, daß Herr von Charlus sich erkundigte, ob er einen jüdischen Vornamen habe, dabei war es doch einfach ästhetische Neugier und Liebe zum Lokalkolorit.) Nebenbei bemerkt, gibt es unsern Eindruck von Juden, Griechen, Persern und allen Völkern, denen wir lieber ihre Mannigfaltigkeit lassen sollten, ungenau wieder, wenn wir von Fortdauer der Rasse sprechen. Wir kennen aus der antiken Malerei das Gesicht der alten Griechen, wir haben auf dem Giebel eines Palastes aus Susa Assyrier gesehn. Wenn wir nun in der Gesellschaft Orientalen, die zu dieser oder jener Gruppe gehören, treffen, meinen wir uns in Gesellschaft von Geschöpfen zu befinden, welche die Macht des Spiritismus erscheinen lasse. Wir kannten nur ein Oberflächenbild, jetzt hat es Tiefe bekommen, erstreckt sich in drei Dimensionen, bewegt sich. Die junge griechische Dame, Tochter eines reichen Bankiers, die zur Zeit eine Modeberühmtheit ist, sieht aus wie eine der Figurantinnen, die in einem zugleich historischen und ästhetischen Ballett in Haut und Knochen die hellenische Kunst versinnbildlichen; dabei verflacht im Theater die Inszenierung noch solche Bilder; das Schauspiel aber, dem wir beiwohnen, wenn ein Türke oder ein Jude in den Salon tritt, belebt die Gesichter, macht sie seltsamer, es ist, als wären sie tatsächlich durch ein Medium beschworen. Die Seele – oder vielmehr das Wenige, worauf in derartigen Materialisationen, zum mindesten einstweilen, die Seele sich herabmindert –, die wir zuvor nur in Museen undeutlich wahrgenommen haben, die Seele der alten Griechen und alten Juden, einem gleichzeitig unwesentlichen und transzendentalen Leben entrissen, scheint diese verwirrende Mimik vor uns auszuführen. Was wir in der jungen griechischen Dame, die uns unfaßbar bleibt, umsonst zu erfassen trachten, ist ein Gesicht, das wir einstmals auf einer Vase bewundert haben. Hätte ich im Lichte des Salons von Frau von Villeparisis Momentaufnahmen von Bloch gemacht, sie hätten von Israel ein Bild gegeben, wie es uns die spiritistischen Photographien zeigen, sinnverwirrend, weil es nicht aus der Menschheit hervorgegangen scheint, trügerisch, weil es doch nur allzusehr der Menschheit gleicht. Machen in weiterem Sinne doch selbst die unbedeutendsten Redewendungen der Personen, in deren Mitte wir leben, uns den Eindruck des Übernatürlichen – in unserer armen Alltagswelt, wo selbst ein genialer Mensch, von dem wir, wie zum Tischrücken versammelt, das Geheimnis des Unendlichen offenbart zu bekommen erwarten, nur Worte sagt wie die, welche gerade von Blochs Lippen gekommen waren: »Bitte, auf meinen Zylinder achtzugeben.«

»Mein Gott, die Minister, mein lieber Herr,« begann gerade Frau von Villeparisis – sie wandte sich dabei direkt an meinen alten Kameraden und nahm den Faden einer Unterhaltung auf, die mein Eintreten unterbrochen hatte, »die Minister wollte niemand sehn. So klein ich damals war, ich erinnere mich noch, daß der König meinen Großvater bat, Herrn Decaze zu einem Ball einzuladen, auf dem mein Vater mit der Herzogin von Berry tanzen sollte. »Sie würden mir einen Gefallen tun, Florimond« sagte der König. Mein Großvater war etwas taub und verstand, Herr de Castries; daher fand er die Bitte ganz natürlich. Als er dann aber herausbekam, daß es sich um Herrn Decaze handelte, war er erst empört, sodann fügte er sich und schrieb noch am selben Abend an Herrn Decaze; er bat ihn inständig, ihm die Gunst und Ehre zu erweisen, seinem Ball, der in der nächsten Woche stattfinden solle, beizuwohnen. Höflich war man nämlich damals, und eine Dame des Hauses hätte sich nicht damit begnügt, einfach ihre Karte zu schicken und darauf zu schreiben: »eine Tasse Tee« oder »Tanztee« oder »musikalischer Tee«. Aber so gut wie auf Höflichkeit, verstand man sich auch auf Grobheit. Herr Decaze nahm an, aber am Tag vor dem Ball wurde bekannt, mein Großvater fühle sich leidend und habe den Ball abgesagt. Dem König hatte er gehorcht, aber Herr Decaze kam nicht bei ihm zum Ball ... – Ja, gewiß, an Herrn Molé erinnere ich mich sehr gut, er war ein Mann von Geist, das hat er bewiesen, als er Herrn de Vigny in die Akademie aufnahm, aber sehr feierlich war er, ich seh ihn noch in seinem Hause zum Essen herunterkommen mit dem Zylinder in der Hand.«

»Ah! Das beschwört das Bild einer recht verderblich philiströsen Zeit herauf. Gewiß war es eine allgemeine Gewohnheit, zu Hause seinen Hut in der Hand zu halten«, sagte Bloch; er war begierig, die seltene Gelegenheit zu nutzen, um sich bei einem Augenzeugen über die Eigentümlichkeiten des früheren aristokratischen Lebens zu unterrichten, während der Archivar, eine Art intermittierender Sekretär der Marquise, Blicke der Rührung auf sie warf, mit denen er uns zu sagen schien: »Da sieht man, wie sie ist, sie weiß alles, sie hat alle Welt gekannt, Sie können sie fragen, was Sie wollen, eine ungewöhnliche Frau.«

»O nein«, erwiderte Frau von Villeparisis und rückte das Glas näher, in dem Venushaar schwamm, das sie wieder zu malen anfing, »es war einfach eine Gewohnheit von Herrn Molé. Ich habe nie meinen Vater zu Hause mit dem Hut gesehn, außer, wohlverstanden, wenn der König kam; denn der König ist überall zu Hause, und in seiner Gegenwart ist der Hausherr in seinem eigenen Salon nur ein Gast.«

»Aristoteles sagt uns in Kapitel II ...«, riskierte Herr Pierre, der Geschichtschreiber der Fronde, aber so schüchtern, daß niemand achtgab. Seit Wochen litt er an nervöser Schlaflosigkeit, die jeder Behandlung widerstand, er legte sich nicht mehr zu Bett, war todmüde und ging nur aus, wenn seine Arbeiten verlangten, daß er seinen Schreibtisch verlasse. Oft solche Ausflüge von neuem zu unternehmen, war er außerstande: was für andere einfach war, kostete ihn eine Mühe, als solle er vom Mond herabsteigen; zu seiner Verwunderung mußte er des öftern bemerken: es war noch nicht jedermanns Leben dauernd daraufhin eingerichtet, den jähen Ausbrüchen des seinen ein Äußerstes an Nutzbarkeit herzugeben. Bisweilen fand er eine Bibliothek geschlossen, die er, künstlich sich aufrechthaltend, in einem Gehrock wie ein Mann bei Wells, aufgesucht hatte. Zum Glück hatte er Frau von Villeparisis zu Hause angetroffen und sollte das Bildnis zu sehn bekommen.

Bloch fiel ihm ins Wort.

»Wahrhaftig,« erwiderte er auf Frau von Villeparisis' Worte über das Protokoll, das die königlichen Besuche regelte, »das hab ich absolut nicht gewußt«, als wäre es erstaunlich, daß er so etwas nicht wisse.

»Was übrigens diese Art von Besuchen betrifft, Sie kennen vielleicht schon den törichten Spaß, den sich gestern mein Neffe Basin mit mir gemacht hat?« wandte sich Frau von Villeparisis an den Archivar. »Statt sich selbst anzumelden, hat er mir sagen lassen, die Königin von Schweden wolle mich besuchen.«

»Ach, das hat er Ihnen so schlechtweg sagen lassen! Der hat Einfälle!« sagte Bloch laut auflachend, während der Historiker mit majestätischer Schüchternheit lächelte.

»Ich war recht erstaunt: erst seit ein paar Tagen war ich vom Lande zurückgekommen; um etwas Ruhe zu haben, hatte ich gebeten, man möge niemandem sagen, daß ich in Paris sei, ich fragte mich, woher die Königin von Schweden es schon wußte,« erwiderte Frau von Villeparisis und versetzte ihre Gäste in Erstaunen darüber, daß ein Besuch der Königin von Schweden nichts Ungewöhnliches für sie sei.

Hatte Frau von Villeparisis am Vormittag mit dem Archivar Dokumente für ihre Memoiren nachgeschlagen, so probte sie sicherlich jetzt Technik und Zauberwirkung solcher Belege auf ein Durchschnittspublikum, das ihr vorbildlich für dasjenige war, aus welchem sich eines Tages ihre Leserschaft zusammensetzen würde. Gewiß mochte der Salon der Frau von Villeparisis von einem wahrhaft eleganten Salon sich unterscheiden, der viele Bürgerinnen, die sie empfing, ausgeschlossen und dafür elegante Damen gesehn hätte, wie sie Frau Leroi schließlich für den ihren zu gewinnen verstanden hatte; aber von dieser Nuance ist ihren Memoiren nichts anzumerken: darin verschwinden gewisse mittelmäßige Bekanntschaften der Verfasserin, da sich keine Gelegenheit bietet, sie zu erwähnen; und große Damen, die sie nicht besuchten, fehlen dem Leser nicht, weil in dem notwendig beschränkten Raum dieser Erinnerungen nur wenige Personen Platz finden, und wenn dies Fürstlichkeiten und historische Gestalten sind, ist ein Maximum des Eindrucks von Eleganz erreicht, den Erinnerungen auf das Publikum machen können. Nach dem Urteil der Frau Leroi war der Salon der Frau von Villeparisis ein Salon dritten Grades, und Frau von Villeparisis litt unter dem Urteil der Frau Leroi. Aber heute weiß niemand mehr, wer Frau Leroi war, ihr Urteil ist verblaßt, und den Salon der Frau von Villeparisis, in dem die Königin von Schweden verkehrte, in dem der Herzog d'Aumale, der Herzog von Broglie, Thiers, Montalembert, Erzbischof Dupanloup verkehrt hatten, wird die Nachwelt als einen der glänzendsten des neunzehnten Jahrhunderts ansehn, die Nachwelt, die sich seit Homers und Pindars Zeiten nicht geändert hat: beneidenswert erscheint ihr nur hohe königliche oder quasi königliche Geburt, Freundschaft der Könige, der Führer des Volkes und der berühmten Männer.

Von alldem hatte Frau von Villeparisis ein wenig in ihrem gegenwärtigen Salon und in den bisweilen leicht nachgebesserten Erinnerungen, mit deren Hilfe sie ihn in die Vergangenheit reichen ließ. Und dann führte Herr von Norpois, da er seiner Freundin keine wahre Weltstellung mehr schaffen konnte, ihr dafür wenigstens die ausländischen oder französischen Staatsmänner zu, die seiner bedurften und wußten, die einzig wirksame Art, ihm den Hof zu machen, war, bei Frau von Villeparisis zu verkehren. Frau Leroi kannte vielleicht auch solche hervorragenden europäischen Persönlichkeiten. Aber als anmutige Frau, die den Ton der Blaustrümpfe vermeidet, hütete sie sich, mit Premierministern von der orientalischen Frage oder mit Romanschriftstellern und Philosophen vom Wesen der Liebe zu sprechen. Einer prätentiösen Dame, die sie einmal fragte: »Was denken Sie von der Liebe?«, hatte sie geantwortet: »Die Liebe? Ich übe sie häufig aus, aber ich spreche nie von ihr.« Hatte sie Berühmtheiten der Literatur oder Politik bei sich zu Gaste, begnügte sie sich, wie die Herzogin von Guermantes, die Herren Poker spielen zu lassen. Das liebten sie oft mehr als die großen Unterhaltungen über allgemeine Ideen, zu denen Frau von Villeparisis sie zwang. Aber diese Unterhaltungen, die in der Gesellschaft vielleicht nur lächerlich wirkten, haben den »Erinnerungen« der Frau von Villeparisis ausgezeichnete Partien, politische Abhandlungen geliefert, die sich in Denkwürdigkeiten so gut machen wie in Trauerspielen nach der Art Corneilles. Nebenbei bemerkt, können nur die Salons einer Frau von Villeparisis auf die Nachwelt übergehn, denn eine Frau Leroi kann keine Lebenserinnerungen schreiben, und könnte sie es auch, so hätte sie keine Zeit dazu. Und erregt die literarische Veranlagung einer Frau von Villeparisis bei einer Frau Leroi Verachtung, so dient ihrerseits die Verachtung einer Frau Leroi in eigentümlicher Weise der literarischen Veranlagung einer Frau von Villeparisis, sie gibt den blaustrümpfigen Damen die Muße, die eine literarische Laufbahn erfordert. Gott will, daß es ein paar gut geschriebene Bücher gebe, deshalb haucht er den jeweiligen Frauen Leroi diese Verachtung ein; er weiß, wenn sie die entsprechende Frau von Villeparisis zum Essen einladen würden, so ließe die gleich ihr Tintenfaß stehn und für acht Uhr anspannen.

Nach einer Weile trat mit feierlich langsamem Schritt eine hochgewachsene alte Dame ein. Unter ihrem aufgebogenen Strohhut erschien eine monumentale weiße Frisur à la Marie-Antoinette. Ich wußte damals noch nicht, daß es eine der drei in der Pariser Gesellschaft noch zu beobachtenden Frauen war, die wie Frau von Villeparisis wohl von hoher Herkunft, aber in ihrem Verkehr auf einen Abhub von Leuten beschränkt waren, welche man anderswo nicht haben wollte. Die Gründe dafür verloren sich in der Nacht der Zeiten, und nur ein alter »Beau« jener Epoche hätte sie uns mitteilen können. Jede dieser Damen hatte ihre »Herzogin von Guermantes«, ihre glänzende Nichte, die sich verpflichtet fühlte, sie zu besuchen, aber keiner von ihnen wäre es gelungen, die »Herzogin von Guermantes« einer der andern beiden für ihren Salon zu gewinnen. Frau von Villeparisis verkehrte viel mit den drei Damen, aber sie liebte sie nicht. Sie sah jene in einer ihrer eigenen ziemlich ähnlichen gesellschaftlichen Stellung, und so gewann sie vielleicht ein Bild von ihnen, das ihr nicht lieb war. Sodann waren sie verbittert, und blaustrümpfig, sie suchten sich einzureden, sie hätten einen Salon, indem sie möglichst viel kleine Aufführungen bei sich veranstalteten. Dabei wurde der Wetteifer ihnen schwer, weil ihre Vermögen im Lauf eines bewegten Daseins ziemlich zerrüttet waren, sie mußten rechnen und von der unentgeltlichen Mitwirkung eines Künstlers Nutzen ziehen, sie führten einen richtigen Kampf ums Dasein. Die Dame mit der Marie-Antoinette-Frisur mußte überdies jedesmal, wenn sie Frau von Villeparisis sah, daran denken, daß die Herzogin von Guermantes zu ihren Freitagen nicht kam. Ihr Trost war, daß an diesen Freitagen die Fürstin Poix als gute Verwandte nie fehlte; die war ihre Guermantes und ging nie zu Frau von Villeparisis, obwohl sie mit der Herzogin gut befreundet war.

Bei all dem verknüpfte ein starkes Band das Haus am Quai Malaquais mit den Salons der rue de Tournon, der rue de la Chaise und des Faubourg Saint-Honoré, und die drei heruntergekommenen Gottheiten standen in ebenso engem wie verärgertem Verkehr. Gern hätte ich in mythologischen Wörterbüchern der Gesellschaft blätternd herausbekommen, welches galante Abenteuer, welch ruchlose Vermessenheit sie büßen mußten. Die gleiche glänzende Herkunft, der gleiche gegenwärtige Verfall ihres Ansehns trug vielleicht dazu bei, daß sie nun eine Art Notwendigkeit trieb, einander zu hassen und doch zu besuchen. Sodann bot jede den andern eine bequeme Möglichkeit, ihren Gästen Artigkeiten zu erweisen. Die mußten ja in das verschlossene »Faubourg« einzudringen meinen, wenn man sie einer Dame von hohem Stande vorstellte, deren Schwester mit einem Herzog von Sagan oder einem Fürsten Ligne verheiratet war. Umsomehr, als die Zeitungen viel häufiger von diesen vermeintlichen Salons, als von den wirklichen sprachen. Selbst die schicken Neffen sagten, wenn ein Kamerad bat, in die Gesellschaft eingeführt zu werden (und Saint-Loup allen voran): »Ich werde Sie zu meiner Tante Villeparisis bringen oder zu meiner Tante X..., sie hat einen interessanten Salon.« Sie wußten ja, das werde ihnen weniger Mühe machen, als besagte Freunde bei den eleganten Nichten oder Schwiegertöchtern dieser Damen einzuführen. Bejahrte Herren und junge Frauen, die es von diesen gehört hatten, sagten mir, die alten Damen würden in der Gesellschaft nicht empfangen, weil ihr Lebenswandel ungewöhnlich zügellos gewesen sei, und wandte ich ein, das brauche sie doch nicht gehindert zu haben, elegant zu sein, so hieß es, sie hätten alle heute bekannten Maße überschritten. Der schlechte Lebenswandel dieser feierlichen Damen, die steil aufrecht dasaßen, bekam im Munde derer, die von ihm sprachen, einen Charakter, den ich mir nicht vorstellen konnte, etwas, das der Größe prähistorischer Epochen, dem Zeitalter des Mammuts entsprach. Kurz, die drei Parzen im weißen, bläulichen und rosa Haar hatten es mit einer unberechenbaren Zahl von Herren schlimm getrieben. Ich mußte mir denken: die Menschen von heute übertreiben die Laster jener Fabelzeiten in der Art der Griechen, welche Ikarus, Theseus und Herkules aus Menschen machten, die von denen, welche sie lange nachher unter die Götter versetzten, wenig verschieden waren. Aber man zieht die Summe der Laster eines Wesens erst, wenn dieses nicht mehr imstande ist, Lastern zu fröhnen, und an der Größe der gesellschaftlichen Züchtigung, die dann erst einzusetzen beginnt, wird gemessen, vorgestellt und übertrieben, wie groß das begangene Verbrechen war. In der »Gesellschaft«, dieser Galerie symbolischer Gestalten, haben die wahrhaft leichtlebigen Frauen, die vollendeten Messalinen, immer das feierliche Aussehn einer hochmütigen Dame von mindestens siebzig Jahren, die empfängt, wen sie kann, aber nicht, wen sie will, und zu der die Frauen nicht gehn wollen, an deren Wandel es etwas auszusetzen gibt; immer verleiht ihr der Papst die Tugendrose, und bisweilen hat sie ein Werk über die Jugend Lamartines geschrieben, welches von der Académie française preisgekrönt worden ist.

»Guten Tag, Alix«, sagte Frau von Villeparisis zu der Dame mit der weißen Marie-Antoinette-Frisur. Diese warf einen stechenden Blick über die Versammlung, um auszukundschaften, ob es nicht in diesem Salon ein Beutestück gebe, das für den ihren nützlich sein könnte; in diesem Fall müßte sie es ja selbst entdecken, denn Frau von Villeparisis würde es ihr, daran zweifelte sie nicht, aus Bosheit zu verbergen suchen. Tatsächlich war Frau von Villeparisis eifrig bemüht, der alten Dame Bloch nicht vorstellen zu brauchen, sie fürchtete, er könne im Haus am Quai Malaquais dieselbe Aufführung wie bei ihr veranstalten. Das war übrigens nur eine Vergeltung. Denn bei der alten Dame war gestern Frau Ristori gewesen und hatte Verse vorgetragen, und die alte Dame hatte es zu vermeiden verstanden, daß Frau von Villeparisis, der sie die italienische Künstlerin stibitzt hatte, von diesem Ereignis erfuhr, bevor es vollendete Tatsache war. Damit sie es aber nicht erst aus der Zeitung erfahre und gekränkt sei, kam sie heute, es ihr zu erzählen, als fühle sie sich gar nicht schuldig. Da Frau von Villeparisis es für nicht so bedenklich hielt, mich vorzustellen wie Bloch, machte sie mich mit der Marie-Antoinette vom Quai bekannt. Diese war wie immer bemüht, möglichst wenig Bewegungen zu machen, um auch im Alter die Linie einer Göttin von Coysevox zu wahren, mit der sie vor langen Jahren die elegante Jugend entzückt hatte – mittelmäßige Schriftsteller feierten sie jetzt in »bouts rimés« – auch hatte sie sich die starre, hochmütige Haltung zur Gewohnheit gemacht, mit der gemeinhin alle, die ein besonderes Mißgeschick zwingt, beständig Entgegenkommen zu zeigen, dies ausgleichen. Leicht senkte sie mit eisiger Majestät den Kopf, wandte ihn dann nach der andern Seite und beschäftigte sich so wenig mit mir, als ob ich überhaupt nicht existierte. Ihre Haltung hatte einen doppelten Zweck, sie schien Frau von Villeparisis zu sagen: »Sie sehn, auf eine Bekanntschaft mehr kommt es mir nicht an, und diese jungen Burschen können mich – in keiner Beziehung, du böse Zunge – interessieren.« Als sie sich aber eine Viertelstunde später zurückzog, benutzte sie das Tohuwabohu umher, um mir ins Ohr zu flüstern, ich solle nächsten Freitag in ihre Loge kommen mit einer der Drei, deren klangvoller Name – sie selbst war übrigens eine geborene Choiseul – mir einen gewaltigen Eindruck machte.

»Ach richtig, Sie wollen doch was über die Frau Herzogin von Montmorency schreiben«, sagte Frau von Villeparisis zu dem Geschichtsschreiber der Fronde und machte dazu das brummige Gesicht, zu dem die schmollende Verschrumpfung, der physiologische Unwille des Alters, zugleich aber auch die Sucht, den fast bäuerlichen Ton der früheren Aristokratie nachzuahmen, ihre große Liebenswürdigkeit wider Willen furchte. »Da werde ich Ihnen mal ihr Bild zeigen, das Original der Kopie, die im Louvre hängt.«

Sie erhob sich und schob ihre Pinsel neben die Blumen; die kleine Schürze, die jetzt vor ihrer Taille erschien – sie trug sie, um sich nicht mit ihren Farben zu beflecken – verstärkte noch das ländliche Aussehn, welches ihr die Haube und die große Brille gaben, recht im Gegensatz zu der Pracht ihrer Dienerschaft, des Butlers, der Tee und Kuchen gebracht hatte, und des livrierten Lakaien, dem sie schellte, damit er das Bildnis der Herzogin von Montmorency, Äbtissin an einem der berühmtesten Stifte des Ostens, beleuchte. Alle hatten sich erhoben. »Es ist amüsant«, sagte sie, »daß in diesen Stiften, in denen unsere Großtanten oft Äbtissinnen waren, die Töchter des Königs von Frankreich nicht zugelassen worden sind. Es waren sehr geschlossene Stifte.« – »Die Töchter des Königs nicht zugelassen, warum denn?« fragte Bloch verdutzt. – »Nun weil das Haus Frankreich nicht mehr genug Ahnen hatte seit seiner Mesalliance.« – Blochs Erstaunen wuchs. »Eine Mesalliance im Hause Frankreich? Wie denn?« – »Indem es sich mit den Medici verschwägerte«, erwiderte Frau von Villeparisis in natürlichstem Ton. »Das Bild ist schön, nicht wahr? und ausgezeichnet erhalten«, fügte sie hinzu.

»Meine liebe Freundin«, sagte die à la Marie Antoinette frisierte Dame. »Sie erinnern sich wohl: als ich Liszt zu Ihnen brachte, hat er Ihnen gesagt, dies da sei die Kopie.«

»Einer Meinung Liszts über Musik würde ich mich fügen, aber nicht über Malerei. Übrigens war er schon altersschwach, und ich erinnere mich nicht, daß er überhaupt jemals so etwas gesagt hat. Aber nicht Sie haben ihn zu mir gebracht. Ich hatte schon zwanzigmal bei der Fürstin Sayn-Wittgenstein mit ihm gespeist.«

Alix' Hieb war fehlgegangen, sie schwieg und blieb unbeweglich stehn. Unter dem Gips der Puderschichten sah ihr Gesicht steinern aus. Und da ihr Profil edel war, glich sie – aufrecht wie auf einem dreieckigen bemoosten Sockel, den ihr Umhang verdeckte – einer bröckelnden Parkgöttin.

»Ah! Da ist noch ein schönes Porträt«, sagte der Historiker.

Die Tür ging auf, und herein trat die Herzogin von Guermantes.

»Guten Tag, mein Kind«, sagte, ohne den Kopf zu bewegen, Frau von Villeparisis zu ihr, zog eine Hand aus der Tasche ihrer Schürze und reichte sie der Ankommenden; dann hörte sie gleich auf, sich mit ihr zu befassen, und wandte sich wieder an den Historiker:

»Das ist das Bildnis der Herzogin von La Rochefoucauld.«

Ein junger Bedienter mit kecker Miene und reizendem Gesicht (nur war der etwas roten Nase und leicht entzündeten Haut gleichsam die frische Spur vom Stichel des Bildhauers anzumerken) trat ein und brachte auf einem Tablett eine Karte.

»Es ist der Herr, der schon mehrere Male gekommen ist, um die Frau Marquise zu sehn.«

»Haben Sie ihm gesagt, daß ich empfange?«

»Er hat sprechen gehört.«

»Gut! Dann lassen Sie ihn also herein. Es ist ein Herr, den man mir vorgestellt hat«, sagte Frau von Villeparisis. »Er hat mir gesagt, er wünsche sehr, hier empfangen zu werden. Nie habe ich ihm ermächtigt zu kommen. Aber nun bemüht er sich schon zum fünften Male, man muß die Leute nicht vor den Kopf stoßen.« Sie wandte sich zu mir und dann an den Geschichtsschreiber der Fronde: »Ich stelle Ihnen meine Nichte, die Herzogin von Guermantes, vor.«

Der Historiker verneigte sich tief – wie ich –, auch er nahm wohl an, diesem Gruße eine herzliche Bemerkung folgen lassen zu müssen, seine Augen belebten sich, und schon wollte er den Mund auftun, da kühlte ihn der Anblick der Frau von Guermantes ab, die ihres Rumpfes ungehinderte Geschmeidigkeit benutzt hatte, um ihn übertrieben höflich nach vorn und knapp zurückzuwerfen, ohne daß Miene und Blick bemerkt zu haben schienen, es stehe jemand vor ihnen; sie stieß einen leisen Seufzer aus, dann, um kundzutun, mein und des Historikers Anblick mache ihr keinerlei Eindruck, begnügte sie sich, ein wenig die Nasenflügel zu bewegen und damit haarscharf zu zeigen, ihre zufällige Aufmerksamkeit sei vollkommen unbeteiligt.

Der unerwünschte Besuch trat ein und ging eifrig und unbefangen auf Frau von Villeparisis zu, es war Legrandin.

»Ich danke Ihnen sehr dafür, daß Sie mich empfangen, gnädige Frau«, sagte er mit dem Ton auf dem Worte »sehr«. »Sie erweisen einem alten Einsiedler ein Vergnügen erlesenster und zartester Art, ich versichere Ihnen, seine Rückwirkung ...«

Da bemerkte er mich und blieb stecken.

»Ich zeigte gerade dem Herrn das schöne Bildnis der Herzogin von La Rochefoucauld, Frau des Verfassers der Maximen, ein Familienerbstück.«

Frau von Guermantes ihrerseits begrüßte Alix und entschuldigte sich, sie habe dies Jahr – so wenig wie die andern Jahre – zu ihr kommen können. »Durch Madeleine habe ich von Ihnen gehört.«

»Sie hat heute bei mir gefrühstückt«, sagte die Marquise vom Quai Malaquais und dachte mit Genugtuung, Frau von Villeparisis könne das von sich nie behaupten.

Inzwischen plauderte ich mit Bloch; da ich nach dem, was man mir über seines Vaters verändertes Verhalten zu ihm gesagt hatte, fürchtete, er beneide mich um mein Leben, sagte ich ihm, das seine müsse glücklicher sein. Das geschah von meiner Seite einfach aus Liebenswürdigkeit. Damit überzeugt man aber eitle Menschen leicht von ihrer günstigen Lage oder gibt ihnen den Wunsch ein, die andern davon zu überzeugen. »Ja, ich habe in der Tat ein entzückendes Leben«, sagte Bloch mit verklärter Miene. »Ich habe drei große Freunde, ich möchte nicht einen mehr haben, und eine köstliche Geliebte, ich bin unendlich glücklich. Wenig Sterbliche gibts, denen Vater Zeus solche Glückseligkeit gewährt.« Ich glaube, er suchte vor allem, sich zu loben und mich neidisch zu machen. Vielleicht sollte sein Optimismus auch urwüchsig wirken. Es war ihm anzumerken, er wollte nicht so platt antworten wie alle Welt: »Oh, das war nicht besonders usw.«, als ich ihn nach einer Tanzmatinee fragte, die er bei sich zu Hause gegeben (ich hatte nicht hinkommen können), und so erwiderte er denn so schlicht und gleichgültig, als handele sichs um einen andern: »Gewiß, es war sehr hübsch, äußerst gelungen. Wirklich ganz reizend.«

»Ihre Mitteilungen interessieren mich unendlich,« sagte Legrandin zu Frau von Villeparisis, »ich sagte mir gerade neulich, Sie haben viel von ihm in der lebendigen Klarheit des scharfen Umrisses, in etwas, das ich mit zwei sich widersprechenden Terminis die lapidare Behendigkeit und das unsterblich Augenblickliche nennen möchte. Ich wollte mir heute abend alles, was Sie sagen, notieren; aber ich werde es mir so merken. Solche Dinge sind, wie, glaube ich, Joubert es einmal ausdrückt, Freundinnen des Gedächtnisses. Sie haben Joubert nie gelesen? Oh! Sie hätten ihm so sehr gefallen! Ich werde mir erlauben, Ihnen noch heute seine Werke zu schicken, es wird mir eine Ehre sein, Sie mit seinem Geist bekannt zu machen. Er hatte nicht Ihre Stärke. Aber Anmut besaß auch er.«

Ich hatte Legrandin sofort begrüßen wollen, aber er hielt sich beständig so weit wie möglich von mir entfernt, er hoffte gewiß, ich hörte die Schmeicheleien nicht, mit denen er in raffiniertesten Wendungen beständig bei jedem Anlaß Frau von Villeparisis übergoß.

Sie zuckte lächelnd die Schultern, als habe er sich über sie lustig machen wollen, und wandte sich an den Historiker:

»Und dies ist die berühmte Marie von Rohan, Herzogin von Chevreuse, die in erster Ehe Herrn von Luynes geheiratet hat.«

»Liebe, bei Frau von Luynes muß ich an Yolande denken; sie ist gestern zu mir gekommen; hätte ich gewußt, daß Sie Ihren Abend noch nicht vergeben hatten, ich hätte nach Ihnen geschickt; Frau Ristori kam überraschend, sie hat uns Verse der Königin Carmen Sylva gesagt, in Gegenwart der Dichterin, schön war das!«

»Welche Niedertracht!« dachte Frau von Villeparisis. »Das ist es sicher gewesen, worüber sie neulich ganz leise zu Frau von Beaulaincourt und Frau von Chaponay gesprochen hat.« – »Ich war frei, wäre aber nicht gekommen«, antwortete sie. »Ich habe Frau Ristori in ihrer guten Zeit gehört. Jetzt ist sie nur noch eine Ruine. Und dann kann ich die Verse der Carmen Sylva nicht leiden. Die Ristori ist einmal, von der Herzogin von Aosta mitgebracht, hierhergekommen und hat einen Gesang aus Dantes Hölle vorgetragen. Darin ist sie unvergleichlich.«

Alix ertrug den Schlag, ohne schwach zu werden. Sie blieb marmorn. Ihr Blick war stechend und leer, die Nase edel geschwungen. Aber die eine Backe schälte sich. Leichte, seltsame Wucherungen überzogen grün und rosa das Kinn. Ein weiterer Winter würde sie vielleicht umwerfen.

»Wenn Sie Malerei lieben, mein Herr, sehn Sie das Bildnis der Frau von Montmorency an«, sagte Frau von Villeparisis zu Legrandin, um die wieder anhebenden Huldigungen zu unterbrechen.

Frau von Guermantes benutzte den Moment, in dem er sich entfernte, um ihre Tante mit einem ironischen Blick über ihn zu befragen.

»Es ist Herr Legrandin,« sagte halblaut Frau von Villeparisis, »er hat eine Schwester, namens Frau von Cambremer, was dir übrigens nicht mehr sagen wird als mir.«

»Aber die kenn ich doch sehr gut«, rief Frau von Guermantes und hielt die Hand vor den Mund. »Oder vielmehr, ich kenne sie nicht, aber Basin, der ihren Mann Gott weiß wo getroffen, hatte den Einfall, diesem dicken Weibe zu sagen, sie solle mich besuchen. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was das für ein Besuch war. Sie hat mir erzählt, daß sie nach London gereist ist, hat mir alle Bilder des British hergezählt. Wie Sie mich hier sehn, werde ich nachher, wenn ich von hier weggehe, eine Karte bei diesem Untier abgeben. Und Sie können mir glauben, das ist gar nicht so einfach; unter dem Vorwande, sie sei sterbenskrank, ist sie immer zu Hause. Ob man um sieben Uhr abends oder um neun Uhr morgens zu ihr kommt, sie ist bereit, einem Erdbeertörtchen anzubieten.«

Und auf einen fragenden Blick ihrer Tante fuhr sie fort: »Ja ganz im Ernst, ein Untier. Eine unmögliche Person: sie sagt »Federfuchser« und lauter solche Sachen.« »Was heißt das, Federfuchser?« fragte Frau von Villeparisis. »Weiß ich nicht«, rief die Herzogin mit künstlicher Entrüstung. »Will ich nicht wissen. Diese Sprache sprech ich nicht.« Und da sie sah, ihre Tante wisse wirklich nicht, was Federfuchser heißt, wollte sie wenigstens die Genugtuung haben zu zeigen, sie sei ebenso unterrichtet wie puristisch, und sich über ihre Tante lustig machen, nachdem sie sich über Frau von Cambremer lustig gemacht hatte. Und mit einem Lächeln, das die Reste der gespielten schlechten Laune nicht recht aufkommen ließen, sagte sie: »Oder doch. Das weiß doch alle Welt, ein Federfuchser ist ein Schriftsteller, ein Mensch, der eine Feder führt. Aber ein gräßlicher Ausdruck. Dabei können einem ja die Weisheitszähne ausfallen. Nicht um die Welt könnte ich so etwas sagen.

So und das ist ihr Bruder! Ich habs noch nicht ganz gegenwärtig. Aber eigentlich ist es gar nicht so unverständlich. Sie hat auch diese Bettvorlegerdemut, ist auch so eine Drehbibliothek zusammengelesener Weisheiten. Sie ist ebenso kriecherisch und ebenso öde. Ich fange an, mich an die Vorstellung ihrer Verwandtschaft zu gewöhnen.«

»Setz dich, wir wollen etwas Tee nehmen«, sagte Frau von Villeparisis, »bediene dich selbst, du hasts nicht nötig, dir die Bilder deiner Urgroßmütter anzusehn, du kennst sie so gut wie ich.«

Frau von Villeparisis kam bald zurück, nahm Platz und fing an zu malen. Alle näherten sich ihr. Diesen Augenblick benutzte ich, um auf Legrandin zuzugehn, und da ich an seiner Gegenwart in Frau von Villeparisis' Salon nichts auszusetzen fand, sagte ich zu ihm, ohne daß mir in den Sinn kam, wie sehr ich ihn damit verletze und noch dazu in einer Art, die er für absichtlich halten mußte: »Nun habe ich ja fast eine Entschuldigung dafür, in einem Salon zu sein, da ich Sie hier treffe.« Aus diesen Worten schloß Herr Legrandin (wenigstens urteilte er ein paar Tage später so über mich), ich sei ein ganz boshafter kleiner Kerl, der nur am Schlechten seinen Spaß habe.

»Zunächst könnten Sie so höflich sein, mir guten Tag zu sagen«, antwortete er, ohne mir die Hand zu geben, mit wütender und gemeiner Stimme, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte; sie stand in keinem vernünftigen Zusammenhang mit dem, was er gewöhnlich sagte, aber in einem unmittelbareren, eindringlicheren mit dem, was er empfand. Da wir immer unbedingt verbergen wollen, was wir empfinden, denken wir nie daran, wie wir es ausdrücken würden. Und plötzlich wird in uns ein unbekanntes schmutziges Tier laut, und manchmal kann sein Tonfall dem, der das unabsichtliche, abgekürzte, fast unwiderstehliche Bekenntnis unserer Fehler oder Laster abbekommt, Furcht einjagen wie das plötzliche, auf Umwegen und bizarr vorgebrachte Geständnis eines Verbrechers, der sich nicht enthalten kann, eine Mordtat zu bekennen, deren man ihn nicht schuldig wußte. Wohl wußte ich, Idealismus hindert, selbst als subjektive Erscheinung, große Philosophen nicht, gern zu schmausen und sich beharrlich um einen Sitz in der Akademie zu bewerben. Aber Legrandin hatte wirklich nicht nötig, so oft daran zu erinnern, er gehöre einem andern Planeten an, wo doch die krampfhaften Regungen des Zornes oder der Liebenswürdigkeit bei ihm von dem Bestreben gelenkt wurden, eine gute Stellung auf unserm Planeten zu haben.

»Natürlich, wenn man mir zwanzigmal hintereinander zusetzt, damit ich irgend wohin komme,« fuhr er mit leiser Stimme fort, »kann ich, obwohl ich ein gutes Recht auf Freiheit habe, mich nicht benehmen wie ein Flegel.«

Frau von Guermantes hatte sich gesetzt. Ihr Name, begleitet von ihrem Titel, fügte ihrer leibhaftigen Erscheinung das Herzogtum hinzu, es strahlte: von ihr aus und ließ rings um das Taburett, auf dem sie saß, mitten im Salon die schattige goldene Frische der Wälder von Guermantes herrschen. Mich wunderte es nur, diese Ähnlichkeit nicht auch auf ihrem Gesicht zu lesen, aber das hatte nichts Pflanzenhaftes, und selbst das Kupferrot der Wangen – sie hätten, schien mir, mit dem Namen Guermantes wappenhaft gezeichnet sein müssen – war wohl eine Wirkung, aber kein Sinnbild langer Ritte im Freien. Später, als sie mir gleichgültig geworden war, lernte ich so manche Eigenheit der Herzogin kennen, namentlich (um bei dem zu bleiben, was mich schon diesmal entzückte, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft gab) ihre Augen: in die war wie in ein Bild der blaue Himmel eines französischen Nachmittags eingefangen, weit offen, in Licht badend, selbst wenn er nicht heiter ist; und dann eine Stimme, die beim ersten Hören heiser, fast roh wirkte, doch wie auf den Stufen der Kirche von Combray oder der Konditorei am Marktplatz schleppte in ihr das träge fette Gold einer Provinzsonne. Aber an diesem ersten Tage erkannte ich davon noch nichts, meine glühende Aufmerksamkeit verflüchtigte unmittelbar das wenige, das ich hätte in mich aufnehmen, worin ich etwas von dem Namen Guermantes hätte wiederfinden können. Jedenfalls sagte ich mir: sie ist es, die für alle Welt der Name Herzogin von Guermantes bezeichnet, dieser Leib enthält das unfaßbare Leben, das dieser Name benennt. Er hat es hier hereingebracht mitten unter andersartige Wesen in diesen Salon, der es rings umschränkt. Gegen den hob sich dies Leben so deutlich ab, daß ich da, wo es aufhörte sich auszubreiten, einen wallenden Saum zu sehn glaubte, der die Grenzen absteckte; in dem Umkreis, welchen auf dem Teppich die Rundung des Rocks von blauem Peking ausschnitt, in den klaren Augäpfeln der Herzogin, die gegen die Außenwelt Erinnerungen abgrenzten und unfaßbare, verächtliche, belustigte und neugierige Gedanken, von denen sie erfüllt waren, und fremdartige Bilder, die sie spiegelten. Vielleicht wäre ich etwas weniger bewegt gewesen, wenn ich sie auf einer Abendgesellschaft bei Frau von Villeparisis getroffen hätte, statt sie so an einem »Jour« der Marquise zu sehn, einem der Tees, die für die Frauen nur eine kurze Rast auf ihrer Tagesreise sind – sie behalten den Hut auf, in dem sie ihre Besorgungen gemacht haben, sie bringen von Salon zu Salon die Luft, die draußen herrscht, und geben am Spätnachmittag mehr von Paris zu sehn als die hohen offenen Fenster, in denen man das Rollen der Wagen hört. Frau von Guermantes trug einen Strohhut mit Kornblumen: die riefen nicht die Sonnen ferner Jahre in mir wach, in denen ich sie so oft in den Feldern von Combray am Abhang nahe der Hecke von Tansonville gepflückt hatte, sondern Dunst und Staub der Dämmerung, wie sie im Augenblick, da Frau von Guermantes sie durchquerte, über der Rue de la Paix lagen. Mit herablassendem, unbestimmtem Lächeln, die gepreßten Lippen etwas verzogen, zeichnete sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms als äußerster Antenne ihres geheimnisvollen Lebens Kreise auf den Teppich, dann, mit der gleichgültigen Aufmerksamkeit, die gleich alle Berührungspunkte mit dem, was man gerade betrachtet, aufhebt, faßte ihr Blick nach der Reihe jeden von uns und musterte nach uns die Kanapees und Sessel; auf diesen aber wurde er sanfter, bekam menschliche Zuneigung, wie sie die selbst bedeutungslose Gegenwart eines Dinges, das man kennt, erweckt, eines Dinges, das einem fast eine Person ist; diese Möbel waren nicht wie wir, sie gehörten in unbestimmter Weise zu ihrer Welt, waren mit dem Leben ihrer Tante verbunden; wenn dann von dem Beauvaismöbel ihr Blick wieder zu der Person wanderte, die drauf saß, bekam er die durchdringende Schärfe der Mißbilligung, wie Frau von Guermantes sie aus Achtung vor ihrer Tante zwar unterdrückt, aber doch empfunden hätte, wenn sie statt unserer Gegenwart auf den Sesseln einen Fettfleck oder eine Staubschicht festgestellt hätte.

