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I.

Das Piepen der Vögel morgens kam Françoise abgeschmackt vor. Bei jedem Wort der »Bonnen« fuhr sie in die Höhe; es war ihr lästig, wenn sie ihre Schritte hörte, und sie fragte sich, was sie nur treiben! Wir waren umgezogen. Gewiß machten die Dienstboten, die sie in dem sechsten Stock über unserer früheren Wohnung hörte, nicht weniger Lärm; aber die kannte sie, mit ihrem Kommen und Gehn hatte sie sich angefreundet. Jetzt gab sie gequält sogar auf die Stille acht. Und da unser neues Viertel so still schien wie der Boulevard, an dem wir bisher wohnten, laut war, trieb – schwach, von fern gehört wie ein Orchestermotiv – das Lied eines Vorübergehenden der Françoise in ihrem Exil die Tränen in die Augen. Wohl hatte ich mich über sie lustig gemacht, als sie bekümmert war, ein Haus verlassen zu müssen, wo man »allerseits so geachtet« war, als sie mit Tränen ihre Koffer nach den Riten von Combray packte und das Haus, das unser Haus war, für das beste aller denkbaren Häuser erklärte; nun aber fühlte ich, der ich doch so leicht Neues aufnahm und Altes aufgab, mich unserer alten Dienerin näher, als ich sah, wie es sie nahezu krank machte, in einem Hause sich einrichten zu müssen, wo ihr von dem Pförtner, der uns noch nicht kannte, nicht die Achtung bezeigt wurde, die für ihre gute seelische Ernährung so notwendig war. Sie allein konnte mich verstehn, sicherlich nicht ihr junger Lakai: für ihn, der eben ganz und gar nicht aus Combray war, bedeutete umziehen und ein neues Viertel bewohnen etwas ähnliches wie Ferien haben; die Neuheit aller Dinge wirkte beruhigend auf ihn wie eine Reise; ihm war zu Mute wie auf dem Lande; ein Schnupfen gab ihm, wie ein Luftzug, den man am schlecht schließenden Waggonfenster bekommt, den köstlichen Eindruck, er habe fremdes Land gesehn; jedesmal, wenn er nieste, freute er sich, eine so feine Stellung gefunden zu haben; hatte er sich doch immer eine Herrschaft gewünscht, die viel reiste. So kümmerte ich mich denn nicht um ihn, sondern wandte mich an Françoise selbst; aber wie ich über ihre Tränen bei einem Umzug, der mich kalt ließ, gelacht hatte, blieb nun sie meiner Traurigkeit gegenüber eisig, weil sie sie teilte. Mit der angeblichen Empfindlichkeit der Nervösen wächst ihre Selbstsucht; sie können nicht ertragen, daß andere sich Beschwerden anmerken lassen, die sie bei sich mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgen. Françoise, die von den eigenen nicht die geringste unbeachtet vorübergehn ließ, wandte den Kopf ab, wenn ich litt, damit ich nicht das Vergnügen habe, mein Leiden beklagt oder auch nur bemerkt zu sehn. So verhielt sie sich auch, sobald ich ihr von unserm neuen Haus sprechen wollte. Nach zwei Tagen mußte sie noch Kleider holen, die wir im alten Haus vergessen hatten; während ich nun noch vom Umzug her »Temperatur« hatte und wie eine Boa, die einen Ochsen verschlungen hat, mich qualvoll aufgeschwollen fühlte von dem Anblick einer langen Truhe, die meine Augen nicht »verdauen« wollten, sagte Françoise, als sie aus der alten Wohnung wiederkam, mit weiblicher Untreue, sie habe nicht atmen können auf unserm alten Boulevard, sie sei auf dem Nachhauseweg »ganz aus der Déroute gekommen«, nie habe sie so unbequeme Treppen gesehn, nicht für ein Kaiserreich würde sie da wieder wohnen wollen, Millionen könnte man ihr bieten (im Grunde gegenstandslose Hypothesen), alles (das heißt, was Küche und Gänge betraf) sei in unserm neuen Heim viel besser »aufgezogen«. Nun wird es Zeit zu sagen, daß dies – wir hatten es bezogen, weil meine Großmutter sich nicht sehr wohl fühlte und reinere Luft nötig hatte, ein Grund, den wir ihr wohlweislich verschwiegen – eine Wohnung war, die zu dem Hause Guermantes gehörte.