 

Der bekannte Schriftsteller G... trat ein; er betrachtete den Besuch, den er Frau von Villeparisis abstattete, als lästige Pflicht. Die Herzogin war erfreut, ihn zu sehn, begrüßte ihn aber nicht, und doch war es ganz natürlich, daß er gleich zu ihr kam, der Zauber ihres Wesens, ihr Takt, ihre Einfachheit machten sie für ihn zu einer Frau von Geist. Übrigens war es auch eine Pflicht der Höflichkeit, denn da er sympathisch und berühmt war, lud ihn Frau von Guermantes häufig ein, mit ihr und ihrem Gatten allein zu frühstücken, oder benutzte diese Vertraulichkeit, um ihn im Herbst auf Guermantes zusammen mit Hoheiten, die auf ihn neugierig waren, zum Essen zu bitten. Die Herzogin empfing gern gewisse hervorragende Männer, allerdings unter der Bedingung, daß sie als Junggesellen zu ihr kamen, und diese Bedingung erfüllten sie ihr auch, wenn sie verheiratet waren, denn da ihre Frauen, die alle mehr oder weniger gewöhnlich waren, in einem Salon, wo die elegantesten Schönheiten von Paris erschienen, sich schlecht ausgenommen hätten, wurden sie ohne ihre Frauen eingeladen, und um jeder Gereiztheit zuvorzukommen, erklärte der Herzog den unfreiwilligen Witwern, die Herzogin empfange keine Frauen, ertrage Frauengesellschaft nicht; er brachte das vor, als habe der Arzt es ihr verboten und wie er etwa gesagt hätte, sie könne nicht in einem Zimmer sich aufhalten, wo es zu stark rieche, könne nicht stark Gesalzenes essen, beim Reisen rückwärts sitzen oder ein Korsett tragen. Nun trafen allerdings diese großen Männer bei den Guermantes die Prinzessin von Parma, die Fürstin Sagan (Françoise, die immerfort von ihr hörte, nannte sie, weil sie das Femininum für grammatisch erforderlich hielt, die Sagante) und manche andern Damen, aber deren Gegenwart rechtfertigte man: sie gehören zur Familie oder seien Jugendfreundinnen, die man nicht ausschließen könne. Ob sie nun dem Herzog glaubten oder nicht, wenn er ihnen die seltsame Krankheit der Herzogin, mit Frauen nicht verkehren zu können, erklärte, die großen Männer übermittelten ihren Frauen diese Erklärung. Und manche dieser Frauen meinten, die Krankheit sei nur ein Vorwand, um Eifersucht zu verbergen: die Herzogin wolle allein über einen Hof von Verehrern herrschen. Noch Harmlosere glaubten, die Herzogin habe bedenkliche Eigentümlichkeiten oder gar eine skandalöse Vergangenheit, die Frauen wollten deshalb nicht zu ihr kommen, und nun mache sie aus dieser Not eine Laune. Die besten aber konnten sich, wenn ihre Männer ihnen Wunder über Wunder vom Geist der Herzogin erzählten, denken, sie sei den übrigen Frauen weit überlegen und langweile sich in ihrer Gesellschaft, weil Frauen über nichts zu reden wissen. Und tatsächlich waren Frauen der Herzogin langweilig, wenn ihnen fürstliche Herkunft nicht ein besonderes Interesse verlieh. Aber die ausgeschalteten Gattinnen irrten, wenn sie meinten, sie wolle nur Männer bei sich sehn, um über Literatur, Wissenschaft und Philosophie sprechen zu können. Darüber sprach sie nie, wenigstens nicht mit den großen Geistern. Zwar verfolgte sie dieselbe Familienüberlieferung wie die Töchter hoher Offiziere, die mitten unter ihren eitelsten Beschäftigungen militärischen Angelegenheiten Achtung bewahren, und dachte als Enkelin von Frauen, die mit Thiers, Mérimée und Augier befreundet waren, vor allem müßten in ihrem Salon die Leute von Geist ihren Platz haben, anderseits aber hatte sie von der ebenso herablassenden wie anheimelnden Art, mit der jene berühmten Männer auf Guermantes empfangen wurden, die Gewohnheit behalten, Leute von Talent als Familienbekannte anzusehn, deren Talent einen nicht blendet, und zu denen man nicht über ihre Werke spricht. Das würde sie auch gar nicht interessieren. Ferner hatte sie den Geschmack von Mérimée, Meilhac und Halévy und bevorzugte, im Gegensatz zu der Vorliebe einer früheren Zeit für den gefühlvollen Ausdruck, eine Unterhaltung, die alle großen Worte und Äußerungen höherer Gefühle verwirft, sie empfand es als elegant, wenn sie mit einem Dichter oder Musiker zusammen war, nur von Gerichten, die man aß, oder vom Kartenspiel, das man vorhatte, zu sprechen. Für einen Dritten, der nicht auf dem Laufenden war, hatte dieser Verzicht etwas Verwirrendes, manchmal geradezu Geheimnisvolles. Fragte Frau von Guermantes ihn, ob es ihm Vergnügen machen würde, mit dem oder jenem Dichter zusammen eingeladen zu werden, so stellte er sich, von Neugierde verzehrt, zur bestimmten Stunde ein. Die Herzogin sprach mit dem Dichter über das Wetter. Man ging zu Tisch. »Lieben Sie diese Art, die Eier zuzubereiten?« fragte sie den Dichter. Seine Zustimmung entsprach ihrem Geschmack, denn sie fand alles im eignen Hause ausgezeichnet, sogar den fürchterlichen Apfelwein, den sie von Guermantes kommen ließ. »Reichen Sie dem Herrn noch einmal von den Eiern«, sagte sie zum Butler, während der Dritte beklommen lauerte, was Herzogin und Dichter sich Bedeutsames sagen würden, hatten sie doch dies Zusammensein trotz tausend Schwierigkeiten noch glücklich vor der Abreise des Dichters zustandegebracht. Aber das Essen ging weiter, ein Gang nach dem andern wurde aufgetragen, nicht ohne Frau von Guermantes Gelegenheit zu geistreichen Scherzen und hübschen Geschichtchen zu geben. Der Dichter aß weiter, ohne daß Herzogin oder Herzog aussahen, als dächten sie daran, daß er ein Dichter war. Und bald war das Frühstück zu Ende, man sagte sich Auf Wiedersehn und hatte kein Wort von der Poesie gesprochen, die doch alle liebten; aus einer Zurückhaltung, ähnlich jener, von der mir Swann einen Vorgeschmack gegeben hatte, sprach niemand über Poesie. Diese Zurückhaltung war einfach guter Ton. Für den Dritten aber hatte sie, wenn er ein wenig nachdachte, etwas sehr Trübsinniges, und die Mahlzeiten im Kreise Guermantes gemahnten an die Stunden, welche schüchterne Liebende oft zusammen damit verbringen, sich Plattheiten zu sagen bis zum Augenblick, da sie sich verlassen müssen, ohne daß, vor lauter Schüchternheit, Scham oder Ungeschicklichkeit, das große Geheimnis vom Herzen auf die Lippen gekommen wäre, und es hätte sie doch, glücklicher gemacht, es zu bekennen. Dabei darf übrigens nicht übergangen werden: dies Schweigen über die Dinge, von denen man umsonst hoffte, sie würden nun endlich zur Sprache kommen, konnte zwar als bezeichnend für die Herzogin gelten, wurde aber von ihr nicht immer unbedingt eingehalten. Frau von Guermantes hatte ihre Jugend in einer etwas anderen Umwelt verbracht: sie war auch aristokratisch, aber weniger glänzend und vor allem weniger oberflächlich als die, in der sie jetzt lebte, und besaß hohe Kultur. Das hatte ihrer gegenwärtigen Leichtfertigkeit eine Art festeren Boden gelassen, welcher diese unmerklich speiste; aus ihm schöpfte die Herzogin (sehr selten, denn Pedanterie war ihr zuwider) einige Stellen aus Victor Hugo oder Lamartine, die, passend und mit einem Ausdruck wahrer Empfindung in ihren schönen Augen vorgebracht, eine überraschende und entzückende Wirkung nicht verfehlten. Bisweilen gab sie auch einem Dramatiker von der Akademie ohne Anmaßung, treffend und einfach, einen scharfsinnigen Rat und ließ ihn eine Situation abschwächen oder eine Lösung ändern.

Konnte ich im Salon der Frau von Villeparisis, gerade wie damals in der Kirche von Combray bei der Hochzeit von Fräulein Percepied, in dem schönen, zu menschlichen Gesicht der Frau von Guermantes kaum das unbekannte Wesen ihres Namens wiederfinden, so erhoffte ich doch wenigstens von ihrem Gespräch tiefe geheimnisvolle Worte, die das Seltsame mittelalterlicher Wandgewebe und gotischer Kirchenfenster haben würden. Um mich nicht zu enttäuschen, hätte es aber, selbst wenn ich sie nicht geliebt hätte, noch nicht genügt, daß diese Worte aus dem Munde einer Frau, die Guermantes hieß, erlesen, schön und tief seien, sie hätten die amarantene Farbe der letzten Silbe ihres Namens widerspiegeln müssen, diese Farbe, die ich zu meinem Erstaunen vom ersten Tage an in ihrer Person nicht fand und in ihren Geist sich hatte flüchten lassen. Gewiß hatte ich von Frau von Villeparisis und Saint-Loup, Leuten, deren Verstand nichts Außerordentliches hatte, schon ohne jede Vorsicht den Namen Guermantes aussprechen hören, einfach als den einer Person, die zu Besuch kommen oder mit der man essen werde, sie sahen dabei nicht aus, als fühlten sie in diesem Namen den Anblick gelber Wälder und das ganze Geheimnis eines Provinzwinkels. Aber das mochte Verstellung von ihnen sein – wie wenn die klassischen Dichter tiefere Absichten, die sie doch gehabt haben, uns nicht ankündigen; ich selbst bemühte mich, diese Verstellung nachzuahmen, und sagte im natürlichsten Ton »die Herzogin von Guermantes«, als wäre das ein Name wie jeder andere. Im übrigen versicherten alle, sie sei eine sehr intelligente, in der Unterhaltung geistvolle Frau und lebe in einer der interessantesten kleinen Kreise: solche Worte verschworen sich mit meinem Traum. Denn sagten sie: interessanter Kreis, geistvolle Unterhaltung, so dachte ich dabei nicht an Intelligenz, wie ich sie kannte, nicht einmal an die der größten Geister, ich dachte durchaus nicht an Leute wie Bergotte, wenn ich mir diesen Kreis vorstellte. Nein, unter Intelligenz verstand ich eine unaussprechliche Begabung voll Goldglanz und getränkt mit Waldesfrische. Mit den intelligentesten Wendungen (in dem Sinne wie ich das Wort intelligent auffaßte, wenn es sich um einen Philosophen oder Kritiker handelte) hätte Frau von Guermantes mich in dem, was ich von ihrer besondern Begabung erwartete, sogar mehr enttäuscht, als wenn sie sich begnügt hätte, in nichtssagendem Gespräch von Küchenrezepten oder Schloßmöbeln zu reden und Namen von Nachbarn und Verwandten zu erwähnen, die mir doch ihr Leben heraufbeschworen hätten.

»Ich glaubte, Basin hier zu finden, er wollte bestimmt zu Ihnen kommen«, sagte Frau von Guermantes zu ihrer Tante.

»Deinen Mann hab ich schon mehrere Tage nicht gesehn«, antwortete gereizt und ärgerlich Frau von Villeparisis, »er hat sich nicht sehn lassen oder höchstens einmal seit seinem reizenden Scherz, sich als Königin von Schweden anmelden zu lassen.«

Um zu lächeln, kniff Frau von Guermantes den Lippenwinkel, als beiße sie in ihren Schleier.

»Wir haben gestern Abend mit ihr bei Blanche Leroi gegessen, Sie würden sie nicht wiedererkennen, sie ist enorm geworden, ich bin sicher, sie ist krank.«

»Ich sagte gerade zu den Herren da, du fändest, sie sehe wie ein Frosch aus.«

Frau von Guermantes ließ ein rauhes Geräusch hören, das ein Lachen aus Höflichkeit bedeuten sollte.

»Ich wußte nicht, daß ich diesen hübschen Vergleich gemacht habe, aber wenn, dann ist sie jetzt glücklich ein Frosch, der so dick geworden ist wie ein Ochse. Oder vielmehr, das stimmt nicht genau, denn ihre ganze Dicke hat sich auf den Bauch gehäuft, sie ist ein Frosch in interessanten Umständen.«

»Ich finde dein Bild recht drollig«, sagte Frau von Villeparisis; im Grunde war sie vor ihren Gästen stolz auf den Geist ihrer Nichte.

»Es ist vor allem willkürlich,« erwiderte Frau von Guermantes – sie ließ dies gewählte Beiwort los, wie Swann es getan hätte, »denn ich muß bekennen, ich habe noch nie einen Frosch niederkommen gesehn. Jedenfalls soll dieser Frosch, der übrigens keinen König begehrt, – ich habe sie nie übermütiger gesehn als seit dem Tode ihres Gatten – einen Abend der nächsten Woche zu uns zum Essen kommen. Ich habe ihr gesagt, ich werde Sie auf jeden Fall benachrichtigen.«

Frau von Villeparisis ließ ein undeutliches Brummeln hören.

»Ich weiß, daß sie vorgestern bei Frau von Mecklenburg gespeist hat. Hannibal von Bréauté war da. Er hat mir, ich muß sagen, ziemlich komisch davon erzählt.«

»Bei diesem Diner war jemand, der erheblich geistvoller ist als Babal«, sagte Frau von Guermantes (so intim sie mit Herrn von Bréauté-Consalvi war, sie wollte es noch betonen, indem sie ihn mit diesem Kosenamen bezeichnete) »und zwar Herr Bergotte.«

Ich hatte nicht gedacht, daß Bergotte als geistvoll angesehn werden könne; zudem schien er mir zur Menschheit der Intelligenz zu gehören und somit unendlich weit entfernt zu sein von dem geheimnisvollen Königreich, das ich unter den Purpurvorhängen einer Theaterloge bemerkt hatte, in der Herr von Bréauté die Herzogin lachen machte und mit ihr in der Sprache der Götter dies Unvorstellbare: eine Unterhaltung unter Leuten des Faubourg Saint-Germain führte. Es war mir schmerzlich, das Gleichgewicht gestört und Bergotte Herrn von Bréauté vorgezogen zu sehn. Vor allem aber war ich verzweifelt, am Abend der Phèdre-Aufführung Bergotte vermieden zu haben, nicht zu ihm gegangen zu sein, als ich jetzt Frau von Guermantes zu Frau von Villeparisis sagen hörte:

»Das ist der einzige Mensch, den ich Lust hätte kennen zu lernen.« Man konnte bei ihr immer in einer Art geistigen Wellengang die Flut einer Neugier auf berühmte Intellektuelle die Ebbe des aristokratischen Snobismus unterwegs kreuzen sehn. »Das würde mir großes Vergnügen machen!«

Mit Bergotte an meiner Seite – und das konnte ich doch bequem haben – hätte ich geglaubt, Frau von Guermantes einen schlechten Eindruck zu machen; dabei würde gerade das zur Folge gehabt haben, daß sie mich in ihre Loge gewinkt und gebeten hätte, ihr einmal den großen Schriftsteller zum Frühstück mitzubringen.

»Sehr liebenswürdig scheint er nicht gewesen zu sein, man hat ihn Herrn von Koburg vorgestellt, und er hat kein Wort zu ihm gesagt«, fügte Frau von Guermantes hinzu, sie hob dies merkwürdige Benehmen hervor, als berichte sie, ein Chinese habe sich in Papier geschneuzt. »Nicht ein einziges Mal hat er »Monseigneur« zu ihm gesagt.« Dieser Zug ergötzte sie; er schien ihr so bedeutsam wie die Weigerung eines Protestanten, der beim Papst Audienz hatte, vor Seiner Heiligkeit zu knien.

Offenbar interessierten sie diese Eigentümlichkeiten Bergottes, aber es sah nicht aus, als finde sie sie tadelnswert, vielmehr schien sie ihm daraus ein Verdienst zu machen, ohne sich genau über die Art dieses Verdienstes klar zu sein. Damals befremdete mich diese Art, Bergottes Urwüchsigkeit aufzufassen, später aber sollte es mir nicht so belanglos vorkommen, daß Frau von Guermantes zum Erstaunen Vieler Bergotte geistvoller fand als Herrn von Bréauté. Solche umstürzlerischen und trotz allem gerechten Urteile werden auf diese Art von seltenen, überlegenen Persönlichkeiten in die Gesellschaft getragen. Und sie zeichnen die ersten Umrisse einer Hierarchie der Werte, welche die nächste Generation aufstellen wird, statt sich ewig an die alte Wertordnung zu halten.

Graf d'Argencourt, belgischer Geschäftsträger und Sohn einer Nichte der Frau von Villeparisis, trat hinkend ein. bald nach ihm erschienen zwei junge Leute, der Baron von Guermantes und Seine Hoheit der Herzog von Châtellerault. »Guten Tag, mein kleiner Châtellerault«, sagte Frau von Guermantes mit zerstreuter Miene, ohne sich von ihrem Sitz zu erheben; sie war eine gute Freundin der Mutter des jungen Herzogs, der deshalb von Kindheit an äußerste Achtung vor ihr hatte. Groß, schlank, Haut und Haar golden, ganz vom Typus Guermantes, schienen die beiden jungen Leute das Frühlingsabendlicht, welches den großen Salon überflutete, in sich zu verdichten. Nach einer Gewohnheit, die gerade Mode war, stellten sie ihre Zylinder neben sich auf den Boden. Der Geschichtsschreiber der Fronde dachte, sie täten das aus Verlegenheit, wie ein Bauer, der ins Rathaus kommt und nicht weiß, was er mit seinem Hut anfangen soll. Er meinte, der linkischen Schüchternheit, die er ihnen zutraute, barmherzig zu Hilfe kommen zu müssen.

»Nein, nein«, sagte er zu ihnen, »tun Sie sie nicht auf die Erde, Sie werden sie verderben.«

Ein Blick des Barons von Guermantes verschob schräg die Fläche seiner Augäpfel und ließ ein rohes, schneidendes Blau in ihnen rollen, vor welchem dem wohlwollenden Historiker eiskalt wurde.

»Wie heißt der Herr«, fragte mich der Baron, »den mir Frau von Villeparisis vorgestellt hat.«

»Herr Pierre«, antwortete ich halblaut.

»Pierre von was?»

»Pierre ist sein Name, ein sehr bedeutender Historiker.«

»Ah ... wenn Sie es sagen ..«

»Es ist eine neue Gewohnheit der Herren, ihre Hüte auf den Boden zu stellen«, erklärte Frau von Villeparisis, »mir gehts wie Ihnen, ich kann mich nicht daran gewöhnen. Aber das ist mir immer noch lieber, als wie es mein Neffe Robert macht, der seinen Hut immer im Vorzimmer läßt. Wenn ich ihn so eintreten sehe, sage ich zu ihm, daß er aussieht, wie der Uhrmacher, und frage ihn, ob er die Uhren aufziehen will.«

»Vorhin sprachen Sie gerade vom Hut des Herrn Molé, Frau Marquise, wir werden es bald machen müssen wie Aristoteles im Kapitel über die Hüte«, sagte der Geschichtsschreiber der Fronde, der durch das Eingreifen der Frau von Villeparisis etwas sicherer geworden war, aber mit immer noch so schwacher Stimme, daß ihn außer mir niemand verstand.

»Sie ist doch wirklich erstaunlich, die kleine Herzogin«, sagte Herr d'Argencourt und zeigte auf Frau von Guermantes, die mit G. plauderte. »Sobald sich ein berühmter Mann in einem Salon befindet, gleich ist er an ihrer Seite. Offenbar ist das da der Held des Tages. Es kann ja nicht alle Tage Herr von Borelli, Schlumberger oder d'Avenel sein. Aberclann wirds eben Herr Pierre Loti oder Herr Edmond Rostand sein. Gestern Abend bei den Doudeauville, wo sie, nebenbei bemerkt, blendend war mit ihrem Smaragddiadem und großem rosa Schleppkleid, hatte sie auf der einen Seite Herrn Deschanel und auf der andern den deutschen Botschafter, sie stritt mit ihnen über China; das große Publikum hielt sich in achtungsvoller Entfernung, verstand nicht, was sie sagten, und fragte sich, ob es nicht am Ende einen Krieg geben würde. Wahrhaftig, sie sah aus wie eine Königin, die Cercle hält.«

Alle hatten sich Frau von Villeparisis genähert, um ihr beim Malen zuzusehn.

»Diese Blumen sind von einem wahrhaft himmlischen Rosa«, sagte Legrandin, »ich will damit sagen, sie haben die Farbe des rosa Himmels. Denn es gibt ein Himmelrosa wie es ein Himmelblau gibt. Aber,« flüsterte er, um nur von der Marquise verstanden zu werden, »ich glaube, noch mehr fühle ich mich angezogen von dem seidenweichen, dem lebendigen Inkarnat der Kopie, die Sie von diesen Blumen machen. Oh, Sie lassen Pisanello und Van Huysun weit hinter sich mit ihrem kleinlichen, toten Herbarium.« Selbst der bescheidenste Künstler läßt sichs gern gefallen, seinen Rivalen vorgezogen zu werden, und sucht nur, ihnen gerecht zu werden.

»Ihr Eindruck beruht darauf, daß diese Maler Blumen ihrer Zeit malten, die wir nicht mehr kennen, aber sie besaßen sehr große Kunstfertigkeit.«

»Ach! Blumen ihrer Zeit, das ist glänzend«, rief Legrandin.

»Sie malen in der Tat schöne Kirschblüten ... oder Heckenrosen«, sagte der Historiker der Fronde, nicht ohne beim Nennen der Blume ein wenig zu zögern, sonst aber mit sicherer Stimme; er fing schon an, den Zwischenfall mit den Hüten zu vergessen.

»Nein, es sind Apfelblüten«, sagte die Herzogin von Guermantes, zu ihrer Tante sich wendend.

»Ich sehe, du bist ein gutes Landkind; du kannst wie ich Blumen unterscheiden.«

»Ach ja, richtig! Ich glaubte, die Zeit der Apfelblüte sei schon vorbei«, sagte auf gut Glück der Geschichtsschreiber der Fronde, um sich zu entschuldigen.

»Aber nein, im Gegenteil, die Apfel sind noch nicht in Blüte, sie werden es frühestens in vierzehn Tagen, vielleicht erst in drei Wochen sein«, sagte der Archivar, der Frau von Villeparisis' Güter ein wenig mitverwaltete und daher in landwirtschaftlichen Angelegenheiten besser unterrichtet war.

»Ja, und noch dazu sind sie in der Umgegend von Paris schon weiter. In der Normandie, zum Beispiel bei seinem Vater – Frau von Villeparisis zeigte auf den Herzog von Châtellerault –, der herrliche Apfelbäume am Meer hat. schön wie auf einem japanischem Wandschirm, sind sie erst nach dem zwanzigsten Mai wirklich rosa.«

»Ich sehe sie nie,« sagte der junge Herzog, »ich bekomme davon den Heuschnupfen, das ist schrecklich.«

»Heuschnupfen? Davon hab ich nie gehört«, sagte der Historiker.

»Das ist die Modekrankheit«, sagte der Archivar.

»Es kommt darauf an, vielleicht würden Sie davon gar nichts bekommen in einem Jahr, in dem es Apfel gibt. Sie kennen den normannischen Spruch: Ein Jahr, wo's wirklich Äpfel gibt...«, sagte Herr von Argencourt, der sich Pariser Allüren zu geben suchte, da er kein reiner Franzose war.

»Du hast recht,« sagte Frau von Villeparisis zu ihrer Nichte, »es sind Apfelblüten aus dem Süden. Eine Blumenhändlerin hat mir diese Zweige geschickt mit der Bitte, sie anzunehmen. Das wundert Sie, Herr Valmère,« wandte sie sich an den Archivar, »daß eine Blumenhändlerin mir Apfelblütenzweige schickt. Ja, wenn ich auch eine alte Dame bin, ich kenne doch Leute, ich habe einige Freunde.« Sie lächelte – wie man allgemein glaubte, aus Herzenseinfalt; mir aber schien vielmehr, sie finde es pikant, auf die Freundschaft einer Blumenhändlerin stolz zu sein, wenn man so große Beziehungen hat.

Bloch erhob sich, um seinerseits die Blumen zu bewundern, die Frau von Villeparisis malte.

»Gleichviel, Marquise,« sagte der Historiker und begab sich auf seinen Stuhl zurück, »selbst wenn wieder eine der Revolutionen käme, wie sie so häufig die Geschichte Frankreichs mit Blut befleckt haben – und mein Gott, in den Zeiten, in denen wir leben, kann man nicht wissen« – er blickte behutsam rings im Kreise, ob sich nicht ein »Schlechtgesinnter« im Salon befinde, was ihm allerdings kaum möglich schien – »mit solch einem Talent und Ihren fünf Sprachen würden Sie immer sicher sein, gut fortzukommen.« Der Geschichtsschreiber der Fronde genoß einige Ruhe, er hatte seine Schlaflosigkeit vergessen. Plötzlich aber fiel ihm ein, daß er seit sechs Tagen nicht geschlafen hatte, da bemächtigte sich eine in seinem Geist entsprungene schwere Müdigkeit seiner Beine, krümmte seine Schultern, und trostlos hing sein Gesicht herab wie das eines alten Mannes.

Bloch wollte eine Bewegung machen, um seine Bewunderung auszudrücken, da stieß er mit dem Ellbogen die Vase um, in welcher der Blütenzweig stand, und das ganze Wasser ergoß sich über den Teppich.

»Sie haben wahrhaftig Feenfinger«, sagte zur Marquise der Historiker, der mir in diesem Augenblick den Rücken kehrte und Blochs Ungeschicklichkeit nicht bemerkt hatte.

Dieser aber bezog die Worte auf sich, und um unter einer Unverschämtheit die Schande seines linkischen Benehmens zu verbergen, sagte er:

»Das hat gar nichts zu bedeuten, ich habe mich nicht naß gemacht.«

Frau von Villeparisis schellte, ein Lakai kam, trocknete den Teppich ab und las die Scherben auf. Sie lud die beiden jungen Leute zu ihrer Matinee ein, desgleichen die Herzogin von Guermantes, welcher sie anempfahl:

»Denke daran, Gisèle und Berthe (Herzoginnen von Auberjon und Portefin) zu sagen, sie sollen etwas vor zwei Uhr da sein, um mir zu helfen« – wie sie etwa zu Aushilfs-Tafeldeckern gesagt hätte, sie sollen früher kommen, um die Kompottschalen zurechtzumachen.

Zu ihren fürstlichen Verwandten und zu Herrn von Norpois war sie durchaus nicht so liebenswürdig wie zu dem Historiker, zu Cottard, Bloch oder mir, sie schienen für sie nur den Zweck zu haben, unserer Neugier zur Nahrung angeboten zu werden. Sie wußte, mit Leuten, für die sie nicht eine mehr oder weniger glänzende Frau, sondern nur die empfindliche und mit Schonung zu behandelnde Schwester ihrer Väter oder Onkel war, brauchte sie sich nicht zu genieren. Vor ihnen glänzen zu wollen, hätte keinen Sinn gehabt, sie waren nicht irre zu führen über Schwäche oder Stärke ihrer gesellschaftlichen Stellung, besser als irgend jemand kannten sie Frau von Villeparisis' Geschichte und achteten in ihr das erlauchte Geschlecht, dem sie entstammte. Vor allem aber waren diese Verwandten für sie nur ein totes Residuum, das nicht mehr Frucht tragen würde, sie würden sie nicht mit ihren neuen Freunden bekannt machen, nicht an ihren Vergnügungen teilnehmen lassen. Sie konnte nur erreichen, daß sie zu ihrem Empfangstag um fünf Uhr kamen oder daß sie an diesem von ihnen sprechen konnte wie später in ihren Erinnerungen, von denen der Empfangstag eine Art Leseprobe im kleinen Kreise war. Und in der Gesellschaft, die zu unterhalten, zu blenden und zu fesseln alle ihre vornehmen Verwandten ihr dienten, in der Gesellschaft der Cottard, Bloch, der namhaften Dramatiker, Geschichtsschreiber der Fronde aller Art lag für Frau von Villeparisis – in Ermangelung des Teiles der eleganten Welt, der nicht zu ihr kam – Bewegung, Neuheit, Zerstreuung und Leben; aus diesen Leuten konnte sie gesellschaftliche Vorteile ziehen (dafür lohnte es sich, daß sie sie manchmal mit Frau von Guermantes zusammenbrachte, die sie doch nie richtig kennen lernten), sie verschafften ihr Diners mit hervorragenden Männern, deren Werke sie interessierten, eine Operette oder eine fertig einstudierte Pantomime, die der Verfasser bei ihr aufführen ließ, und Logen für interessante Stücke. Bloch erhob sich, um zu gehn. Laut hatte er gesagt, das mit der umgeworfenen Blumenvase sei ohne Bedeutung, leise aber sagte er etwas anderes, und etwas noch ganz anderes dachte er. »Wenn man seine Bedienten nicht gut genug abgerichtet hat, um eine Vase so hinzusetzen, daß sie die Gäste nicht naß machen oder gar verletzen kann, muß man sich solchen Luxus nicht leisten«, brummelte er leise. Er gehörte zu den empfindlichen »nervösen« Leuten, die es nicht ertragen können, eine Ungeschicklichkeit begangen zu haben; sie gestehn sie sich nicht ein, aber sie verdirbt ihnen den ganzen Tag. Er war wütend, finstere Gedanken stiegen in ihm auf, er wollte nicht mehr in Gesellschaft gehn. Das war der Augenblick, in dem ein bißchen Zerstreuung not tut. Zum Glück sollte ihn Frau von Villeparisis gleich zurückhalten. Sei es, weil sie die Ansichten ihrer Freunde und die damals gerade aufsteigende Welle von Antisemitismus kannte, sei es aus Zerstreutheit, sie hatte ihn den Anwesenden nicht vorgestellt. Er indessen in seinem Mangel an gesellschaftlichen Umgangsformen meinte, er müsse beim Weggehn sich von ihnen verabschieden aus Lebensart, aber ohne Liebenswürdigkeit; er senkte mehreremal die Stirn, grub sein bärtiges Kinn in den Kragen und sah einen nach dem andern durch seine Stielbrille mit kalter unzufriedener Miene an. Aber Frau von Villeparisis hielt ihn fest, sie hatte noch mit ihm von dem kleinen Stück, das bei ihr gegeben werden sollte, zu sprechen, und außerdem wollte sie ihn nicht weggehn lassen, ehe er die Genugtuung gehabt habe, Herrn von Norpois kennen zu lernen (wo der nur blieb?); sie hätte sichs ersparen können, ihn Herrn von Norpois vorzustellen, denn Bloch war bereits entschlossen, die beiden Künstlerinnen, von denen er gesprochen, zu überreden, daß sie bei der Marquise unentgeltlich sängen, es läge im Interesse ihres Ruhmes, zu solch einem Empfang käme die Elite von Europa. Obendrein hatte er noch eine Tragödin vorgeschlagen, »glanzäugig, schön wie Hera«, die Sinn für plastische Schönheit habe und lyrische Prosa vortragen sollte. Als er aber ihren Namen nannte, hatte Frau von Villeparisis sie abgelehnt, denn es war die Freundin von Saint-Loup.

»Ich habe jetzt Besseres gehört,« sagte sie mir ins Ohr, »ich glaube, das geht nicht mehr recht weiter, sie werden sich bald trennen, trotz der Bemühungen eines Offiziers, der eine abscheuliche Rolle in der ganzen Geschichte gespielt hat.« Die Familie Roberts hatte eine mörderische Wut auf Herrn von Borodino bekommen wegen des Urlaubs nach Brüssel, den er auf Drängen des Friseurs gegeben hatte; sie beschuldigte ihn, ein schändliches Verhältnis zu begünstigen. »Das ist ein sehr schlechter Mensch«, sagte Frau von Villeparisis in dem tugendhaften Ton, den selbst die verderbtesten Guermantes annehmen konnten. »Sehr, sehr schlecht«, fügte sie mit scharfer Betonung hinzu. Sie nahm sicherlich an, er sei bei allen Orgien als dritter beteiligt. Aber da bei der Marquise die Liebenswürdigkeit alle andern Regungen überwog, verlor sich ihr streng gefurchter Gesichtsausdruck (als Frau, für die das Kaiserreich nicht zählte, sprach sie den Namen des schrecklichen Rittmeisters Fürst Borodino mit ironisch übertriebenem Pathos aus) in ein zärtliches Lächeln, das mir galt; es war von einem mechanischen Augenzwinkern begleitet, das so etwas wie geheimes Einverständnis bedeutete.

»De Saint-Loup-en-Bray liebe ich sehr«, sagte Bloch, »wenn er auch ein falscher Hund ist, er ist außerordentlich gut erzogen. Eben nur die außerordentlich gute Erziehung liebe ich an ihm, die ist so selten.« Da er selbst sehr schlecht erzogen war, ahnte er nicht, wie sehr seine Worte mißfielen. »Ich will Ihnen etwas von ihm berichten, was seine vollkommene Erziehung schlagend beweist. Ich traf ihn einmal mit einem jungen Mann, als er gerade seinen schöngefelgten Streitwagen bestieg, nachdem er selbst die schimmernden Zügel den beiden, mit Hafer und Gerste genährten Rossen angelegt, die nicht der stachelnden, blitzenden Peitsche bedurften. Er stellte uns vor, aber ich verstand den Namen des jungen Mannes nicht. Nie versteht man den Namen von Leuten, denen man vorgestellt wird.« (Er lachte, es war eine witzige Redensart seines Vaters.) »De Saint-Loup-en-Bray blieb ganz ruhig, machte keine besondern Umstände für den jungen Mann, schien gar nicht weiter verlegen. Zufällig habe ich ein paar Tage später erfahren, wer der junge Mann war: der Sohn von Sir Rufus Israels!«

Das Ende dieser Geschichte erregte weniger Anstoß als der Anfang, denn es blieb den Anwesenden unverständlich. Sir Rufus Israels, der Bloch und seinem Vater eine fast königliche Persönlichkeit schien, vor der Saint-Loup zittern mußte, war in den Augen des Kreises Guermantes ein emporgekommener Ausländer, den die Gesellschaft duldete, niemand konnte auf den Gedanken kommen, auf seine Freundschaft sich etwas einzubilden, ganz im Gegenteil! »Ich habe es von dem Bevollmächtigten von Sir Rufus Israels gehört«, sagte Bloch, »der ein Freund meines Vaters und ein ganz ungewöhnlicher Mann ist. Ach! eine höchst merkwürdige Persönlichkeit.« Das bekräftigte er so energisch, sagte es in so erhobenem Ton, wie man es nur mit Überzeugungen tut, die man sich nicht selbst gebildet hat.

Bloch war sichtlich erfreut gewesen, daß er Herrn von Norpois kennenlernen sollte.

Gern würde er ihn auf den Fall Dreyfus zu sprechen bringen, sagte er. »Da besteht eine Mentalität, die ich nicht gut kenne, es wäre recht reizvoll, diesen bedeutenden Staatsmann zu interviewen.« Das brachte er in bissigem Tone vor, als wolle er den Anschein vermeiden, er fühle sich dem Botschafter unterlegen.

»Sag mal,« fragte Bloch mich leise, »wie hoch schätzst du Saint-Loups Vermögen? Du verstehst, ich schere mich den Teufel darum, ich frage dich das nur von einem Balzacschen Gesichtspunkt aus. Und du weißt nicht einmal, wie es angelegt ist, ob er französische oder ausländische Werte hat oder Grundbesitz?«

Ich konnte ihm keinerlei Auskunft geben. Er hörte mit dem Geflüster auf, bat sehr laut um die Erlaubnis, die Fenster zu öffnen, und ging, ohne die Antwort abzuwarten, auf sie zu. Frau von Villeparisis sagte, sie müßten geschlossen bleiben, sie sei erkältet. »Ah! Wenn Sie es nicht vertragen können!« erwiderte Bloch enttäuscht. »Aber man kann schon sagen, hier ist es heiß!« Er fing an zu lachen, ließ seine Blicke im Kreise wandern und bei den Versammelten eine Kollekte machen zur Unterstützung gegen Frau von Villeparisis. Die bekam er nicht unter diesen wohlerzogenen Leuten. Als sich niemand verführen ließ, wich das Leuchten aus seinen Augen, sie schickten sich drein und nahmen wieder ihren ernsten Ausdruck an; zur Ausrede sagte er: »Es sind mindestens 22 bis 25 Grad. Das wundert mich nicht. Ich schwitze beinahe. Und ich habe nicht die Gabe des weisen Antenor, der des Flusses Alpheios Sohn war, mich mit der väterlichen Woge zu benetzen, um den Schweiß abzutrocknen, eh ich mich in die geglättete Wanne setze und salbe mit duftendem Öle.« Und in dem üblichen Bedürfnis, zum Gebrauch der andern medizinische Anschauungen vorzubringen, deren Anwendung dem eignen Wohlbefinden förderlich wäre, fuhr er fort: »Nun wenn Sie meinen, daß es gut für Sie ist! Ich glaube gerade das Gegenteil. Davon kommt eben Ihre Erkältung.«

Frau von Villeparisis war es unangenehm, daß er das so laut sagte, da aber, wie sie sah, der Archivar, dessen nationalistische Überzeugungen sie sozusagen an der Kette hielten, zu weit weg saß, um diese Äußerungen zu hören, machte sie sich nicht viel daraus. Peinlicher war ihr, daß Bloch sich von dem Dämon seiner schlechten Erziehung, der ihm im vorhinein den Sinn getrübt hatte, hinreißen ließ zu fragen: »Habe ich nicht von ihm eine gelehrte Arbeit gelesen, in der er mit unwiderleglichen Gründen beweist, weshalb der russisch-japanische Krieg mit dem Sieg der Russen und der Niederlage der Japaner enden müsse? Und ist er nicht schon ein bißchen klapperig? Ich glaube, ich habe ihn vorhin gesehn, wie er seinen Stuhl ins Auge faßte, ehe er wie auf Rädern hinrutschte, um sich drauf zu setzen.«

»Nie und nimmer! Warten Sie einen Augenblick; ich weiß nicht wo er bleibt«, sagte die Marquise.

Sie schellte, und als der Bediente eintrat, sagte sie ganz ungezwungen – sie zeigte gern, daß ihr alter Freund den größten Teil seiner Zeit bei ihr verbrachte:

»Sagen Sie doch Herrn von Norpois, er möchte kommen, er ordnet Papiere in meinem Schreibzimmer und hat gesagt, er werde in zwanzig Minuten hier sein, und jetzt warte ich schon dreiviertel Stunden. Er wird sich mit Ihnen über den Fall Dreyfus unterhalten, über alles, was Sie wollen«, sagte sie in schmollendem Ton zu Bloch, »er billigt durchaus nicht, was da vorgeht.«

Herr von Norpois stand nämlich schlecht mit dem gegenwärtigen Ministerium, und obgleich er sich nie erlaubt hätte, Männer der Regierung bei Frau von Villeparisis einzuführen (sie wahrte trotz allem doch den Stolz einer Dame der hohen Aristokratie und blieb außer und über den Beziehungen, die er zu unterhalten gezwungen war), hielt er sie immerhin politisch auf dem Laufenden. Auch hätten die Männer der Regierung nicht gewagt, Herrn vor Norpois zu bitten, sie Frau von Villeparisis vorzustellen. Aber mehrere hatten ihn bei ihr auf dem Lande aufgesucht, wenn sie in schwierigen Umständen seiner Hilfe bedurften. Man wußte die Adresse. Man ging auf das Schloß. Die Schloßherrin sah man nicht. Aber beim Essen sagte sie zu ihm:

»Ich habe erfahren, man hat Sie belästigt. Gehn die Angelegenheiten besser?«

»Sie haben doch noch Zeit?« fragte Frau von Villeparisis Bloch.

»Gewiß, gewiß, ich wollte gehn, weil ich mich nicht sehr wohl fühle, man meint, ich müßte vielleicht in Vichy eine Kur wegen meiner Gallenblase gebrauchen.« Er gliederte seine Worte silbenweise mit satanischer Ironie.

»Mein Großneffe Châtellerault soll auch gerade dahin, vielleicht könnten Sie sich verabreden. Ist er noch da? Wissen Sie, er ist sehr nett.« Das sagte sie vielleicht in gutem Glauben, sie meinte, zwei Menschen, die sie beide kenne, haben keine Ursache, sich nicht zusammenzutun.

»Oh! Ich weiß nicht, ob ihm das recht sein wird. Ich kenne ihn ... kaum, er ist da weiter hinten«, sagte Bloch verwirrt und entzückt.

Der Butler mußte wohl den Auftrag, den man ihm für Herrn von Norpois gegeben, nicht vollständig erledigt haben. Denn dieser nahm, um den Anschein zu erwecken, er käme von draußen und habe die Hausherrin noch nicht gesehn, im Vorzimmer den nächsten besten Hut, ging auf Frau von Villeparisis zu, küßte ihr feierlich die Hand und erkundigte sich angelegentlich, wie man es nach längerer Abwesenheit tut, nach ihrem Ergehn. Er wußte nicht, daß die Marquise von Villeparisis dieser Komödie im voraus alle Wahrscheinlichkeit genommen hatte; sie machte ihr übrigens rasch ein Ende, indem sie Herrn von Norpois und Bloch in einen Nachbarsalon führte. Bloch hatte alle Aufmerksamkeiten beobachtet, die man dem Staatsmann erwies, ohne zu wissen, daß es Herr von Norpois war, der mit abgemessenen, zierlichen und tiefen Verbeugungen darauf erwiderte; diesem Zeremoniell fühlte Bloch sich unterlegen, es verdroß ihn, daß man für ihn nie solche Umstände machen würde, und, um zu zeigen, er mache sich nichts daraus, fragte er mich: »Was ist denn das für eine Art Trottel?« Vielleicht wurde auch das Beste in Bloch, die gerade Offenheit eines modernen Milieus, durch all die Begrüßungsformen des Herrn von Norpois abgestoßen, und er fand sie aufrichtig lächerlich. Aber sogleich erschienen sie ihm nicht mehr so, sondern entzückten ihn, als sie sich nämlich an ihn selbst richteten.

»Herr Botschafter«, sagte Frau von Villeparisis, »ich möchte Sie mit dem Herrn hier bekannt machen. Herr Bloch, Marquis von Norpois«. So ungezwungen sie sonst mit Herrn von Norpois war, sie ließ es sich nicht nehmen, Herr Botschafter zu ihm zu sagen. Das geschah aus Lebensart und übertriebener Hochachtung vor dem Botschafterrang, einer Hochachtung, die der Marquis ihr eingeprägt hatte; und dann aus dem Bedürfnis, einem bestimmten Mann gegenüber weniger gemütliche, feierlichere Umgangsformen zu haben, die dann gerade durch ihren Gegensatz zu der freien Art, mit der die andern gewohnten Gäste behandelt werden, im Salon einer vornehmen Frau ihren Liebhaber kenntlich machen.

Herr von Norpois tauchte den blauen Blick in seinen weißen Bart nieder, neigte die hohe Gestalt tief, als verbeuge er sich vor allem, was der Name Bloch Anerkanntes und Gewichtiges enthalte, und murmelte: »Sehr erfreut«; sein junger Unterredner war ergriffen, er fand, daß der berühmte Staatsmann zu weit gehe und verbesserte eifrig: »Aber nein, im Gegenteil, die Freude ist ganz auf meiner Seite!« Allein diese feierliche Handlung, welche Herr von Norpois aus Freundschaft für Frau von Villeparisis mit jedem Unbekannten, den seine alte Freundin ihm vorstellte, erneuerte, schien dieser noch nicht höflich genug für Bloch. Sie sagte zu ihm:

»Fragen Sie ihn nur alles, was Sie wissen wollen, nehmen Sie ihn beiseite, wenn es bequemer ist; er wird sich sehr freuen, mit Ihnen zu plaudern, ich glaube, Sie wollten mit ihm über den Fall Dreyfus sprechen«, fügte sie hinzu; ob Herrn von Norpois das Vergnügen mache, darum kümmerte sie sich so wenig, wie sie das Bildnis der Herzogin von Montmorency um Genehmigung gebeten hätte, ehe sie es für den Historiker beleuchten ließ, oder den Tee, ehe sie eine Tasse davon anbot.

»Sprechen Sie laut zu ihm, er ist ein wenig taub«, sagte sie zu Bloch, »aber er wird Ihnen alles sagen, was Sie wollen, er hat Bismarck und Cavour sehr gut gekannt. Nicht wahr, Herr von Norpois, Sie haben Bismarck gut gekannt?« fragte sie nachdrücklich.

»Haben Sie was Neues in Arbeit?« fragte mich Herr von Norpois mit verständnisvoller Miene und drückte mir herzlich die Hand. Ich benutzte den Moment, um ihn zuvorkommend von dem Hute zu befreien, den mitzunehmen er für seine Höflichkeitspflicht gehalten hatte; ich merkte nämlich, daß es zufällig mein eigener war. »Sie haben mir ein etwas aufgestutztes Opusculum gezeigt, in dem es gar zu haarspalterisch zuging. Ich habe Ihnen freimütig meine Meinung gesagt; was Sie da gemacht hatten, lohnte nicht die Mühe, es zu Papier zu bringen. Bereiten Sie uns etwas Neues vor? Sie waren, wenn ich mich recht erinnere, sehr eingenommen von Bergotte.« – »Sagen Sie nichts Schlechtes von Bergotte«, rief die Herzogin. – »Ich bestreite nicht sein Talent, zur Malerei, das wird sich niemand herausnehmen, Herzogin. Er kann in Kupfer stechen oder radieren, wenn auch vielleicht nicht gerade, wie Herr Cherbuliez, eine große Komposition hinwerfen. Aber mir scheint, unsere Zeit bringt die Gattungen durcheinander, und Sache des Romanschriftstellers ist es eher, den Knoten einer Handlung zu schürzen und die Herzen zu erheben als mit der kalten Nadel ein Titelblatt oder eine Schmuckleiste zu Schnörkeln. Montag werde ich Ihren Vater bei dem guten A. J. sehn«, wandte er sich dann wieder an mich.

Als ich ihn mit Frau von Guermantes sprechen sah, hoffte ich einen Augenblick, ich könne, um zu ihr zu kommen, auf seine Unterstützung rechnen, die er mir verweigert hatte, als ich zu Herrn Swann wollte. »Ein anderer Künstler, den ich sehr bewundere«, sagte ich zu ihm, »ist Elstir. Man erzählt, die Herzogin hat herrliche Sachen von ihm, namentlich die wunderbaren Radieschen, die ich in der Ausstellung gesehn habe und so gern wiedersehn möchte; das Bild ist ein Meisterwerk!« Und wirklich, wäre ich eine bekannte Persönlichkeit gewesen und man hätte mich nach dem Stück Malerei gefragt, das mir das liebste sei, ich hätte diese Radieschen genannt. »Ein Meisterwerk?« rief Herr von Norpois erstaunt und vorwurfsvoll zugleich aus. »Das beansprucht doch nicht einmal, ein Gemälde zu sein, es ist eine einfache Skizze (damit hatte er recht). Wenn Sie dies muntere Stückchen Malerei ein Meisterwerk nennen, was wollen Sie dann von der »Jungfrau« von Hebert oder von Dagnan-Bouveret sagen?«

»Ich habe gehört, Sie lehnen Roberts Freundin ab«, sagte die Herzogin von Guermantes zu ihrer Tante, nachdem Bloch den Botschafter beiseite genommen, »ich glaube, Sie haben nichts verloren, sie ist schrecklich, hat nicht eine Spur Talent, und obendrein ist sie verschroben.«

»Aber woher kennen Sie sie, Herzogin?« fragte Herr von Argencourt.

»Wie, wissen Sie nicht, daß sie bei mir vor der ganzen Gesellschaft gespielt hat? Ich bin weiter nicht stolz darauf«, sagte lachend Frau von Guermantes; aber, da man gerade von dieser Künstlerin sprach, war es ihr doch angenehm, wissen zu lassen, daß sie die Erstlinge ihrer Lächerlichkeit genossen hatte. »So, jetzt muß ich wohl gehn«, sagte sie dann, ohne sich zu regen.

 

Sie hatte ihren Gatten eintreten sehn, und ihre Worte spielten auf den komischen Eindruck an, als machten sie zusammen einen Besuch wie ein junges Ehepaar, was gar nicht zu den oft schwierigen Beziehungen zwischen ihr und diesem alternden, aber immer noch mächtigen, munteren Gesellen paßte, der weiterhin das Leben eines jungen Mannes führte. Der Herzog ließ über die vielen Leute rings um den Teetisch wohlwollende und spöttische, ein wenig von den Strahlen der untergehenden Sonne geblendete Blicke aus seinen kleinen runden Augäpfeln wandern, die so deutlich im Auge saßen, wie das Zentrum in der Scheibe, welches dieser ausgezeichnete Schütze so sicher zu visieren, aufs Korn zu nehmen und zu treffen verstand, und dann bewegte er sich mit staunendem Zögern vorsichtig vorwärts, als schüchtere eine so glänzende Versammlung ihn ein, und als fürchte er, auf Schleppen zu treten oder Unterhaltungen zu stören. Das Dauerlächeln eines etwas weinseligen, »guten Königs von Yvetot« und die halb offene, wie eine Haiflosse schwingende Hand, die er ohne Unterschied von alten Freunden und eben erst vorgestellten Unbekannten sich drücken ließ, erlaubten ihm, ohne weitere Gesten und ohne seine gutmütige, träge, königliche Runde zu unterbrechen, dem eifrigen Entgegenkommen aller zu genügen, er flüsterte immer nur: »Guten Abend, mein Lieber, guten Abend, mein Freund, entzückt, Herr Bloch, guten Abend, Argencourt«, und als er an mir vorbeikam und meinen Namen hörte, war ich der Meistbegünstigte und bekam gesagt: »Guten Abend, mein kleiner Nachbar. Wie geht es Ihrem Vater? Ein prächtiger Mann!« Große Umstände machte er nur für Frau von Villeparisis, die ihn mit einem Kopfnicken begrüßte und eine Hand aus der Tasche ihrer kleinen Schürze nahm.

Ungeheuer reich in einer Gesellschaft, in der man es weniger und weniger ist, hatte er es verstanden, die Vorstellung von diesem gewaltigen Vermögen dauernd seinem Wesen entsprechend zu gestalten: die Eitelkeit des großen Herrn war bei ihm verdoppelt durch die des Geldmanns, und die erlesene Erziehung des ersteren reichte gerade hin, um die Selbstgefälligkeit des zweiten in Schranken zu halten. Nebenbei bemerkt, es war zu verstehen, daß er seine Erfolge bei den Frauen, welche seine Frau unglücklich machten, nicht nur seinem Namen und seinem Vermögen verdankte, denn er war immer noch sehr schön, sein Profil hatte den reinen entschiedenen Umriß eines griechischen Gottes.

»Sie hat wirklich bei Ihnen gespielt?« fragte Herr von Argencourt die Herzogin.

»Na gewiß, sie hat aufgesagt mit einem Lilienstrauß in der Hand und weiteren Lilien auf ihrem Rock.«

Bevor Herr von Norpois sich gezwungen sah, Bloch in die kleine Nische zu geleiten, wo sie zusammen plaudern konnten, kam ich noch einen Augenblick zu dem alten Staatsmann und flüsterte ihm ein Wort zu von einem Akademikersessel für meinen Vater. Erst wollte er diese Unterhaltung auf später verschieben. Aber ich wandte ein, ich sei im Begriff, nach Balbec zu reisen. »Wie, Sie gehn schon wieder nach Balbec? Sie sind ja ein wahrer Globetrotter!« Dann hörte er mich an. Bei dem Namen Leroy-Beaulieu betrachtete Herr von Norpois mich argwöhnisch. Ich bildete mir ein, er habe vielleicht zu Herrn Leroy-Beaulieu Ungünstiges über meinen Vater gesagt und fürchte, der Nationalökonom habe es diesem wiederholt. Jetzt schien er ganz erfüllt von aufrichtiger Neigung zu meinem Vater. Er sprach erst etwas langsam, und dabei platzte aus seinen zaudernden Wendungen manchmal ein plötzliches Wort wie gegen seinen Willen heraus – eins der Worte, mit denen unwiderstehliche Überzeugung die stotternde Mühe, etwas zu verschweigen, durchbricht. Dann sagte er bewegt: »Nein, nein, Ihr Vater soll nicht kandidieren. Er soll es nicht, im eigenen Interesse, um seiner selbst willen, und aus Achtung vor seinem Wert, der zu groß dafür ist, den er durch ein derartiges Abenteuer nur bloßstellen würde. Er ist zu Besserem berufen. Würde er ernannt, er hätte alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Gott sei Dank ist er kein Redner. Und das ist das einzige, was meinen lieben Kollegen Eindruck macht, gleichviel, ob das, was einer sagt, die alte Leier ist. Ihr Vater hat ein wichtiges Lebensziel; darauf muß er geradewegs zugehn, sich nicht ablenken lassen, um das Gebüsch zur Seite vergebens zu durchstöbern, und wäre es auch das, nebenbei gesagt, mehr dornige als blühende – Gebüsch des Akademoshaines. Abgesehn davon wird er nur einige Stimmen bekommen. Die Akademie läßt den Bewerber gern Probezeiten durchmachen, ehe sie ihn in ihren Schoß aufnimmt. Zur Zeit ist nichts zu machen. Später – will ich nicht sagen. Aber dann muß die Gesellschaft selber ihn holen. Sie übt mit mehr Fetischismus als Glück das › Farà da se‹ unserer Nachbarn jenseits der Alpen aus. Leroy-Beaulieu hat mir von alldem in einer Art gesprochen, die mir nicht gefallen hat. Er schien mir übrigens nur allzu deutlich mit Ihrem Vater zusammen zu arbeiten. Vielleicht habe ich ihm etwas lebhaft zu verstehn gegeben, er sei eben nur gewohnt, sich mit Kolonialfragen und Metallen zu befassen und übersehe die Rolle der Imponderabilien, wie Bismarck sagte. Vor allem muß vermieden werden, daß Ihr Vater sich bewirbt. Principiis obsta. Seine Freunde kämen in eine heikle Lage, wenn er sie vor die vollendete Tatsache stellen würde.« Er heftete seine blauen Augen auf mich und sagte schroff im Tone der Aufrichtigkeit: »Jetzt werde ich Ihnen etwas sagen, was Sie von mir, der Ihren Vater so liebt, wundern wird. Gerade weil ich ihn liebe, wir sind die beiden Unzertrennlichen Arcades ambo, gerade weil ich weiß, was für Dienste er seinem Lande leisten, welche Klippen er vermeiden kann, wenn er bei der Stange bleibt, werde ich aus Zuneigung, aus Wertschätzung, aus Vaterlandsliebe nicht für ihn stimmen. Ich habe das übrigens, glaube ich, zu verstehn gegeben (Und ich glaubte in seinen Augen das strenge assyrische Profil von Leroy-Beaulieu zu bemerken); ihm also meine Stimme zu geben, das wäre von meiner Seite eine Art Widerruf.« Zu wiederholten Malen erklärte Herr von Norpois seine Kollegen für »vorsintflutlich«. Jedes Mitglied eines Klubs oder einer Akademie verleiht seinen Kollegen mit Vorliebe die Art Charakter, die das größte Gegenteil seines eignen ist; dafür gibt es verschiedene Gründe, unter andern die Annehmlichkeit, gelegentlich sagen zu können: »Ja, wenn das nur von mir abhinge!« Wichtiger aber ist ihm die Genugtuung, merken lassen zu können, wie schwer und rühmlich es unter solchen Umständen für ihn selbst war, gewählt zu werden. »Ich muß Ihnen bekennen,« schloß er, »in Ihrer aller Interesse wäre es mir lieber, daß Ihr Vater in zehn oder fünfzehn Jahren im Triumphe gewählt wird.« Diese Worte schienen mir, wenn nicht von Eifersucht, so doch von einem vollkommenen Mangel an Dienstbereitschaft eingegeben, sie sollten später, durch die Ereignisse, einen ganz andern Sinn bekommen.

»Hatten Sie nicht die Absicht, im Institut den Brotpreis während der Fronde zur Sprache zu bringen?« fragte der Geschichtsschreiber der Fronde Herrn von Norpois. »Das könnte Ihnen einen beträchtlichen Erfolg verschaffen.« Damit wollte er sagen: eine ungeheure Reklame. Er lächelte den Botschafter zaghaft, aber zärtlich an, hob dabei die Lider und enthüllte riesengroße Augen. Diesen Blick mußte ich schon einmal gesehn haben, kannte den Historiker doch aber erst seit heute. Plötzlich fiel mir ein, ich hatte denselben Blick in den Augen eines brasilianischen Arztes gesehn, der die Erstickungsanfälle, an denen ich litt, durch widersinnige Inhalationen pflanzlicher Essenzen heilen zu können behauptete. Um mit mehr Sorgfalt von ihm behandelt zu werden, sagte ich ihm, ich kenne Professor Cottard. Da antwortete er, anscheinend im Interesse Cottards: »Sprechen Sie ihm von dieser Kur, sie wird ihm Stoff zu einer Aufsehen erregenden Mitteilung an die Akademie der Medizin liefern!« Er wagte nicht weiter in mich zu dringen, sah mich aber mit genau dem schüchtern fragenden, süchtigen und flehenden Blick an, der mich jetzt bei dem Geschichtsschreiber der Fronde verwunderte. Sicher kannten diese beiden Männer sich nicht und hatten auch gar keine Ähnlichkeit miteinander, aber die psychologischen Gesetze haben wie die physischen eine gewisse allgemeine Gültigkeit. Die nötigen Voraussetzungen sind dieselben, derselbe Blick läßt verschiedene menschliche Lebewesen aufleuchten, wie derselbe Morgenhimmel Orte der Erde, die weit voneinander entfernt liegen und sich nie gesehn haben. Die Antwort des Botschafters bekam ich nicht zu hören, denn die ganze Gesellschaft hatte sich gerade etwas lärmend Frau von Villeparisis genähert, um sie malen zu sehn.

»Wissen Sie, von wem wir sprechen, Basin?« fragte die Herzogin ihren Gatten.

»Natürlich, ich errate es«, sagte der Herzog.

»Sie ist nicht gerade, was wir eine Schauspielerin großen Stils nennen.«

»Sie können sich nichts Lächerlicheres vorstellen«, wandte sich Frau von Guermantes an Herrn von Argencourt. – »Es war geradezu trollatisch«, unterbrach Herr von Guermantes. Sein bizarrer Wortschatz veranlaßte die Leute der Gesellschaft, ihn gar nicht so dumm, und die Literaten, ihn äußerst albern zu finden. »Ich kann nicht begreifen«, begann wieder die Herzogin, »wie Robert sie jemals lieben konnte. Oh! Ich weiß, über diese Dinge soll man nicht streiten« – sie verzog die Lippen zu einem reizenden philosophischen Schmollen enttäuschten Gefühls. »Ich weiß, jeder beliebige kann alles beliebige lieben. Und«, fügte sie hinzu – sie machte sich zwar über die neuere Literatur lustig, aber durch Zeitungen und gewisse Unterhaltungen war doch ein wenig davon in sie eingedrungen – »das ist gerade das Schöne an der Liebe, das macht sie geheimnisvoll.«

»Geheimnisvoll? Ich muß gestehn, Kusine, das ist mir ein bißchen zu stark«, sagte der Graf von Argencourt.

»Doch, Liebe ist sehr geheimnisvoll«, erwiderte die Herzogin mit dem milden Lächeln einer liebenswürdigen Weltdame, zugleich aber mit der unerschütterlichen Überzeugung einer Wagnerianerin, die einem Herrn vom Klub versichert, es gäbe nicht nur Lärm in der Walküre. »Schließlich weiß man im Grunde nicht, warum eine Person eine andere liebt, vielleicht gar nicht um dessentwillen, was wir glauben« – so verwarf sie mit einem Schlage durch ihre Erklärung den Gedanken, den sie geäußert hatte. – »Schließlich weiß man im Grunde ja nichts«, schloß sie mit zweiflerisch müder Miene. »Und so ist es klüger, über die Wahl der Liebenden nicht zu streiten.«

Aber kaum hatte sie diesen Grundsatz aufgestellt, so verletzte sie ihn gleich, indem sie Saint-Loups Wahl bekrittelte.

»Wissen Sie, ich finde es denn doch erstaunlich, daß man eine so lächerliche Person verführerisch finden kann.«

Bloch hörte uns von Saint-Loup sprechen, entnahm daraus, daß er in Paris sei, und fing an, so fürchterlich über ihn herzuziehn, daß alle empört waren. Er begann damals, Haßgefühle in sich zu hegen, und man merkte ihm an, um sie zu stillen, würde er vor gar nichts zurückschrecken. Indem er den eigenen hohen sittlichen Wert und die Tatsache zum Ausgangspunkt nahm, Leute, welche in der »Boulie« (einem Sportklub, der ihm elegant schien) verkehrten, verdienten Zuchthaus, schien ihm jeder Schlag, mit dem er treffen könnte, verdienstlich. Einmal ging er sogar so weit, von einem Prozeß zu sprechen, den er gegen einen seiner Freunde von der »Boulie« anzustrengen gedenke. Im Laufe dieses Prozesses wolle er vor Gericht lügnerische Aussagen machen und zwar so, daß der Angeklagte ihm den Betrug nicht werde nachweisen können. So gedachte Bloch, der, nebenbei bemerkt, seinen Plan nicht ausführte, jenen zur Verzweiflung zu bringen und noch toller zu machen. Was konnte das schaden? Der, den er treffen wollte, war ja ein Mensch, der nur an den Schick dachte, ein Mensch von der Boulie, und gegen solche Leute sind alle Waffen erlaubt, besonders für einen Heiligen, wie er, Bloch, einer war.

»Immerhin, denken Sie an Swann«, wandte Herr von Argencourt ein. Er hatte endlich begriffen, was seine Kusine sagte, war betroffen von der Richtigkeit ihrer Worte und suchte in seinem Gedächtnis nach Beispielen von Leuten, welche Personen liebten, die ihm nicht gefallen hätten.

»Swann, das ist nicht ganz derselbe Fall«, widersprach die Herzogin. »Immerhin war seine Wahl sehr erstaunlich: die Frau war eine biedere Idiotin, aber lächerlich war sie nicht, und hübsch ist sie auch gewesen.«

»Hu! Hu!« brummte Frau von Villeparisis.

»Sie fanden sie nicht hübsch? Doch! Sie hatte ihre Reize, sehr hübsche Augen, hübsches Haar, sie kleidete sich und kleidet sich noch wundervoll. Ich gebe zu, daß sie gemein ist, aber sie ist eine bezaubernde Person gewesen. Es hat mir deshalb nicht weniger Kummer bereitet, daß Charles sie geheiratet hat, denn es war so unnötig.« Damit glaubte die Herzogin nichts Bemerkenswertes zu sagen, aber da Herr von Argencourt lachte, wiederholte sie die Wendung, sei es, daß sie sie wirklich komisch oder nur den Lachenden reizend fand. Sie sah ihn schmeichlerisch an, um dem Zauber des Geistes auch noch den der Anmut hinzuzufügen. Dann fuhr sie fort:

»Nicht wahr, es war doch nicht der Mühe wert, aber schließlich hatte sie ihren Reiz, und ich begreife vollkommen, daß man sie liebte, während Roberts Fräulein, ich versichere Ihnen, zum Totlachen ist. Ich weiß schon, man wird mir mit der alten Leier von Augier kommen: »Was liegt am Glas, wenn es nur trunken macht!« Gut, Robert ist vielleicht trunken, aber er hat bei der Wahl seines Glases wahrhaftig keinen Geschmack bewiesen! Zunächst, stellen Sie sich vor, beanspruchte sie, ich solle mitten in meinem Salon eine Treppe aufstellen lassen. Das macht ja doch nichts, nicht wahr. Und dann hatte sie mir angekündigt, sie würde mit dem Bauch platt auf den Stufen liegen bleiben. Und hätten Sie erst gehört, was sie aufsagte! Ich kenne nur eine Szene, aber ich glaube nicht, daß man sich etwas Ähnliches vorstellen kann: es nennt sich die Sieben Prinzessinnen

»Die Sieben Prinzessinnen, eu, eu, was für ein Snobismus!« rief Herr von Argencourt. »Aber warten Sie mal, ich kenne das ganze Stück. Das ist von einem meiner Landsleute. Er hat es an den König geschickt; der hat nichts verstanden und mich gebeten, es ihm zu erklären.«

»Ist es nicht zufällig vom Sar Peladan?« fragte der Geschichtsschreiber der Fronde mit der Absicht, geistreich und auf dem Laufenden zu sein, aber so leise, daß seine Frage überhört wurde.

»So? Sie kennen die Sieben Prinzessinnen?« erwiderte die Herzogin Herrn von Argencourt. »Ich gratuliere! Ich kenne nur eine, aber dadurch ist mir die Neugier vergangen, die sechs übrigen kennen zu lernen. Wenn sie alle sind wie die, welche ich gesehn habe!«

»Beschränkte Person«, dachte ich, verärgert durch den eisigen Empfang, den sie mir bereitet hatte. Ich fand eine Art bitterer Genugtuung darin, ihre völlige Verständnislosigkeit für Maeterlinck festzustellen. »Und für solch ein Weib hab ich jeden Morgen soviel Kilometer gemacht, ich bin wirklich gut. Aber jetzt will ich meinerseits nichts von ihr wissen.« Das waren die Worte, die ich mir sagte: das Gegenteil von dem, was ich dachte; es waren nur Gesprächsworte, wie wir sie uns sagen, wenn wir zu aufgeregt sind, um allein zu bleiben, und das Bedürfnis fühlen, in Ermangelung eines andern Unterredners, mit uns selbst unaufrichtig wie mit einem Fremden zu plaudern.

»Ich kann es Ihnen gar nicht schildern,« fuhr die Herzogin fort, »es war, um sich vor Lachen zu wälzen. Das hat man denn auch getan, sogar zu sehr, denn die kleine Person war sehr ungehalten, und Robert hat es mir im Grunde immer sehr verdacht. Ich bedauere es übrigens nicht, denn wenn es gut abgelaufen wäre, würde das Fräulein vielleicht wiedergekommen sein, und ich weiß nicht, bis zu welchem Grade Marie-Aynard darüber entzückt gewesen wäre.«

Marie-Aynard nannte man in der Familie Roberts Mutter, Frau von Marsantes, Witwe von Aynard de Saint-Loup, um sie von ihrer Kusine, der Fürstin von Guermantes-Bayern, zu unterscheiden; dem Vornamen dieser zweiten Marie fügten ihre Neffen, Vettern und Schwäger, um Verwechslung zu vermeiden, entweder den Vornamen ihres Gatten oder einen andern ihrer eignen Vornamen hinzu und nannten sie bald Marie-Gilbert, bald Marie-Hedwig.

»Zunächst gab es am Tag vorher eine Art Probe, das war schön!« fuhr Frau von Guermantes spöttisch fort. »Stellen Sie sich vor: sie hatte kaum einen Satz, nein, kaum einen Viertel Satz gesagt, so verstummte sie; sie sagte, ohne Übertreibung, fünf Minuten lang nichts mehr.«

»Eu, eu, eu!« rief Herr von Argencourt.

»Mit möglichster Höflichkeit erlaubte ich mir anzudeuten, das könnte vielleicht ein wenig befremden. Darauf antwortete sie mir wörtlich: ›Man muß alles so sagen, als wenn man es gerade selbst dichtete.‹ Wenn mans recht bedenkt, eine monumentale Antwort.«

»Ich glaubte, sie sage Verse nicht schlecht«, meinte einer der beiden jungen Leute.

»Sie ahnt gar nicht, was Verse sind«, antwortete Frau von Guermantes. »Im übrigen habe ich gar nicht nötig gehabt hinzuhören. Es genügte mir, sie mit den Lilien daherkommen zu sehn! Ich habe gleich gemerkt, sie hat kein Talent, als ich die Lilien sah.« Alle lachten. »Liebe Tante, Sie sind mir hoffentlich nicht böse gewesen wegen meines Spaßes neulich mit der Königin von Schweden. Ich erflehe Vergebung.«

»Nein, ich bin dir nicht böse; ich gebe dir sogar die Erlaubnis, einen Bissen zu dir zu nehmen, wenn du Hunger hast. – Herr Vallenères, machen Sie das Haustöchterchen«, wandte sie sich dann mit einem beliebten Scherz an den Archivar.

Herr von Guermantes erhob sich im Sessel, in den er sich hatte fallen lassen, während er seinen Hut neben sich auf den Teppich stellte, und untersuchte mit wohlgefälliger Miene die Teller mit kleinem Gebäck, die ihm gereicht wurden.

»Aber gern, jetzt wo ich anfange, in dieser vornehmen Versammlung mich heimisch zu fühlen, werde ich ein »Baba« annehmen, sie sehn ausgezeichnet aus«.

»Der Herr spielt seine Haustochterrolle wunderbar«, nahm Herr von Argencourt den Scherz der Frau von Villeparisis aus Nachahmungstrieb auf.

Der Archivar reichte den Teller mit kleinem Gebäck dem Geschichtsschreiber der Fronde.

»Sie erfüllen Ihren Dienst in bewundernswerter Weise«, sagte dieser aus Schüchternheit und um allgemeines Wohlgefallen zu erringen.

Verstohlen suchte sein Blick das Einverständnis derer, die ihm zuvorgekommen waren.

»Sagen Sie, liebe gute Tante,« fragte Herr von Guermantes, »wer war der ganz gut aussehende Herr, der gerade ging, als ich eintrat: ich muß ihn kennen, denn er grüßte mich tief, aber ich kann mich nicht auf ihn besinnen, Sie wissen, mir gehn die Namen durcheinander, was recht unangenehm ist«, sagte er mit selbstgefälliger Miene.

»Herr Legrandin.«

»Ah! Oriane hat doch eine Kusine, deren Mutter, wenn ich nicht irre, eine geborene Grandin ist. Jetzt weiß ich, es sind die Grandin del'Eprevier.«

»Nein«, antwortete Frau von Villeparisis, »das hat gar keinen Zusammenhang. Diese heißen ganz einfach Grandin, Grandin von Garnichts. Aber sie würden recht gern von, was du willst, sein. Die Schwester dieses Grandin nennt sich Frau von Cambremer.«

»Aber, Basin, Sie wissen doch, von wem die Tante spricht,« rief die Herzogin entrüstet, »es ist der Bruder dieser umfangreichen Wiederkäuerin, die Sie den wunderlichen Einfall hatten, neulich zu mir zu schicken. Sie ist eine Stunde geblieben, ich habe gemeint, ich werde verrückt. Aber ich habe mir gleich gedacht, daß sie es sei, als da ein Wesen, das ich nicht kannte und das aussah wie eine Kuh, bei mir eintrat.«

»Hören Sie, Oriane, sie hatte mich nach Ihrem Empfangstag gefragt; da konnte ich ihr nicht gut eine Grobheit sagen, na, und dann, Sie übertreiben, wie eine Kuh sieht sie nicht aus«, sagte er in flehendem Ton, warf aber dabei verstohlen einen lächelnden Blick über die Umstehenden.

Er wußte, die Verve seiner Frau mußte durch Widerspruch angestachelt werden, durch den Widerspruch des gesunden Menschenverstandes, der sich dagegen sträubt, daß man zum Beispiel eine Frau für eine Kuh hält (zu ihren hübschesten Worten war Frau von Guermantes oft gerade durch ein Überbieten ihres ersten Bildes gekommen). Und damit ihr das glücke, bot ihr der Herzog unbefangen und ohne sichs anmerken zu lassen, seine Hilfe an, wie im Eisenbahnabteil der heimliche Helfershelfer dem Kümmelblättchenspieler.

»Ich gebe zu, sie sieht nicht aus wie eine Kuh, sie sieht aus wie mehrere«, rief Frau von Guermantes. »Ich schwöre Ihnen, ich war ganz benommen, als diese Kuhherde im Hut in meinen Salon trat und sich nach meinem Befinden erkundigte. Einerseits hatte ich Lust zu antworten: »Aber, Kuhherde, du verwechselst da was, du kannst keine Beziehungen zu mir haben, da du eine Kuhherde bist«, anderseits suchte ich in meinem Gedächtnis und glaubte schließlich, Ihre Cambremer sei die Infantin Dorothea, die gesagt hatte, sie wolle mich einmal besuchen. Die gehört nämlich auch in ihrer Art zur Gattung der Rinder. Und ich war schon im Begriff, die Kuhherde mit Königliche Hoheit und in der dritten Person anzureden. Sie hat auch diese Art Vogelbauch wie die Königin von Schweden. Nebenbei bemerkt, war dieser plötzliche Nahangriff nach allen Regeln der Kunst durch Feuer aus der Entfernung vorbereitet. Seit, ich weiß nicht wie lange, wurde ich bereits von ihr mit Karten bombardiert, überall fand ich sie, auf allen Möbeln, wie Prospekte. Ich wußte nicht, was diese Reklame bedeute. Man sah bei mir zu Hause nichts als »Marquis und Marquise von Cambremer«, mit einer Adresse, die ich vergessen habe und übrigens sicher nie brauchen werde.«

»Aber es ist doch sehr schmeichelhaft, einer Königin ähnlich zu sehn«, sagte der Geschichtsschreiber der Fronde.

»Ach Gott, mein Verehrter, Könige und Königinnen, in unserer Zeit will das nicht mehr viel heißen!« sagte Herr von Guermantes; er machte den Anspruch, freigeistig und modern gesinnt zu sein, wollte auch nicht den Anschein erwecken, als lege er Wert auf seine königlichen Beziehungen, welche er doch sehr ernst nahm.

Bloch und Herr von Norpois hatten sich erhoben und befanden sich in unserer Nähe.

»Herr Bloch,« fragte Frau von Villeparisis, »haben Sie mit ihm über Dreyfus gesprochen?«

Herr von Norpois hob die Augen – aber lächelnd – zum Himmel, wie um zu bezeugen, welchen unsinnigen Launen seiner Dulcinea zu gehorchen ihm Pflicht sei. Gleichwohl sprach er mit großem Entgegenkommen zu Bloch über die entsetzlichen, vielleicht tödlichen Jahre, die Frankreich durchmache. Das sollte wohl bedeuten, Herr von Norpois (dem Bloch indessen gesagt hatte, er glaube an Dreyfus' Unschuld) sei ein leidenschaftlicher Dreyfusgegner, aber des Botschafters Liebenswürdigkeit, seine Art, dem Unterredner anscheinend recht zu geben, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß man ein und derselben Meinung sei, sich mit ihm zu verschwören, um die Regierung anzugreifen, schmeichelten Blochs Eitelkeit und reizten seine Neugier. Was waren das für wichtige Punkte, von denen Herr von Norpois, ohne sie näher zu bezeichnen, implicite anzunehmen schien, Bloch und er seien über sie einig? Wie kam er zu einer Meinung über den Fall Dreyfus, die sie beide verbinden könne? Bloch wunderte sich noch besonders, daß die geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen ihm und Herrn von Norpois sich nicht nur auf Politik zu beziehen schien, – Frau von Villeparisis hatte Herrn von Norpois ziemlich ausführlich von Blochs literarischen Arbeiten erzählt.

»Sie passen nicht in Ihre Zeit,« sagte der ehemalige Botschafter zu ihm, »Sie passen nicht in eine Zeit, in welcher uneigennützige Studien nicht mehr bestehn und man dem Publikum nur noch Unanständigkeiten oder Albernheiten verkauft. Bestrebungen wie die Ihrigen müßten ermutigt werden, wenn wir eine Regierung hätten.«

Im allgemeinen Schiffbruch obenauf zu schwimmen schmeichelte Bloch. Aber auch da hätte er Genaueres hören wollen, nämlich, von welchen Albernheiten Herr von Norpois spreche. Bloch hatte das Gefühl, denselben Weg zu gehn wie viele andere; er hatte sich nicht für solch eine Ausnahme gehalten. Er kam wieder auf die Dreyfusaffäre, aber es gelang ihm nicht, Herrn von Norpois' Meinung herauszubekommen. Er versuchte, ihn auf die Offiziere zu bringen, deren Namen damals häufig in den Zeitungen vorkamen und mehr Neugier erregten als die der Politiker, die in dieselbe Angelegenheit verwickelt waren; sie waren nämlich noch nicht so bekannt wie diese, staken in einem besondern Kostüm und tauchten aus der Tiefe eines ganz andern Lebens, aus fromm gehüteter Verschwiegenheit auf, um nun wie Lohengrin, wenn er auf dem vom Schwan gezogenen Nachen angefahren kommt, zu sprechen. Ein befreundeter nationalistischer Anwalt hatte Bloch Zutritt zu mehreren Verhandlungen des Zola-Prozesses verschafft. Morgens kam er hin und blieb bis zum Abend, bei sich hatte er einen Vorrat belegter Brote und eine Flasche Kaffee, wie bei den großen Prüfungen oder beim schriftlichen Abiturientenexamen, und dieser Gewohnheitswechsel erregte seine Nerven, der Kaffee und die Aufregungen der Verhandlungen trieben diesen Zustand auf den höchsten Grad. Ganz toll von allem, was sich zugetragen, verließ er den Saal, und wenn er abends heimkam, hatte er das Bedürfnis, in den schönen Traum zurückzutauchen und lief in ein Café, das von beiden Parteien besucht wurde, um Kameraden zu finden, mit denen er endlos weiterreden konnte von den Ereignissen des Tages; dazu bestellte er sich in befehlshaberischem Ton, der ihm Vorspiegelungen von Macht gab, ein Essen, welches Fasten und Strapazen eines so früh begonnenen, ohne Mittagessen verbrachten Tages wieder ausglich. Der Mensch in seinem ständigen Hin und Her zwischen Erfahrung und Phantasie möchte gern das Ideenleben der Leute, die er kennt, ergründen und die Wesen kennenlernen, deren Leben er sich ausdenken muß. Auf Blochs Fragen antwortete Herr von Norpois:

»Zwei Offiziere sind in die im Fluß befindliche Angelegenheit verwickelt, von denen mir früher einmal ein Mann gesprochen hat, dessen Urteil mir großes Vertrauen einflößte und der große Stücke auf sie hielt (Herr von Miribel), es sind die Oberstleutnants Henry und Picquart.«

»Aber,« rief Bloch, »Zeus' Tochter, die göttliche Athena, hat dem Geist eines jeden von ihnen das Gegenteil dessen eingeflößt, was im Geiste des andern ist. Und sie kämpfen gleich zwei Löwen gegeneinander. Oberst Picquart hatte eine große Stellung in der Armee, aber seine Moira hat ihn auf die Seite geführt, die die seine nicht ist. Das Schwert der Nationalisten wird seinen zarten Leib durchschneiden, und er wird den wilden Tieren zum Fraße dienen und den Vögeln, die sich nähren vom Fette der Toten.«

Herr von Norpois antwortete nicht.

»Worüber palavern die da hinten im Winkel«, fragte Herr von Guermantes Frau von Villeparisis und zeigte auf Herrn von Norpois und Bloch.

»Über die Dreyfusaffäre.«

»Ach Teufel! Wußten Sie übrigens schon, wer ein wilder Parteigänger von Dreyfus ist? Eins gegen Tausend, daß Sie das nicht erraten. Mein Neffe Robert! Ich kann Ihnen sogar mitteilen, als man im Jockey von diesem Heldenstückchen erfuhr, gab es eine Schilderhebung, ein wahres Gezeter. Und da man ihn in acht Tagen einführen will ...«

»Natürlich,« unterbrach die Herzogin, »wenn sie alle sind wie Gilbert, der immer behauptet hat, man müsse alle Juden nach Jerusalem zurückschicken ...«

»Nun, darin stimme ich ganz mit dem Fürsten Guermantes überein«, unterbrach Herr von Argencourt.

Der Herzog prunkte gern mit seiner Frau, aber er liebte sie nicht. Er war sehr »hochnäsig« und haßte es, unterbrochen zu werden, außerdem pflegte er zu Hause brutal mit ihr umzugehn. Nun brausten beide, der schlechte Ehemann, dem man ins Wort fällt, und der redselige Plauderer, dem man nicht zuhört, zornig in ihm auf. Er brach kurz ab und warf der Herzogin einen Blick zu, der alle umher in Verlegenheit brachte.

»Was ist mit Ihnen denn, daß Sie von Gilbert und Jerusalem reden«, sagte er dann. »Darum handelt es sich nicht.« Dann in sanfterem Tone: »Sie werden mir zugeben, wenn einer der Unsern im Jockey zurückgewiesen würde und besonders Robert, dessen Vater dort zehn Jahre lang Vorsitzender gewesen ist, das wäre denn doch zu toll. Bedenken Sie, meine Liebe, das hat die Leute gereizt, sie haben große Augen gemacht. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Persönlich habe ich, wie Sie wissen, kein Rassenvorurteil. Ich finde das heutzutage unzeitgemäß, und ich lege Wert darauf, mit meiner Zeit mitzugehn, aber schließlich und endlich, Teufel auch, wenn man sich Marquis von Saint-Loup nennt, ist man kein Dreyfusfreund, das geht einfach nicht!«

Herr von Guermantes sprach die Worte: »Wenn man sich Marquis von Saint-Loup nennt« mit Nachdruck. Natürlich wußte er, sich Herzog von Guermantes zu nennen, bedeute noch erheblich mehr und seine Eigenliebe neigte dazu, die Überlegenheit des Titels Herzog von Guermantes über alle andern sogar noch zu übertreiben; wenn er jetzt aber davon absah, lag das vielleicht nicht so sehr an den Regeln des guten Geschmacks als an dem Gesetze der Einbildungskraft. Jedem erscheint schöner, was er aus der Entfernung, was er bei andern sieht. Die allgemeinen perspektivischen Gesetze der Phantasie betreffen Herzöge ebenso wie andre Menschen. Nicht nur die Gesetze der Phantasie, auch die der Sprache. Nun gibt es zwei Gesetze der Sprache, die sich hier anwenden lassen. Das eine verlangt, daß wir uns ausdrücken wie die Leute unserer geistigen Klasse und nicht wie die der Kaste, welcher wir entstammen. Danach konnte Herr von Guermantes, selbst wenn er vom Adel sprechen wollte, seine Ausdrücke ganz kleinen Bürgern verdanken, die gesagt hätten: »Wenn man sich Herzog von Guermantes nennt«, während ein Gebildeter wie Swann oder Legrandin es nicht gesagt hätte. Ein Herzog kann philiströse Romane, selbst über die Sitten der vornehmen Gesellschaft schreiben, da helfen ihm seine Adelsbriefe nichts, und die Schriften eines Plebejers können das Beiwort »aristokratisch« verdienen. Wer in diesem Fall der Bürger war, dem Herr von Guermantes das »Wenn man sich nennt« abgelauscht hatte, davon wußte er sicher nichts. Aber wie gewisse Krankheiten auftauchen und verschwinden, ohne daß man weiter von ihnen hört, entstehn nach einem andern Sprachgesetz, von Zeit zu Zeit, man weiß nicht recht wie, wild wachsend oder durch einen Zufall verpflanzt (ähnlich einem amerikanischen Unkraut, das im Plüsch einer Reisedecke steckte, auf eine Eisenbahnböschung fiel und nun in Frankreich keimt) Welten von Ausdrücken, die man in demselben Jahrzehnt von Leuten hört, welche sich darüber nicht verständigt haben. In einem bestimmten Jahr hörte ich Bloch von sich selber sagen: »Die liebenswürdigsten, glänzendsten, angesehensten Leute haben bemerkt, daß es nur ein Wesen gibt, welches sie klug, anziehend und unentbehrlich finden, nämlich Bloch«, und dieselbe Phrase bekam ich aus dem Munde vieler anderer junger Leute zu hören, die ihn nicht kannten und nur statt Bloch ihren eigenen Namen setzten. Und ebenso sollte ich häufig dies »Wenn man sich nennt« hören.