In dem Alter, in dem die Namen uns Bilder des Unkennbaren, das wir in sie gelegt haben, darbieten und uns zugleich wirklich vorhandene Orte bezeichnen, zwingen sie uns, Bild und Ort zu identifizieren. So kommt es, daß wir in einer Stätte eine Seele suchen, die sie gar nicht enthalten kann, aber wir können sie eben nicht mehr aus ihrem Namen vertreiben. Und darum geben die Namen nicht nur Städten und Flüssen eine Individualität (in der Art allegorischer Malerei), nicht nur das physische Universum malen sie bunt und vielfältig aus und bevölkern es mit Wundern, sondern auch das soziale; jedes Schloß, jedes berühmte Haus, oder jeder Palast bekommt seine Dame, seine Fee, wie die Wälder ihre Genien haben und ihre Gottheiten die Gewässer. Tief im Innersten ihres Namens verwandelt die Fee sich bisweilen, da sie dem Leben unserer Phantasie, von welchem sie sich nährt, gefallen will; so war die Atmosphäre, in der Frau von Guermantes für mich existierte, jahrelang nur der Widerschein eines Laterna-Magica-Bildes und eines Kirchenfensters gewesen; jetzt verlor sie diese Farben allmählich, und ganz andere Träume gaben ihr schäumige Feuchte von Gießbächen.

Allein die Fee vergeht, wenn wir uns der wirklichen Person nähern, der ihr Name entspricht, denn nun beginnt der Name die Person widerzuspiegeln, und die enthält nichts von der Fee; die Fee kann aufleben, wenn wir uns von der Person entfernen; bleiben wir aber, so stirbt die Fee endgültig und mit ihr der Name, wie die Familie Lusignan an dem Tage erlöschen muß, an dem die Fee Melusine verschwindet. Der Name, unter dessen vielen Übermalungsschichten wir schließlich als das eigentliche das schöne Bild einer Unbekannten hätten finden können, die wir nie kennenlernen, ist dann nur noch die einfache Paßphotographie, die wir uns nur vergegenwärtigen, um festzustellen, ob wir eine Person, der wir begegnen, grüßen müssen oder nicht. Aber manchmal gibt ein Eindruck vergangener Jahre – wie Phonographen, welche Klangfarbe und Stil verschiedener Künstler, die für sie spielten, registrieren – unserm Gedächtnis die Fähigkeit, einen Namen mit dem besondern Klang uns vernehmbar zu machen, den er damals für unser Ohr hatte: scheinbar ohne daß dieser Name ein anderer geworden sei, fühlen wir die Spanne, welche die wechselnden Träume, mit denen wir diese gleichbleibenden Silben erfüllten, voneinander trennt. Für einen Augenblick können wir aus dem neu vernommenen Klang von Vogelstimmen eines früheren Frühlings wie aus kleinen Farbentuben – die genaue vergessene geheimnisvolle frische Nuance jener Tage gewinnen, an die wir uns immer erinnern zu können glaubten, und doch hatten wir nur wie schlechte Maler unserm ganzen, auf eine große Leinwand gebreiteten früheren Leben die üblichen, immer gleichen Töne willkürlichen Gedächtnisses verliehen. Und jeder der Augenblicke, aus denen sie sich zusammensetzt, verwandte doch zu einer Originalschöpfung von einzigartiger Harmonie die Farben von damals, welche wir nicht mehr kennen. Mich entzücken sie immer noch, wenn mit einmal durch irgendeinen Zufall der Name Guermantes für einen Augenblick nach so viel Jahren wieder jenen ganz andern Klang bekommt, den er am Tage der Hochzeit von Fräulein Percepied für mich hatte: dann sehe ich wieder das süße, zu leuchtende, zu neue Lila im Sammetglanz der bauschenden Krawatte, welche die junge Herzogin trug und – wie unpflückbares wiedererblühtes Immergrün – ihre Augen, von blauem Lächeln durchsonnt. Und der Name Guermantes von damals ist auch wie einer der kleinen Ballons, in die man Sauerstoff oder irgendein anderes Gas einschließt; bring ich ihn zum Platzen, laß ich seinen Inhalt heraus, so atme ich wieder die Luft von Combray, die Luft jenes Jahres und Tages, vermengt mit dem Weißdornduft an der Ecke des Platzes im regenschweren Winde, der die Sonne bald vertrieb, bald auf den roten Wollteppich der Sakristei ausbreitete – der bekam dann die leuchtende, fast rosa Fleischfarbe von Geranium und eine sozusagen wagnerische Süße mitten in dem lauten Frohsinn, welche den Festen ihre Würde wahrt. Aber dies Erlebnis beschränkt sich nicht auf solche seltenen Minuten, in denen wir plötzlich aus den erstorbenen Silben ursprüngliches Wesen bebend aufsteigen und Form und Umriß gewinnen fühlen. Haben die Namen auch im taumelnden Wirbel des laufenden Lebens, wo sie nur noch rein praktisch gebraucht werden, alle Farbe verloren, wie ein prismatischer Kreisel, der sich zu schnell dreht und grau aussieht –, wenn wir träumend nachdenken und, um ins Vergangene zurückzufinden, die beständige Bewegung, die uns mitreißt, zu verlangsamen, aufzuheben versuchen, dann sehn wir nach und nach nebeneinander, doch alle deutlich unter sich geschieden, die Farbtöne auftauchen, die im Lauf unseres Daseins, einen nach dem andern, ein und derselbe Name uns darbot.

Zwar weiß ich nicht, welche Form in meinen Augen der Name Guermantes bekam, als meine Amme mich einwiegte mit dem alten Lied: Heil der Marquise von Guermantes – und sie wußte wohl so wenig wie heut ich selbst, zu wessen Ehren dieses Lied komponiert worden war – oder als ein paar Jahre später der alte Marschall von Guermantes zum Stolz meines Kindermädchens in den Champs-Elysées bei uns stehn blieb, ausrief: »Ein schönes Kind!« und dabei aus einer Bonbonniere ein Schokoladenplätzchen herausholte. Diese ersten Jahre meiner Kindheit sind nicht mehr in mir, sie sind mir ein Äußeres, über das ich wie über alles, was vor unserer Geburt gewesen ist, nur aus Berichten anderer etwas erfahren kann. Für später aber finde ich hintereinander in der Fortdauer dieses Namens in mir sieben oder acht verschiedene Figuren; die ersten waren die schönsten; nach und nach aber wurde mein Traum gezwungen, eine unhaltbare Stellung aufzugeben und verschanzte sich weiter diesseits, bis er auch von dort noch zurückweichen mußte. Und sooft Frau von Guermantes ihren Wohnort wechselte – auch er entstammte diesem Namen, den von Jahr zu Jahr Worte, welche ich hörte, von neuem befruchteten und dadurch meine Träumereien änderten –, spiegelte jeder neue Wohnort meine Träume in seinen Steinen, die wie die Oberfläche einer Wolke oder eines Sees rückzustrahlen begannen. Ein Wartturm – nur in der Fläche vorhanden, nur ein strahlendes Band orangegelben Lichtes –, von dem herab der Ritter und seine Dame über Leben und Tod der Vasallen entschieden, hatte, ganz am Ende jener »Gegend um Guermantes«, wo ich manchen schönen Nachmittag mit meinen Eltern dem Lauf der Vivonne folgte, dem bächereichen Lande Platz gemacht, wo die Herzogin mich den Forellenfang und die Namen der Blumen lehrte, die in violetten und rötlichen Trauben die niedern Mauern der Nachbargehöfte schmückten; sodann war es das Erbland, die herrliche Domäne gewesen, auf der das stolze Geschlecht Guermantes wie ein altgelber, wappengeschmückter Turm über Frankreich zu einer Zeit sich erhob, als der Himmel da noch leer war, wo später Notre-Dame von Paris und Notre-Dame von Chartres ragen sollten, als auf den Hügel von Laon noch nicht das Schiff der Kathedrale sich niedergelassen hatte wie die Arche der Sintflut auf den Gipfel des Ararat, voll von Gerechten und von Patriarchen, welche sich ängstlich in die Fenster lehnen, um zu sehn, ob Gottes Zorn nachgelassen hat, versorgt mit Mustern der Gewächse, die auf Erden sich vermehren sollten, und übervoll von Tieren, die sich schauend drängen bis oben in die Türme, auf deren Dächern friedliche Rinder sich