»Was wollen Sie«, fuhr der Herzog fort, »bei dem Geist, der dort herrscht, ist es ganz gut zu verstehn.«

»Vor allem ist es komisch, wenn man an die Ideen seiner Mutter denkt, die uns von früh bis spät mit ihrem französischen Vaterland anödet.«

»Aber er hat ja nicht nur seine Mutter, man muß uns nichts vormachen. Da gibt es ein Dämchen, ein Lebefräulein schlimmster Sorte, die mehr Einfluß auf ihn hat, und die ist ausgerechnet eine Landsmännin des pp. Dreyfus. Von der hat Robert diesen Geisteszustand abbekommen.«

»Sie haben vielleicht noch nicht von dem neuen Wort gehört, Herzog, das man jetzt für solche Geistesart anwendet«, sagte der Archivar, welcher Sekretär der antirevisionistischen Komitees war. »Man sagt »Mentalität«. Es bezeichnet genau dasselbe, aber wenigstens weiß niemand, was es bedeutet. Es ist das Feinste vom Feinen, das Allerneueste.«

Er hatte inzwischen den Namen Bloch gehört und beobachtete mit wachsender Unruhe, die eine andersgeartete, aber nicht minder starke Unruhe in der Marquise erweckte, wie Bloch an Herrn von Norpois Fragen stellte. Die Marquise zitterte vor dem Archivar, sie spielte vor ihm die Dreyfusgegnerin und fürchtete nun seine Vorwürfe, falls ihm auffiel, daß sie einen Juden, der mehr oder weniger zum »Syndikat« gehörte, empfangen habe.

»Ah! Mentalität, das notiere ich mir, ich werde es anbringen«, sagte der Herzog. (Das war nicht bildlich gesprochen, der Herzog hatte ein kleines Notizbuch voll »Zitate«, in dem er vor großen Diners nachlas.) »Mentalität gefällt mir. Es gibt in der Art neue Worte, die in Umlauf gesetzt werden, aber sie dauern nicht lange. Letzthin hab ich da von einem Schriftsteller gelesen, er sei »talenthaft«. Verstehe das, wer kann. Das hab ich dann nie wiedergesehn.« »Aber Mentalität wird häufiger angewendet«, sagte der Geschichtsschreiber der Fronde, um sich in die Unterhaltung zu mischen. »Ich bin Mitglied eines Ausschusses am Unterrichtsministerium, da habe ich es des öftern anwenden hören, auch in meinem Klub, dem Klub Volney, und sogar in einer Abendgesellschaft bei Herrn Emile Ollivier.«

»Ich habe nicht die Ehre, dem Unterrichtsministerium anzugehören«, antwortete der Herzog heuchlerisch bescheiden, dabei aber so abgründig eitel, daß sein Mund ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, während die Augen rings auf die Umstehenden sprühend vergnügte Blicke warfen, unter deren Spott der arme Historiker rot wurde. »Ich habe nicht die Ehre, dem Unterrichtsministerium anzugehören«, wiederholte er – er hörte sich gern reden – »noch dem Volneyklub (in bin nur im Union und im Jockey), Sie sind nicht im Jockey?« – der Historiker errötete noch stärker, er witterte eine Unverschämtheit, die er nicht recht verstand, und begann an allen Gliedern zu zittern. »Ich speise auch nicht bei Herrn Emile Ollivier, und so muß ich gestehn, ich kannte das Wort Mentalität nicht. Ich bin sicher, Ihnen geht es ebenso, Argencourt.«

»Sie wissen, warum man die Beweise für Dreyfus' Verrat nicht vorlegen kann. Wie es scheint, weil er der Liebhaber der Frau des Kriegsministers ist, sagt man sich im Vertrauen.«

»So! Ich dachte, der Frau des Ministerpräsidenten«, sagte Herr von Argencourt.

»Ich finde euch, die einen wie die andern, alle gleich unerträglich mit eurer Dreyfusgeschichte«, sagte die Herzogin von Guermantes, die in gesellschaftlicher Beziehung immer darauf hielt zu zeigen, sie lasse sich von niemand beeinflussen. »Was die Juden betrifft, kann sie für mich nicht von Wichtigkeit sein aus dem einfachen Grunde: ich habe unter meinen Bekannten keine Juden und gedenke weiterhin in dieser glücklichen Unerfahrenheit zu verbleiben. Anderseits aber finde ichs unerträglich, daß uns eine Menge Damen namens Durand und Dubois, die wir sonst nie kennengelernt hätten, unter dem Vorwand, sie seien wohlgesinnt, kaufen nicht bei den Juden und haben »Nieder mit den Juden« auf ihre Sonnenschirme geschrieben, von Marie-Aynard oder von Victurienne aufgedrängt werden. Vorgestern war ich bei Marie-Aynard. Da war es früher reizend. Jetzt findet man da alle Leute, die man lebenslänglich mit Fleiß vermieden hat, sie sind zugegen unter dem Vorwande, sie seien gegen Dreyfus, und andere, von denen man überhaupt nicht ahnt, was sie sind.«

»Nein, es ist die Frau des Kriegsministers. Wenigstens lief das Gerücht durch die Alkoven«, begann wieder der Herzog, er pflegte in der Unterhaltung gewisse Ausdrücke anzuwenden, die er für »ancien régime« hielt. »Was mich betrifft, so weiß man jedenfalls, ich denke genau das Gegenteil von meinem Vetter Gilbert. Ich bin nicht feudal wie er, ich würde mit einem Neger spazieren fahren, wenn er zu meinen Freunden gehörte, und mich um die Meinung von dem und jenem den Teufel kümmern, aber Sie müssen mir denn doch zugeben, wenn man sich Saint-Loup nennt, läßt man sichs nicht einfallen, das Gegenteil von Jedermann zu behaupten, der immer noch gescheiter ist als Voltaire und sogar als mein Neffe. Und dann gibt man sich eine Woche, bevor man im Klub vorgestellt werden will, nicht Dingen hin, die ich Akrobatenkunststücke der Empfindsamkeit nennen möchte! Das ist denn doch ein zu starkes Stück! Nein, vermutlich hat ihm seine kleine Hure den Kopf verdreht. Hat ihm eingeredet, er würde unter die »Intellektuellen« rangieren. Die Intellektuellen, die sind das rote Tuch für die Herren vom Klub. Übrigens hat man darüber ein hübsches, aber sehr böses Wortspiel gemacht.«

Und der Herzog zitierte der Herzogin und Herrn von Argencourt ganz leise: »Mater Semita«, was man in der Tat bereits im Jockey sagte, denn von allem Flugsamen ist der beschwingteste und der, welcher sich auf die größte Entfernung von seinem Ausgangspunkt verteilt, ein Witz.

»Wir könnten den Herrn dort (er zeigte auf den Historiker) um Auskunft bitten, er sieht gelehrt aus. Aber ich ziehe vor, nicht davon zu sprechen, zumal die Sache ganz falsch ist. Ich habe nicht den Ehrgeiz meiner Kusine Mirepoix, die behauptet, sie könne ihren Stammbaum vor Jesus Christus bis auf den Stamm Levi verfolgen, und ich verpflichte mich nachzuweisen, daß es keinen Tropfen jüdischen Blutes in unserer Familie gibt, aber man darf uns doch nicht lächerlich machen, und sicher wird was gehöriges geklatscht im Städtchen über meines Herrn Neffen reizende Meinungen. Und dazu ist Fezensac krank, Duras wird alles leiten, und Sie wissen ja, der ist ein rechter »faiseur d'embarras«.« Den Sinn gewisser Worte hatte der Herzog nie erfaßt, er wußte nicht, daß »faiseur d'embarras« Wichtigtuer bedeutet, nicht: Umstandskrämer.

Bloch suchte Herrn von Norpois auf Oberst Picquart zu bringen.

»Es steht außer Frage,« erklärte Herr von Norpois, »seine Zeugenaussage war notwendig. Ich weiß, über diese meine Meinung hat mehr als einer meiner Kollegen ein Jammergeschrei erhoben, aber meines Erachtens hatte die Regierung die Pflicht, den Obersten sprechen zu lassen. Aus solch einer Sackgasse kann man nicht mit einer einfachen Pirouette heraushüpfen oder man läuft Gefahr, in eine Pfütze zu fallen. Seine Aussage machte bei der ersten Sitzung einen für den Offizier selbst äußerst günstigen Eindruck. Als er in seiner hübsch sitzenden Jägeruniform erschien, im schlichtesten, freimütigsten Ton erzählte, was er gesehn und was er geglaubt hatte, als er sagte: »Bei meiner Soldatenehre (hierbei bekam Herrn von Norpois' Stimme ein leichtes patriotisches Tremolo), das ist meine Überzeugung«, machte er einen unleugbar tiefen Eindruck.«

»Da, er ist für Dreyfus, keine Spur von Zweifel«, dachte Bloch.

»Was ihm aber die Sympathien gänzlich entfremdete, die er erst gewonnen, war seine Konfrontation mit dem Archivar Gribelin. Da hörte man diesen alten treuen Diener, diesen Mann, der bei seinem Worte bleibt (das nächste betonte Herr von Norpois mit der Kraft der Überzeugung): da hörte man ihn, sah ihn seinem Vorgesetzten fest ins Auge schauen ohne Furcht, ihm bittere Wahrheit zu sagen, und in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, erklärte er: »Herr Oberst wissen, daß ich nie gelogen habe und jetzt wie immer die Wahrheit sage.« Der Wind drehte sich, vergebens setzte Herr Picquart Himmel und Erde in Bewegung in den nächsten Sitzungen, er fiel schlechthin durch.«

»Nein, entschieden ist er gegen Dreyfus, es ist klar«, sagte sich Bloch. »Wenn er aber Picquart für einen Verräter und Lügner hält, wie kommt es, daß er seinen Enthüllungen gerecht wird und von ihnen spricht, als finde er sie annehmbar und aufrichtig. Und anderseits, wenn er in ihm einen Rechtschaffenen sieht, der sein Gewissen erleichtert, wie kann er ihm zutrauen, daß er in der Konfrontation mit Gribelin gelogen habe?«

»Auf alle Fälle, sollte dieser Dreyfus unschuldig sein,« unterbrach die Herzogin, »so beweist er es durchaus nicht. Was für idiotische gefühlvolle Briefe er von seiner Insel aus schreibt! Ich weiß nicht, ob Herr Esterhazy mehr taugt als er, aber in der Art, wie er sich ausdrückt, ist doch ein ganz anderer Schick, ein ganz anderer Klang. Das wird den Parteigängern des Herrn Dreyfus wenig Freude machen. Pech haben sie, daß sie sich nicht einen andern Unschuldigen anschaffen können.« Es gab ein allgemeines Gelächter. »Haben Sie gehört, was Oriane gesagt hat?« fragte der Herzog von Guermantes gierig Frau von Villeparisis. »Ja, ich finde es sehr komisch.« Das genügte dem Herzog nicht: »Also ich finde es nicht komisch; oder vielmehr, es ist mir ganz gleichgültig, ob es komisch ist oder nicht. An Geist ist mir nichts gelegen.« Herr von Argencourt widersprach. »Es liegt wahrscheinlich daran, daß ich in den Kammern war, wo ich glänzende Reden zu hören bekam, die nichts besagten. Dort habe ich vor allem Logik schätzen gelernt. Und diesem Umstand habe ichs ohne Zweifel zu verdanken, daß ich nicht wieder gewählt worden bin. Komische Dinge sind mir gleichgültig.« »Basin, spielen Sie nicht den Joseph Prudhomme, mein Kind. Es liebt ja doch niemand Geist mehr als Sie.«

»Lassen Sie mich ausreden. Gerade weil ich für eine gewisse Art von Spaßen unempfindlich bin, weiß ich oft den Geist meiner Frau zu würdigen. Ihre Einfälle gehn im allgemeinen von einer richtigen Beobachtung aus. Sie urteilt wie ein Mann, sie drückt sich aus wie ein Schriftsteller.«

Daß Herr von Norpois mit Bloch sprach, als wären sie einer Meinung, mochte seine guten Gründe haben. Er war so sehr gegen Dreyfus, daß die Regierung es ihm nicht genug war, und so wurde er ein Gegner der Regierung so gut wie die Dreyfusanhänger. Vielleicht war das, was ihn in der Politik fesselte, etwas tieferes und lag in einer Ebene, von der aus der Dreyfusismus eine unwichtige Nebenerscheinung war, nicht wert, einen Vaterlandsfreund in Anspruch zu nehmen, den schwere Fragen äußerer Politik beschäftigten. Wahrscheinlicher betrafen die Grundsätze seiner politischen Weisheit nur Fragen der Form, des Verfahrens, der Zweckmäßigkeit und waren den Grundfragen gegenüber so ohnmächtig wie in der Philosophie die Logik gegenüber den Fragen des Daseins, oder aber eben die Weisheit ließ es ihn gefährlich finden, solche Probleme zu behandeln, und er wollte aus Vorsicht nur von Nebenumständen sprechen. In einem Punkte jedoch gingen Blochs Vermutungen irre: Selbst wenn Herrn von Norpois' Charakter weniger vorsichtig, seine Geistesrichtung nicht so ausschließlich formal gewesen wäre, er hätte ihm beim besten Willen nicht die Wahrheit über die Rolle von Henry, Picquart oder Paty de Clam und über alle Probleme des Falles sagen können. Für Bloch stand außer Frage, daß Herr von Norpois über dies alles die Wahrheit wisse. Wie sollte er nicht! Er kannte doch die Minister. Gewiß dachte Bloch, hellsichtige Köpfe könnten die politische Wahrheit annähernd rekonstruieren, aber für ihn wie für die große Masse wohnte sie selbst in unbestreitbarer greifbarer Wirklichkeit in den Geheimakten des Präsidenten der Republik und des Ministerpräsidenten und diese gaben den Ministern Kenntnis von ihr. Allein wenn die politische Wahrheit auch im Zusammenhang mit Dokumenten steht, haben diese meist nur den Wert einer Röntgenphotographie, in welcher der einfache Mann die Krankheit vollständig aufgezeichnet glaubt, während in Wahrheit diese Photographie doch nur ein Element der Beurteilung liefert, welches der Arzt mit vielen andern zusammen erwägt, um seine Diagnose zu stellen. Nähert man sich den Wohlunterrichteten, um der politischen Wahrheit habhaft zu werden, so greift man ins Leere. Selbst später – um beim Fall Dreyfus zu bleiben –, als sich etwas so Auffallendes zutrug wie Henrys Geständnis und nachfolgender Selbstmord, wurde dies Ereignis sofort von den dreyfusfreundlichen Ministern einerseits und Cavaignac und Cuignet, die selbst die Fälschung entdeckt und das Verhör geleitet hatten, anderseits in entgegengesetzter Weise ausgelegt; mehr noch: die dreyfusfreundlichen Minister selbst, Männer, die auch sonst der gleichen politischen Spielart angehörten und über die gleichen Dokumente in gleichem Sinne urteilten, erklärten Henrys Rolle in ganz entgegengesetzter Weise; die einen sahen in ihm einen Spießgesellen Esterhazys, die andern schrieben diese Rolle Paty de Clam zu, schlossen sich damit einer These ihres Gegners Cuignet an und stellten sich in ausgesprochenen Gegensatz zu ihrem Parteigänger Reinach. Alles, was Bloch aus Herrn von Norpois herausbekommen konnte, war die Meinung, wenn wirklich der Generalstabschef Herr von Boisdeffre Herrn Rochefort eine geheime Mitteilung habe machen lassen, so liege offenbar etwas außerordentlich Beklagenswertes vor. »Seien Sie versichert, der Kriegsminister muß seinen Generalstabschef – wenigstens in petto – den unterirdischen Göttern geweiht haben. Eine öffentliche Ableugnung der Vollmacht wäre meines Erachtens kein überflüssiger Pleonasmus gewesen. Inter pocula läßt sich der Kriegsminister sehr derb darüber aus. Im übrigen ist es sehr unvorsichtig, um gewisse Dinge herum eine öffentliche Aufregung hervorzurufen, deren man nachher nicht Herr bleiben kann.«

»Aber diese Dokumente sind offenkundig gefälscht«, sagte Bloch.

Darauf ging Herr von Norpois nicht ein, sondern erklärte, die Kundgebungen des Prinzen Henri von Orleans billige er nicht: »Sie können nur die Ruhe des Gerichtshofs stören und Bewegungen ermutigen, die im einen wie im andern Sinne zu beklagen wären. Gewiß muß man den antimilitaristischen Umtrieben Einhalt gebieten, aber unnütz ist auch das Gezänk, welches die Umtriebe gewisser Elemente der Rechten ermutigt, die, statt dem vaterländischen Gedanken zu dienen, sich vielmehr seiner zu bedienen trachten. Frankreich ist gottlob keine südamerikanische Republik, und noch macht sich nicht das Bedürfnis nach einem Pronunciamento-General fühlbar.«

Bloch gelang es nicht, ihn auf die Frage nach Dreyfus' Schuld zu sprechen zu bringen, auch dem bevorstehenden Urteil im Zivilprozeß, der jetzt lief, wollte er keine Prognose stellen. Dafür schien Herr von Norpois mit Vergnügen auf die Folgen des Urteils im einzelnen einzugehn.

»Findet eine Verurteilung statt«, sagte er, »wird das Urteil vermutlich kassiert werden, denn in einem Prozeß, in dem soviel Zeugen vernommen werden, kommen meistens Formfehler vor, gegen welche die Anwälte appellieren können. »Um noch einmal auf den Ausfall des Prinzen Henri von Orleans zu kommen, so bezweifle ich sehr, daß er nach dem Geschmack seines Vaters gewesen ist.« »Sie meinen, Chartres ist für Dreyfus?« fragte die Herzogin lächelnd, aber mit entrüsteter Miene, sie machte runde Augen, ihre Wangen waren rosig, und die Nase steckte sie in den Kuchenteller.

»Durchaus nicht, ich wollte nur sagen, daß diese Linie der Familie politischen Sinn hat, von dem man bei der Prinzessin Clémentine das nec plus ultra beobachten konnte; ihr Sohn, Fürst Ferdinand, hat diese wertvolle Gabe geerbt. Der Fürst von Bulgarien würde den Major Esterhazy nicht ans Herz gedrückt haben.«

»Ein einfacher Soldat wäre ihm lieber gewesen«, flüsterte Frau von Guermantes, die häufig beim Fürsten Joinville mit dem Bulgaren speiste; als er sie einmal fragte, ob sie nicht eifersüchtig sei, antwortete sie: »Ja, Hoheit, auf Ihre Armbänder.«

»Sie gehn heute Abend nicht auf den Ball der Frau von Sagan?« fragte Herr von Norpois Frau von Villeparisis, um die Unterhaltung mit Bloch abzubrechen. Dieser mißfiel dem Botschafter nicht, wie er uns später ziemlich unbefangen versicherte; wahrscheinlich waren ihm die noch vorhandenen Spuren der neo-homerischen Mode, die er eigentlich aufgegeben hatte, in Blochs Sprechweise angenehm. »Er ist recht unterhaltend mit seiner Art, ein bißchen altväterlich und feierlich zu reden. Fast könnte er sagen: »Die gelahrten Schwestern«, wie Lamartine oder Jean-Baptiste Rousseau. Das findet man selten in der heutigen Jugend und auch in der vorhergegangenen Generation war es selten. Meine eigene war ein bißchen romantisch.« Aber so eigenartig ihm auch sein Unterredner vorkam, Herr von Norpois fand doch, die Unterredung habe schon allzulange gedauert.

»Nein, ich gehe nicht mehr auf den Ball«, antwortete sie mit einem reizvollen Altfrauenlächeln. »Und Sie, meine Herren, gehn Sie hin? Sie sind im richtigen Alter.« Sie umfaßte mit einem Blick Herrn von Châtellerault, ihren Freund und Bloch. »Auch ich bin eingeladen worden.« Zum Scherz sagte sie das in künstlich eitelm Ton. »Man ist sogar hergekommen, mich einzuladen« (»Man« war die Fürstin Sagan).

»Ich habe keine Einladungskarte«, sagte Bloch; er dachte, Frau von Villeparisis werde ihm eine anbieten, und Frau von Sagan werde glücklich sein, den Freund einer Frau zu empfangen, die sie persönlich eingeladen hatte.

Die Marquise gab keine Antwort, und Bloch ließ das Thema fallen, er hatte eine ernstere Angelegenheit mit ihr zu besprechen, und hatte für den übernächsten Tag deswegen um eine Zusammenkunft gebeten. Er hatte die beiden jungen Herren sagen hören, sie seien aus dem Klub der rue Royale ausgetreten, in den man hineinginge wie in ein Wirtshaus, und wollte Frau von Villeparisis bitten, ihn dort aufnehmen zu lassen.

»Sind die Sagan nicht ziemlich talmi-schick, ziemlich verfehlte Snobs?« fragte er mit bissiger Miene.

»Aber durchaus nicht, sie sind das Beste, was wir in dieser Branche machen«, antwortete Herr von Argencourt, der sich alle Pariser Witze angewöhnt hatte.

»So, dann wird es wohl eine der feierlichen Veranstaltungen, eins der großen gesellschaftlichen Ereignisse der Saison?« meinte Bloch halb ironisch. Frau von Villeparisis sagte lustig zu Frau von Guermantes:

»Meinst du, der Ball von Frau von Sagan ist eine große mondäne Feierlichkeit?«

»Dafür bin ich nicht zuständig«, antwortete ironisch die Herzogin, »ich habe noch nicht heraus, was eine mondäne Feierlichkeit ist. Übrigens sind die mondänen Dinge nicht meine Stärke.«

»Ach! Ich glaubte das Gegenteil«, sagte Bloch, er redete sich ein, Frau von Guermantes habe aufrichtig gesprochen.

Er fuhr zu Herrn von Norpois' Verzweiflung fort, ihm eine Menge Fragen über die Offiziere zu stellen, deren Namen am häufigsten im Zusammenhang mit Dreyfus zur Sprache kamen. Der Botschafter erklärte ihm, auf den ersten Blick mache ihm du Paty de Clam den Eindruck eines etwas unklaren Kopfes, er sei vielleicht nicht sehr glücklich gewählt, um eine so heikle Sache wie diese Untersuchung zu leiten, Kaltblütigkeit und scharfe Unterscheidungsgabe seien hier nötig.

»Ich weiß, die sozialistische Partei fordert mit großem Getöse seinen Kopf, sowie die unmittelbare Freilassung des Gefangenen auf der Teufelsinsel. Aber ich denke, es ist noch nicht soweit mit uns, daß wir unter das kaudinische Joch der Herren Gérault-Richard und Genossen müssen. Bisher ist es in dieser Affäre dunkel wie in der Tintenflasche. Ich bestreite nicht, daß es auf der einen Seite so gut wie auf der andern ziemlich Häßliches zu verbergen gibt. Gewisse mehr oder weniger uneigennützige Beschützer Ihres Klienten mögen gute Vorsätze haben – ich will nicht das Gegenteil sagen – aber Sie wissen, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert (diese Worte begleitete ein schlauer Blick). Wesentlich für die Begierung ist, sie darf nicht den Eindruck erwecken, sie sei in den Händen der Linksparteien oder habe sich dem Machtgebot irgendeiner Prätorianerarmee – die, das können Sie mir glauben, nicht unser Heer repräsentiert – schlechthin mit gebundenen Händen und Füßen zu ergeben. Es versteht sich von selbst, kommen neue Tatsachen zutage, so müßte ein Revisionsverfahren eingeleitet werden. Die Folge davon springt in die Augen. Es zu verlangen, heißt offene Türen einrennen. An diesem Tage wird die Regierung laut und deutlich zu reden haben oder sie ließe ihr wesentlichstes Vorrecht verfallen. Redensarten werden nicht mehr genügen. Dreyfus muß Richter bekommen. Und das wird leicht sein, zwar ist es in unserm holden Frankreich, wo man sich selbst gern verleumdet, zur Gewohnheit geworden, zu glauben oder glauben zu lassen, um die Worte Wahrheit und Gerechtigkeit verständlich zu machen, müsse man unbedingt übern Kanal – und recht oft ist das nur ein Umweg an die Spree, aber Richter gibt es nicht nur in Berlin. Wenn dann aber wirklich die Regierung einen Schritt unternimmt, werden Sie auf sie hören? Wenn sie Sie ruft, Ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, werden Sie sich um sie scharen, ihrem Appell an den Patriotismus nicht taub bleiben, sondern rufen: »Zur Stelle!«?«

Die Heftigkeit, mit der Herr von Norpois seine Fragen stellte, schüchterte meinen Kameraden zwar ein, aber zugleich schmeichelte sie ihm; es war, als wende der Botschafter sich in ihm an eine ganze Partei, als befrage er in Bloch den Vertrauensmann dieser Partei, welcher die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen könne. »Wenn Sie nicht abrüsten,« fuhr Herr von Norpois fort, ohne Blochs Kollektivantwort abzuwarten, »wenn Sie noch, ehe die Tinte auf dem Dekret, welches das Revisionsverfahren anordnet, getrocknet ist, nicht abrüsten, sondern, irgendeinem heimtückischen Losungswort gehorchend, auf eine unfruchtbare Opposition sich beschränken, wie sie für manche Leute die ultima ratio der Politik zu sein scheint, wenn Sie sich in Ihre Zelte zurückziehen und Ihre Schiffe verbrennen, so wird es Ihr Schaden sein. Haben die heimlichen Gönner der Zwietracht Sie in der Gewalt? Haben sie Unterpfänder von Ihnen in Händen?« Bloch war um eine Antwort verlegen. Aber Herr von Norpois ließ ihm gar nicht Zeit zu antworten. »Ist dem nicht so – und das will ich gern glauben –, haben Sie etwas von dem, was manchen unter Ihren Führern und Freunden bedauerlicherweise zu mangeln scheint, ich meine politischen Sinn, lassen Sie sich nicht ködern von denen, die da im Trüben fischen, so werden Sie an dem Tage, an dem das Kriminalgericht zusammentritt, gewonnenes Spiel haben. Ich stehe nicht dafür, daß der ganze Generalstab gut aus der Sache herauskommt, aber es ist schon viel, wenn eine Partei wenigstens das Gesicht wahren kann, ohne den Funken ins Pulver zu werfen und Unheil zu stiften.

Eines versteht sich: es ist Sache der Regierung, Gericht zu halten und die allzulange Liste ungestrafter Vergehen abzuschließen, aber nicht, um sozialistischen Aufreizungen nachzugeben noch auch denen irgend einer Soldateska (bei diesen Worten – er hatte wohl den Instinkt aller Konservativen, sich auch im gegnerischen Lager Sympathien zu schaffen – sah Herr von Norpois Bloch in die Augen). Die Regierung muß handeln, ohne sich um Überforderungen zu kümmern, von welcher Seite sie auch kommen mögen. Die Regierung hat gottlob weder dem Obersten Driant, noch, am andern Pol, Herrn Clemenceau zu gehorchen. Man muß die berufsmäßigen Wühler matt setzen, sie dürfen nicht wieder ihr Haupt erheben. In Frankreich will die große Mehrzahl Arbeit und Ordnung! Das ist meine feste Überzeugung. Man darf sich nicht davor scheuen, die Öffentlichkeit aufzuklären, und wenn sich etliche Hammel aus der Herde, die unser Rabelais so gut gekannt hat, kopfüber ins Wasser stürzen, müßte man ihnen zeigen, daß dies Wasser trübe ist, absichtlich getrübt von einer Sippschaft, die hier bei uns nicht zu Hause ist und Gefährliches zu verbergen hat. Die Regierung darf nicht den Anschein erwecken, als ginge sie nur widerstrebend aus ihrer Passivität heraus, wenn sie von dem Recht Gebrauch macht, das ihr eigentlichstes ist, ich meine das Recht, Dame Justitia in Bewegung zu bringen. Sie wird auf alle Ihre Anregungen eingehn. Bestätigt sichs, daß ein Justizirrtum vorliegt, kann sie auf eine erdrückende Mehrheit rechnen, die ihrem Schritt freien Lauf läßt.«

Bloch wandte sich an Herrn von Argencourt, dem er zusammen mit den andern vorgestellt worden war. »Sie, Herr von Argencourt, sind gewiß für Dreyfus: im Ausland ist es ja jeder.«

»Das ist doch wohl eine Angelegenheit, welche die Franzosen untereinander abzumachen haben, nicht wahr?« antwortete Herr von Argencourt mit der besonderen Unverschämtheit, dem Unterredner eine Meinung zuzuschieben, von der man wissen muß, er teilt sie nicht, hat er doch eben die entgegengesetzte geäußert.

Bloch errötete; Herr von Argencourt blickte lächelnd umher, während dies Lächeln sich an die andern Gäste richtete, war es gegen Bloch boshaft, als es aber zuletzt bei meinem Freunde anlangte, wurde es gemildert von Herzlichkeit, um diesem den Vorwand zu nehmen, sich an Herrn von Argencourts Worten, die doch ihre Härte behielten, zu ärgern. Frau von Guermantes sagte Herrn von Argencourt etwas ins Ohr, was ich nicht verstand, es mochte sich wohl auf Blochs Religion beziehen, denn über ihr Gesicht ging in diesem Augenblick ein zögernder verstellter Ausdruck, wie ihn die Furcht gibt, von der Person bemerkt zu werden, über die man spricht; darein mischte sich ein neugieriger, gespannter munterer Anteil an einer Menschengruppe, der sie sich von Grund aus fremd fühlte. Um sich schadlos zu halten, wandte sich Bloch an den Herzog von Châtellerault: »Sie, mein Herr, als Franzose wissen sicher, daß man im Ausland für Dreyfus ist, trotzdem behauptet wird, in Frankreich wisse man nie, was im Ausland vorgeht. Zudem weiß ich, man kann mit Ihnen sprechen, das hat mir Saint-Loup gesagt.« Aber der junge Herzog fühlte, daß alle gegen Bloch waren; feige, wie man es oft in der Gesellschaft ist, und zu einer preziösen, beißenden Witzigkeit neigend, die er, durch Vererbung, von Herrn von Charlus zu haben schien, erklärte er: »Entschuldigen Sie, mein Herr, daß ich mit Ihnen nicht über Dreyfus disputiere; es ist ein Thema, über das ich grundsätzlich nur unter Japhetiten spreche.« Alle lächelten, außer Bloch. Allerdings hatte er selbst die Gewohnheit, sich ironisch über seine jüdische Herkunft zu äußern, über die Seite seines Wesens, die ein bißchen an den Sinai erinnerte. Aber er hatte gewiß keine solche Wendung bereit, die Druckfeder seiner innern Maschine ließ eine andere über seine Lippen, und so bekam man nur dies geliefert: »Woher konnten Sie das wissen? Wer hat es Ihnen gesagt?«, als wäre er der Sohn eines Zuchthäuslers. Sein Erstaunen war etwas kindlich, wenn man an seinen nicht ausgesprochen christlichen Namen und sein Gesicht dachte. Da ihn das, was Herr von Norpois ihm gesagt hatte, nicht ganz befriedigte, näherte er sich dem Archivar und fragte ihn, ob man nicht bisweilen Herrn du Paty de Clam oder Herrn Joseph Reinach bei Frau von Villeparisis sähe. Der Archivar antwortete nicht; er war nationalistisch und predigte beständig der Marquise, es werde bald einen Bürgerkrieg geben, sie müsse vorsichtiger in der Wahl ihrer Bekanntschaften sein. Er fragte sich, ob Bloch nicht ein heimlicher Abgesandter des Syndikats sei, dem er hier Auskünfte verschaffen sollte, ging sofort zu Frau von Villeparisis und wiederholte ihr, was Bloch ihn gefragt hatte. Sie schloß daraus, Bloch sei zum mindesten schlecht erzogen, vielleicht aber auch gefährlich für Herrn von Norpois' Stellung. Und dann wollte sie auch den Archivar zufrieden stellen, den einzigen Menschen, der ihr einige Furcht einflößte und, wenn auch ohne großen Erfolg, seine Meinungen beigebracht hatte (jeden Morgen las er ihr den Artikel von Herrn Judet im Petit Journal vor). So wollte sie also Bloch zu verstehn geben, daß er gut täte, nicht wiederzukommen, und zu diesem Zweck fand sich in ihrem gesellschaftlichen Rollenschatz ganz einfach die Szene, in der eine große Dame jemanden vor die Tür setzt, eine Szene, zu der durchaus nicht, wie man sich vielleicht vorstellt, erhobener Finger und flammende Augen gehören. Als Bloch sich näherte, um ihr auf Wiedersehn zu sagen, schien sie, versunken in ihren großen Sessel, halb und halb von etwas wie Schlafsucht befallen. In ihren schwimmenden Blicken war nur der schwache, reizende Schimmer der Perle. Blochs Abschied entfaltete im Gesicht der Marquise kaum ein schmachtendes Lächeln, entriß ihr kein Wort; sie reichte ihm nicht die Hand. Bloch war höchst erstaunt, da aber ein Kreis von Personen ringsum dieser Szene beiwohnte, meinte er, sie fortzusetzen, könne nachteilig für ihn werden, und um der Marquise die Hand, die man nicht nehmen wollte, aufzuzwingen, streckte er sie ihr hin. Frau von Villeparisis war befremdet. Aber so sehr ihr auch daran gelegen war, dem Archivar und dem dreyfusfeindlichen Klüngel eine unmittelbare Genugtuung zu geben, sie dachte wohl doch an die Zukunft, und so begnügte sie sich damit, die Lider zu senken und die Augen zur Hälfte zu schließen. »Ich glaube, sie schläft«, sagte Bloch zum Archivar; der aber machte im Vertrauen auf den Beifall der Marquise ein entrüstetes Gesicht. »Adieu, Madame«, schrie Bloch.

Die Marquise bewegte ein wenig die Lippen wie eine Sterbende, die den Mund öffnen möchte, aber niemanden mehr erkennt. Dann wandte sie sich, überströmend von wiedererwachtem Leben, zu dem Marquis von Argencourt, während Bloch, überzeugt, sie sei »etwas schwach im Kopf« sich entfernte. Interessiert an der Aufklärung eines so seltsamen Vorfalls, kam er nach ein paar Tagen wieder zu ihr. Sie empfing ihn freundlich, weil sie von Natur gutmütig und der Archivar nicht zugegen war. Auch lag ihr viel an der Aufführung, die Bloch bei ihr veranstalten wollte, und schließlich hatte sie die große Dame nach Wunsch gespielt; dieses Spiel wurde denn auch noch am selben Abend in verschiedenen Salons allgemein bewundert und erörtert, allerdings nach einer Version, die mit der Wirklichkeit schon gar nichts mehr zu tun hatte.

»Sie sprachen von den Sieben Prinzessinnen, Herzogin, wissen Sie, der Verfasser dieses ... wie soll ich sagen, dieses Schriftstücks ist – worauf ich nicht weiter stolz bin – ein Landsmann von mir«, sagte Herr von Argencourt, und in seinem ironischen Ton klang eine gewisse Genugtuung mit, besser als die andern den Verfasser eines Werkes zu kennen, von dem man gerade gesprochen hatte. »Ja, er ist ein geborener Belgier.«

»Wirklich? Nun, wir beschuldigen Sie nicht, irgend etwas mit den Sieben Prinzessinnen gemein zu haben. Zum Glück für Sie selbst und Ihre Landsleute sind Sie dem Verfasser dieser Narrheit nicht ähnlich. Ich kenne sehr liebenswerte Belgier, Sie, Ihren König, der etwas schüchtern, aber geistvoll ist, meine Vettern Ligne und manche andere, aber zum Glück sprechen Sie nicht dieselbe Sprache wie der Verfasser der Sieben Prinzessinnen. Nebenbei muß ich Ihnen sagen, es ist sinnlos, darüber zu sprechen, weil es einfach gar nichts ist. Solche Leute versuchen, dunkel zu wirken und laufen nötigenfalls Gefahr, sich lächerlich zu machen, um zu verbergen, daß ihnen nichts einfällt. Wenn noch etwas dahinter wäre, wissen Sie, ich habe gar nichts gegen gewisse Kühnheiten, sobald sie wirkliche Gedanken enthalten«, fügte sie ernst hinzu. »Ich weiß nicht, ob Sie das Stück von Berelli gesehn haben. Manche Leute hat es abgestoßen; mich könnte man totschlagen (es kam ihr nicht in den Sinn, daß dafür wenig Gefahr bestand), ich muß gestehn, mir ist es äußerst interessant erschienen. Aber die Sieben Prinzessinnen! Eine von ihnen ist zwar gütig zu meinem Neffen, aber soweit geht das Familiengefühl bei mir nicht, daß ...«

 

Die Herzogin brach ab, denn es trat eine Dame ein, die Vicomtesse von Marsantes, Roberts Mutter; Frau von Marsantes galt im Faubourg Saint-Germain als ein höheres Wesen von engelhafter Güte und Entsagung. Das hatte man mir gesagt, und ich hatte keinen besonderen Grund, mich darüber zu wundern, da ich in diesem Augenblick noch nicht wußte, daß sie des Herzogs von Guermantes leibliche Schwester war. Später hat es mich jedesmal überrascht, wenn ich erfuhr, daß in dieser Gesellschaft trübsinnige, reine, opferfähige Frauen, Frauen, die angebetet werden wie ideale Heilige in Kirchenfenstern, demselben Stamm entsprossen waren wie brutale, lasterhafte, gemeine Männer. Brüder und Schwestern, die sich so ähnlich sahen wie der Herzog von Guermantes und Frau von Marsantes, müßten, so schien mir, gleiche Geistes- und Gemütsart besitzen, wie man ja auch von ein und demselben Wesen wohl gute und böse Momente gewärtigen muß, ihm aber bei beschränktem Geist keinen weiten Gesichtskreis und bei hartem Herzen keine ungewöhnliche Selbstverleugnung zutraut.

Frau von Marsantes besuchte die Vorträge von Brunetière. Das Faubourg Saint-Germain begeisterte sich für sie, und ihr Heiligenleben wirkte erbaulich. Aber der morphologische Zusammenhang der hübschen Nase und des scharfen Blickes reizte doch dazu, Frau von Marsantes in dieselbe geistige und seelische Familie einzuordnen wie ihren Bruder, den Herzog. Daß sie eine Frau war, vielleicht Unglück gehabt und die allgemeine Meinung für sich hatte, genügte mir nicht, um zu glauben, sie könne von den ihren so verschieden sein wie das in den Heldengedichten vorkommt, wo alle Tugenden und die Grazien in der Schwester unbändiger Brüder sich vereinen. Es schien mir, die Natur könne unmöglich so frei wie die alten Dichter verfahren, ihr ständen fast ausschließlich Elemente, die der Familie gemeinsam sind, zu Gebote, ich traute ihr nicht genügend erfinderische Macht zu, um aus dem Material, das sie zu einem Dummkopf oder Rohling zusammengeformt hatte, einen großen Geist ohne einen Rest von Dummheit, eine Heilige ohne eine Spur von Roheit zu formen. Frau von Marsantes trug ein Kleid aus weißem Surah mit Palmstickereien, von denen sich schwarze Stoffblumen abhoben. Sie hatte nämlich vor drei Wochen ihren Vetter, Herrn von Montmorency, verloren, was sie nicht hinderte, Besuche zu machen und zu kleinen Gastereien zu gehn, aber immer in Trauer. Sie war eine große Dame. Durch Vererbung war ihre Seele von der Leichtfertigkeit höfischer Existenzen mit all ihren oberflächlichen und strengen Regeln erfüllt. Frau von Marsantes hatte nicht die Kraft besessen, ihren Eltern lange nachzutrauern, aber um nichts in der Welt hätte sie in dem Monat nach dem Tod eines Vetters Farben getragen. Zu mir war sie mehr als liebenswürdig, weil ich Roberts Freund war und nicht zu seiner Gesellschaftsklasse gehörte. Zu dieser Güte trat noch falsche Schüchternheit, es war, als nähme sie immer wieder plötzlich Stimme, Blick und Gedanken zurück, wie man ein indiskretes Kleid an sich rafft, es nicht zuviel Platz einnehmen, bei aller Schmiegsamkeit geradlinig fallen läßt, wie es die gute Erziehung verlangt. Dies Wort »Gute Erziehung« darf man nicht zu genau nehmen. Unter diesen Damen verfallen manche der Zügellosigkeit und bleiben dabei in ihrem Gebaren immer fast kindlich korrekt. Frau von Marsantes' Art zu plaudern wirkte manchmal etwas aufreizend: wenn sie über einen Bürgerlichen sprach, zum Beispiel Bergotte oder Elstir, pflegte sie zu sagen – und dabei das Wort durch abgehackte Betonung zur Geltung zu bringen, in einer typisch Guermantischen Art, es auf zwei Töne abzustufen: »Ich habe die Ehre, die große Eh-re gehabt, Herrn Bergotte zu treffen, die Bekanntschaft von Herrn Elstir zu machen«. Man sollte wohl ihre Bescheidenheit bewundern, oder sie teilte den Geschmack des Herrn von Guermantes für altmodische Wendungen als Protest gegen die schlechten Gepflogenheiten der heutigen Erziehung, die keinen Wert mehr darauf legt, daß einer sich für »sehr geehrt« erklärt. Welcher dieser beiden Gründe auch der entscheidende gewesen sein mag, jedenfalls fühlte man, wenn Frau von Marsantes sagte: »Ich habe die Ehre, die große Eh–re«, glaube sie eine wichtige Rolle zu spielen, sie zeigte, wie sie es verstehe, den Namen von verdienstvollen Persönlichkeiten einen Empfang zu bereiten, wie sie den Männern selbst auf ihrem Schloß ihn bereiten würde, wenn sie in die Gegend kämen. Da ferner ihre Familie sehr zahlreich war und sie sehr an ihr hing, kam sie immerfort in ihrer langsamen Art mit ihrer Vorliebe für das ausführliche Erklären der Verwandtschaften auf alle mediatisierten Familien Europas zu sprechen (sie wollte gar nicht Eindruck machen, es lag ihr eigentlich viel mehr, von rührenden Bauern und prachtvollen Jagdhütern zu erzählen); Leute von weniger glänzender Herkunft verziehen ihr das nicht und, waren sie witzig, so verspotteten sie es als Dummheit. Auf dem Lande wurde Frau von Marsantes vergöttert, weil sie viel Gutes tat, und mehr noch, weil sie sich vollkommen einfach gab, nichts von dem hatte, was man im Volke »sich haben« nennt. Davor bewahrte sie die Reinheit ihres Blutes (seit mehreren Generationen hatte ihre Familie der französischen Geschichte nur Größen geschenkt). Sie scheute sich nicht, ein armes unglückliches Weib zu küssen und aufzufordern, sich im Schloß eine Fuhre Holz zu holen. Sie ist die wahre Christin, sagte man. Ihren Sohn Robert wollte sie ungeheuer reich verheiraten. Große Dame sein, heißt die große Dame spielen, und dazu gehört auch, daß man die Einfache spielt. Ein Spiel, das sehr teuer zu stehn kommt, zumal die Einfachheit nur dann entzückt, wenn andere wissen, man brauche, weil man ja reich ist, nicht einfach zu sein. Als ich später erzählte, ich habe sie gesehn, sagte man mir: »Sie werden sich überzeugt hellen, wie entzückend sie ist.« Aber wahre Schönheit ist so eigen und neu, daß man sie gar nicht als Schönheit erkennt. An jenem Tage stellte ich nur fest, daß sie eine kleine Nase, sehr blaue Augen, einen langen Hals hatte und betrübt aussah.