ergehn und hinuntersehn auf die Ebenen der Champagne; es war die Zeit, da der Wanderer, der gegen Abend Beauvais verließ, noch nicht bei jeder Wegbiegung hinter sich her auf der Goldwand des Sonnenunterganges die schwarzverzweigten Flügel der Kathedrale nachkommen sah. Dies Guermantes war wie der Rahmen eines Romans, ein Phantasie-Land, das ich mir kaum vorstellen konnte und um so mehr zu entdecken wünschte, eine Enklave inmitten wirklicher Länder und Landstraßen, die plötzlich zwei Meilen von einem Bahnhof etwas Heraldisches bekamen; die Namen benachbarter Ortschaften waren mir gegenwärtig, als wären sie am Fuß des Parnasses oder des Helikon gelegen, wertvoll als materielle, topographische Bedingungen einer Wundererscheinung. Ich sah die Wappen wieder, die unter den Kirchenfenstern von Combray auf die Mauer gemalt sind; ihre Felder hatten mit jedem Jahrhundert neuen Feudalbesitz aufgenommen, den das erlauchte Haus durch Heirat oder Erwerb aus allen Ecken Deutschlands, Italiens und Frankreichs sich hatte zuströmen lassen; gewaltige Ländereien im Norden und mächtige Städte im Süden hatten sich vereint und miteinander Guermantes gebildet, hatten ihr eignes materielles Wesen aufgegeben und ihren grünen Turm oder ihr Silberschloß in das azurne Feld eingesetzt. Ich hatte von den berühmten Wandteppichen von Guermantes gehört und sah sie mittelalterlich, blau und etwas derb sich von dem amarantenen sagenhaften Namen abheben wie eine Wolke dort unten an dem altertümlichen Wald, wo so oft Childebert jagte; mir war, als könnte ich in die heimlichste Tiefe der Länder, in die Ferne der Jahrhunderte reisen und in ihr Mysterium eindringen, wenn ich nur einen Augenblick in Paris der Frau von Guermantes nahe kommen könnte, der Lehnsherrin der Stätte und der Dame vom See, als müßten ihre Mienen und Worte den örtlichen Zauber von Hochwald und Ufer besitzen und die gleichen Züge früherer Jahrhunderte wie der alte Landrechtkodex in ihrem Archiv. Dann aber hatte ich Saint-Loup kennen gelernt, und er hatte mir mitgeteilt, das Schloß heiße Guermantes erst seit dem siebzehnten Jahrhundert, in welchem seine Familie es erworben habe. Bis dahin hatte sie in der Nachbarschaft residiert, und ihr Titel kam nicht von dieser Gegend. Das Dorf Guermantes hatte seinen Namen vom Schloß erhalten, war erst nach ihm erbaut worden, und um die Fernsichten nicht zu zerstören, regelte ein in Kraft gebliebenes Servitut den Grundriß der Straßen und beschränkte die Höhe der Häuser. Die Wandteppiche waren von Boucher; ein kunstliebender Guermantes hatte sie im neunzehnten Jahrhundert gekauft und in einem recht häßlichen, mit Kattun und Plüsch ausgeputzten Salon neben mittelmäßigen Jagdbildern, die er selber gemalt hatte, aufgehängt. Durch diese Enthüllungen brachte Saint-Loup in das Schloß Elemente, die dem Namen Guermantes fremd waren und mir verwehrten, weiterhin einzig dem dröhnenden Klang der Silben das Mauerwerk der Bauten zu entnehmen. So war im Innern dieses Namens das Schloß mit seinem spiegelnden See erloschen, und um Frau von Guermantes erschien mir als ihre Stätte ihr Haus in Paris, das Haus Guermantes, durchschimmernd wie der Name: kein undurchsichtiges Element der Wirklichkeit unterbrach sein Leuchtbild oder trübte es. Wie Kirche nicht allein das Gotteshaus bezeichnet, sondern auch die Versammlung der Gläubigen, umfaßte das Haus Guermantes alle, die das Leben der Herzogin teilten, aber diese Personen, die ich nie gesehn, waren mir nur berühmte poetische Namen, und da sie wieder nur Personen kannten, die auch nur Namen waren, vergrößerten und schützten sie das Mysterium der Herzogin nur noch mehr und breiteten um sie einen weiten Glanzhof, der sich mir allenfalls ein wenig abschattete.

Dachte ich an die Feste, die sie gab, verlieh meine Vorstellung den Eingeladenen keine Körper, Bärte, Schuhe, kein banales oder auch nur auf menschlich vernünftige Art eigentümliches Wort, der Wirbel der Namen sammelte um Frau von Guermantes, die selber eine Meißener Porzellanstatuette war, weniger Stoffliches an als ein Geistermahl oder ein Gespensterball es getan hätten, und bewahrte ihrem gläsernen Haus die Durchsichtigkeit einer Vitrine. Als mir dann Saint-Loup Anekdoten vom Kaplan und von den Gärtnern seiner Kusine erzählt hatte, war das Haus Guermantes – wie ehemals etwa ein Louvre – eine Art Schloß geworden, das, als Erbsitz auch mitten in Paris, von seinen Ländereien umgeben blieb, auf denen die Herzogin kraft eines altertümlichen wunderlich überlebenden Rechtes noch feudale Privilegien ausübte. Und diese letzte Stätte war dann von selbst verschwunden, als wir dicht neben Frau von Villeparisis in eine Wohnung einzogen, die derjenigen der Frau von Guermantes benachbart und in einem Flügel ihres Hauses gelegen war. Alte Wohnstätten dieser Art gibt es wohl immer noch. Den »Schloßhof« umgeben – angeschwemmt von der steigenden demokratischen Welle oder als ein Vermächtnis älterer Zeiten, in denen die verschiedenen Gewerbe um den Standesherrn sich gruppierten, übrig gebliebene Läden, Werkstätten, ja sogar Schuster- und Schneiderbuden (wie sie denn auch an den Flanken der Dome kleben, soweit die Ästhetik der Baumeister sie nicht freigelegt hat), der Pförtner war Flickschuster, hielt Hühner und züchtete Blumen – und hinten im Wohnhaus, im eigentlichen »Hotel«, lebte eine »Gräfin«; wenn die, auf ihrem Hute etwas Kapuzinerkresse, die aus dem Pförtnergärtchen gepflückt schien, in ihrer alten Kalesche mit den beiden Pferden ausfuhr (auf dem Bock neben dem Kutscher einen Lakaien, der in jedem aristokratischen Hause des Viertels Karten abzugeben hatte), dann lächelte und winkte sie den Kindern des Pförtners und den bürgerlichen Mietern des Hauses zu, die gerade vorbeikamen, und ihre herablassende Liebenswürdigkeit und ihr nivellierender Dünkel machte diese nun einander gleich.

In dem Haus, in das wir einzogen, war die große Dame überm Hof eine elegante und noch junge Herzogin: Frau von Guermantes. Dank Françoise erfuhr ich ziemlich schnell Näheres über das Haus. Denn die Guermantes (Françoise bezeichnete sie meistens mit Worten wie »die unten« oder »die von unten«) beschäftigten sie beständig. Wenn sie morgens Mama frisierte, warf sie verstohlen – weil es ihr verboten, aber unwiderstehlich verlockend war – einen Blick in den Hof und sagte: »Zwei barmherzige Schwestern! Das ist sicher für unten« oder »Ach, die schönen Fasanen am Küchenfenster, da braucht man nicht zu fragen, von wo daß die herkommen, der Herzog wird auf Jagd gewesen sein«, und so gings fort bis abends; hörte sie, während sie mir meine Nachtsachen herausgab, Klavier spielen oder Widerhall eines Liedes, folgerte sie: »Sie haben unten Leute, da gehts lustig zu«, und in ihrem regelmäßigen Gesicht, unter dem jetzt weißen Haar erschien ein lebhaftes und ehrbares Lächeln aus ihrer Jugendzeit und ordnete ihre Züge zu einer zarten gezierten Harmonie, wie vor dem Kontertanze.