Frau von Villeparisis sagte zu Frau von Guermantes: »Ich glaube, gleich wird eine Frau mich besuchen kommen, die du nicht gerne kennen lernen möchtest, ich möchte dir rechtzeitig Bescheid sagen, damit du keinen Arger hast. Übrigens kannst du dich beruhigen, später werde ich sie nie bei mir sehn, sie muß nur dieses eine Mal heut kommen. Es ist Swanns Frau.«

Als Frau Swann sah, welchen Umfang die Dreyfusaffäre annahm, hatte sie gefürchtet, die Herkunft ihres Gatten könne für sie schädlich werden, und ihn gebeten, nie über die Unschuld des Verurteilten zu sprechen. Wenn er nicht dabei war, ging sie noch weiter und bekannte sich zum glühendsten Nationalismus; darin folgte sie, nebenbei bemerkt, nur dem Beispiele von Frau Verdurin, bei der ein latenter bürgerlicher Antisemitismus zum Vorschein gekommen war und sich bis ins Besinnungslose gesteigert hatte. Diese Haltung verschaffte Frau Swann Eintritt in einige antisemitische Frauenverbände, die sich in dieser Zeit bildeten, und sie hatte mit verschiedenen Personen der Aristokratie Beziehungen angeknüpft. Daß die Herzogin von Guermantes, die mit Swann so befreundet war, diese Personen nicht nachahmte, mag befremdlich erscheinen. Dabei hatte er ihr kein Hehl aus seinem Wunsche gemacht, seine Frau ihr vorzustellen; aber sie hatte sich nicht darauf eingelassen. Wie man weiterhin sehn wird, lag das an dem eigentümlichen Charakter der Herzogin, die annahm, sie »habe nicht dies oder das zu tun«, und was ihr »freier Wille« in gesellschaftlichen Dingen recht willkürlich entschieden hatte, selbstherrlich durchsetzte.

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich vorbereiten. Es wäre mir in der Tat sehr unangenehm«, antwortete die Herzogin. »Da ich sie aber vom Sehen kenne, werde ich rechtzeitig aufstehn.«

»Ich versichere dir, Oriane, sie ist sehr sympathisch eine ausgezeichnete Frau«, sagte Frau von Marsantes.

»Daran zweifle ich nicht, aber ich fühle nicht das Bedürfnis, mich selbst davon zu überzeugen.«

»Bist du bei Lady Israel eingeladen«, fragte Frau von Villeparisis, um das Thema zu wechseln, die Herzogin.

»Die kenne ich Gott sei Dank nicht. Das müßten Sie Marie-Aynard fragen. Die kennt sie, ich habe mich immer gefragt, warum.«

»Ich habe sie in der Tat gekannt,« antwortete Frau von Marsantes, »meinen Fehler gestehe ich ein. Aber ich habe mich entschlossen, sie nicht mehr zu kennen. Sie scheint eine der Schlimmsten zu sein und macht keinen Hehl draus. Nebenbei, alle waren wir zu vertrauensvoll und zu gastfreundlich. Ich werde mit niemandem von dieser Nation mehr verkehren. Da hatte man alte Vettern aus der Provinz, Blutsverwandte, denen man seine Tür verschloß, den Juden öffnete man sie. Jetzt sehn wir ihren Dank. Ach, ich darf eigentlich nichts sagen, mein eigner reizender Sohn redet als echter junger Tollkopf das schlimmste Gefasel. (Sie hörte, daß Herr von Argencourt auf Robert angespielt hatte.) Haben Sie übrigens Robert nicht gesehn?« fragte sie Frau von Villeparisis. »Heut ist doch Sonnabend, da könnte er auf vierundzwanzig Stunden nach Paris kommen, und in diesem Fall würde er Sie sicher besucht haben.«

In Wirklichkeit dachte Frau von Marsantes, ihr Sohn habe keinen Urlaub; sie wußte, wenn er Urlaub hätte, würde er nicht zu Frau von Villeparisis kommen, und wenn sie nun tat, als glaube sie, ihn hier anzutreffen, hoffte sie, die empfindliche Tante werde ihm daraufhin alle Besuche vergeben, die er ihr nicht gemacht hatte.

»Robert soll hier sein! Er hat mir nicht einmal geschrieben; ich glaube, seit Balbec habe ich ihn nicht gesehn.«

»Er ist so beschäftigt, hat so viel zu tun«, sagte Frau von Marsantes.

Ein unmerkliches Lächeln glitt über die Wimpern der Frau von Guermantes, während sie den Kreis betrachtete, den sie mit ihrem Sonnenschirm auf den Teppich zeichnete. So oft der Herzog zu öffentlich seine Frau betrog, hatte Frau von Marsantes vor aller Welt gegen den eignen Bruder für ihre Schwägerin Partei ergriffen. Diese Begünstigung trug ihr die Herzogin dankbar und grollend zugleich nach, und an Roberts Streichen nahm sie nur halb und halb Anstoß. In diesem Augenblick öffnete die Tür sich von neuem, und Robert trat ein.

»Sankt-Lupus in fabula«, sagte Frau von Guermantes. Frau von Marsantes, die der Tür den Rücken zukehrte, hatte ihren Sohn nicht eintreten sehn. Als sie ihn nun bemerkte, zuckte in der Mutter die Freude sichtlich wie ein Flügelschlag, ihr Leib erhob sich halb, das Gesicht bebte, die Augen hingen entzückt an Robert.

»Wie, du bist gekommen! Das ist ein Glück! Das ist eine Überraschung!«

Der belgische Diplomat lachte laut auf: »Ah, jetzt verstehe ich: Sankt-Lupus in fabula.«

»Ja, wunderbar«, entgegnete Frau von Guermantes trocken, sie konnte Wortspiele nicht ausstehn und hatte dieses nur aus einer Art Selbstironie losgelassen.

»Guten Tag, Robert,« sagte sie, »so vergißt man also seine Tante.«

Sie plauderten eine Weile miteinander, ohne Zweifel über mich, denn, als dann Robert sich seiner Mutter näherte, wandte sich Frau von Guermantes mir zu.

»Guten Tag, wie geht es Ihnen?« sagte sie zu mir.

Sie ließ das Licht von ihrem blauen Blick auf mich niederregnen, und dann, nach kurzem Zögern, bog und streckte sie mir den Zweig ihres Armes hin und beugte den Körper vor, um ihn gleich heftig zurückschnellen zu lassen, wie ein Strauch, den man gebeugt hat, wenn er losgelassen wird, in seine natürliche Lage zurückkehrt. Das tat sie alles unter dem Feuer der Blicke Saint-Loups, der sie beobachtete und sich aus der Entfernung verzweifelt abmühte, noch etwas mehr von seiner Tante zu erwirken. Aus Furcht, unsere Unterhaltung könne stocken, wollte er ihr Nahrung geben und antwortete für mich:

»Es geht ihm nicht sehr gut, er ist etwas abgespannt; übrigens würde es ihm vielleicht besser gehn, wenn er dich öfter sähe, denn ich verhehle dir nicht, er sieht dich sehr gern.«

»Oh! Das ist sehr liebenswürdig«, sagte Frau von Guermantes in gewollt banalem Ton, als hätte ich ihr ihren Mantel gebracht. »Das schmeichelt mir sehr.«

»Ich gehe ein bißchen zu meiner Mutter, ich lasse dir meinen Stuhl«, sagte Saint-Loup zu mir und zwang mich, neben seiner Tante Platz zu nehmen.

Wir schwiegen beide.

»Ich sehe Sie manchmal vormittags«, sagte sie dann, als teile sie mir eine Neuigkeit mit und als wenn ich sie nicht sähe. »Solche Spaziergänge sind sehr gesund.«

»Oriane,« sagte halblaut Frau von Marsantes, »Sie sagten, Sie wollten Frau von Saint-Ferréol besuchen; würden Sie so lieb sein, ihr zu sagen, sie möchte mich nicht zum Essen erwarten, ich bleibe zu Hause, ich habe Robert da. Und wenn das nicht zu viel verlangt ist, darf ich Sie bitten, im Vorbeigehn zu bestellen, man solle gleich die Zigarren besorgen, die Robert gern raucht, sie heißen Corona, zu Hause sind keine mehr.«

Robert kam näher; er hatte nur den Namen Frau von Saint-Ferréol gehört.

»Wer ist denn das wieder, Frau von Saint-Ferréol?« fragte er scharf und verwundert; er tat immer, als wüßte er von den gesellschaftlichen Dingen nichts.

»Aber, mein Liebling, du weißt doch,« sagte seine Mutter, »das ist die Schwester von Vermandois; sie hat dir das schöne Billard geschenkt, das du so liebtest.«

»So, das ist die Schwester von Vermandois, ich hatte keine Ahnung. Meine Familie ist großartig,« wandte er sich halb zu mir und nahm unbewußt Blochs Tonfall an, wie er ja auch seine Ideen entlieh, »sie kennt unerhörte Leute, Leute, die mehr oder weniger Saint-Ferréol heißen, sie geht auf den Ball, fährt in Karossen spazieren, führt ein fabelhaftes Leben. Es ist erstaunlich.«

Frau von Guermantes machte mit der Kehle das kurze heftige Geräusch eines gezwungenen Lachens, das man wieder hinunterschluckt; es sollte andeuten, sie nehme in dem Maße, in welchem die Verwandtschaft sie verpflichte, Anteil an den geistreichen Äußerungen ihres Neffen. Man meldete, Fürst Pfaffenheim-Münsterburg-Weinigen lasse Herrn von Norpois sagen, er sei da.

»Holen Sie ihn«, sagte Frau von Villeparisis zu dem alten Botschafter, und er ging dem deutschen Premierminister entgegen.

Aber die Marquise rief ihn zurück.

»Warten Sie; soll ich ihm die Miniatur der Kaiserin Charlotte zeigen?«

»Ah! Ich glaube, er wird entzückt sein«, sagte der Botschafter im Ton der Überzeugung und als beneide er den glücklichen Minister um die Gunst, welche auf ihn wartete.

»Ich weiß, er ist sehr wohlgesinnt,« sagte Frau von Marsantes, »das ist so selten bei Ausländern. Ich habe mich erkundigt. Er ist der Antisemitismus in Person.«

 

Der Name des Fürsten enthielt in der Frische, mit der die ersten Silben – musikalisch gesprochen – einsetzten und in der stotternden Wiederholung, die sie skandierte, den Schwung, die gezierte Unbefangenheit, die schwerfällige germanische »Feinheit«, die wie grünes Blattwerk über den düsterblauen Schmelz des »Heims« fällt, wo hinter den abgeblaßten, fein ziselierten Vergoldungen des deutschen achtzehnten Jahrhunderts Mystik eines rheinischen Kirchenfensters sich entfaltet. Unter den verschiedenen Namen, die diesen Namen zusammensetzten, war der eines kleinen deutschen Bades, wo ich ganz früh als Kind mit meiner Großmutter gewesen war; es lag am Fuß eines Berges, dem Spaziergänge Goethes die Weihe gaben, und Weinberge waren in der Nähe, deren berühmte Sorten wir im Kurhaus tranken, diese wurden durch klangvoll zusammengesetzte Worte bezeichnet, schön wie die schmückenden Beiwörter, die Homer seinen Helden gibt. Raum hörte ich den Namen des Fürsten aussprechen, so wurde er, eh mir noch der Badeort einfiel, weniger umfänglich und bekam etwas Menschliches, begnügte sich mit einem schmalen Platz in meinem Gedächtnis, fügte vertraut, alltäglich, malerisch, schmackhaft und leicht sich ein und bekam zugleich Vollmacht und Geltung. Und dann, als Herr von Guermantes erklärte, wer der Fürst sei und mehrere seiner Titel nannte, erkannte ich den Namen eines Dorfes an dem Fluß, wo ich jeden Abend nach der Kur durch Mückenschwärme gerudert war, und den eines Waldes, der so weit ablag, daß der Arzt, bis dahin spazieren zu gehn, mir nicht erlaubte. Es war ja auch verständlich, daß die Lehnsherrlichkeit des Fürsten sich auf die umliegenden Ortschaften erstreckte und sich bei Aufzählung seiner Titel mit Namen verband, die man auf einer Landkarte nebeneinander lesen konnte. Unterm Helmgitter des Fürsten vom Heiligen Römischen Reich und Marschalls von Franken sah ich – wenigstens ehe der Fürst, Rheingraf und Kurfürst von der Pfalz eintrat – das Antlitz eines geliebten Stücks Erde, auf welchem oft die Strahlen der Sechsuhrabendsonne für mich verweilt hatten. Sehr bald erfuhr ich dann, die Einkünfte des Gnomenwaldes und Nixenbachs und des verzauberten Bergs mit der alten Burg, die das Andenken Luthers und Ludwigs des Deutschen wahrte, benutzte er, um fünf Charronautomobile, ein Haus in Paris und eins in London, eine Montagsloge in der Oper und eine an den Dienstagen der Comédie Française zu haben. Ich hatte nicht den Eindruck – und den hatte er wohl selber nicht –, er sei von anderer Art als andere Menschen gleicher Vermögenslage und gleichen Alters, aber weniger poetischer Herkunft. Er hatte ihre Kultur, ihre Ideale und freute sich seines Ranges nur, weil er ihm gewisse Vorteile gewährte; sein letzter Ehrgeiz war, zum korrespondierenden Mitglied der Académie des Sciences morales et politiques gewählt zu werden, und zu diesem Zweck war er zu Frau von Villeparisis gekommen. Nicht von vornherein war ihm an diesem Besuch, um den er sich jetzt bemühte, gelegen gewesen, ihm, dessen Frau an der Spitze des unnahbarsten Kreises von Berlin stand. Seit Jahren quälte ihn der Ehrgeiz, in das Institut zu kommen, aber leider war die Zahl der Akademiker, die geneigt schienen, für ihn zu stimmen, noch nie über fünf gestiegen. Er wußte, Herr von Norpois verfügte allein über mindestens zehn Stimmen und konnte durch geschickte Maßnahmen ihm noch mehr verschaffen. Er kannte ihn von Rußland her, wo beide gleichzeitig Botschafter gewesen waren. Er hatte ihn aufgesucht und alles getan, um ihn sich zu gewinnen. Aber er mochte noch soviel Liebenswürdigkeit an ihn verschwenden, ihm russische Orden verschaffen, ihn in Aufsätzen über ausländische Politik anführen, er hatte einen Undankbaren vor sich, all sein Entgegenkommen schien ihm nicht angerechnet zu werden, Herr von Norpois hatte seine Kandidatur nicht einen Schritt gefördert, ihm nicht einmal seine eigene Stimme zugesagt! Gewiß empfing ihn Herr von Norpois äußerst höflich, wollte ihm sogar die Mühe ersparen, zu ihm zu kommen, und begab sich selbst zu dem Fürsten, und als der teutonische Rittersmann herausplatzte: »Ich würde so gern Ihr Kollege sein«, antwortete er im Ton der Überzeugung: »Oh! Das wäre ein Glück für mich!« Ein kindliches Gemüt, ein Doktor Cottard hätte sich gesagt: »Da ist er bei mir, hat selbst Wert daraufgelegt, zu mir zu kommen, weil er mich für eine wichtigere Persönlichkeit hält als sich selbst, er sagt mir, es würde ein Glück für ihn sein, wenn ich in die Akademie käme. Worte haben doch, zum Teufel, noch einen Sinn, und wenn er mir nicht anbietet, für mich zu stimmen, so kommt ihm eben bloß nicht der Gedanke. Er spricht immer von meinem großen Einfluß. Er muß der Ansicht sein, mir fliegen die gebratenen Tauben in den Mund, ich habe soviel Stimmen wie ich will, es lohne nicht, mir auch noch seine anzubieten; ich brauche ihn also nur zu stellen und ihm unter vier Augen zu sagen: »Also, Sie stimmen für mich!«, dann wird er es tun müssen.«

Aber Fürst Pfaffenheim war kein kindliches Gemüt; er war, was Doktor Cottard einen »schlauen Diplomaten« genannt hätte, und wußte, Herr von Norpois war nicht minder schlau und wäre wohl von selbst darauf gekommen, daß es für einen Kandidaten angenehm wäre, wenn er für ihn stimme. Auf seinen Botschafterposten und als Minister des Äußern hatte der Fürst für sein Land – statt wie jetzt für sich selber – Unterredungen gehabt, bei denen man im voraus weiß, wie weit man gehn und welche Zusagen man sich nicht entreißen lassen wird. Er wußte, in der Diplomatensprache bedeutet »mit einander reden« ein Angebot machen. Deshalb hatte er Herrn von Norpois den Sankt-Andreas-Orden verschafft. Hätte er aber über die darauf folgende Unterredung mit Herrn von Norpois seiner Regierung Bericht erstatten müssen, in seiner Depesche hätte gestanden: »Ich sah, ich hatte einen falschen Weg beschritten«. Denn als er von neuem auf das Institut zu sprechen kam, hatte Herr von Norpois ihm wieder gesagt:

»Das wäre mir sehr, sehr lieb für meine Kollegen. Die müssen, meiner Meinung nach, sich wirklich geehrt fühlen, daß Sie an sie gedacht haben. Es ist eine äußerst interessante Kandidatur, ein wenig außerhalb des bei uns Üblichen. Sie wissen, die Akademie steckt tief im Herkömmlichen und erschrickt vor allem, was irgendwie nach etwas Neuem klingen könnte. Ich persönlich mache ihr das zum Vorwurf. Wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, meinen Kollegen das zu verstehn zu geben. Wenn ich nicht irre, ist sogar, Gott möge mir verzeihen, einmal das Wort »verknöchert« über meine Lippen gekommen.« Das sagte er mit verdrossenem Lächeln halblaut, fast beiseite, wie auf dem Theater, warf auf den Fürsten dabei einen raschen schrägen Blick aus seinen blauen Augen, wie ein alter Komödiant, der seine Wirkung beobachten will. »Sie verstehn, Fürst, ich möchte nicht eine Persönlichkeit von Ihrer Bedeutung auf ein von vornherein verlorenes Unternehmen sich einlassen sehn. Solange die Ideen meiner Kollegen so rückständig bleiben, halte ich für das Weiseste, abzusehn. Sollte ein etwas moderner, etwas lebendigerer Geist in diesem Kollegium, das die Tendenz hat, ein Friedhof zu werden, sich bemerkbar machen, sollte ich mit einer Möglichkeit für Sie rechnen können, glauben Sie mir, ich werde nichts Eiligeres zu tun haben, als Sie davon in Kenntnis zu setzen.«

»Der Sankt-Andreas-Orden war ein Irrtum,« dachte der Fürst, »damit sind die Verhandlungen keinen Schritt weitergekommen; das hat er gar nicht gewollt, ich habe nicht den richtigen Schlüssel gefaßt.«

Zu dieser Art Schlußfolgerung wäre auch Herr von Norpois, der in derselben Schule ausgebildet war wie der Fürst, fähig gewesen. Man kann über die geschraubte Pedanterie, mit der Staatsmänner à la Norpois über ein fast bedeutungsloses offiziell ausgesprochenes Wort in Aufregung geraten, sich lustig machen, aber dies kindische Wesen hat seine Kehrseite. Die Staatsmänner wissen, in der Waage, welche das europäische oder sonstige Gleichgewicht, das man Frieden nennt, sichert, wiegen die edeln Gefühle, schönen Reden, inständigen Bitten wenig; Schwergewicht, Wahrheit, Entscheidung besteht in etwas anderm, nämlich in der Möglichkeit, von dem Gegner im Austausch, wenn er dazu stark genug ist, einen Wunsch erfüllt oder auch nicht erfüllt zu bekommen. Solche Wahrheiten kann ein ganz uneigennütziger Mensch, wie etwa meine Großmutter es war, nie begreifen. Herr von Norpois und der Fürst Pfaffenheim aber hatten oft mit ihnen zu tun. Als Geschäftsträger in Ländern, mit denen wir zwei Schritt vom Kriege waren, immer in Sorge um die Wendung, welche die Ereignisse nehmen würden, wußte Herr von Norpois, nicht durch Worte wie Frieden oder Krieg würde man ihm den Stand der Dinge zu verstehn geben, sondern durch ein anderes, anscheinend banales, fürchterliches oder segensreiches Wort, das weiß der Diplomat mit Hilfe seiner Schlüsselschrift unmittelbar zu enträtseln und antwortet, um Frankreichs Würde zu retten, mit einem andern, genau so banalen Wort, dem der Minister der feindlichen Nation sofort ansieht: Krieg. Und wie man zwei, die miteinander verlobt werden sollen, scheinbar zufällig sich im Theater treffen läßt, so fand nach altem Brauch das Gespräch, in dem das Schicksal das Wort Frieden oder das Wort Krieg vorschreibt, im allgemeinen nicht im Kabinett des Ministers statt, sondern auf einer Bank im »Kurgarten«, in welchen Herr von Norpois und der Minister sich begaben, um Brunnen in kleinen Gläschen zu trinken. In schweigender Übereinkunft trafen sie sich zur Brunnenzeit und gingen ein paar Schritte zusammen auf und ab, und beide Unterredner wußten, diese behaglich aussehende Promenade war tragisch wie ein Mobilmachungsbefehl. Nun hatte der Fürst in seiner Privatangelegenheit, der Kandidatur fürs Institut, dasselbe Folgerungssystem, wie in seiner politischen Laufbahn, dieselbe Methode, Geheimschriften zu lesen, angewandt.

Man kann nicht behaupten, meine Großmutter und die Wenigen, die ihr gleichen, seien die einzigen, die nichts von dieser Art Berechnung wüßten. Etwa die Hälfte der Menschen, die einen vorgezeichneten Beruf ausüben, sind aus Mangel an Eingebung so ahnungslos, wie meine Großmutter es aus Uneigennützigkeit war. Oft muß man bis zu ausgehaltenen Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts hinabsteigen, um die Beweggründe für anscheinend ganz unschuldige Handlungen und Worte im Eigennutz und Lebenskampf suchen zu müssen. Wem eine Frau, die er bezahlen wird, sagt: »Sprechen wir nicht von Geld«, der weiß, das besagt soviel wie, was man in der Musik »einen leeren Takt« nennt, und wenn sie ihm später erklärt: »Du hast mir zuviel Kummer gemacht, du hast mir zu oft die Wahrheit verschwiegen, ich kann nicht mehr«, so muß er übersetzen: »Ein anderer Beschützer bietet ihr mehr«. So redet nicht etwa nur eine Kokotte, die im Benehmen Frauen der Gesellschaft ziemlich nahekommt. Die Apachen liefern noch schlagendere Beispiele. Herr von Norpois und der deutsche Fürst kannten vielleicht keine Apachen, aber sie waren gewohnt, in einer Sphäre mit Nationen zu leben, die bei all ihrer Größe auch nur selbstsüchtige und listige Wesen sind; bändigen kann man sie nur durch Kraft und durch Rücksicht auf ihren Eigennutz, der sie bisweilen bis zum Meuchelmord treibt, und das ist dann oft nur ein symbolischer Meuchelmord; zaudern sie, sich zu schlagen, oder weigern sie sich, so kann das »Untergehn« für ein Volk bedeuten. Davon steht nichts in Gelb- und andersfarbigen Büchern, das Volk ist gern friedensfreundlich; kriegerisch wird es nur triebmäßig aus Haß, aus Rachsucht, nicht aus Gründen, die für Staatsoberhäupter, welche von einem Norpois beraten werden, bestimmend sind. Im nächsten Winter wurde der Fürst sehr krank; er erholte sich, aber sein Herz blieb unheilbar angegriffen.

»Teufel!« sagte er sich, »ich habe keine Zeit zu verlieren; es dauert zu lange mit dem Institut, ich kann sterben, ehe ich ernannt werde. Das wäre wirklich unangenehm.«

Er schrieb über die Politik der letzten zwanzig Jahre eine Untersuchung für die Revue des Deux Mondes und äußerte sich darin wiederholt in den schmeichelhaftesten Wendungen über Herrn von Norpois. Der suchte ihn auf und bedankte sich bei ihm. Er wisse nicht, wie er ihm seine Erkenntlichkeit ausdrücken könne. Wie einer, der den zweiten Schlüssel des Bundes am Schloß versucht hat, sagte der Fürst sich: »Damit gings auch nicht.« Er kam etwas außer Atem, als er Herrn von Norpois hinausbegleitete und dachte: »Sapperlot, die Kerls lassen mich noch krepieren, bevor sie mich aufnehmen. Ich muß mich beeilen.«

Am selben Tag traf er Herrn von Norpois in der Oper. »Mein lieber Botschafter,« begann er, »Sie sagten mir heute früh, Sie wüßten nicht, wie Sie mir Ihre Dankbarkeit beweisen könnten; das ist sehr übertrieben, Sie sind mir keinen Dank schuldig, aber ich werde so unzart sein, Sie beim Wort zu nehmen.«

Herr von Norpois wußte den Takt des Fürsten nicht weniger zu schätzen als der Fürst den seinen. Sofort begriff er, der Fürst Pfaffenheim wolle nicht bitten, sondern anbieten, und mit zuvorkommendem Lächeln schickte er sich zum Hören an.

»Ja, Sie werden mich allzu offenherzig finden. Zwei Damen, denen ich sehr und auf ganz verschiedene Art, wie Sie sogleich verstehn werden, anhänglich bin, haben seit kurzem in Paris sich niedergelassen und gedenken, weiterhin hier zu bleiben, meine Frau und die Großherzogin Johann. Sie werden verschiedene Diners geben, namentlich zu Ehren des Königs und der Königin von England, und träumen davon, ihre Gäste mit einer Dame zusammenzubringen, die sie, ohne sie noch zu kennen, beide sehr bewundern. Ich muß gestehn, ich wußte nicht, wie ich diesen Wunsch erfüllen könnte; da habe ich eben durch den größten Zufall erfahren, daß Sie die Betreffende kennen; ich weiß, sie lebt sehr zurückgezogen, sieht wenig Leute bei sich, happy few; aber wenn Sie mir mit Ihrem oft bewiesenen Wohlwollen beistehn, bin ich sicher, sie wird gestatten, daß Sie mich ihr vorstellen und ich ihr den Wunsch der Großherzogin und der Fürstin übermittle. Vielleicht ist sie geneigt, zusammen mit der Königin von England bei uns zu speisen, und, wer weiß, wenn wir ihr nicht zu langweilig sind, die Pfingsttage mit uns in Beaulieu bei der Großherzogin Johann zu verbringen. Die Dame, die ich meine, ist die Marquise von Villeparisis. Ich gestehe Ihnen, die Hoffnung, ein häufigerer Gast eines solchen »Bureau d'esprit« zu werden, würde mich trösten und mir dazu verhelfen, ohne Bedauern auf meine Kandidatur am Institut zu verzichten. Ideenaustausch und erlesenes Gespräch gibt es auch bei ihr.«

Mit unaussprechlichem Vergnügen fühlte der Fürst, das Schloß gab nach, dieser Schlüssel paßte.

»Ein solches Entweder-Oder ist gar nicht nötig, mein lieber Fürst,« antwortete Herr von Norpois, »nichts harmoniert mehr mit dem Institut als der Salon, von dem Sie sprechen, er ist eine wahre Pflanzstätte für Akademiker. Ich werde Ihr Begehren der Frau Marquise von Villeparisis übermitteln, es wird ihr sicher sehr schmeichelhaft sein. Mit dem Diner bei Ihnen ist es vielleicht schwieriger, sie geht sehr wenig aus. Aber ich werde Sie ihr vorstellen, und Sie werden selbst Ihre Sache führen. Vor allem müssen Sie nicht auf die Akademie verzichten, genau morgen in vierzehn Tagen frühstücke ich bei Leroy-Beaulieu, um dann mit ihm zu einer wichtigen Sitzung zu gehn; ohne ihn ist keine Wahl zu machen; ich habe schon Ihren Namen vor ihm fallen lassen; Sie sind ihm natürlich wohlbekannt. Er hat einige Bedenken vorgebracht. Nun hat er aber gerade die Unterstützung meiner Gruppe für die nächste Wahl nötig, und so will ich denn noch einmal zum Angriff übergehn und ihm ganz offen sagen, welch herzliche Beziehungen uns beide vereinen, will ihm auch nicht verhehlen, daß ich, wenn Sie sich bewerben, alle meine Freunde bitten werde, für Sie zu stimmen (der Fürst atmete erleichtert auf), und daß ich Freunde habe, weiß er ja. Gelingt es mir, mich seines Beistands zu versichern, werden, meines Erachtens, Ihre Aussichten beachtlich werden. Kommen Sie also morgen in vierzehn Tagen zu Frau von Villeparisis, ich werde Sie einführen und kann Ihnen dann über meine Unterredung mit Leroy-Beaulieu berichten.«

So kam der Besuch des Fürsten Pfaffenheim bei Frau von Villeparisis zustande. Als er sprach, war ich tief enttäuscht. Wie die besondern und allgemeinen Züge einer Epoche die eines Volkscharakters überwiegen (in einem illustrierten Nachschlagebuch, wo sich sogar ein verbürgtes Porträt Minervas findet, unterscheidet sich Leibniz mit seiner Perücke und Halskrause kaum von Marivaux oder Samuel Bernard), so sind die besondern Züge eines Volkscharakters stärker als die einer Kaste. Daran hatte ich nicht gedacht. Und so offenbarten sich mir diese Züge nicht in Worten, durch die Elfen streiften und Kobolde tanzten, wie ich es erwartet hatte, sondern in einer Transposition, die nicht minder diesen poetischen Ursprung bezeugte: Klein, rot und schmerbauchig verneigte sich der Rheingraf vor Frau von Villeparisis und sagte mit der Aussprache eines elsässischen Pförtners: »Ponchour, Madame la marquise.«

»Darf ich Ihnen nicht eine Tasse Tee geben oder ein Stück Torte? Die ist sehr gut«, sagte Frau von Guermantes zu mir, sie wünschte, so liebenswürdig wie möglich zu sein. »Ich mache hier im Hause die Honneurs, als wäre es mein eignes«, fügte sie spöttisch hinzu, und ihre Stimme bekam Kehllaute, als unterdrücke sie ein heiseres Lachen.

»Sie werden doch daran denken,« wandte sich Frau von Villeparisis an Herrn von Norpois, »daß Sie dem Fürsten etwas in bezug auf die Akademie zu sagen haben?«

Frau von Guermantes senkte die Augen und beschrieb mit dem Handgelenk einen Viertelskreis, um auf die Uhr zu sehn.

»Mein Gott, es wird Zeit, daß ich mich von meiner Tante verabschiede, ich muß ja noch bei Frau von Saint-Ferréol vorsprechen, und ich esse bei Frau Leroi.«

Und sie erhob sich, ohne sich von mir zu verabschieden. Sie hatte Frau Swann bemerkt, welche etwas verlegen schien, mich hier anzutreffen. Sie erinnerte sich wohl, daß ich der erste war, dem sie gesagt hatte, sie sei von Dreyfus' Unschuld überzeugt.

»Ich will nicht, daß meine Mutter mich Frau Swann vorstellt«, sagte Saint-Loup zu mir. »Das ist eine ehemalige Hure. Ihr Mann ist Jude, und sie macht vor uns in Nationalismus. – Da ist ja mein Onkel Palamède.«

Frau Swanns Gegenwart hatte für mich ein besonderes Interesse dank einem Vorfall, welcher sich, ein paar Tage vorher zugetragen hatte; er muß hier berichtet werden wegen der Ergebnisse, die er viel später zeitigen sollte und die man im gegebenen Augenblick in ihren Einzelheiten verfolgen wird. Einige Tage, bevor ich diesen Besuch machte, hatte ich einen ganz unerwarteten bekommen, und zwar von Charles Morel, dem mir unbekannten Sohne des früheren Kammerdieners meines Onkels. Dieser Onkel (der, bei dem ich die Dame in Rosa gesehn) wer im vergangenen Jahre gestorben. Sein Kammerdiener hatte wiederholt die Absicht bekundet, mich zu besuchen; zu welchem Zweck, das wußte ich nicht, aber ich hätte ihn gern gesehn, denn ich wußte von Françoise, er treibe einen wahren Kultus mit dem Gedächtnis meines Onkels und pilgere bei jeder Gelegenheit auf den Kirchhof. Dann mußte er aber in seine Heimat reisen, um sich zu pflegen, und da er damit rechnete, dort lange zu bleiben, sandte er mir seinen Sohn. Zu meiner Überraschung trat ein hübscher Bursche von achtzehn Jahren bei mir ein, mehr reich als geschmackvoll gekleidet, nach allem andern eher als einem Kammerdiener aussehend. Um übrigens gleich von vornherein den Kabel, welcher ihn mit dem Bedientenstand verknüpfte, zu durchschneiden, teilte er mir mit zufriedenem Lächeln mit, er sei Stipendiat am Konservatorium. Der Zweck seines Besuches war: sein Vater hatte von den Andenken meines Onkels Adolphe einige beiseite gelegt, die er aus Schicklichkeitsgründen nicht meinen Eltern senden wollte, während sie einen jungen Mann in meinem Alter interessieren könnten. Es waren Photographien berühmter Schauspielerinnen und großer Kokotten, die mein Onkel gekannt hatte, letzte Bilder seines galanten Lebens, das der alte Herr durch eine dichte Scheidewand von seinem Familienleben getrennt hatte. Während der junge Morel sie mir zeigte, fiel mir auf, daß er zu mir absichtlich wie zu seinesgleichen sprach. Möglichst oft »Sie« und möglichst selten »Monsieur« zu sagen, machte ihm wohl um so mehr Freude, als sein Vater zu meinen Verwandten immer in der dritten Person gesprochen hatte. Fast alle Photographien trugen eine Widmung wie: »Meinem besten Freund«. Eine weniger dankbare und boshaftere Schauspielerin hatte geschrieben: »Dem besten der Freunde« – das gab ihr, wie man mir versichert hat, die Möglichkeit zu sagen, mein Onkel sei bei weitem nicht ihr bester Freund gewesen, sondern der, welcher ihr die meisten kleinen Dienste geleistet habe, der Freund, dessen sie sich bediente, ein vortrefflicher Mann, beinahe schon ein alter Trottel. So sehr der junge Morel sich bemühte, von seiner Herkunft loszukommen, man fühlte, der Schatten meines Onkels Adolphe, welcher in den Augen des alten Kammerdieners ehrwürdige, übergroße Maße angenommen hatte, schwebte auch noch fast heilig über Kindheit und Jugend des Sohnes. Während ich die Photographien betrachtete, sah Charles Morel sich in meinem Zimmer um. Und als ich nach einem Platz für sie suchte, sagte er (und brauchte dabei den Vorwurf nicht in den Ton zu legen, er lag schon deutlich genug in den Worten): »Wie kommt es, daß ich nicht ein einziges Bild Ihres Onkels in Ihrem Zimmer sehe?« Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg und stotterte: »Ich glaube, ich habe keins.«

»Wie, Sie haben keine einzige Photographie Ihres Onkels Adolphe, der Sie so lieb hatte! Ich werde Ihnen eine schicken von den vielen, die mein alter Herr hat, ich hoffe, Sie werden ihr den Ehrenplatz geben hier über der Kommode, die Sie ja auch von Ihrem Onkel haben.« Da ich nicht einmal von meinem Vater noch von meiner Mutter eine Photographie in meinem Zimmer hatte, war es eigentlich nicht so schlimm, daß auch von meinem Onkel Adolphe keine da war. Aber, wie sich erraten läßt, war für Morel – und diese Anschauung hatte er seinem Sohne eingeprägt – mein Onkel die bedeutende Persönlichkeit in der Familie, von der auf meine Eltern nur ein Abglanz fiel. Ich selbst stand in höherer Gunst, weil mein Onkel immer wieder von mir sagte, ich sei eine Art Racine oder Vaulabelle, und Morel mich nahezu als einen Adoptivsohn betrachtete, welchen mein Onkel sich erwählt hatte. Es wurde mir bald deutlich, daß Morels Sohn ein richtiger »Streber« war. Er fragte mich gleich bei diesem ersten Zusammensein, ob ich nicht einen Dichter kenne, der bei den »Aristos« in Ansehn stehe, er komponiere nämlich auch ein bißchen und sei imstande, ein paar Verse in Musik zu setzen. Ich nannte ihm einen Namen. Er kannte die Werke dieses Dichters nicht, hatte nie seinen Namen – den er sich gleich aufschrieb – gehört. Wie ich erfahren habe, hat er bald danach an diesen Dichter geschrieben, er sei ein fanatischer Bewunderer seiner Werke, habe ein Sonett von ihm in Musik gesetzt und würde sich glücklich schätzen, wenn der Verfasser des Textes dies Lied bei der Gräfin *** vortragen ließe. Das war etwas voreilig und entlarvte seinen Plan. Der Dichter fühlte sich beleidigt und antwortete nicht.

Nebenbei bemerkt, schien Charles Morel neben dem Ehrgeiz auch eine lebhafte Neigung zur greifbareren Wirklichkeit zu besitzen. Er hatte im Hof Jupiens Nichte bemerkt, die an einer Weste arbeitete. Er sagte, er brauche gerade eine »Phantasie«weste, und daran merkte ich, das junge Mädchen habe einen lebhaften Eindruck auf ihn gemacht. Er genierte sich nicht, mich zu bitten, ich möchte ihn hinunterbegleiten und vorstellen, »aber nicht in meiner Beziehung zu Ihrer Familie, Sie verstehn; was meinen Vater betrifft, rechne ich auf Ihre Verschwiegenheit. Sagen Sie nur, einer Ihrer Freunde, ein großer Künstler, Sie wissen ja, auf Handelsleute muß man Eindruck machen.« Er legte mir nah, da ich – das verstehe er – bei unserer kurzen Bekanntschaft nicht »lieber Freund« zu ihm sagen könne, vielleicht auch vor dem jungen Mädchen ihn nicht gerade »Lieber Meister – obwohl eigentlich –, so doch, wenn Sie Lust haben, Lieber großer Künstler« zu nennen; aber ich vermied im Laden, ihn zu »qualifizieren« wie Saint-Simon gesagt hätte, und begnügte mich, auf sein »Sie« mit »Sie« zu erwidern. Unter etlichen Samtstücken verfiel er auf eins von lebhaftestem schreiendem Rot; die Weste, die er sich daraus machen ließ, konnte er später trotz seines schlechten Geschmacks nie tragen. Das junge Mädchen machte sich mit den beiden »Lehrmädchen« wieder an ihre Arbeit, aber offenbar war der Eindruck gegenseitig gewesen, und Morel, den sie für ihresgleichen (nur eleganter und reicher) hielt, gefiel ihr außerordentlich. Zu meiner großen Verwunderung hatte ich unter den Photographien, die mir Morels Vater schickte, ein Porträt der Miß Sacripant (das heißt: Odette) von Elstir gefunden, und als ich Charles Morel nun bis ans Haustor begleitete, sagte ich zu ihm: »Ich fürchte, Sie werden mir da nicht Bescheid sagen können. Kannte mein Onkel diese Dame gut? Ich weiß nicht, in welche Epoche seines Lebens ich sie einordnen soll; und das interessiert mich wegen Herrn Swann...« – »Ach, gerade das hab ich vergessen, mein Vater empfahl mir, auf diese Dame Sie hinzuweisen. Am letzten Tag, an dem Sie Ihren Onkel gesehn haben, frühstückte diese Halbweltdame bei ihm. Mein Vater wußte nicht recht, ob er Sie einlassen solle. Sie scheinen dieser leichtfertigen Frau sehr gefallen zu haben, sie hoffte, Sie wiederzusehn. Aber gerade in diesem Moment gab es, nach dem, was mir mein Vater gesagt hat, Zank in der Familie, und Sie haben Ihren Onkel nie wiedergesehn.« Dabei lächelte er noch einmal von weitem zum Abschied Jupiens Nichte zu. Sie sah ihm nach: gewiß bewunderte sie sein mageres, regelmäßiges Gesicht, das weiche Haar und die muntern Augen. Als ich ihm die Hand gab, dachte ich an Frau Swann: Seltsam. Beide Frauen waren soweit und so verschieden voneinander, aber von nun an mußte ich wohl Frau Swann mit der »Dame in Rosa« identifizieren.

 

Es dauerte nicht lange, so saß Herr von Charlus neben Frau Swann. Zu Männern herablassend und von den Frauen umschmeichelt, verstand er in jeder Gesellschaft, die er besuchte, schnell mit der elegantesten sich zusammenzutun; von ihrer Kleidung fühlte er sich mit geschmückt. In seinem Gehrock oder Frack glich dann der Baron den Bildern, auf denen große Koloristen neben einem Mann in Schwarz einen hellfarbigen Mantel über einen Stuhl fallen lassen, den er zu einem Maskenball anlegen wird. Durch solch ein Nebeneinander – meistens mit irgendeiner Hoheit – verschaffte sich Herr von Charlus auffallende Vornehmheit, wie er sie liebte. Daraus ergab es sich, zum Beispiel, daß bei einem Fest die Herrin des Hauses Herrn von Charlus an der Spitze der Tafel Platz nehmen ließ, umgeben von Damen, während die andern Männer sich unten drängten. Auch sah es dann aus, als sei er ganz davon in Anspruch genommen, seiner entzückten Nachbarin mit lauter Stimme ergötzliche Geschichten zu erzählen, und das enthob ihn der Pflicht, den andern Guten Tag zu sagen, und überhaupt jeder Ehrenbezeugung. Hinter der parfümierten Schranke, welche ihm die erwählte Schönheit errichtete, war er mitten in einem Salon so abgeschlossen, als säße er in einer Loge mitten im Theatersaal, und begrüßte man ihn, sozusagen, durch die Schönheit seiner Gefährtin hindurch, so war es zu entschuldigen, daß er nur kurz, ohne sein Gespräch mit der Dame zu unterbrechen, Bescheid tat. Gewiß besaß Frau Swann nicht den Rang der Frauen, mit denen er sich so zur Schau zu stellen liebte. Aber er betonte gern seine Bewunderung für sie und seine Freundschaft zu Swann, wußte, daß sein Eifer ihr schmeicheln werde, und ihm selbst schmeichelte es, mit der hübschesten Frau, die zugegen war, sich zu kompromittieren.

Frau von Villeparisis war übrigens nur halb zufrieden, daß Herr von Charlus sie besuchte. Er seinerseits hatte viel an seiner Tante auszusetzen, liebte sie aber sehr. Allein von Zeit zu Zeit bildete er sich ein, sie habe ihm Unrecht getan, verfiel in plötzlichen Zorn und schrieb hemmungslos heftige Briefe an sie, in denen er ihr mit Kleinigkeiten kam, die er bis dahin nicht bemerkt zu haben schien. Ein Beispiel dafür kann ich berichten, mit dem mich mein Aufenthalt in Balbec vertraut machte. Frau von Villeparisis war in Sorge gewesen, nicht genug Geld mitgenommen zu haben, um noch länger in Balbec zu bleiben, und da sie aus Geiz und Furcht vor überflüssigen Ausgaben nicht gern Geld aus Paris sich kommen lassen wollte, hatte sie von Herrn von Charlus dreitausend Franken geborgt. Einen Monat später ärgerte er sich aus unbedeutendem Anlaß über seine Tante und verlangte telegraphische Überweisung des Geldes. Er erhielt zweitausendneunhundertneunzig und einige Franken. Ein paar Tage später sah er seine Tante in Paris und erwähnte mitten in freundschaftlichem Gespräch ganz sanft den Irrtum, welchen die mit der Sendung beauftragte Bank begangen habe. »Aber da liegt kein Irrtum vor,« antwortete Frau von Villeparisis, »die telegraphische Postanweisung kostet sechs Frank fünfundsiebzig.« »Ach so! Es geschah absichtlich, dann ist es in Ordnung«, erwiderte Herr von Charlus. »Ich hatte es Ihnen nur für den Fall, daß Sie nichts davon wüßten, gesagt, denn in diesem Falle könnten Sie, wenn die Bank Leuten gegenüber, die Ihnen weniger nahe stehn als ich, ebenso vorgeht, Verdruß haben.« – »Nein, nein, es liegt kein Irrtum vor.« –»Im Grunde haben Sie vollkommen recht gehabt«, schloß Herr von Charlus heiter und küßte seiner Tante zärtlich die Hand. Er war ihr auch durchaus nicht böse und fand die kleine Knauserei nur komisch. Aber einige Zeit danach glaubte er, seine Tante wolle ihn in einer Familienangelegenheit hintergehn und »eine ganze Verschwörung gegen ihn anstiften«, und als sie sich ziemlich ungeschickt hinter Geschäftsleuten – und gerade denen, die er mit ihr gegen sich im Bunde argwöhnte – verschanzte, hatte er ihr einen Brief geschrieben, der von Wut und Unverschämtheit überfloß. »Nicht genug damit, daß ich mich rächen werde,« fügte er in der Nachschrift hinzu, »ich werde Sie lächerlich machen. Von morgen ab erzähle ich aller Welt die Geschichte von der telegraphischen Postanweisung und den sechs Frank fünfundsiebzig, die Sie von den mir entliehenen dreitausend Franken mir vorenthalten haben, entehren werde ich Sie.« Statt dessen ging er am nächsten Tage zu seiner Tante Villeparisis, bat sie um Verzeihung und bedauerte, einen Brief geschrieben zu haben, in dem wahrhaft abscheuliche Sachen standen. Wem sollte er jetzt übrigens noch die Geschichte von der telegraphischen Postanweisung erzählen? Jetzt, da er keine Rache, sondern aufrichtige Versöhnung wollte, hätte er die Geschichte von der Postanweisung gewiß verschwiegen. Vorher aber hatte er, obwohl er sehr gut mit seiner Tante stand, sie überall erzählt, und zwar ganz ohne Bosheit, nur zum Lachen, und weil er die Indiskretion selber war. Aber Frau von Villeparisis hatte nichts von seinen Erzählungen erfahren. Als sie nun seinem Briefe entnahm, er gedenke sie zu entehren, indem er eine Handlungsweise von ihr verbreite, die nach seiner eignen Erklärung völlig berechtigt gewesen war, kam ihr der Gedanke, er habe sie damals betrogen und lüge, wenn er so tue, als liebe er sie. Beide hatten sich wieder beruhigt, aber keiner von beiden wußte genau, was der andere sich von ihm denke. Hier liegt sicher ein etwas eigentümlicher Fall von intermittierendem Zwist vor. Anderer Art waren Zwistigkeiten zwischen Bloch und seinen Freunden. Wieder anders die des Herrn von Charlus mit Personen, die, wie man sehn wird, von Frau von Villeparisis sehr verschieden waren. Trotzdem muß man bedenken, die Meinung, welche wir voneinander haben, unsere Freundschafts- und Familienbeziehungen stehn nur scheinbar fest, bleiben in ewiger Bewegung wie das Meer. Daher gibt es soviel Gerüchte von Scheidung zwischen Gatten, die vollkommen einträchtig schienen und bald nachher einer vom andern liebevoll sprechen, daher sagt ein Freund über den andern schändliche Dinge – wir hielten sie für unzertrennlich und werden, ehe wir uns von unserer Überraschung noch erholen konnten, sie wieder versöhnt finden –, daher zerfallen in so kurzer Zeit Bündnisse zwischen Völkern.

»Mein Gott, sieh dir bloß an, wie mein Onkel und Frau Swann warm miteinander werden«, sagte Saint-Loup zu mir. »Und Mama kommt in ihrer Unschuld dazwischen. Dem Reinen ist alles rein.«

Ich betrachtete Herrn von Charlus. Das Büschel seiner grauen Haare, das lächelnde Auge, dessen Braue das Monokel hob, die rote Blume im Knopfloch bildeten die beweglichen Winkel eines deutlichen, zuckend bewegten Dreiecks. Ich hatte nicht gewagt, ihn zu begrüßen, denn er hatte mir kein Zeichen gegeben. Obwohl er nicht nach meiner Seite gewandt saß, war ich doch überzeugt, er habe mich gesehn. Während er Frau Swann, deren herrlicher, violettbrauner Mantel bis über sein Knie glitt, Geschichten erzählte, irrten seine Augen wie die eines Straßenverkäufers ohne Erlaubnisschein, der das Auftauchen der »Polypen« fürchtet, umher und hatten sicher alle Winkel und Ecken des Salons durchforscht und alle Personen entdeckt, die zugegen waren. Herr von Châtellerault kam, ihm Guten Tag zu sagen, und nicht eher verriet ein Zug im Gesicht des Herrn von Charlus, er habe den jungen Herzog bemerkt, als bis dieser dicht vor ihm stand. Immer, wenn Herr von Charlus wie hier in größerer Gesellschaft war, setzte er dies Dauerlächeln ohne bestimmte Richtung und besonderes Ziel auf, es war immer schon früher vorhanden als die Grüße der Ankommenden, und wenn diese in seine Zone gerieten, so hatte es nichts Liebenswürdiges für sie. Allein, ich mußte doch Frau Swann Guten Tag sagen. Da sie aber nicht wußte, ob ich Frau von Marsantes und Herrn von Charlus kenne, so war sie ziemlich kühl, sie fürchtete gewiß, ich werde sie bitten, mich vorzustellen. Ich ging also auf Herrn von Charlus zu, und gleich tat es mir leid, denn obwohl er mich sehr gut sehn mußte, ließ er sich nichts davon anmerken. Als ich mich vor ihm verbeugte, begegnete mir entfernt von seinem Körper, von dem er mit ganzer Länge seines ausgestreckten Armes mich abhielt, ein Finger, der – man hätte meinen sollen – seines Bischofringes beraubt war, dessen geweihte Stätte der Baron zum Kusse darbot; es mußte aussehn, als habe ich ohne Wissen des Herrn von Charlus einen Einbruch begangen, für den er mir auf Lebenszeit die Verantwortung zuschob, und sei in die Streuzone seines anonymen leerstehenden Lächelns vorgedrungen. Seine Kälte konnte Frau Swann nicht gerade sehr ermutigen, die ihre aufzugeben.

»Wie abgespannt und nervös du aussiehst«, sagte Frau von Marsantes zu ihrem Sohn, welcher herzugetreten war, um Herrn von Charlus Guten Tag zu sagen.

Und in der Tat schienen Roberts Blicke von Zeit zu Zeit in eine Tiefe zu dringen, die sie dann sogleich wieder ließen, wie ein Taucher, welcher den Grund berührt hat. Dieser Grund, dessen Berührung Robert so schmerzte, daß er ihn gleich verließ, um einen Augenblick später wieder zu ihm zurückzukehren, war der Gedanke, daß er mit seiner Geliebten gebrochen habe.

»Das macht nichts,« fuhr seine Mutter fort und streichelte ihm die Wange, »das macht nichts, es tut gut, seinen kleinen Burschen zu sehn.«

Doch diese Zärtlichkeit schien Robert nur zu reizen, und so zog Frau von Marsantes ihren Sohn in den Hintergrund des Salons, wo vor runder, gelbseiden bespannter Wand ein paar Beauvaissessel ihre veilchenblauen Stickereien zusammendrängten, daß sie sich wie purpurne Schwertlilien in ein Feld von Butterblumen mischten. Jetzt war Frau Swann allein, und da sie bemerkt hatte, ich sei mit Saint-Loup bekannt, winkte sie mich zu sich heran. Ich hatte sie lange nicht gesehn und wußte nicht, was ich ihr sagen sollte. Meinen Hut verlor ich unter all denen, die auf dem Teppich standen, nicht aus dem Auge, aber neugierig war ich, wem ein Hut gehören könne, der im Futter ein G unter einer Grafenkrone hatte, aber nicht der des Herzogs von Guermantes war. Ich wußte doch die Namen aller Gäste, keiner, dem dieser Hut gehören konnte, war darunter.

»Wie sympathisch Herr von Norpois ist«, sagte ich zu Frau Swann und wies auf ihn. »Robert von Saint-Loup hat mir zwar gesagt, er sei ein Greuel, aber ...«

»Er hat recht«, antwortete Frau Swann.

Ich sah ihr an, sie dachte dabei an etwas, das sie mir verschwieg, und begann mit Fragen ihr zuzusetzen. Sie nahm mich in eine Ecke: gern wollte sie von irgendjemand mit Beschlag belegt erscheinen, in einem Salon, wo sie fast niemanden kannte.

»Ich glaube sicher zu wissen, was Herr von Saint-Loup Ihnen hat sagen wollen, aber sagen Sie es ihm nicht wieder, er würde mich schwatzhaft finden, und ich halte sehr auf seine Achtung, ich bin ein »Ehrenmann«, müssen Sie wissen. Letzthin hat Charlus bei der Prinzessin Guermantes gespeist; wie das Gespräch auf Sie gekommen ist, weiß ich nicht. Da soll Herr von Norpois zu ihnen gesagt haben – es ist albern, machen Sie sich keine Gedanken darüber, niemand hat es ernst genommen, man wußte ja, aus welchem Mund es kam – Sie seien ein halb hysterischer Schmeichler.«

Schon früher hatte ich erzählt, wie sehr es mich verblüffte, daß ein Freund meines Vaters wie Herr von Norpois in solchen Ausdrücken von mir sprechen konnte. Jetzt verblüffte es mich noch viel mehr, daß meine Erregung damals an jenem weit zurückliegenden Tage, als ich von Frau Swann und Gilberte sprach, der Fürstin Guermantes bekannt sei, von der ich glaubte, daß sie mich gar nicht kenne. Jede unserer Handlungen und Gebärden und jedes unserer Worte ist von der »Welt«, von den Leuten, die sie nicht unmittelbar wahrgenommen haben, durch eine Sphäre getrennt, deren Durchdringlichkeit unendlich wechselt und uns unbekannt bleibt; wir machen die Erfahrung, daß eine wichtige Äußerung, die wir sehr gern verbreitet gesehn hätten (wie etwa meine begeisterten Worte über Frau Swann, die ich jeden bei jeder Gelegenheit hören ließ, hoffend, von soviel ausgestreutem Samen würde doch ein Korn aufgehn), öfter gerade wegen unseres heftigen Dranges sofort ins Nichts versinkt, wie sollten wir also darauf kommen, ein winziges Wörtchen, das wir selbst schon vergessen, ja gar nicht ausgesprochen haben, das nur ein ungenaues Echo eines ganz andern Wortes ist, könne in ununterbrochenem Marsch auf weite Entfernungen verpflanzt werden – in meinem Fall bis zur Fürstin Guermantes –, um auf unsere Unkosten das Ergötzen der Götter bei ihrem Schmause zu bilden. Was wir von unserm Benehmen behalten heben, davon weiß unser nächster Nachbar nichts mehr; Worte, die wir selbst vergessen, ja vielleicht nie ausgesprochen haben, werden am Ende noch Heiterkeit auf einem andern Planeten erwecken; das Bild, das die andern von unserm Tun und Treiben sich machen, ist dem, was wir uns selbst machen, so ungleich wie einer Zeichnung ein mißlungener Durchschlag, auf dem bald dem schwarzen Strich eine leere Fläche, bald dem hellen Fleck ein Umriß entspricht, den man nicht versteht. Dabei ist vielleicht, was nicht übertragen zu sein scheint, ein unwirklicher Zug, den wir aus Selbstgefälligkeit sehn, und es eignet uns gerade das, was wir für hinzugetan halten, ist aber so wesentlich, daß es unserm Bewußtsein entgeht. Der Probeabzug, der uns so unähnlich scheint, hat bisweilen die nicht gerade schmeichelhafte, aber tiefe und nützliche Wahrheit einer Röntgenphotographie. Darin brauchen wir deshalb uns durchaus nicht wiederzuerkennen. Wenn man einem, der gewohnt ist, seinem schönen Gesicht und seiner schönen Gestalt im Spiegel zuzulächeln, deren Röntgenaufnahme zeigen würde, er hätte vor dem knochigen Gestell, das ihn bedeuten soll, denselben Verdacht, hier liege ein Irrtum vor, wie jener Ausstellungsbesucher, der vor dem Bildnis einer jungen Frau im Katalog liest: »Lagerndes Dromedar«. Später sollte ich den Abstand zwischen dem Bild, das wir selbst von uns zeichnen, und dem, das andere von uns haben, bei andern Leuten erkennen, die glückselig inmitten einer Sammlung Photographien lebten, die sie selbst von sich gemacht hatten, während ringsum scheußliche Abbilder ihnen selbst meistens unsichtbar grinsten, vor denen sie erstarrten, wenn ein Zufall sie ihnen zeigte, ihnen sagte: »Das bist du.« Vor einigen Jahren wäre ich glücklich gewesen, Frau Swann sagen zu können, mit welchem Hintergedanken ich zu Herrn von Norpois so liebevoll gewesen war, denn dieser Hintergedanke war der Wunsch gewesen, sie kennen zu lernen. Aber damit war es vorbei, ich liebte ihre Tochter Gilberte nicht mehr. Anderseits gelang es mir nicht, Frau Swann mit der Dame in Rosa aus meiner Kindheit zu identifizieren. So sprach ich denn von der Frau, die mich in diesem Augenblick beschäftigte.

»Haben Sie vorhin die Herzogin von Guermantes gesehn«, fragte ich Frau Swann.

Da aber die Herzogin Frau Swann nicht zu grüßen pflegte, wollte diese so tun, als sei für sie Frau von Guermantes eine uninteressante Person, deren Gegenwart einem gar nicht auffällt.

»Ich weiß nicht, habe nicht realisiert«, antwortete sie mürrisch mit einem aus dem Englischen übernommenen Ausdruck.

Und ich hätte doch gern nicht nur über Frau von Guermantes selbst, sondern auch über alle Wesen, die ihr nahe standen, Auskunft bekommen. Ganz wie Bloch, taktlos wie eben Leute, die in der Unterhaltung nicht dem andern zu gefallen, sondern selbstsüchtig Punkte, die sie interessieren, aufzuklären suchen, wandte ich mich, um mir das Leben der Frau von Guermantes genau vorstellen zu können, an Frau von Villeparisis mit einer Frage über Frau Leroi.

»Ja, ich weiß,« antwortete diese mit gekünstelter Herablassung, die Tochter dieses protzigen Holzhändlers. »Ich weiß, sie empfängt jetzt, aber ich muß Ihnen sagen, ich bin zu alt, um neue Bekanntschaften zu machen. Ich habe so interessante und liebenswürdige Leute gekannt, ich glaube, Frau Leroi hätte mir wirklich nichts Neues zu geben.«

Frau von Marsantes übernahm für die Marquise die Hausfrauenpflichten; sie stellte mich dem Fürsten vor, und ehe sie noch damit fertig war, stellte Herr von Norpois mich auch seinerseits mit den wärmsten Empfehlungen vor. Vielleicht kam es ihm gelegen, höflich zu mir zu sein, ohne dabei seinen Kredit zu beeinträchtigen, da ich ja gerade schon vorgestellt worden war, vielleicht meinte er, ein Ausländer wisse, wenn er auch noch so bekannt sei, nicht genau in französischen Salons Bescheid, und könne meinen, ich sei ein junger Mann aus den vornehmen Kreisen; vielleicht wollte er nur eins seiner Vorrechte als Botschafter ausüben und diese Vorstellung durch seine Empfehlung gewichtiger machen; es mochte aber auch sein Geschmack am Altertümlichen mitspielen, und er ließ den alten, für die Hoheit schmeichelhaften Brauch zu Ehren des Fürsten wiederaufleben, daß zwei »Paten« notwendig seien, um ihm vorgestellt zu werden.

Frau von Villeparisis interpellierte Herrn von Norpois über Frau Leroi, da sie das Bedürfnis fühlte, mir von ihm erklären zu lassen, sie habe es nicht zu bedauern, daß sie diese nicht kenne.

»Nicht wahr, Herr Botschafter, Frau Leroi ist keine interessante Persönlichkeit und steht nicht auf der Höhe derer, die hier verkehren, ich hatte Recht, sie nicht heranzuziehen.«

Ob er nun sein unabhängiges Urteil wahren wollte oder einfach müde war, Herr von Norpois erwiderte nur mit einer achtungsvollen Verbeugung, die weiter nichts besagte.

»Es gibt doch recht komische Leute«, sagte Frau von Villeparisis lachend. »Wollen Sie mirs glauben: heute besuchte mich ein Herr, der mir einreden wollte, es mache ihm mehr Vergnügen, meine Hand zu küssen als die einer jungen Frau.«

Ich begriff gleich, es handele sich um Herrn Legrandin. Herr von Norpois lächelte und zwinkerte ein wenig mit den Augen, als fände er diese Lüsternheit ganz natürlich und dem Betreffenden nicht zu verdenken, fast als sei er bereit, diesen Anfang eines Romans zu verzeihen oder gar mit der widernatürlichen Nachsicht eines Voisenon oder Crébillon des Jüngern zu ermutigen.

»So manche junge Frauenhand wäre außerstande zu machen, was ich da gesehn habe«, sagte der Fürst und zeigte auf Frau von Villeparisis' angefangene Aquarelle.

Und er fragte sie, ob sie die Blumen von Fantin-Latour in der letzten Ausstellung gesehn habe.

»Sie sind ersten Ranges, ein schönes Stück Malerei von einem Meister der Palette, wie sie heute sagen,« erklärte Herr von Norpois, »allein, sie können meines Erachtens den Vergleich mit denen von Frau von Villeparisis nicht aushalten; bei denen hier erkenne ich das Kolorit der Blume deutlicher.«

Zugegeben, diese Worte wurden dem früheren Botschafter von der Parteilichkeit eines alten Liebhabers, der Gewohnheit zu schmeicheln, dem Vorurteil eines kleinen Freundeskreises diktiert, sie bewiesen doch, auf welch einem Mangel an wahrem Geschmack das künstlerische Urteil der guten Gesellschaft beruht, wie willkürlich es sich von einem Nichts zu den schlimmsten Verschrobenheiten treiben und dabei von keinem wirklich empfundenen Eindruck auf diesem Wege sich hemmen läßt.

»Es ist kein Verdienst, wenn ich die Blumen kenne, ich habe immer in Wiesen und Feldern gelebt«, antwortete bescheiden Frau von Villeparisis. »Aber«, wandte sie sich anmutig an den Fürsten, »wenn ich schon in frühster Jugend etwas ernstere botanische Kenntnisse gehabt habe als andere Kinder vom Lande, verdanke ich das einem hervorragenden Landsmann von Ihnen, Herrn von Schlegel. Ich begegnete ihm in Broglie, wohin mich meine Tante Cordelia (Marschallin von Castellane) mitgenommen hatte. Wie ich mich noch sehr genau erinnere, brachten ihn Herr Lebrun, Herr von Salvandy und Herr Doudan auf Blumen zu sprechen. Ich war ein ganz kleines Mädchen und konnte nicht recht verstehn. was er sagte. Aber er spielte gern mit mir, und als er in Ihre Heimat zurückgekehrt war, schickte er mir ein schönes Herbarium zur Erinnerung an eine Spazierfahrt im Phaethon nach dem Val Richer, bei der ich auf seinen Knien eingeschlafen war. Dies Herbarium habe ich immer aufgehoben und daraus vieles, was sonderbar an Blumen ist, gelernt und was mir sonst nicht aufgefallen wäre. Als Frau von Barante einige Briefe der Frau von Broglie veröffentlicht hat – sie waren schön und etwas affektiert wie sie selbst –, hoffte ich, darin etwas über die Unterhaltungen mit Herrn von Schlegel zu finden. Aber sie war eine Frau, welche in der Natur nur Beweisgründe für die Religion suchte.«

Robert rief mich in den Hintergrund des Salons, wo er mit seiner Mutter war.

»Du warst so nett mit mir,« sagte ich zu ihm, »wie soll ich dir danken? Können wir morgen Abend zusammen essen?«

»Ja, wenn du willst, aber dann mit Bloch; ich bin ihm vor der Tür begegnet; erst war er einen Augenblick kühl, weil ich, unabsichtlich, zwei Briefe von ihm unbeantwortet gelassen hatte (er hat mir nicht etwa gesagt, das sei der Grund seiner Verstimmung, aber ich habe es gemerkt), dann aber wurde er so liebevoll, daß ich mich gegen einen so guten Freund nicht undankbar zeigen kann. Unter uns, wenigstens von seiner Seite, wie ich merke, eine Freundschaft auf Leben und Tod.

Ich glaube nicht, daß Robert sich darin vollkommen täuschte. Wenn Bloch jemanden wütend verleumdete, war das bei ihm oft nur die Folge einer lebhaften Zuneigung, die er unerwidert glaubte. Er hatte wenig Phantasie für das Leben anderer, es kam ihm nicht in den Sinn, man könne krank oder verreist oder dergleichen gewesen sein; ein achttägiges Schweigen bedeutete für ihn sofort gewollte Kälte. So habe ich auch nie glauben können, daß seine schlimmsten Ausfälle gegen Freunde und später als Schriftsteller sehr tief gingen. Sie verschlimmerten sich noch, wenn man mit eisiger Würde oder mit einem Gemeinplatz erwiderte, das reizte ihn, seine Angriffe zu verdoppeln, aber warmer Zuneigung konnten sie meist nicht standhalten. –

»Du sagtest, ich sei nett mit dir gewesen«, fuhr Saint-Loup fort, »das war ich durchaus nicht, aber meine Tante hat mir gesagt, du weichest ihr aus, sagest kein Wort zu ihr. Sie fragt sich, ob du nicht etwas gegen sie hast.«

Wäre ich auf diese Worte hereingefallen, so war es jedenfalls ein Glück für mich, daß unsere Abreise nach Balbec nahe bevorstand und ich mich nicht mehr darum bemühen konnte, Frau von Guermantes wiederzusehn, um ihr zu versichern, ich habe nichts gegen sie; dadurch hätte ich sie gezwungen zuzugeben, daß vielmehr sie etwas gegen mich habe. Aber ich brauchte mir ja nur zu vergegenwärtigen, sie habe mich nicht einmal aufgefordert, ihre Elstirs mir anzusehn. Das war übrigens keine Enttäuschung für mich; ich hatte gar nicht erwartet, sie werde mir davon sprechen; ich wußte, ich gefiel ihr nicht und hatte keine Aussicht zu bewirken, daß sie mich liebe; wünschen konnte ich jetzt, da ich sie vor meiner Abreise von Paris nicht mehr wiedersehn sollte, nur eins: dank ihrer Güte ein ungetrübt holdes Bild von ihr nach Balbec mitzunehmen als dauernden reinen Besitz statt einer mit Qual und Kummer vermischten Erinnerung.

Alle Augenblicke unterbrach Frau von Marsantes ihr Gespräch mit Robert, um mir zu sagen, wie oft er ihr von mir gesprochen habe, wie sehr er mich liebe; der Eifer, mit dem sie sich um mich bemühte, war mir fast peinlich; ich fühlte darin ihre Furcht, ihn zu verdrießen, und doch hatte sie ihn heute noch gar nicht gesehn und war ungeduldig, mit ihm allein zu sein; sie glaubte, sie habe weniger Macht über ihn als ich und müsse mich deshalb mit Vorsicht behandeln. Vorher hatte sie gehört, wie ich Bloch nach seinem Onkel Nissim Bernard fragte, und sie erkundigte sich nun, ob das der Bernard sei, der in Nizza wohne.

»Dann hat er nämlich Herrn von Marsantes vor unserer Ehe gekannt. Mein Mann hat mir oft von diesem vortrefflichen, feinfühligen und hochherzigen Mann erzählt.«

»Dann hat er wahrhaftig einmal nicht gelogen«, hätte Bloch gedacht.

Die ganze Zeit hätte ich Frau von Marsantes am liebsten gesagt, Robert hänge viel mehr an ihr als an mir, und ihr, selbst wenn sie sich feindlich gegen mich gezeigt hätte, versichert, es liege mir von Natur fern, ihn gegen sie einnehmen oder ihn ihr fortnehmen zu wollen. Seit aber Frau von Guermantes fort war, konnte ich Robert freier beobachten und bemerkte nun erst, daß schon wieder eine Art Zorn in ihm sich zusammengezogen zu haben schien. Dachte er an die Szene vom Nachmittag und demütigte es ihn mir gegenüber, daß er sich ohne Gegenwehr von seiner Geliebten so hart hatte behandeln lassen?

Unvermittelt riß er sich von seiner Mutter, die ihm den Arm um den Nacken gelegt hatte, los, kam auf mich zu und zog mich hinter Frau von Villeparisis' beblümtes Tischchen, an das diese sich wieder gesetzt hatte. Er winkte mir, ihm in den kleinen Salon zu folgen. Ziemlich rasch ging ich in dieser Richtung, da verließ Herr von Charlus plötzlich den Herrn von Pfaffenheim, mit dem er im Gespräch war, machte eine hastige Wendung und stand vor mir; er meinte wohl, ich wolle fortgehn. Es beunruhigte mich, daß er den Hut mit dem G und der Herzogskrone im Futter ergriffen hatte. In der Tür zum kleinen Salon sagte er mir, ohne mich anzusehn:

»Da ich sehe, Sie gehn jetzt in Gesellschaft, machen Sie mir doch das Vergnügen, mich zu besuchen. Es ist allerdings ziemlich umständlich.« Er sah geistesabwesend aus und schien etwas zu berechnen; es war, als könnte ihm ein Vergnügen entgehn, sobald er die Gelegenheit versäume, mit mir die Mittel zur Verwirklichung dieses Vergnügens abzuwägen. »Ich bin wenig zu Hause. Sie müßten mir schreiben. Ich möchte Ihnen das lieber in größerer Ruhe auseinandersetzen. Ich gehe jetzt gleich fort. Wollen Sie ein paar Schritte mit mir kommen? Ich werde Sie nur einen Augenblick in Anspruch nehmen.«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Herr von Charlus«, sagte ich, »Sie haben aus Versehn den Hut eines der andern Herren genommen.«

»Sie wollen mich verhindern, meinen Hut zu nehmen?« Da mir kurz vorher dasselbe Abenteuer zugestoßen war, vermutete ich, es habe ihm jemand seinen Hut weggenommen, er habe den nächsten besten ergriffen, um nicht barhaupt nach Hause gehn zu müssen, und sei nun verlegen, weil ich seine List aufdecke. Ich sagte ihm, ich habe erst noch ein paar Worte mit Saint-Loup zu sprechen. »Er redet da gerade mit diesem Idioten, dem Herzog von Guermantes«, fügte ich hinzu. – »Sie haben ja eine reizende Ausdrucksweise, ich werde es meinem Bruder sagen«. – »Sie meinen, das könne Herrn von Charlus interessieren?« (Ich hatte mir vorgestellt, wenn er einen Bruder habe, müsse der auch Herr von Charlus heißen. Saint-Loup hatte mir zwar in Balbec einige Erklärungen darüber gegeben, aber ich hatte sie vergessen.) »Wer sagt Ihnen denn was von Herrn von Charlus?« fuhr der Baron mich grob an. »Gehn Sie zu Robert? Ich weiß, Sie haben heute teilgenommen an einer seiner Mittagsorgien mit einer Frau, die ihn entehrt. Sie sollten doch Ihren Einfluß gebrauchen, um ihm begreiflich zu machen, welchen Kummer er seiner armen Mutter und uns allen bereitet, wenn er unsern Namen durch den Schmutz zieht.«

Gern hätte ich geantwortet, bei dem entwürdigenden Frühstück habe man nur von Emerson, Ibsen und Tolstoi gesprochen und die junge Frau habe Robert gepredigt, er solle nur Wasser trinken Um Roberts Stolz, den ich verletzt glaubte, Balsam zu spenden, versuchte ich, seine Geliebte zu entschuldigen. Ich wußte nicht, daß er in diesem Augenblick, obwohl er ihr zürnte, sich selber Vorwürfe machte. Wenn es zwischen einem Guten und einer Bösen Streit gibt, wird, selbst wenn das Recht ganz auf seiner Seite ist, immer eine Kleinigkeit unterlaufen, welche die Böse in irgendeiner Beziehung nicht ganz im Unrecht erscheinen läßt. Und da sie, wenn der Gute auch nur im Geringsten ihrer bedarf und durch die Trennung entmutigt ist, alles andre über dieser Kleinigkeit vernachlässigt, wird er in seiner Schwäche sich Gedanken machen, wird sich alle die unsinnigen Vorwürfe, die man ihm gemacht hat, vergegenwärtigen und sich fragen, ob sie nicht einigen Grund haben.

»Ich glaube, ich habe in der Sache mit dem Halsband unrecht gehabt«, sagte Robert zu mir. »Gewiß hatte ich dabei keine böse Absicht, aber ich weiß, die andern stellen sich nicht auf unsern Standpunkt. Rahel hat eine harte Kindheit gehabt. Für sie bin ich eben doch der Reiche, der glaubt, für Geld könne man alles haben, und gegen den der Arme nicht kämpfen kann, ob es sich nun darum handle, Boucheron zu beeinflussen oder einen Prozeß zu gewinnen. Zweifellos war sie recht grausam, ich habe doch immer nur ihr Bestes gewollt. Aber nun merke ich, sie glaubt, ich wolle ihr zu fühlen geben, mit Geld könne man sie fesseln, und das ist nicht wahr. Was soll sich eine Frau wie sie, die mich so liebt, denn denken? Das arme Herz! Oh, wenn du wüßtest, wie zartfühlend sie ist, ich kann es dir gar nicht sagen, sie hat oft bezaubernde Dinge für mich getan. Wie unglücklich sie in diesem Augenblick sein mag! Auf jeden Fall, was auch kommen mag, ich will nicht, daß sie mich für einen gemeinen Kerl hält, ich laufe zu Boucheron und hole das Halsband. Wer weiß, wenn sie mich so handeln sieht, wird sie vielleicht ihr Unrecht einsehn. Ach, den Gedanken, daß sie in diesem Augenblick leidet, kann ich einfach nicht aushalten! Was man selbst leidet, weiß man, das ist ja nichts! Aber sie! Sich sagen müssen, sie leidet, und sichs doch nicht vorstellen können, ich glaube, ich könnte verrückt werden, lieber will ich sie nie wiedersehn als sie leiden lassen. Sie soll glücklich sein – ohne mich, wenns sein muß –, das ist alles, was ich will. Weißt du, für mich wird alles, was sie betrifft, übermäßig, bekommt etwas Kosmisches, ich laufe zu dem Juwelier und dann zu ihr, sie um Verzeihung zu bitten, aber bis ich bei ihr bin, was wird sie von mir denken mögen. Wenn sie wenigstens wüßte, ich werde kommen! Du könntest auf alle Fälle zu ihr gehn; wer weiß, vielleicht läßt sich alles in Ordnung bringen. Vielleicht« – und er lächelte, als wage er nicht an solch einen Traum zu glauben – »essen wir drei heut Abend auf dem Lande. Aber man kann doch nicht wissen, ich bin so ungeschickt mit ihr; arme Kleine, ich werde sie vielleicht wieder verletzen. Und dann ist ihr Entschluß vielleicht unwiderruflich.«

Mit einmal zog mich Robert mit zu seiner Mutter.

»Auf Wiedersehn,« sagte er, »ich muß fort. Ich weiß nicht, wann ich wieder Urlaub bekomme, sicher nicht vor einem Monat. Ich schreibe es dir, sobald ichs weiß.«

Robert gehörte durchaus nicht zu den Söhnen, die in Gesellschaft zu ihrer Mutter sich gereist benehmen, als müßten sie damit ihr höflich lächelndes Entgegenkommen den Fremden gegenüber ausgleichen. Sehr verbreitet ist diese hassenswerte Art Rache bei Leuten, die sich vermutlich einbilden, Grobheit gegen die Angehörigen ergänze auf ganz natürliche Weise die zeremonielle Haltung in der Gesellschaft. Was die arme Mutter auch sagen mag, der Sohn schlägt – als habe er nur wider Willen sich mitnehmen und wolle sie seine Gegenwart büßen lassen – sofort mit spöttischem, unzweideutigem, grausamem Widerspruch nieder, was sie schüchtern vorbringt; und gleich ordnet die Mutter, ohne es dadurch zu entwaffnen, der Meinung dieses höheren Wesens sich unter und wird den Sohn, wenn er abwesend ist, weiter vor jedermann rühmen und entzückend finden, obwohl sie alles Harte von ihm erfuhr. Saint-Loup war ganz anders, aber Rahels Abwesenheit hatte ihn in eine angstvolle Spannung versetzt, die ihn in mancher Hinsicht nicht minder hart gegen seine Mutter machte, als jene Söhne gegen ihre Mütter es sind. Und als er zu ihr sprach, sah ich wieder bei Frau von Marsantes den »Flügelschlag«, den sie bei ihres Sohnes Ankunft nicht hatte unterdrücken können, und wieder richtete sie sich hoch auf; jetzt aber, um mit bangem Gesicht und trostlosen Augen an ihm zu hängen.

»Wie? Du gehst, Robert? Es ist dein Ernst? Mein Junge! Den einzigen Tag, an dem ich dich haben konnte!« Und sehr leise, in natürlichstem Ton, mit einer Stimme, aus der sie allen Kummer zu entfernen suchte, um dem Sohne kein vielleicht quälendes oder nur nutzloses Mitleid einzuflößen, setzte sie – als wäre es nur ein Einwand der gesunden Vernunft – hinzu:

»Weißt du, das ist nicht sehr nett von dir.«

Dieser einfachen Wendung gab sie viel Schüchternheit mit, um ihm zu zeigen, sie unternehme nichts gegen seine Freiheit, viel Zärtlichkeit, damit er ihr nicht vorwerfe, sie stehe seinen Freuden im Wege; Saint-Loup verspürte deutlich in sich die Gefahr, gerührt zu werden, und das hätte ihn hindern können, den Abend mit seiner Freundin zu verbringen. Daher geriet er in Zorn:

»Schade; aber ob nett oder nicht, so ists nun einmal.« Und er machte der Mutter Vorwürfe, die er vielleicht selbst zu verdienen fühlte; Egoisten haben immer das letzte Wort; ihr Entschluß ist unerschütterlich; umsonst wendet man sich, um sie davon abzubringen, an ihr Gefühl; je stärker dies ist, um so sträflicher finden sie – nicht sich mit ihrem Widerstand, sondern die, welche sie zwingen zu widerstehn, sie können hart werden bis zur äußersten Grausamkeit, und dadurch wird in ihren Augen nur die Schuld derer größer, die unzart genug sind, zu leiden und recht zu haben; die Schwäche der an dem wird ihnen zum schmerzlichen Zwang, gegen das eigene Mitleid zu handeln. Übrigens gab Frau von Marsantes von selbst nach, sie fühlte, sie werde ihn ja doch nicht mehr zurückhalten.

»Ich muß dich jetzt verlassen,« sagte Saint-Loup zu mir, »halte ihn nicht zu lange auf, Mama, er hat nachher noch einen Besuch zu machen.«

Ich fühlte zwar, meine Gesellschaft konnte Frau von Marsantes kein Vergnügen machen; aber mir war es doch lieber, nicht mit Robert zusammen fortzugehn; sie sollte nicht glauben, ich nähme teil an den Vergnügungen, die sie seiner beraubten. Ich suchte nach einer Entschuldigung für das Benehmen ihres Sohnes, weniger aus Liebe zu ihm als aus Mitleid mit ihr. Aber da brach sie zuerst das Schweigen:

»Das arme Kind! Sicher habe ich ihm Kummer gemacht. Sehn Sie, Mütter sind sehr selbstsüchtig; dabei hat er doch so wenig Zerstreuung, kommt so selten nach Paris. Mein Gott, wenn er nicht schon fort wäre, würde ich ihm nachgehn, gewiß nicht, um ihn zurückzuhalten, nur um ihm zu sagen, ich sei ihm nicht böse, ich finde, er habe recht gehabt. Haben Sie etwas dagegen, daß ich auf der Treppe nachsehe?«

Und wir gingen bis dahin.

»Robert, Robert!« rief sie. »Nein, er ist fort, es ist zu spät.«

Jetzt hätte ich gern die Mission übernommen, Robert von seiner Geliebten abzubringen, ebenso gern wie ich vorhin ihm zugeraten hätte, abzureisen und ganz mit ihr zusammenzuleben. Im einen Fall hätte mich Saint-Loup als treulosen Freund angesehn, im andern seine Familie mich seinen bösen Geist genannt. Und doch war ich während dieser paar Stunden derselbe Mensch geblieben.