Aber der Augenblick im Leben der Guermantes, der Françoise am lebhaftesten interessierte, ihr die größte Befriedigung und zugleich den meisten Verdruß verschaffte, war, wenn beide Flügel des Hoftors aufgingen und die Herzogin in ihre Kalesche stieg. Dies geschah gewöhnlich kurz nachdem unsere Bedienten die feierliche Zeremonie vollzogen hatten, die sie ihr Frühstück nannten. Diese Handlung durfte niemand unterbrechen; während sie stattfand waren sie »Tabu«, selbst mein Vater hätte sich nicht erlaubt, nach ihnen zu klingeln, er wußte ja auch, es würde sich keiner von ihnen stören lassen, beim fünften Klingelzug so wenig wie beim ersten, und er würde ganz umsonst und obendrein zu seinem eigenen Schaden eine Ungehörigkeit begehn. Denn Françoise, die, seit sie eine alte Frau war, zu jeder Gelegenheit ihren besondern »Kopf« aufsetzte, hätte ihm unfehlbar den ganzen Tag ein Gesicht mit lauter roten keilförmigen Fleckchen vorgesetzt, die der Außenwelt ein allerdings schwer zu entzifferndes langes Verzeichnis ihrer Beschwerden entfalteten, tiefgehende Gründe ihrer Unzufriedenheit. Die entwickelte sie übrigens auch in Worten, aber »in die Kulisse gesprochen«, wir konnten kaum etwas verstehn. Sie nannte das: den lieben langen Tag »stille Messen lesen« und meinte, es quäle, kränke und plage uns sehr.

Waren die letzten Riten vollzogen, so schenkte Françoise, wie in der urchristlichen Kirche zelebrierender Priester und zugleich der Gläubigen einer, sich ein letztes Glas Wein ein, band die Serviette ab, wischte, während sie sie faltete, Wein- und Kaffeereste von den Lippen, schob die Serviette in ihren Ring, dankte mit leidendem Blick »ihrem« jungen Lakaien, der mit eifrigem Getu zu ihr sagte: »Nicht noch etwas Weintrauben gefällig, Madame? Sie sind ausgezeichnet«, – und ging gleich ans Fenster, um es zu öffnen, angeblich, weil es so heiß war »in dieser elenden Küche«. Während sie den Fenstergriff drehte und Luft schöpfte, warf sie zugleich geschickt einen scheinbar gleichgültigen Blick auf den hinteren Hof und vergewisserte sich verstohlen, daß die Herzogin noch nicht fertig war. Einen Augenblick brüteten ihre Blicke hochmütig und leidenschaftlich über dem angespannten Wagen, und hatte sie den Dingen dieser Erde diese kurze Beachtung geschenkt, hob sie die Blicke zum Himmel, dessen Reinheit sie schon im voraus erraten hatte, während sie sanfte Luft und Sonnenwärme spürte; dann sah sie nach dem Winkel des Daches, wo jeden Frühling gerade über dem Kamin meines Zimmers Tauben nisteten, gleich denen, die in ihrer Küche zu Combray gurrten.

»Ach Combray, Combray« rief sie (und der fast singende Tonfall ihrer Anrufung hätte zusammen mit der arlesianischen Reinheit der Züge bei Françoise auf eine südliche Heimat schließen und vermuten lassen, das verlorene Vaterland, um das sie weine, sei nur Adoptivvaterland. Aber das wäre wohl eine Täuschung gewesen, offenbar gibt es keine Provinz, die nicht ihren »Süden« hat. Und bei vielen Savoyarden und Bretonen findet man die weichen Umstellungen von Längen und Kürzen, die den Südländer kennzeichnen.) »Ach, Combray! Wann werde ich dich wiedersehn, mein armes Combray! Wann werde ich wieder den lieben langen Tag unter deinem Weißdorn und unserm guten Flieder verbringen, die Finken hören und die Vivonne, die rieselt wie wenn einer flüstert, statt der elenden Klingel unseres jungen Herrn, der keine halbe Stunde vergehn läßt, ohne mich diesen verteufelten Korridor entlang zu hetzen. Und dann findet er noch, ich komme nicht schnell genug, man soll ihn wohl hören, ehe er klingelt, und kommt man eine Minute zu spät, gleich »stößt« ihn der Zorn. Ach mein armes Combray! vielleicht seh ich dich erst wieder, wenn ich gestorben bin, wenn man mich wie einen Stein in das Grabloch wirft. Dann werde ich ihn nicht mehr riechen, deinen schönen schneeweißen Hagedorn. Aber noch im Todesschlaf werde ich, glaub ich, dies dreimal Klingeln hören, das mir schon das Leben zur Hölle gemacht hat.«