Wir gingen in den Salon zurück. Als sie Saint-Loup nicht wiederkommen sah, wechselte Frau von Villeparisis mit Herrn von Norpois den skeptisch spöttischen, ziemlich mitleidlosen Blick, mit dem man auf eine zu eifersüchtige Gattin oder eine zu zärtliche Mutter deutet (beide sind den andern nur ein Schauspiel), den Blick, der zu sagen scheint: »Da hat es wohl wieder etwas gegeben.«

 

Robert ging zu seiner Geliebten und brachte ihr den herrlichen Schmuck, den er ihr – nach ihren Abmachungen – nicht hätte geben dürfen. Nebenbei bemerkt, es kam aufs Gleiche hinaus: sie wollte ihn nicht, und auch in der Folgezeit gelang es ihm nie, ihn ihr aufzunötigen. Manche Freunde Roberts meinten, diese Beweise von Uneigennützigkeit seien nur Berechnung, um ihn an sich zu fesseln. Allein ihr lag wirklich nichts am Gelde, höchstens daran, es, ohne zu rechnen, ausgeben zu können. Ich habe mit angesehn, wie sie Leute, die sie für arm hielt, aufs Geratewohl mit sinnlosen Wohltätigkeiten überhäufte. »Jetzt wird sie wohl im Promenoir der Folies-Bergère sein,« sagten die Freunde zu Robert – sie wollten Rahels Uneigennützigkeit durch Verleumdung ausgleichen –, »diese Rahel ist ein Rätsel, eine richtige Sphinx.« Setzen übrigens nicht viele ausgehaltene und somit eigennützige Frauen, um ihrem Dasein einen zarten Schimmer zu geben, der Freigebigkeit des Liebhabers aus eigenem Antrieb tausend kleine Schranken?

Robert wußte fast nichts von all den Treulosigkeiten seiner Geliebten, sein Geist war beschäftigt mit Kleinigkeiten, die gar nicht in Betracht kamen neben Rahels wirklichem Leben, einem Leben, das mit jedem Tage erst begann, wenn er sie verlassen hatte. Er wußte fast nichts von all den Treulosigkeiten. Und selbst, wenn man sie ihm mitgeteilt hätte, wäre sein Vertrauen zu Rahel nicht erschüttert worden. Es waltet da ein reizendes Naturgesetz: mitten in der vielfältigsten Gesellschaft lebt man, ohne über das Wesen, das man liebt, etwas zu wissen. Auf der einen Seite des Spiegels meint der Liebende: »Sie ist ein Engel, nie wird sie sich mir hingeben, mir bleibt nichts als der Tod, und dennoch liebt sie mich, liebt mich so sehr, vielleicht ... ach nein, es ist nicht möglich.« Und berauscht von seinem Sehnen, beklommen vom Wartenmüssen, breitet er Schätze zu Füßen dieser Frau aus, eilt, Geld zu leihen, um ihr eine Sorge zu ersparen. Auf der andern Seite sind die Zuschauer, und was sie sagen, kann er nicht hören, es dringt so wenig durch die Scheidewand wie Worte von Leuten, die an einem Aquarium vorübergehn. »Kennen Sie die nicht?« sagen sie. »Dann beglückwünsche ich Sie, sie hat, wer weiß wie viel Leute bestohlen, zu Grunde gerichtet, ist die schlimmste, die es nur gibt. Eine wahre Hochstaplerin. Und sie verstehts!« Mit der letzten Bemerkung hat das Publikum vielleicht nicht ganz unrecht, denn selbst der Skeptiker, der nicht richtig in diese Frau verliebt ist, dem sie nur gefällt, sagt zu seinen Freunden: »Nein, nein, mein Lieber, eine Kokotte ist das nicht; ich will nicht bestreiten, daß sie zwei oder drei kleine Abenteuer in ihrem Leben gehabt hat, aber sie ist nicht eine Frau, die man bezahlt, oder dann kostet es schon zuviel. Bei der heißts fünfzigtausend Franken oder nichts.« Er hat die fünfzigtausend Franken für sie ausgegeben und hat sie einmal gehabt, sie aber hat ihm eingeredet – dabei war seine eigene Eitelkeit ihr Helfershelfer –, er sei einer von denen, die sie umsonst gehabt haben. So ist die Gesellschaft, jeder hat ein Doppelwesen; von dem, was ganz offen liegt und am meisten der Verleumdung ausgesetzt ist, kennt mancher andere nur, was er im Schoß und Schutz einer Schale, eines sanften Gespinstes aus köstlicher natürlicher Neugier wahrnimmt. Es gab in Paris zwei brave Männer, die Saint-Loup nicht grüßte, von denen er nur mit zornzitternder Stimme sprach – Frauenausbeuter nannte er sie –, Rahel hatte sie nämlich zu Grunde gerichtet.

»Nur eins werfe ich mir vor,« sagte Frau von Marsantes leise zu mir, »ich habe ihm gesagt, er sei nicht nett. Diesem herrlichen einzigen Sohn, wie es keinen zweiten gibt, das eine Mal, daß ich ihn sehe, zu sagen, er sei nicht nett! Jetzt wäre mirs lieber, ich hätte mich mit Stöcken schlagen lassen. Was ihn heut Abend auch an Vergnügen erwarten mag – und er hat wirklich nicht so viele –, ich bin sicher, mein ungerechtes Wort wird sie ihm vergällen. Aber ich halte Sie auf, Sie sind in Eile.«

In beklommenem Ton sagte mir Frau von Marsantes Auf Wiedersehn. Dieser Ton kam aus einem Gefühl für Robert; da war sie aufrichtig. Gleich aber war sie es nicht mehr, sondern wurde wieder die große Dame: »Es hat mich sehr interessiert und beglückt, ein wenig mit Ihnen zu plaudern. Vielen Dank! Vielen Dank!«

Mit demütiger Miene heftete sie dankestrunkene Blicke auf mich, als wäre meine Unterhaltung eine der größten Freuden, die sie im Leben erfahren habe. Diese liebenswürdigen Blicke paßten zu dem weißen Kleid mit den schwarzen Blumenstickereien, es waren Blicke einer großen Dame, die ihren Beruf versteht.

»Ich bin nicht in Eile, gnädige Frau,« antwortete ich, »übrigens erwarte ich Herrn von Charlus, mit dem ich zusammen fortgehn soll.«

Die letzten Worte hörte Frau von Villeparisis. Sie schien Anstoß daran zu nehmen. Wäre der Anlaß nicht so ungeeignet gewesen, ich hätte gemeint, ihr Schamgefühl sei verletzt. Aber diese Annahme kam mir gar nicht in den Sinn. Ich hatte an allen meine Freude, an Frau von Guermantes, an Saint-Loup, an Frau von Marsantes und Herrn von Charlus, dachte nicht weiter nach und schwatzte munter drauf los. »Sie sollen mit meinem Neffen Palamède fortgehn?« fragte sie.

Ich war der Meinung, es könnte ihr nur einen günstigen Eindruck machen, daß ich zu einem Neffen Beziehungen habe, den sie so hoch schätzte. »Er hat mich aufgefordert, ihn zu begleiten«, antwortete ich freudig. »Das ist mir ein großes Vergnügen. Übrigens sind wir befreundeter als Sie glauben, gnädige Frau, und ich will mich durchaus bemühen, daß wir es noch mehr werden.«

Jetzt schien sie nicht mehr unangenehm berührt, sondern besorgt. »Warten Sie nicht auf ihn«, sagte sie mit bekümmerter Miene, »er spricht mit Herrn von Pfaffenheim. Er denkt schon nicht mehr an das, was er Ihnen gesagt hat. Gehn Sie nur schon, benutzen Sie schnell den günstigen Augenblick, ehe er sich wieder umdreht.«

Frau von Villeparisis' erste Regung hätte man unter andern Umständen auf Schamhaftigkeit zurückführen können. Die Heftigkeit, mit der sie bei ihren Einwänden blieb, konnte, aus ihrer Miene allein zu schließen, von der Tugend eingegeben erscheinen. Nun hatte ich gar keine Eile, zu Robert und seiner Geliebten zu kommen. Aber Frau von Villeparisis schien doch viel Wert darauf zu legen, daß ich ginge. Vielleicht hat sie etwas Wichtiges mit ihrem Neffen zu besprechen, dachte ich mir und sagte ihr Auf Wiedersehn. Neben ihr saß schwer in olympischer Pracht Herr von Guermantes. Die bewußte Allgegenwart seiner großen Reichtümer in all seinen Gliedern gab ihm eine besondere hochgradige Dichtigkeit; sie schienen in einen einzigen Menschenbarren zusammengeschmolzen, um dieses hochbewertete Geschöpf zu bilden. Als ich ihm Auf Wiedersehn sagte, erhob er sich höflich von seinem Sitz, und ich fühlte die träge Masse von dreißig Millionen, von altfranzösischer, Erziehung in Bewegung gesetzt und in die Höhe gehoben, vor mir stehn. Ich glaubte, die Statue des Zeus von Olympia zu sehn, die Phidias ganz in Gold gegossen haben soll. So stark war die Macht der guten Erziehung über Herrn von Guermantes, wenigstens über den Körper des Herrn von Guermantes, denn über seinen Geist herrschte sie nicht so unumschränkt. Der Herzog lachte über seine eigenen Witze, bei denen anderer verzog er keine Miene.

 

Auf der Treppe hörte ich hinter mir eine Stimme mich rufen:

»Das nennen Sie auf mich warten!«

Es war Herr von Charlus.

»Haben Sie etwas dagegen, daß wir ein paar Schritte zusammengehn?« fragte er trocken, als wir im Hofe waren. »Solange bis ich einen Fiaker gefunden habe, der mir zusagt.«

»Sie wollten mir von etwas sprechen, Herr von Charlus?«

»Ja, in der Tat, ich hatte Ihnen bestimmte Dinge zu sagen, aber ich weiß nicht recht, ob ich sie Ihnen sagen werde. Sicher könnten diese Dinge, wie ich glaube, der Ausgangspunkt unschätzbarer Vorteile für Sie werden. Aber ich mutmaße auch, sie würden bei meinem Alter, in dem man anfängt, Wert auf Ruhe zu legen, erhebliche Zeitverluste und Störungen in mein Dasein bringen. Ich frage mich, ob Sie die Mühe und Plage, welche ich haben würde, wert sind; ich habe nicht das Vergnügen, Sie genügend zu kennen, um das zu entscheiden. Sie haben vielleicht auch nach dem, was ich aus Ihnen machen könnte, kein so großes Verlangen, daß die Sorge und Mühe sich für mich lohnt, denn ich wiederhole Ihnen aufrichtig, mein Herr, für mich gibt es dabei nur Sorge und Mühe.«

Dann sei nicht daran zu denken, beteuerte ich. Diese Art, die Verhandlungen abzubrechen, schien nicht nach seinem Geschmack zu sein.

»Solche Höflichkeiten besagen nichts«, herrschte er mich an. »Es gibt nichts angenehmeres, als sich für einen Menschen zu plagen, der die Mühe lohnt. Für die Besten unter uns ist das Studium der Künste, der Geschmack an antikem Kram, sind die Sammlungen, die Gärten nur »Ersatz«, Notbehelfe, Alibis. Im Innern unserer Tonne wollen wir wie Diogenes einen Menschen. In Ermangelung eines Bessern züchten wir Begonien, stutzen Taxus, weil Taxus und Begonien sich das gefallen lassen. Lieber aber würden wir unsere Zeit einem menschlichen Gewächs widmen, wenn wir sicher wären, daß es die Mühe lohnt. Da liegt das ganze Problem. Sie müssen sich ein wenig kennen. Lohnen Sie die Mühe oder nicht?«

»Um alles in der Welt möchte ich Ihnen keine Sorgen verursachen, Herr von Charlus«, sagte ich, »was aber mich selbst betrifft, glauben Sie mir, alles, was mir von Ihnen kommt, wird immer meine größte Freude sein. Ich bin tief ergriffen, daß Sie geneigt sind, mich so zu beachten und mir nützlich zu sein.« Zu meinem großen Erstaunen dankte er mir beinah warm und herzlich für meine Worte. Er faßte mich unter den Arm mit der intermittierenden Vertraulichkeit, die mir schon in Balbec so an ihm aufgefallen war und die der Härte seines Tonfalls widersprach. »Bei der Unachtsamkeit Ihres Alters«, sagte er, »könnten Ihnen bisweilen Worte unterlaufen, die geeignet wären, einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen uns zu schaffen. Die hingegen, die Sie eben ausgesprochen haben, gehören zu einer Art, die geeignet ist, mich zu rühren und zu veranlassen, viel für Sie zu tun.«

So gingen wir Arm in Arm, und er sagte mir liebevolle, freilich auch mit Verächtlichem durchsetzte Worte. Dabei fixierten seine Augen bald mich mit der gründlichen Schärfe und durchdringenden Härte, die mir an dem Vormittag in Balbec, als ich ihn vor dem Kasino bemerkte, zum ersten Male aufgefallen war, – ja eigentlich schon viele Jahre früher beim Rotdorn neben Frau Swann, die ich damals für seine Geliebte hielt, im Parke von Tansonville –, bald irrten sie umher und untersuchten die Fiaker, die in dieser Stunde der Ablösung ziemlich zahlreich vorüberfuhren, und zwar mit so eindringlicher Genauigkeit, daß einige hielten, da die Kutscher glaubten, man wolle sie nehmen. Aber Herr von Charlus entließ sie gleich wieder.

»Keinen kann ich brauchen,« erklärte er mir. »An den Laternen kann ich sehn, in welches Viertel sie heimfahren. Ich möchte vermeiden,« fuhr er dann fort, »daß Sie den ganz uneigennützigen, wohlwollenden Charakter des Vorschlags, den ich Ihnen machen will, etwa mißverstehn.«

Noch mehr wie in Balbec fiel mir auf, wie sehr seine Ausdrucksweise der Swanns ähnlich war.

»Sie sind, vermute ich, klug genug, um nicht anzunehmen, ich wende mich aus »Mangel an Beziehungen« oder Furcht vor Einsamkeit und Langweile an Sie. Ich spreche nicht gern von mir. Aber Sie werden vielleicht davon gehört haben, ein Artikel in der Times, der ziemliches Aufsehn erregte, hat darauf angespielt: der Kaiser von Österreich, der mich immer mit seinem Wohlwollen geehrt hat und auf unsere verwandtschaftlichen Beziehungen Wert legt, hat kürzlich in einem bekannt gewordenen Gespräch erklärt, hätte der Graf von Chambord einen Mann um sich gehabt, so gründlich vertraut mit den geheimen Triebfedern der europäischen Politik wie ich, er wäre heute König von Frankreich. Oft hab ich daran denken müssen, daß es in mir, nicht dank meiner schwachen Gaben, sondern durch Umstände, die Sie vielleicht eines Tages erfahren werden, einen Schatz von Erfahrung, eine Art geheimer, unschätzbarer Aktensammlung gibt; ich mochte ihn nicht mir selbst zu nutze machen, aber für einen jungen Menschen, dem ich damit in einigen Monaten ausliefern würde, was ich in mehr als dreißig Jahren erworben, was außer mir vielleicht niemand besitzt, wäre er von unabsehbarem Wert. Von den geistigen Genüssen will ich gar nicht reden, die es Ihnen bereiten wird, wenn Sie gewisse Geheimnisse erfahren, für deren Kenntnis ein Michelet unserer Tage Jahre seines Lebens geben würde, – manche Ereignisse werden dadurch ein ganz neues Aussehn für Sie bekommen. Ich spreche auch nicht nur von vollendeten Tatsachen, sondern von der Verkettung der Umstände« (das war eine Lieblingswendung von Herrn von Charlus, und oft, wenn er sie anwandte, legte er die Hände wie zum Gebet aneinander, aber mit steifen Fingern, als wolle er durch diese Gebärde die Umstände, die er nicht genauer bezeichnete, und ihre Verkettung begreiflich machen). »Ich könnte Ihnen eine unbekannte Erklärung nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft geben.« Herr von Charlus brach dies Thema ab und stellte mir Fragen über Bloch – als man bei Frau von Villeparisis über diesen gesprochen hatte, sah es so aus, als höre er nicht zu. Diese Fragen kamen so einzeln und beiläufig heraus, als denke er an ganz etwas anderes und rede nur mechanisch; aus bloßer Höflichkeit fragte er mich, ob mein Freund jung, schön und so weiter sei. Hätte Bloch ihn reden hören, er wäre noch mehr, aber aus ganz andern Gründen als Herrn von Norpois gegenüber, im Ungewissen gewesen, ob Herr von Charlus für oder gegen Dreyfus sei. »Sie tun ganz recht,« sagte Herr von Charlus, nachdem er mich über Bloch befragt hatte, »unter Ihren Freunden, um sich zu unterrichten, einige Ausländer zu haben.« Ich antwortete, Bloch sei Franzose. »Ah! Ich hatte gedacht, er sei Jude«, sagte Herr von Charlus. Da er dies beides als unvereinbar erklärte, mußte ich annehmen, Herr von Charlus sei ein heftigerer Dreyfusgegner als alle, denen ich begegnet war. Allein er erhob Widerspruch gegen die Anklage auf Verrat. Aber in dieser Form: »Ich glaube, die Zeitungen behaupten, Dreyfus habe ein Verbrechen gegen sein Vaterland begangen; ich glaube, man sagt das, ich gebe nicht acht auf die Zeitungen, ich lese sie, wie ich mir die Hände wasche, und finde es nicht der Mühe wert, mich weiter dafür zu interessieren. Auf jeden Fall liegt dies Verbrechen nicht vor, der Landsmann Ihres Freundes hätte ein Verbrechen gegen sein Vaterland begangen, wenn er Judäa verraten hätte, aber was hat er mit Frankreich zu tun?« Ich wandte ein, wenn es jemals einen Krieg gäbe, würden die Juden so gut mobilisiert werden wie alle andern. »Vielleicht, und es ist nicht sicher, ob man damit nicht eine Unvorsichtigkeit begehn würde. Wenn man Senegalesen und Madegassen kommen läßt, werden sie, denke ich, Frankreich nicht, mit besonderer Begeisterung verteidigen, das ist ganz natürlich. Ihr Dreyfus könnte eher verurteilt werden, weil er die Regeln der Gastfreundschaft verletzt hat. Aber lassen wir das. Vielleicht könnten Sie Ihren Freund bitten, mich einem schönen Fest im Tempel beiwohnen zu lassen, einer Beschneidung oder jüdischen Gesängen. Er kennte vielleicht einen Saal mieten und mir einige biblische Divertissements vorführen wie die Fräulein von Saint-Cyr Szenen nach Racines Psalmen spielten, um Louis XIV. zu zerstreuen. Sie könnten vielleicht auch einige komische Spiele veranstalten. Zum Beispiel einen Kampf zwischen Ihrem Freund und seinem Vater, wobei er ihn verwunden würde wie David den Goliath. Das gäbe eine ganz ergötzliche Farce. Er könnte auch, wenn er im Gange ist, kräftig das alte Aas, oder wie meine Haushälterin sagt, Aß, seine Mutter verprügeln. Das täte gut und würde uns durchaus nicht mißfallen, was, Freundchen? wir lieben doch exotische Schauspiele, und so eine extraeuropäische Kreatur verprügeln, das hieße doch einem alten Kamel eine wohlverdiente Züchtigung erteilen.«

Bei diesen gräßlichen, fast verrückten Worten preßte Herr von Charlus meinen Arm so heftig, daß es weh tat. Es fiel mir ein, was seine Familie alles von der bewundernswerten Güte des Barons zu jener alten Haushälterin erzählt hatte, und ich kam auf den Gedanken, es müßte interessant sein, die bisher wenig erforschten Beziehungen zwischen Güte und Bosheit im selben Herzen, so verschieden sie im Einzelnen sein mögen, festzustellen.

Auf alle Fälle teilte ich ihm mit, Frau Bloch sei nicht mehr am Leben, und was Herrn Bloch beträfe, so frage ich mich, bis zu welchem Grade er an einem Spiel Gefallen finden würde, bei dem ein Auge ihm ausgeschlagen werden könnte. Das schien Herrn von Charlus zu ärgern. »Sehr unrecht von dieser Frau, zu sterben. Und was die ausgeschlagenen Augen betrifft, die Synagoge ist ja blind, sie sieht nicht die Wahrheiten des Evangeliums. Jedenfalls bedenken Sie doch, was es jetzt, da all diese unglücklichen Juden vor der stumpfsinnigen Wut der Christen zittern, ihnen für eine Ehre sein muß, wenn ein Mann wie ich sich herbeiläßt, an ihren Spielen sich zu vergnügen.« In diesem Augenblick bemerkte ich Herrn Bloch senior, der vorüberging, vermutlich seinem Sohne entgegen. Er sah uns nicht, aber ich bot Herrn von Charlus an, ihm Herrn Bloch vorzustellen. Ich hatte nicht geahnt, was für einen Zorn ich dadurch bei meinem Begleiter entfesseln sollte. »Mir ihn vorstellen? Sie scheinen wahrhaftig recht wenig Gefühl für Werte zu haben! So leicht lernt man mich nicht kennen. Im vorliegenden Falle wäre die Ungehörigkeit doppelt wegen der Jugend des Vorstellenden und der Unwürdigkeit des Vorgestellten. Höchstens könnte ich, wenn man mir eines Tages das asiatische Schauspiel gibt, das ich andeutete, an diesen scheußlichen Biedermann ein paar bieder klingende Worte richten. Aber da muß er sich erst reichlich von seinem Sohne zerbläuen lassen. Dann könnte ich sogar so weit gehn, meiner Befriedigung Ausdruckt zu verleihen.« Übrigens beachtete Herr Bloch uns gar nicht. Er zog gerade tief den Hut vor Frau Sazerat, die seinen Gruß freundlich erwiderte. Das überraschte mich, denn ehedem in Combray war sie entrüstet gewesen, daß meine Eltern den jungen Bloch empfangen hatten, so antisemitisch war sie. Aber die Dreyfusfreundschaft hatte ihr wie ein Luftzug vor einigen Tagen Herrn Bloch zugewirbelt. Der Vater meines Freundes hatte Frau Sazerat reizend gefunden, insbesondre schmeichelte ihm der Antisemitismus dieser Dame, er sah darin einen Beweis, wie aufrichtig ihre Überzeugungen, wie echt ihre dreyfusfreundliche Gesinnung sei, dadurch bekam auch sein Besuch bei ihr, zu dem sie ihn ermächtigt hatte, noch besondern Wert. Es hatte ihn nicht einmal verletzt, als sie unbesonnen in seiner Gegenwart sagte: »Herr Drumont maßt sich an, die Revisionisten mit Protestanten und Juden auf einen Haufen zu werfen. Ein reizendes Gemisch!« »Bernard,« hatte er zu Hause stolz zu Herrn Nissim Bernard gesagt, »sie hat tatsächlich das Vorurteil!« Herr Nissim Bernard hatte nichts geantwortet und einen Engelblick zum Himmel erhoben. Ihn betrübte das Unglück der Juden, er erinnerte sich seiner christlichen Freundschaften, auch wurde er mit den Jahren geschraubt und gespreizt aus Gründen, von denen weiterhin die Rede sein wird, und hatte jetzt das Aussehn einer präraffaelitischen Maske, in die einzelne Haare unsauber eingewachsen waren, wie die, welche in einem Opal schwimmen. – »Diese ganze Dreyfusgeschichte,« begann der Baron wieder – er hielt mich dabei immer noch untergefaßt –, »hat nur einen Nachteil: sie zerstört die Gesellschaft (ich sage nicht »gute Gesellschaft«, denn dies lobende Beiwort verdient die Gesellschaft schon längst nicht mehr!) durch den Zustrom von Herren und Frauen von Trampel, von Trampeltier, von und zur Trampelei, lauter unbekannten Leuten, die ich sogar bei meinen Kusinen treffe, weil sie zur antijüdischen vaterländischen Liga gehören, das ist ja gerade, als ob eine politische Meinung Recht auf einen gesellschaftlichen Rang gäbe.« Diese scherzhafte Äußerung gab Herrn von Charlus noch mehr Familienähnlichkeit mit der Herzogin von Guermantes. Ich hob das ihm gegenüber hervor. Da er zu glauben schien, ich kenne die Herzogin nicht, erinnerte ich ihn an den Abend in der Oper, an dem ich den Eindruck hatte, er wolle sich vor mir verstecken. Er bestand entschieden darauf, mich nicht gesehn zu haben, und ich hätte es ihm am Ende auch geglaubt, bald aber sollte ein kleiner Zwischenfall mich auf den Gedanken bringen, Herr von Charlus lasse sich – vielleicht aus Hochmut – nicht gern mit mir sehn.

»Kommen wir auf Sie zurück,« sagte er, »und auf das, was ich mit Ihnen vorhabe. Unter bestimmten Menschen besteht eine Freimaurerei, von der ich Ihnen nicht sprechen kann, die aber zu den ihren heute vier Monarchen Europas zählt. Die Umgebung eines von ihnen will ihn von seinem Hirngespinst heilen. Das ist sehr ernst und kann uns den Krieg bringen. Ja, mein Herr, allerdings. Sie kennen die Geschichte des Mannes, der in einer Flasche die Prinzessin von China gefangen zu halten glaubte. Es war eine Verrücktheit, von der man ihn dann geheilt hat. Als er aber nicht mehr verrückt war, wurde er sofort blöde. Es gibt Krankheiten, die man nicht zu heilen versuchen soll, denn sie allein schützen uns gegen schlimmere. Einer meiner Vettern hatte ein Magenleiden, er konnte nichts verdauen. Die gelehrtesten Magenspezialisten behandelten ihn ohne Erfolg. Ich brachte ihn zu einem Arzt (beiläufig auch einem sehr seltsamen Wesen, über das sich viel sagen ließe). Der erriet sofort, daß die Krankheit nervös war, redete dem Patienten gut zu und verordnete ihm, ohne Furcht zu essen, was er wolle, es werde ihm immer gut bekommen. Aber mein Vetter hatte auch Nierenstein. Was der Magen vollkommen verdaute, konnte die Niere schließlich nicht mehr ausscheiden, und statt mit einer eingebildeten Magenkrankheit, die ihn zu einer Diät zwang, alt zu werden, starb mein Vetter mit vierzig Jahren, sein Magen war geheilt, seine Niere zerstört. Bekommen Sie jetzt Ihrem eigenen Leben gegenüber einen gewaltigen Vorsprung, so können Sie vielleicht werden, was ein hervorragender Mann der Vergangenheit geworden wäre, hätte ihm mitten in einer unwissenden Menschheit ein gütiger Genius die Gesetze des Dampfes und der Elektrizität enthüllt. Seien Sie nicht töricht, lehnen Sie nicht aus Zurückhaltung ab. Sie müssen verstehn: leiste ich Ihnen einen großen Dienst, so leisten Sie mir meines Erachtens einen nicht minder großen. Schon lange haben die Leute der großen Gesellschaft aufgehört, mich zu interessieren, ich habe nur noch eine Leidenschaft, ich will die Fehler meines Lebens wieder gutzumachen suchen dadurch, daß ich eine noch jungfräuliche; Seele mein Wissen nutzen lasse, eine Seele, die für die Tugend sich zu begeistern vermag. Ich habe großen Kummer gehabt, mein Herr, vielleicht werde ich Ihnen einmal davon erzählen, ich habe meine Frau verloren, die das schönste, edelste, vollkommenste Wesen war, das man erträumen kann. Ich habe junge Verwandte, die, ich will nicht sagen unwürdig, aber doch unfähig sind, das geistige Erbe zu übernehmen, von dem ich Ihnen hier spreche. Wer weiß, vielleicht sind Sie der, in dessen Hände es übergeht, der, dessen Leben ich richten und erhöhen kann. Obendrein wird dann meines dadurch gewinnen. Wenn ich Sie die großen Staatsangelegenheiten lehre, werde ich vielleicht wieder selbst daran Geschmack bekommen und mich endlich daran machen, die wichtigen Dinge zu tun, an denen Sie teilhaben werden. Aber ehe ich das beurteilen kann, müßte ich Sie häufig sehn, sehr häufig sehn, jeden Tag.«

Ich wollte mir die unerhofft günstige Stimmung des Herrn von Charlus zu nutze machen und ihn fragen, ob er mich nicht mit seiner Schwägerin zusammenbringen könne; aber da wurde mit einmal mein Arm wie durch einen elektrischen Schlag aus seiner Lage gebracht. Herr von Charlus hatte plötzlich seinen Arm unter meinem weggezogen. Obwohl er beim Sprechen seine Blicke beständig in alle Richtungen wandern ließ, hatte er doch eben erst Herrn von Argencourt bemerkt, der aus einer Nebenstraße einbog. Als der uns sah, schien er ungehalten, warf auf mich einen mißtrauischen Blick – beinahe den Blick auf Wesen von anderer Rasse, wie ihn Frau von Guermantes auf Bloch geworfen hatte – und suchte uns aus dem Wege zu gehn. Aber Herr von Charlus legte offenbar Wert darauf, ihm zu zeigen, daß ihm durchaus nicht darum zu tun sei, von Herrn von Argencourt nicht gesehn zu werden, er rief ihn her und sagte ihm irgend etwas Belangloses. Und als fürchte er, Herr von Argencourt erkenne mich nicht, sagte er ihm, ich sei ein guter Freund der Frau von Villeparisis, der Herzogin von Guermantes und Roberts von Saint-Loup, und er selbst ein alter Freund meiner Großmutter, er schätze sich glücklich, auf den Enkel ein wenig von der Zuneigung zu übertragen, die er für sie hatte. Gleichwohl fiel mir auf, Herr von Argencourt, dem ich doch eben erst bei Frau von Villeparisis vorgestellt worden war und dem Herr von Charlus so ausführlich von meiner Familie sprach, war kälter zu mir als vor einer Stunde, und lange Zeit war er jedesmal so, wenn ich ihm begegnete. Er beobachtete mich mit einer Neugier, in die keinerlei Wohlwollen sich mischte, und schien sogar einen Widerstand überwinden zu müssen, als er mir beim Abschied zögernd die Hand reichte, – um sie sofort rasch wieder zurückzuziehen.

»Ich bedauere diese Begegnung«,sagte Herr von Charlus zu mir. »Dieser Argencourt ist von guter Herkunft, aber schlecht erzogen, ein mehr als mittelmäßiger Diplomat, schlechter Gatte, Schürzenjäger, ein Halunke wie aus einem Theaterstück, er gehört; zu den Menschen, die unfähig sind, das wahrhaft Große zu begreifen, wohl aber fähig, es zu zerstören. Ich hoffe, unsere Freundschaft, wenn sie eines Tages begründet werden sollte, wird etwas wahrhaft Großes sein, ich hoffe, Sie werden mir die Ehre erweisen, sie möglichst vor den Fußtritten von einem dieser Esel zu behüten, die aus Müßiggang, Ungeschick, Bosheit zertreten, was zu langer Dauer bestimmt schien. Leider sind die meisten Leute der Gesellschaft von diesem Schlage.«

»Die Herzogin von Guermantes macht einen sehr klugen Eindruck. Wir sprachen gerade von der Möglichkeit eines Krieges. Sie scheint in diese Dinge besondern Einblick zu haben.«

»Gar keinen hat sie«, antwortete Herr von Charlus trocken. »Die Frauen, und übrigens auch viele Männer, verstehn nichts von den Dingen, über die ich zu Ihnen sprach. Meine Schwägerin ist eine reizende Frau, die sich einbildet, noch zur Zeit der Romane von Balzac zu leben, in denen die Frauen die Politik beeinflussen. Ein Verkehr mit ihr könnte zur Zeit nur ungünstig auf Sie wirken, wie übrigens jeder gesellschaftliche Verkehr. Das ist gerade einer der ersten Punkte, von denen ich Ihnen sprechen wollte, als dieser Narr mich unterbrach. Das erste Opfer, das Sie mir bringen müssen – und ich werde ebensoviel fordern als ich Ihnen Gutes zu geben habe – ist, nicht in Gesellschaft zu gehn. Vorhin habe ich darunter gelitten, Sie bei dieser lächerlichen Versammlung von Menschen zu sehn. Sie werden mir einwenden, daß ich ja selbst dabei war, aber für mich ist das nicht eine gesellschaftliche Zusammenkunft, sondern ein Familienbesuch. Später, wenn Sie ein gemachter Mann sind und es zerstreut Sie für einen Augenblick, in die Gesellschaft hinabzusteigen, wird es vielleicht ohne Unzuträglichkeiten geschehn können. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie nützlich ich Ihnen da sein kann. Das »Sesam« des Hauses Guermantes und aller Häuser, bei denen es lohnt, daß die Tür sich Ihnen weit öffnet, ist in meiner Macht. Ich werde Richter sein und gedenke, Herr der Stunde zu bleiben.«

Da Herr von Charlus gerade von meinem Besuch bei Frau von Villeparisis sprach, wollte ich die Gelegenheit benutzen, um herauszubekommen, wer die Marquise eigentlich sei. Aber die Frage bildete sich auf meinen Lippen anders, als ich eigentlich gewollt hatte, und ich fragte nach der Familie Villeparisis.

»Das ist genau, als fragten Sie mich, wer die Familie »Niemand« ist«, erwiderte Herr von Charlus. »Meine Tante hat aus Liebe einen Herrn Thirion geheiratet, der, nebenbei bemerkt, ungewöhnlich reich war und sehr gut verheiratete Schwestern hatte; seit seiner Hochzeit nannte er sich Marquis von Villeparisis. Das hat niemandem weh getan, höchstens ihm selbst ein wenig, sehr wenig! Warum er gerade diesen Namen wählte, weiß ich nicht, vermutlich war er ein Herr aus Villeparisis, ein Herr, geboren in Villeparisis; Sie wissen, daß ist eine kleine Ortschaft bei Paris. Meine Tante hat behauptet, dies Marquisat habe in der Familie bestanden, sie hat die Sachen ordnungsgemäß einrichten wollen, ich weiß nicht, warum. Wenn man schon einen Namen annimmt, auf den man kein Recht hat, tut man gut daran, keine ordnungsgemäßen Formen vorzutäuschen.«

Da Frau von Villeparisis nun nur noch eine Frau Thirion war, sank sie vollends in meiner Achtung, die ja schon angesichts der gemischten Gesellschaft in ihrem Salon abgenommen hatte. Ich fand es ungerecht, daß eine Frau, deren Titel und Name fast ganz neu waren, nur wegen ihrer Freundschaft mit königlichen Familien den Zeitgenossen etwas vortäuschen könne und der Nachwelt dasselbe vortäuschen solle. Frau von Villeparisis wurde wieder, was sie in meiner Kindheit mir zu sein schien, eine Person, die nichts Aristokratisches hatte, die vornehmen Verwandten, die sie umgaben, schienen mir nicht zu ihr zu gehören. Sie blieb in der Folgezeit liebenswürdig zu uns. Ich besuchte sie bisweilen, und sie schickte mir oft ein Angebinde. Aber ich hatte durchaus nicht den Eindruck, sie gehöre zum Faubourg-Saint-Germain; sie wäre eine der letzten gewesen, an die ich mich gewandt hätte, um irgend einen Aufschluß über das Faubourg zu bekommen.

»Wenn Sie jetzt in Gesellschaft gehn,« fuhr Herr von Charlus fort, »schaden Sie nur Ihrer Stellung und verunstalten Ihren Geist und Ihren Charakter. Ferner müßten Sie auch ganz besonders Ihre Beziehungen zu Kameraden überwachen. Mätressen können Sie haben, wenn Ihre Familie nichts dagegen hat, das geht mich nichts an, dazu kann ich Sie nur ermutigen, kleiner Schäker, kleiner Schäker, bald werden Sie sich rasieren lassen müssen (er berührte mich am Kinn). Aber die Wahl der männlichen Freunde ist von ganz anderer Wichtigkeit. Von zehn jungen Leuten sind acht elendes kleines Lumpenpack, das Ihnen nur Schaden tun kann, der sich nicht wieder gutmachen läßt. Sehn Sie, mein Neffe Saint-Loup ist allenfalls ein guter Kamerad für Sie. Für Ihre Zukunft wird er Ihnen nichts nützen können, aber dafür genüge ich. Er kann ja schließlich mit Ihnen ausgehn in Stunden, in denen Sie von mir genug haben, dem steht meines Erachtens nichts entgegen. Wenigstens ist er ein Mann, nicht einer von diesen weibischen Gesellen, die man heutzutage überall trifft; wie kleine Schieber sehn sie aus und bringen vielleicht am andern Tage ihr unschuldiges Opfer aufs Schaffot.« Ich kannte den Sinn des Jargonausdrucks »Schieber« nicht. Aber auch einer, der ihn gekannt hätte, wäre ebenso überrascht gewesen wie ich. Leute der vornehmen Gesellschaft sprechen gerne Jargon, Leute, denen man gewisse Dinge vorwerfen kann, zeigen gerne, daß sie keine Furcht haben, von diesen Dingen zu reden. Das ist in ihren Augen ein Beweis von Unschuld. Aber sie haben den Maßstab verloren, sie geben sich nicht darüber Rechenschaft, von welchem Grade ab bestimmte Scherze zu selbständig und anstößig werden und eher auf Verderbtheit als auf Unbefangenheit schließen lassen. »Mein Neffe ist nicht wie die andern, er ist sehr nett, sehr gediegen.«

Über das Beiwort »gediegen« mußte ich lächeln. Wie Herr von Charlus es betonte, bekam es den Sinn von »tugendhaft«, von »solide«, wie man etwa von einer kleinen Arbeiterin sagt, sie sei gediegen. In diesem Augenblick kam ein Wagen vorbei, der immer kreuz und quer fuhr; ein junger Kutscher, der seinen Sitz verlassen hatte, lenkte ihn vom Innern des Wagens aus, dort saß er, offenbar halb betrunken auf den Kissen. Herr von Charlus hielt ihn plötzlich an. Der Kutscher unterhandelte erst ein wenig.

»Nach welcher Richtung wollen Sie?«

»Nach Ihrer« (das wunderte mich, Herr von Charlus hatte mehrere Fiaker abgewinkt, die Laternen von derselben Farbe hatten wie dieser).

»Aber ich will nicht wieder auf den Bock steigen. Ist es Ihnen gleich, wenn ich im Wagen bleibe?«

»Ja, aber lassen Sie das Verdeck herunter. – Also überlegen Sie sich meinen Vorschlag,« wandte er sich an mich, ehe er mich verließ, »ich gebe Ihnen ein paar Tage Zeit zum Nachdenken, schreiben Sie mir. Ich wiederhole Ihnen, ich werde Sie täglich sehn und Garantien für Ihre loyale Gesinnung und Verschwiegenheit haben müssen, die Sie übrigens, das muß ich sagen, zu geben scheinen. Aber mich hat im Laufe meines Lebens so oft der Anschein getäuscht, daß ich mich nicht mehr auf ihn verlasse. Sapperment, bevor ich einen Schatz aufgebe, muß ich doch wenigstens wissen, in was für Hände ich ihn lege. Also bedenken Sie, was ich Ihnen anbiete, Sie stehn am Scheidewege wie Herkules, dessen kräftige Muskulatur Sie zu Ihrem Unglück nicht zu besitzen scheinen. Sehn Sie zu, daß Sie es nicht lebenslänglich zu bereuen haben, nicht den Weg gewählt zu haben, welcher zur Tugend führt. – Wie? Sie haben das Verdeck noch nicht heruntergelassen«, sagte er zum Kutscher. »So werde ich es selbst einklappen. Obendrein werde ich wohl auch noch kutschieren müssen, glaube ich, Sie scheinen ja in einem merkwürdigen Zustand zu sein.«

Und er sprang neben den Kutscher in den Wagen, der schnell losfuhr.

 

Ich aber war kaum nach Hause gekommen, da erlebte ich das Seitenstück zu der Unterhaltung, die kurz vorher Bloch mit Herrn von Norpois gehabt hatte, nur in kurzer, umgekehrter und derberer Form: nämlich einen Streit zwischen unserm Butler, der für Dreyfus, und dem der Guermantes, der gegen Dreyfus war. Wahrheit und Gegenwahrheit, wie sie droben bei den Intellektuellen von der Vaterländischen Liga und der der Menschenrechte einander gegenüberstanden, verbreiteten sich in der Tat bis in die Tiefen des Volkes. Herr Reinach bearbeitete das Gefühl von Leuten, die er nie gesehn, und für ihn bildete der Fall Dreyfus doch nur einen unwiderlegbaren Lehrsatz, den er durch den denkbar größten Erfolg der rationellen Politik bewies, den man je erlebt hat (allerdings ein Erfolg, von dem manche behaupteten, er richte sich gegen Frankreich). Im Laufe von zwei Jahren ersetzte er ein Ministerium Billot durch ein Ministerium Clemenceau, schuf eine gänzlich neue öffentliche Meinung und holte Picquart aus seinem Gefängnis, um ihn, den Undankbaren, ins Kriegsministerium zu bringen. Vielleicht wurde dieser rationalistische Massenbearbeiter selbst von seiner Abstammung bearbeitet. Wenn es bei philosophischen Systemen, welche die höchsten Wahrheiten enthalten, bei genauester Nachprüfung sich erweist, daß sie ihren Urhebern durch Gründe diktiert sind, die aus dem Gefühl kommen, warum sollte man annehmen, daß bei einfachen politischen Angelegenheiten, wie der Fall Dreyfus eine war, nicht auch solche Gründe, ohne daß der vernünftige Politiker es merkt, seine Vernunft lenken. Bloch glaubte, seine Dreyfusanhänglichkeit logisch gewählt zu haben und wußte doch, daß Nase, Haut und Haar von seiner Rasse ihm aufgezwungen worden waren. Wohl ist die Vernunft freier; allein sie gehorcht gewissen Gesetzen, welche sie sich nicht selbst gegeben hat. Der Fall des Butlers der Guermantes und des unsern war von besonderer Art. Die Wogen der beiden Strömungen für und gegen Dreyfus, die Frankreich von oben bis unten in zwei Hälften spalteten, gingen ziemlich still, aber die seltenen Echos, die sie erweckten, waren aufschlußreich. Hörte man jemanden mitten in einem Gespräch, das die Affäre absichtlich vermied, eine politische Neuigkeit, die im allgemeinen falsch, aber immer erwünscht war, verstohlen vorbringen, dann konnte man von dem, was er ankündigte, auf die Richtung seiner Wünsche schließen. So standen oft hier ein schüchternes Aposteltum, dort eine heilige Entrüstung einander gegenüber. Die beiden Butler, denen ich zuhörte, als ich heimkam, machten eine Ausnahme von der Regel. Unsrer gab zu verstehn, Dreyfus sei schuldig, der der Guermantes, er sei unschuldig. Das taten sie nicht, um ihre Überzeugungen zu verbergen, sondern aus Bosheit und Spielsucht. Unserer war unsicher, ob die Revision zustande kommen werde, und wollte für den Fall, daß sie scheiterte, dem der Guermantes die Freude rauben zu meinen, eine gerechte Sache sei unterlegen. Der Butler der Guermantes dachte, würde die Revision abgelehnt, werde es für unsern Butler umso verdrießlicher sein, mitansehn zu müssen, wie ein Unschuldiger auf der Teufelsinsel festgehalten werde.