Aber da wurde sie unterbrochen. Der Westenschneider im Hof rief, er, der damals meiner Großmutter so gut gefallen hatte, als sie Frau von Villeparisis besuchte, und der in Françoises Gunst nicht weniger hoch stand. Als er unser Fenster aufgehn hörte, hatte er den Kopf gehoben und suchte schon eine Weile, die Aufmerksamkeit seiner Nachbarin auf sich zu ziehen, um ihr guten Tag zu sagen. Koketterie des jungen Mädchens, das Françoise einst gewesen war, verfeinerte alsbald das mürrische Gesicht unserer alten Köchin, das von den Jahren, von schlechter Laune und Herdfeuer schwer mitgenommen war, und in reizender Mischung von Zurückhaltung, Vertraulichkeit, Scham richtete sie an den Westenschneider einen zierlichen Gruß, antwortete ihm aber nicht laut, denn, übertrat sie schon Mamas Ermahnungen, wenn sie in den Hof sah, so hätte sie doch nicht gewagt, ihnen noch mehr zu trotzen und aus dem Fenster zu sprechen, das hätte ihr von Seiten der gnädigen Frau ein ganzes »Kapitel« eintragen können, wie sie es nannte. Sie zeigte ihm die angespannte Kalesche, als wollte sie sagen: »Schöne Pferde, was?«, murmelte aber dabei: »Alte Schindmähren!«; sie wußte, er werde die Hand an den Mund legen, um trotz leisem Sprechen verstanden zu werden und ihr antworten:

»Sie könnten auch so was haben, wenn Sie wollten, vielleicht noch eher als die da, aber Sie mögen das alles nicht.«

Und mit bescheiden ausweichender Bewegung, – man merkte ihr aber an, sie war entzückt –, andeutend: »Jeder wie er's versteht. Hier ist man für's Einfache«, schloß Françoise ihr Fenster aus Furcht, Mama könne kommen.

Wenn Jupien sagte, »Sie könnten mehr Pferde haben als die Guermantes«, meinte er uns, aber er hatte recht, »Sie« zu sagen, denn von gewissen Freuden rein persönlicher Eitelkeit abgesehn, zum Beispiel, der, ununterbrochen zu husten, bis das ganze Haus Angst vor Erkältung bekam, und dann mit aufreizendem Grinsen zu behaupten, sie sei nicht erkältet, lebte Françoise mit uns in Symbiose, wie Pflanzen, die ganz mit einem Tier vereinigt sind und sich von ihm ernähren lassen: für sie erbeutet, ißt und verdaut es die Nahrung und bietet sie ihnen in ihrem letzten ganz assimilierbaren Restbestand an; wir mußten mit unsern Tugenden, unserm Vermögen, unserer Lebensführung und gesellschaftlichen Stellung es übernehmen, für die kleinen Befriedigungen der Eitelkeit zu sorgen, die Françoise unbedingt zum Leben brauchte – wozu noch das Recht kam, den Kultus des Frühstücks nach altem Brauche frei auszuüben, einschließlich des nachfolgenden Schlucks frischer Luft am Fenster, dazu ein wenig Straßenbummel, wenn sie Besorgungen machte, und den Sonntagsausgang zu ihrer Nichte. So wird es verständlich, daß Françoise die ersten Tage im neuen Haus, wo noch nicht alle Ehrentitel meines Vaters bekannt waren, fast an einem Leiden hingesiecht wäre, das sie selbst Verdruß oder Zeitlang nannte, Verdruß im tatkräftigen Sinne, den er bei Corneille hat, Zeitlang, wie in den Briefen von Soldaten, die am Ende Selbstmord begehn, weil sie nach ihrer Braut oder ihrem Dorf zuviel »Zeitlang« haben. Françoises Verdruß wurde schnell geheilt und zwar von Jupien; er verschaffte ihr ein ebenso lebhaftes und dabei raffinierteres Vergnügen, als ihr etwa unser Entschluß, einen Wagen anzuschaffen, bereitet hätte. – »Sehr gute Gesellschaft, diese Jupien, sehr ordentliche Leute, es steht ihnen auf dem Gesicht geschrieben.