 

Ich ging zu uns hinauf und fand meine Großmutter kränker als vorher. Sie klagte seit einiger Zeit, ohne recht zu wissen, was sie hatte. Wenn wir krank sind, merken wir erst, daß wir nicht allein leben, sondern an ein Wesen aus einem andern Reiche gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen; es kennt uns nicht, und wir können uns ihm unmöglich verständlich machen. Dies Wesen ist unser Körper. Treffen wir auf der Landstraße einen Räuber, gelingt es uns vielleicht, für sein persönliches Interesse, wenn nicht für unser Unglück sein Gefühl zu erregen. Aber unsern Körper um Mitleid zu bitten, das ist, als wolle man mit einem Mollusk Erörterungen pflegen: unsere Worte können für einen Mollusk nicht mehr Sinn haben als das Geräusch des Wassers, es wäre entsetzlich für uns, zum Zusammenleben mit ihm verdammt zu sein. Meiner Großmutter entgingen oft ihre eigenen Beschwerden, ihre Aufmerksamkeit war immer uns zugewandt. Litt sie zu sehr, so mühte sie, um Heilung zu finden, vergeblich sich ab, zu begreifen, was ihr fehle. Blieben nun die Krankheitserscheinungen, deren Schauplatz ihr Körper war, dem Bewußtsein meiner Großmutter dunkel und unfaßbar, so waren sie doch klar und verständlich für Wesen, die demselben Naturreich angehörten wie diese Erscheinungen, nämlich die Naturen derer, an die der menschliche Geist sich schließlich gewandt hat, um zu verstehn, was ihm sein Körper sagt, wie man sich, um die Antworten eines Fremden zu verstehn, als Dolmetsch einen Landsmann dieses Fremden wühlt. Diese Dolmetscher können mit unserm Körper sprechen und uns sagen, ob sein Zorn schlimm ist oder ob er sich bald wird beschwichtigen lassen. Wir hatten Cottard gerufen, er lächelte schlau, als wir ihm sagten, die Großmutter sei krank, und sein erstes Wort war: »Krank? Es ist doch nicht am Ende eine diplomatische Krankheit?« Um die Erregung seiner Patientin zu beruhigen, versuchte Cottard es mit der Milchdiät. Aber die beständigen Milchsuppen hatten keinen Erfolg, weil meine Großmutter viel Salz hineintat (damals hatte Widal noch nicht seine Entdeckungen gemacht, und man wußte nichts von der Schädlichkeit des Salzes). Die Medizin ist ein Compendium einer Reihe von Irrtümern und Widersprüchen der Ärzte; ruft man die besten unter ihnen, kann man sich darauf gefaßt machen, eine Wahrheit anzurufen, die ein paar Jahre später als irrig erwiesen werden wird. An die Medizin zu glauben, wäre der Gipfel des Wahnsinns, wenns nicht ein noch höherer wäre, nicht an sie zu glauben; aus dieser Anhäufung von Irrtümern haben sich nämlich im Laufe der Zeit einige Wahrheiten abgelöst. Cottard hatte angeordnet, ihre Temperatur zu messen. Man holte ein Thermometer. In fast ihrer ganzen Höhe war die Röhre leer von Quecksilber. Kaum konnte man den silbernen Salamander entdecken, wie er ganz unten in seinem kleinen Becken kauerte. Er schien tot zu sein. Man tat das Glasrohr der Großmutter in den Mund. Wir brauchten es nicht lange darin zu lassen, der kleine Zauberer hatte bald sein Horoskop gestellt. Wir fanden ihn unbeweglich auf halber Höhe seines Turmes hockend, er regte sich nicht mehr. Genau zeigte er die von uns erfragte Ziffer, die alle Betrachtungen, welche die Seele meiner Großmutter über sich selbst hätte anstellen können, außerstande waren, ihr zu liefern: 38°3. Da wurden wir zum erstenmal etwas unruhig. Heftig schüttelten wir das Thermometer, um das prophetische Zeichen wegzubringen, als könnten wir mit der bezeichneten Temperatur zugleich das Fieber herabdrücken. Leider war es nur allzu deutlich, daß die kleine unvernünftige Sibylle ihre Antwort nicht willkürlich gegeben hatte, denn kaum war am nächsten Tag das Thermometer wieder zwischen die Lippen meiner Großmutter geschoben, so hatte auch mit einem Sprunge, in schöner Sicherheit und in intuitiver Erkenntnis einer Wahrheit, die uns verhüllt blieb, der kleine Prophet dieselbe Stelle erreicht, blieb dort starr und unerbittlich und zeigte uns mit seiner schimmernden Gerte die Ziffer 38°3. Sie sagte nichts anderes, blieb all unserm Wünschen, Wollen und Bitten taub, es war ihr letztes warnendes und drohendes Wort. Da gedachten wir sie zu zwingen, ihre Antwort abzuändern, und wandten uns an ein anderes Geschöpf desselben Reiches, aber von größerer Macht, welches sich nicht damit begnügt, den Körper zu befragen, sondern ihm Befehle gibt, an ein Fieber vertreibendes Mittel von der Art des Aspirin, welches damals noch nicht angewandt wurde. Wir hatten das Thermometer nur bis 37°5 heruntergedrückt, weil wir hofften, es werde dann auch nicht so hoch hinaufsteigen. Wir gaben der Großmutter das Fiebermittel ein und maßen sie dann wieder. Wie ein unerbittlicher Wächter, dem man den Befehl einer höheren Behörde zeigt, bei der man durch Protektion etwas erreicht hat, zur Antwort gibt: »Gut, in Ordnung, ich habe nichts dagegen zu sagen, Sie können damit passieren«, so machte der wachsame Hüter diesmal keine Bewegung. Aber mürrisch schien er zu meinen: »Was soll Ihnen das nützen? Sie kennen das Chinin, es wird mir einmal, zehnmal befehlen, mich nicht zu bewegen. Und dann wird es müde werden, ich kenne es besser. Es kann nicht immer dabei bleiben. Damit kommen Sie nicht weit.« Nun erlebte meine Großmutter in ihrem Innern die Gegenwart eines Geschöpfes, das den menschlichen Körper besser kannte als sie, die Gegenwart eines Zeitgenossen der verschwundenen Rassen, die Gegenwart des ersten Erdbewohners, der lange vor Erschaffung des denkenden Menschen lebte; sie fühlte, wie dieser Jahrtausende alte Bundesgenosse ihr Kopf, Herz, Ellbogen etwas hart betastete; er untersuchte das Gelände und setzte alles ins Werk für den prähistorischen Kampf, der gleich danach stattfand. Im Augenblick ward von dem mächtigen chemischen Element Python zerschmettert und das Fieber besiegt, und meine Großmutter wäre gern durch die Naturreiche über Tier- und Pflanzenwelt bis hin zu ihrem Retter vorgedrungen, um ihm zu danken. Und sie war erschüttert von ihrem – über die Jahrhunderte hinweg – Begegnen mit einem Klima, das weiter zurück lag als selbst die Erschaffung der Pflanzen. Wie eine Parze, die im Nu ein älterer Gott besiegt hat, hielt das Thermometer starr seine silberne Spindel. Leider aber wiesen uns niedrigere Geschöpfe, die der Mensch auf die Jagd nach dem Wild im Innern, das er selbst nicht verfolgen kann, abgerichtet hat, grausam Tag für Tag eine schwache, doch immer gleiche Menge Eiweiß vor, auch dies schien also in Beziehung zu einem beharrlichen Zustand zu stehn, den wir nicht wahrnehmen konnten. Bergotte hatte die ängstliche Bescheidenheit verletzt, mit der ich instinktiv meine Einsicht unterordnete, als er mir von Doktor du Boulbon sprach, einem Arzt, der mich nicht ärgern, der auf Behandlungen kommen würde, die mir gewiß seltsam erscheinen könnten, aber zu der Eigenart meines Geistes paßten. Allein die Ideen wandeln sich in uns, überwinden Widerstände, die wir ihnen erst entgegenstellten, und nähren sich von reichen geistigen Vorräten, die, ohne daß wir wußten, sie seien dafür da, in uns für sie bereitliegen. Jedesmal, wenn wir über einen Unbekannten Gutes hören, stellen wir uns unter ihm ein großes Talent, eine Art Genie vor, und so ließ ich in Gedanken dem Doktor du Boulbon das grenzenlose Vertrauen zugute kommen, das uns einflößt, wer tieferen Einblick in die Wahrheit als andere hat. Allerdings wußte ich, er war eigentlich Facharzt für Nervenleiden. Ihm hatte Charcot sterbend vorausgesagt, er werde über die Neurologie und Psychiatrie herrschen. »Na, ich weiß nicht, es ist schon möglich«, sagte Françoise, die zugegen war und zum erstenmal die Namen Charcot und du Boulbon hörte. Das hinderte sie nicht zu sagen: »Schon möglich«. Ihr häufiges »Schon möglich« oder »Vielleicht« oder »Ich weiß nicht« konnte einen in ähnlichen Fällen zur Verzweiflung bringen. Man hatte Lust, ihr zu antworten: »Selbstverständlich wissen Sie es nicht, da Sie das nicht kennen, worum sichs handelt; wie können Sie nur sagen, es sei möglich oder nicht möglich, Sie wissen ja nichts davon. Jedenfalls können Sie jetzt nicht behaupten, Sie wissen nicht, was Charcot zu du Boulbon gesagt hat usw., Sie wissen es, denn wir haben es Ihnen gesagt, und Ihre »Vielleicht« und »Schon möglich« sind hier nicht angebracht, denn es ist sicher.«

Da ich wußte, du Boulbon war ein großer Arzt, ein Mensch von höherer Art, ein erfinderischer und tiefer Geist, bat ich, obwohl er eigentlich mehr für Hirn- und Nervenleiden maßgebend war, meine Mutter inständig, ihn kommen zu lassen; und die Hoffnung, er werde die Krankheit richtig erkennen und vielleicht heilen, überwand schließlich unsere Furcht, die Großmutter durch Hinzuziehen eines zweiten Arztes zu erschrecken. Dazu ließ meine Mutter sich bestimmen, weil meine Großmutter, von Cottard unbewußt dazu ermutigt, nicht mehr ausging und gar nicht mehr aufstand. Wir konnten uns nicht damit begnügen, daß sie zu ihrer Rechtfertigung den Brief der Frau von Sévigné über Frau von Lafayette anführte: »Man fand es verrückt von ihr, daß sie nicht ausgehn wollte. Ich sagte denen, die so voreilig urteilten: Frau von Lafayette ist nicht verrückt, und dabei blieb ich. Sie hat sterben müssen, um zu beweisen, daß sie recht hatte, nicht auszugehn«. Du Boulbon wurde gerufen und gab – zwar nicht Frau von Sévigné, die man ihm nicht anführte, aber doch meiner Großmutter unrecht. Statt sie abzuhorchen, ließ er seine wunderbaren Blicke auf ihr ruhen, in denen vielleicht die Illusion zu lesen war, er forsche tief in der Kranken, oder der Wunsch, ihr diese Illusion zu erwecken (er tat das vielleicht ganz mechanisch, es wirkte aber spontan). Vielleicht wollte er auch nur sie nicht merken lassen, daß er an etwas ganz anderes dachte, oder wollte Macht über sie gewinnen. Und dann begann er, von Bergotte zu sprechen.

»Gewiß, gnädige Frau, er ist wunderbar, und Sie haben ganz recht, ihn zu lieben. Aber welches seiner Bücher schätzen Sie denn besonders? – So? Wirklich? Gott, ja, es ist vielleicht wirklich sein bestes. Jedenfalls sein am besten komponierter Roman: Claire ist wirklich reizend; und welche männliche Gestalt ist Ihnen am liebsten?«

Erst glaubte ich, er bringe sie auf Literatur zu sprechen, weil Medizin ihn langweile, oder er wolle vielleicht seine umfassende Bildung zeigen, oder es geschehe aus einer mehr therapeutischen Absicht, er wolle das Vertrauen der Kranken gewinnen, ihr zeigen, er sei unbesorgt um sie, sie von ihrem Zustande ablenken. Aber später habe ich begriffen, als hervorragender Facharzt, Irrenarzt und Verfasser bedeutender Untersuchungen über das Gehirn, wollte er durch seine Fragen feststellen, ob das Gedächtnis meiner Großmutter nicht gelitten habe. Scheinbar ungern fragte er sie mit finsterm, starrem Blick ein wenig über ihr Leben aus. Dann schien ihm plötzlich die Wahrheit aufzuleuchten, er war offenbar entschlossen, sich ihrer um jeden Preis zu bemächtigen; er machte erst eine etwas mühsame Gebärde, mit der er letzte Hindernisse und unsere etwaigen Einwendungen beiseite schob, sah dann die Großmutter mit leuchtenden Augen an, frei und als habe er endlich festen Boden unter den Füßen; sanft und ergreifend betonte er seine Worte, geistreich tönte er die Wendungen. (Seine Stimme behielt übrigens die ganze Zeit ihren natürlichen zärtlichen Wohllaut und unter buschigen Brauen blickten die Augen ironisch und voller Güte).

»Sie werden sich wohl fühlen, gnädige Frau, andern fernen oder nahen Tage – und nur von Ihnen hängt es ab, ob das nicht schon heute sein kann –, an welchem Sie einsehn, daß Ihnen nichts fehlt, und wieder am gewohnten Leben teilnehmen. Sie haben mir gesagt, Sie essen nicht, Sie gehn nicht aus.«

»Aber Herr Doktor, ich habe Fieber.«

Er berührte ihre Hand.

»In diesem Augenblick jedenfalls nicht. Und dann, was ist das für eine Entschuldigung? Wissen Sie nicht, daß wir Schwindsüchtige, die bis zu 39 Grad haben, im Freien sich aufhalten lassen und überernähren?«

»Aber ich habe auch etwas Eiweiß.«

»Das sollten Sie nicht wissen. Sie haben, was ich als geistiges Eiweiß bezeichnet habe. Wir haben alle im Verlauf eines Unwohlseins unsere kleine Eiweiß-Krise gehabt, und unser Arzt hat sie noch schnell verlängert, indem er uns darauf aufmerksam machte. Auf ein Leiden, das die Ärzte mit Arzneien heilen (das soll bisweilen vorkommen, man behauptet es wenigstens), kommen zehn, die sie Gesunden beibringen, indem sie ihnen einen Krankheitserreger einimpfen, tausendmal heftiger als alle Mikroben, den Gedanken, sie seien krank. Auf alle Temperamente wirkt dieser Glaube stark, und besonders deutlich zeigt; sich das bei Nervösen. Sagen Sie ihnen, ein geschlossenes Fenster hinter ihnen sei offen, gleich fangen sie an zu niesen, reden Sie ihnen ein, Sie haben ihnen Magnesium in die Suppe getan, so bekommen sie die Kolik, oder, ihr Kaffee sei stärker als gewöhnlich, so machen Sie die ganze Nacht kein Auge zu. Sie können mir glauben, gnädige Frau, mir hat es genügt, Ihre Augen zu sehn, zu hören, wie Sie sich ausdrücken, ja nur Ihre Frau Tochter und Ihren Enkel anzusehn, die Ihnen so ähnlich sind, um zu erkennen, mit wem ichs zu tun habe.« – »Vielleicht könnte sich die Großmutter, wenn der Doktor es ihr erlaubt, in eine stille Allee der Champs-Elysées setzen, da bei den Büschen, wo du damals gespielt hast«, sagte meine Mutter zu mir und befragte damit auf einem Umweg den Arzt, ihre Stimme bekam dadurch etwas schüchtern Gefügiges, was sie mir allein gegenüber nicht gehabt hätte. Der Doktor, der ebenso gebildet wie gelehrt war, wandte sich an die Großmutter: »Gehn Sie in die Champs-Elysées, gnädige Frau, zu den Lorbeerbüschen, die Ihr Enkel liebt. Der Lorbeer wird Ihnen heilsam sein. Er läutert. Nachdem Apollon den Drachen Python umgebracht hatte, zog er mit einem Lorbeerzweig in seiner Hand in Delphi ein. So wollte er sich vor den tödlichen Keimen des giftigen Untiers schützen. Sie sehn, der Lorbeer ist das älteste, ehrwürdigste und – möchte ich hinzufügen, weil das therapeutisch ebenso wie prophylaktisch von Wert ist – das schönste antiseptische Mittel.«

Da die Ärzte einen großen Teil ihres Wissens von den Kranken haben, neigen sie leicht zu dem Glauben, das Wissen der Patienten sei bei allen das gleiche; sie bilden sich ein, den, bei dem sie gerade sind, mit Bemerkungen in Erstaunen setzen zu können, die sie von denen übernommen haben, die sie vorher behandelten. So sagte mit dem feinen Lächeln des Parisers, welcher mit einem Bauern spricht und hofft, ihm mit einem Dialektwort zu imponieren, Doktor du Boulbon zu meiner Großmutter: »Vermutlich hilft Ihnen das windige Wetter schlafen in Augenblicken, in denen die stärksten Schlafmittel versagen«. – »Im Gegenteil, Herr Doktor, Wind hindert mich ganz und gar am Schlafen«. – Ärzte sind empfindlich. – Doktor du Boulbon runzelte die Stirn, als habe man ihn auf den Fuß getreten und als sei die Schlaflosigkeit meiner Großmutter in stürmischen Nächten eine persönliche Beleidigung für ihn. – »Ach«, murmelte er. Immerhin war er nicht allzu eitel, und da als ›höherer Geist‹ er es für seine Pflicht hielt, der Medizin keinen Glauben beizumessen, gewann er rasch seine philosophische Heiterkeit wieder.

Da sie leidenschaftlich wünschte, von dem Freunde Bergottes beruhigt zu werden, berichtete meine Mutter zur Bestätigung seiner Worte, eine Kusine der Großmutter habe ein Nervenleiden bekommen, sieben Jahre in ihrem Schlafzimmer sich eingeschlossen und sei nur ein- oder zweimal in der Woche aufgestanden.

»Sehn Sie, gnädige Frau, das wußte ich nicht und hätte es Ihnen doch sagen können.«

»Aber Herr Doktor, ich bin ganz anders als meine Kusine war, mein Arzt kann bei mir nicht durchsetzen, daß ich zu Bett bleibe«, sagte meine Großmutter, sei es, weil die Theorien des Doktors sie verdrossen, sei es, weil sie wünschte, die Einwürfe, die sich machen ließen, ihm zu unterbreiten, damit er sie widerlege; dann würde, wenn er einmal gegangen sei, kein Zweifel an seiner glücklichen Diagnose in ihr aufsteigen.

»Aber man kann natürlich nicht alle Tiks haben, verzeihen Sie mir den Ausdruck, gnädige Frau, Sie haben nicht diese, aber andere. Gestern besuchte ich ein Sanatorium für Neurastheniker. Im Garten stand auf einer Bank ein Mann unbeweglich wie ein Fakir, den Hals in eine Lage geneigt, die sehr quälend sein mußte. Als ich ihn fragte, was er da mache, antwortete er, ohne sich zu bewegen oder den Kopf zu drehen: »Herr Doktor, ich bin äußerst rheumatisch und erkälte mich leicht. Nun habe ich mir gerade zu viel Bewegung gemacht, und während ich mich dabei ganz dumm erhitzte, war mein Hals mit Flanell in Berührung. Wenn ich ihn jetzt von dem Flanell entferne, bevor ich mich abgekühlt habe, bekomme ich sicher einen steifen Hals und vielleicht eine Bronchitis.« Und die hätte er tatsächlich bekommen. »Sie sind ein echter Neurastheniker, das sind Sie«, sagte ich zu ihm. Wissen Sie, wie er mir das Gegenteil beweisen wollte? Alle andern Kranken der Anstalt hatten die Manie, ihr Gewicht zu messen, man hatte schon ein Schloß an die Waage machen müssen, damit sie nicht den ganzen Tag damit verbrächten, sich zu wiegen; ihn aber mußte man zwingen, auf das Wiegebrett zu steigen, so wenig Lust hatte er dazu. Er tat sich etwas darauf zu gute, daß er nicht die Manie der andern habe, und dachte nicht daran, daß er dafür seine persönliche hatte, die ihn vor einer anderen schützte. Mein Vergleich, gnädige Frau, darf Sie nicht verletzen, der Mann, der den Hals nicht zu drehen wagte, um sich nicht zu erkälten, ist der größte Dichter unserer Zeit. Dieser arme Irre ist der größte Geist, den ich kenne. Lassen Sie sichs gefallen, daß man Sie nervös nennt. Sie gehören zu der herrlichen und beklagenswerten Familie, die das Salz der Erde ist. Alles, was wir Großes kennen, kommt uns von den Nervösen. Sie und keine andern haben die Religionen begründet und die Meisterwerke geschaffen. Nie wird die Welt wissen, was sie ihnen alles verdankt, und vor allem, was sie gelitten haben, um es ihr zu geben. Wir genießen große Musik, schöne Bilder, tausend erlesene Dinge, wissen aber nicht, daß sie die, die sie erfanden, Schlaflosigkeit, Tränen, Lachkrämpfe, Nesselfieber, Asthma, Epilepsie und Todesangst gekostet haben, Todesangst, die das Schlimmste von allem ist. Sie kennen sie vielleicht, gnädige Frau,« er lächelte, »gestehn Sie es, als ich kam, war Ihnen nicht sonderlich zu Mute. Sie glaubten krank, vielleicht gefährlich krank zu sein. Gott weiß, von welchem Leiden Sie Symptome bei sich entdeckten. Und Sie irrten nicht, Sie hatten diese Symptome. Die Nervosität ist ein genialer Pasticciomaler. Es gibt keine Krankheit, die sie nicht wunderbar kopieren könnte. Täuschend ahmt sie die Blähungen der Dyspepsie, die Übelkeit der Schwangerschaft, die Arhythmie des Herzkranken, die Fieber des Schwindsüchtigen nach. Da sie den Arzt zu täuschen vermag, wie sollte sie nicht den Kranken täuschen? Oh! Glauben Sie nicht, ich spotte über Ihre Leiden, ich würde es nicht unternehmen, sie zu behandeln, wenn ich kein Verständnis für sie hätte. Nun denn, zu einem guten Geständnis gehört Gegenseitigkeit. Ohne Nervenleiden, habe ich gesagt, gibt es keinen großen Künstler, und, was mehr ist – würdig hob er den Zeigefinger –, keinen großen Gelehrten. Ich möchte hinzufügen, ohne selbst Nervenleiden gehabt zu haben, kann niemand, ich will nicht sagen, ein guter Arzt, aber jedenfalls kein mustergültiger Nervenarzt sein. Wenn in Fragen der Nervenpathologie ein Arzt nicht zu viele Dummheiten sagt, ist er ein halb geheilter Kranker, wie ein Kritiker ein Dichter ist, der keine Verse mehr macht, ein Polizist ein Dieb, der nicht mehr seine Tätigkeit ausübt. Ich, gnädige Frau, glaube zwar nicht wie Sie, Eiweiß zu verlieren, ich habe nicht die nervöse Angst vor Nahrung und freier Luft, aber ich kann nicht einschlafen, ohne mich mehr als zwanzigmal erhoben zu haben, um nachzusehn, ob meine Tür geschlossen ist. Und in dies Sanatorium, in dem ich gestern den Dichter traf, der den Hals nicht drehen wollte, war ich gegangen, um ein Zimmer zu mieten, denn, dies unter uns, ich verbringe dort meine Ferien damit, mich selbst zu pflegen, wenn meine Leiden sich dadurch verschlimmert haben, daß ich mich zu sehr anstrengte, die der andern zu heilen.«

»Müßte ich denn auch solch eine Kur durchmachen, Herr Doktor?« fragte erschrocken meine Großmutter.

»Nicht nötig, gnädige Frau. Die Symptome, über die Sie klagen, werden meinem Worte weichen. Und dann haben Sie jemand sehr Mächtigen bei sich, den ich von nun an zu Ihrem Arzt ernenne. Das ist Ihr Leiden, Ihre nervöse Überreiztheit. Ich wüßte wohl, wie ich Sie von dem heilen könnte, ich werde mich hüten, es zu tun. Es genügt mir, ihm Weisungen zu erteilen. Ich sehe auf Ihrem Tisch ein Werk von Bergotte. Würden Sie von Ihrer Nervosität genesen, sie würden es nicht mehr lieben. Wie käme ich dazu, Freuden, die dies Buch verschafft, gegen eine Nervenfestigkeit zu vertauschen, die außerstande wäre, Ihnen ebensolche zu geben? Gerade diese Freuden sind ein starkes Heilmittel, vielleicht das stärkste von allen. Nein, ich habe nichts gegen Ihre nervöse Energie. Ich möchte nur, daß sie auf mich hört. Ihr möchte ich Sie anvertrauen, Sie soll schieben anstatt zu ziehen. Die Kraft, mit der sie Sie hinderte auszugehn, ordentlich zu essen, soll sie anwenden, um sie zum Essen, Lesen, Ausgehn und jeder Art Zerstreuung zu bringen. Sagen Sie nicht, Sie seien zu müde. Müdigkeit ist die organische Verwirklichung einer vorgefaßten Meinung. Zunächst müssen Sie gar nicht an so etwas denken. Und sollten Sie jemals ein kleines Unwohlsein fühlen, was jedermann zustoßen kann, so wird es sein, als hätten Sie es nicht. Ihre nervöse Energie würde Sie, nach einem tiefen Wort von Talleyrand, zu einem eingebildeten Gesunden gemacht haben. Schauen Sie, sie hat schon angefangen, Sie zu heilen. Sie hören mir aufrecht sitzend zu, haben sich nicht ein einziges Mal aufgestützt, Ihr Blick ist lebhaft, Ihr Aussehn munter seit einer geschlagenen halben Stunde, und Sie haben es gar nicht gemerkt. Gnädige Frau, ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«

Nachdem ich Doktor du Boulbon hinausbegleitet hatte, kam ich in das Zimmer zurück und fand meine Mutter allein; der Kummer, der mich seit mehreren Wochen bedrückte, verflog, ich fühlte, gleich werde meine Mutter ihrer Freude freien Lauf lassen und meine bemerken. Es war mir unmöglich, den nächsten Augenblick abzuwarten, den Augenblick, in dem vor meinen Augen jemand eine Gemütsbewegung durchmachen werde (dies Gefühl hat – auf einer andern Ebene – etwas von der Furcht, jemand werde durch eine jetzt noch geschlossene Tür eintreten, um uns zu erschrecken), ich wollte Mama ein Wort sagen, aber meine Stimme versagte, Tränen stürzten mir aus den Augen, und lange lag ich mit dem Kopf an ihrer Schulter, beweinte und genoß den Schmerz, nahm ihn gern hin, liebte ihn jetzt, da ich wußte, daß er aus meinem Leben fort war – so begeistern wir uns gern für tugendhafte Vorsätze, wenn die Umstände uns nicht erlauben, sie zur Ausführung zu bringen. Françoise, die unsere Freude nicht mitmachte, ging mir auf die Nerven. Sie war sehr aufgeregt, weil es einen schrecklichen Auftritt zwischen dem Lakaien und dem ausplaudernden Portier gegeben hatte. Die Herzogin mußte gütig vermitteln, einen Scheinfrieden herstellen und dem Lakaien vergeben. Denn sie war gut, und es wäre eine ideale Stelle gewesen, wenn sie nicht auf den »Tratsch« gehört hätte.

Es war schon seit mehreren Tagen bekannt, daß meine Großmutter leidend sei, und man erkundigte sich nach ihrem Ergehn. Saint-Loup hatte mir geschrieben: »Ich will nicht die Stunden, in denen Deine liebe Großmutter sich nicht wohl fühlt, benutzen, um Dir Vorwürfe, mehr als bloß Vorwürfe zu machen über Dinge, mit denen sie nichts zu tun hat. Aber ich müßte lügen, wenn ich Dir sagte, sei es auch nur, indem ich darüber hinwegginge, ich könne jemals Dein heimtückisches Benehmen vergessen, und es sei möglich, Dir Deinen schurkischen Verrat zu verzeihen.« Aber Freunde, die meine Großmutter für nicht erheblich leidend hielten (oder gar nichts von ihrem Leiden wußten), hatten mich gebeten, sie am nächsten Tag in den Champs-Elysées zu treffen, um zusammen mit ihnen einen Besuch zu machen und zu einer Abendgesellschaft auf dem Lande zu gehn, auf die ich mich freute. Nun lag für mich kein Grund mehr vor, auf diese beiden Zerstreuungen zu verzichten. Als man meiner Großmutter gesagt hatte, sie müsse jetzt, um Doktor du Boulbon zu gehorchen, sich viel im Freien bewegen, war gleich, wie man gesehn hat, von den Champs-Elysées die Rede gewesen. Dahin konnte ich sie bequem begleiten, konnte, während sie saß und las, mich mit meinen Freunden verständigen, wo wir uns treffen wollten, und hatte, wenn ich mich beeilte, Zeit, mit ihnen in den Zug nach Ville-d'Avray zu steigen. Zur besprochenen Zeit wollte meine Großmutter nicht ausgehn, sie fühlte sich müde. Aber meine Mutter hatte du Boulbons Worte nicht vergessen und war energisch genug, böse zu werden und sich Gehorsam zu verschaffen. Fast weinte sie bei dem Gedanken, die Großmutter könne wieder in ihre nervöse Schwäche verfallen, von der sie dann sich nicht mehr erholen würde. So schönes warmes Wetter würde sie sobald nicht wieder zum Ausgehn haben. Mit jeder Bewegung zerteilte die Sonne die feste Masse des Balkons, schaltete ihre unbeständigen Musselinstreifen ein und gab den Quadersteinen laue Haut und schimmernde Rahmen von blassem Gold. Da Françoise nicht Zeit gehabt hatte, ihrer Tochter eine »Rohrpost« zu schicken, so verließ sie uns gleich nach dem Mittagessen. Es war schon sehr viel, daß sie noch vorher zu Jupien ging, an der Mantille, welche die Großmutter umtun wollte, einen Stich machen zu lassen. In diesem Augenblick kam ich gerade von meinem Morgenspaziergang heim und trat mit ihr in den Laden des Westenschneiders. »Bringt der junge Herr Sie mir hierher mit oder bringen Sie mir ihn,« fragte Jupien Françoise, »oder führt Sie ein günstiger Wind und ein glücklicher Zufall beide zusammen her?« Jupien hatte zwar keine höhere Schule besucht, aber er respektierte von Natur die Syntax, wie Herr von Guermantes trotz vieler Mühe sie von Natur verletzte. Als dann Françoise fort und die Mantille ausgebessert war, mußte meine Großmutter sich anziehen. Hartnäckig wies sie Mamas Hilfe zurück und brauchte allein eine endlose Zeit, um Toilette zu machen. Jetzt, da ich wußte, es ging ihr gut, fand ich – so gleichgültig sind wir, solange sie leben, gegen unsere Verwandten, und alle andern gehn ihnen für uns vor –, es recht selbstsüchtig von ihr, so langsam zu sein, dadurch konnte ich mich verspäten, und sie wußte doch, ich hatte eine Verabredung mit Freunden und sollte zum Essen in Ville d'Avray sein. Ungeduldig ging ich schließlich schon voran auf die Treppe, nachdem man mir zweimal gesagt hatte, sie sei gleich fertig. Endlich holte sie mich ein, bat mich aber gar nicht um Entschuldigung für ihre Verspätung, wie sie es sonst immer in solchen Fällen tat. Rot und zerstreut wie jemand, der in Eile ist und die Hälfte seiner Sachen vergessen hat, erschien sie, ich aber stand schon bei der halboffnen Glastür, durch die von draußen lichte, lau rieselnde Luft wie aus einem geöffneten Behälter drang, ohne die eisigen Innenwände des Hauses im geringsten zu erwärmen.

»Mein Gott, da du Freunde treffen wirst, hätte ich eine andre Mantille umnehmen sollen. Mit der hier sehe ich etwas kläglich aus.«

Ich war betroffen, wie erhitzt sie aussah, sie mochte sich wohl sehr abgehetzt haben, um sich nicht noch mehr zu verspäten. Als wir an der Einmündung der Avenue Gabriel in die Champs-Elysées aus dem Wagen gestiegen waren, wandte sich meine Großmutter, ohne ein Wort zu sagen, seitwärts und ging auf den alten, kleinen, grünvergitterten Pavillon zu, wo ich eines Tages Françoise erwartet hatte. Der Parkwächter von damals war noch immer bei der »Marquise«, als ich hinter der Großmutter – sie schien von einer Übelkeit befallen worden, sie hielt die Hand vor den Mund – die Stufen zu diesem kleinen ländlichen Theater hinaufstieg, das mitten in den Gärten erbaut war. An der Kasse saß immer noch mit ihrer großen, unregelmäßigen, gipsbezognen Schnute und dem rotgeblümten Häubchen mit schwarzer Spitze oben auf ihrer roten Perücke die Marquise und zog die Eintrittsgebühren ein – wie vor dem Jahrmarktszirkus der Clown, weißgeschminkt und fertig zum Auftreten, selbst das Geld für die Plätze kassiert. Ich glaube, sie erkannte mich nicht. Statt Busch und Rasen zu bewachen, deren Farbe seiner Uniform angepaßt war, saß der Wärter bei ihr und schwatzte.

»Also Sie sind immer noch hier. Sie denken nicht daran, sich zurückzuziehen«, sagte er.

»Warum sollte ich mich zurückziehen? Sagen Sie mir doch, wo ich besser aufgehoben wäre als hier, wo ich es bequemer und behaglicher hätte. Hier gibts immer ein Kommen und Gehn, hier gibts Zerstreuung, ich nenne das mein Klein-Paris: meine Kunden halten mich auf dem Laufenden über alles, was geschieht. Schauen Sie, Herr Aufseher, da ist einer, – er ist gerade vor kaum fünf Minuten weggegangen – das ist ein sehr hochgestellter Beamter. Seit acht Jahren« (sie hob die Stimme, als sei sie entschlossen, die Wahrheit ihrer Behauptung forsch zu beweisen, falls der Vertreter der Staatsgewalt Miene mache, sie zu bestreiten), »verstehn Sie mich, seit acht Jahren ist er jeden Tag, den Gott gemacht hat, Punkt drei Uhr hier, immer höflich, nie ein lautes Wort, nie beschmutzt er etwas, er bleibt über eine halbe Stunde und liest seine Zeitungen, während er sein kleines Geschäft verrichtet. Einen einzigen Tag ist er nicht gekommen. Im Augenblick habe ich es nicht gemerkt, aber abends fiel mir plötzlich ein: Der Herr ist doch heute nicht gekommen, er ist vielleicht gestorben. Das ist mir nahegegangen, denn ich werde sehr anhänglich, wenn Leute angenehm sind. Ich war denn auch recht froh, als ich ihn am nächsten Tag wiedersah. Ich hab ihm gesagt: »Es ist Ihnen doch gestern nichts zugestoßen, lieber Herr?« Da hat er gesagt, daß ihm selbst nichts zugestoßen sei, aber seine Frau sei gestorben, und das habe ihn so mitgenommen, daß er nicht kommen konnte. Er sah wahrhaftig traurig aus, Sie verstehn, Leute, die seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet waren, aber er sah doch auch zufrieden aus, wieder herzukommen. Man merkte es ihm an, er war ganz aufgestört aus seinen kleinen Gewohnheiten. Ich habe versucht, ihn aufzumuntern, habe ihm gesagt: »Man darf sich nicht gehn lassen. Kommen Sie wie früher her, das gibt Ihnen eine kleine Zerstreuung in Ihrem Kummer«.«

Die »Marquise« sprach wieder in sanftem Ton, sie hatte festgestellt, der Beschirmer der Büsche und Rasenflächen höre ihr gutmütig, ohne an Widerspruch zu denken, zu; harmlos hing ihm sein Degen in der Scheide und sah mehr nach einem Gärtnerwerkzeug oder Parkattribut aus.

»Und dann wähle ich auch meine Kunden,« fuhr sie fort, »ich empfange nicht all und jeden in dem, was ich gerne meine Salons nenne. Mit meinen Blumen sieht es doch wie ein Salon aus, nicht wahr? Ich habe sehr liebenswürdige Kunden, einer oder der andere bringt mir immer einen Zweig Flieder oder Jasmin oder Rosen mit, meine Lieblingsblumen.«

Bei dem Gedanken, diese Dame sei schlecht auf uns zu sprechen, weil wir ihr weder Flieder noch schöne Rosen brächten, wurde ich rot, und um ihrem ungünstigen Urteil leiblich zu entgehn oder doch nur in contumaciam von ihr verurteilt zu werden, ging ich auf die Ausgangstür zu. Aber es werden nicht immer die am liebenswürdigsten behandelt, die schöne Rosen bringen: die »Marquise« mochte glauben, ich langweile mich, sie wandte sich zu mir und sagte:

»Soll ich Ihnen nicht eine kleine Kabine öffnen?«

Und als ich ablehnte:

»Nein, Sie wollen nicht?« – sie lächelte – »es war gut gemeint, aber ich weiß, das sind Bedürfnisse, die man noch nicht zu haben braucht, weil man nicht dafür zahlt.«

In diesem Augenblick trat eine schlecht gekleidete Frau ein, die diese Bedürfnisse gerade zu haben schien. Aber sie gehörte nicht zu der »Gesellschaft« der »Marquise«, denn die erklärte ihr trocken wie ein Snob, der grob wird:

»Es ist nichts frei.«

»Wird es lange dauern?« fragte die arme Dame und wurde rot unter ihren gelben Blumen.

»Ach, Madame, ich rate Ihnen, woanders hinzugehn, Sie sehn, es warten schon zwei Herren,« – sie zeigte auf mich und den Aufseher – »und ich habe nur ein Kabinett, die andern werden gerade repariert.«

»Die sah nach einer schlechten Zahlerin aus«, sagte die »Marquise«. »Das ist nicht die rechte Kundschaft für mich, solche Leute sind nicht sauber, nehmen keine Rücksicht, da hätte ich nachher eine Stunde lang für die gnädige Frau sauber machen können. Um ihre zwei Sous ists mir nicht leid.«

Endlich kam meine Großmutter heraus. Ich fürchtete, sie werde nicht daran denken, durch ein Trinkgeld die Unbescheidenheit wiedergutzumachen, daß sie so lange geblieben war, und, zog mich schnell zurück, um nicht auch mein Teil von der Verachtung abzubekommen, mit der die »Marquise« sie behandeln werde; ich betrat eine Allee, ging aber langsam, damit die Großmutter mich bequem einholen und mit mir weitergehn könne. Das geschah auch bald. Ich dachte, die Großmutter werde zu mir sagen: »Ich habe dich warten lassen, ich hoffe, du wirst deine Freunde doch noch treffen«, aber sie sprach kein Wort; ich war etwas enttäuscht und wollte nicht zuerst das Schweigen brechen; schließlich hob ich die Augen zu ihr und sah, sie hatte, während sie neben mir ging, den Kopf nach der andern Seite gedreht. Ich fürchtete, ihr sei wieder schlecht. Ich sah genauer hin und war betroffen, wie schwer und ruckweise sie sich bewegte. Ihr Hut saß schief, ihr Mantel war schmutzig, sie sah unordentlich und unzufrieden aus, rot und wirr, wie jemand, den ein Wagen umgeworfen oder den man aus einem Graben gezogen hat.

»Ich habe gefürchtet, dir sei schlecht geworden, Großmutter; fühlst du dich jetzt wohler?« fragte ich.

Sie dachte wohl, es würde mich sicher beunruhigen, wenn sie nicht antwortete, und sagte:

»Ich habe das ganze Gespräch zwischen der »Marquise« und dem Aufseher gehört. Das war ja äußerst »Guermantes-« und kleiner »Verdurin-Kreis«. Gott! In was für eleganten Ausdrücken sie diese Dinge vorbrachten.« Und geflissentlich führte sie noch ein Wort ihrer Marquise, der Frau von Sévigné, hinzu: »Während ich ihnen zuhörte, mußte ich denken, sie bereiten mir einen wohltuenden Abschied.«

So sprach sie zu mir und legte all ihren Scharfsinn, ihren Geschmack an Zitaten, ihr gutes Gedächtnis für die Klassiker, sogar noch etwas mehr als gewöhnlich in ihre Worte, es war, als wolle sie zeigen, daß ihr das alles noch ganz zu Gebote stände. Aber was sie sagte, erriet ich mehr, als daß ich es verstand, sie sprach mit gepreßter Stimme und zusammengebissenen Zähnen, das konnte nicht nur Furcht vor einem Erbrechen sein.

Damit es nicht so aussehe, als nehme ich ihr Unwohlsein allzu ernst, sagte ich etwas leichthin: »Nun, da dir ein bißchen schlecht ist, wollen wir, wenn du magst, nach Hause gehn. Eine Großmutter, die sich den Magen verdorben hat, will ich nicht in den Champs-Elysées spazieren führen.«

»Ich traute mich nicht, dir das vorzuschlagen, wegen deiner Freunde«, antwortete sie. »Armer Junge! Aber da du es willst –, es ist vernünftiger.«

Mir war Angst, sie merke selbst gar nicht, wie sie die Worte aussprach, und hastig sagte ich: »Sprich nicht, das strengt dich an; dir ist doch schlecht; warte wenigstens, bis wir zu Hause sind.«

Traurig lächelte sie mir zu und drückte mir die Hand. Sie hatte begriffen, es war mir nicht zu verbergen, ich hatte es gleich erraten: sie hatte einen kleinen Anfall gehabt.


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