« Jupien vermochte in der Tat allen verständlich zu machen und beizubringen, daß wir nur deshalb keine Wagen hätten, weil wir es nicht wollten. Françoises neuer Freund war wenig zu Hause, seit er einen Beamtenposten in einem Ministerium bekommen hatte. Erst war er zusammen mit dem »Mädel«, das meine Großmutter für seine Tochter gehalten hatte, Westenschneider gewesen; aber die Ausübung dieses Gewerbes wurde unvorteilhaft für ihn, als die Kleine, die als halbes Kind, damals als meine Großmutter Frau von Villeparisis einen Besuch machte, sehr gut einen Rock säumen konnte, der Damenschneiderei sich zugewandt hatte und Rockschneiderin geworden war. Erst hatte sie als Lehrmädchen bei einer Schneiderin eine Naht machen, einen Besatz säumen, einen Knopf oder Druckknopf annähen oder eine Taillenweite mit Nadeln einreihen müssen, war dann zweite und schließlich erste Arbeiterin geworden, hatte sich eine Kundschaft von Damen der besseren Gesellschaft erworben und arbeitete nun zu Hause, das heißt, in unserm Hof, meist mit einer oder zwei ihrer früheren Kolleginnen vom Atelier, die sie als Gehilfinnen anstellte. Seitdem war Jupiens Gegenwart weniger nützlich geworden. Wohl hatte die großgewordene Kleine noch oft Westen zu machen. Aber da ihre Freundinnen ihr halfen, brauchte sie weiter niemand. So hatte Jupien, ihr Onkel, sich denn um eine Anstellung beworben. Erst konnte er schon Mittags nach Hause kommen, dann, als er endgültig den ersetzte, dem er anfangs ausgeholfen hatte, nicht vor dem Abendessen. Seine »Ernennung« fand glücklicherweise erst einige Wochen nach unserm Einzug statt; so konnte er seine Liebenswürdigkeit lange genug spielen lassen, um Françoise über die ersten schweren Zeiten hinwegzuhelfen und ihr Kummer zu ersparen. Nebenbei bemerkt, ohne seine Nützlichkeit für Françoise als »Übergangsmittel« zu verkennen, muß ich gestehn, daß Jupien mir auf den ersten Blick nicht sehr gefallen hat. Auf ein paar Schritt Entfernung hoben seine Augen den Eindruck, den sonst die dicken Backen und die blühende Gesichtsfarbe gemacht hätten, ganz auf, sie flossen über von einem mitleidigen, trostlos verträumten Blick, man kam auf den Gedanken, er sei krank oder von einem schweren Trauerfall betroffen. Aber weit gefehlt! Wenn er sprach – und er drückte sich sehr gut aus –, wirkte er sogar geradezu kalt und spöttisch. Durch diese Disharmonie zwischen Blick und Wort entstand etwas Falsches, Liebloses, worunter er selbst zu leiden schien, er war verlegen wie ein Gast im einfachen Rock in einer Abendgesellschaft, wo alle andern im Frack sind, oder wie jemand, der einer Hoheit antworten soll, aber nicht weiß, wie sie anreden und, um die Schwierigkeit zu umgehn, seine Wendungen auf ein Mindestmaß beschränkt. Jupiens Ausdrucksweise – das eben Gesagte war ein reiner Vergleich – war hingegen sehr liebenswürdig. Im Zusammenhang vielleicht mit der Überflutung des ganzen Gesichts durch den Blick (den man nicht mehr beachtete, wenn man ihn kannte) entdeckte ich bald bei ihm eine seltene Fassungsgabe, die wie nur ganz wenige, die ich gekannt habe, von Natur literarisch war, in dem Sinne, daß er, vermutlich ohne jede eigentliche Bildung, nur mit Hilfe einiger hastig überflogener Bücher die scharfsinnigsten Wendungen der Sprache besaß oder sich angeeignet hatte. Die begabtesten Leute, die ich gekannt hatte, waren sehr jung gestorben. Daher war ich überzeugt, Jupien werde nicht lange leben. Er war gütig und mitleidig, seine Gefühle waren die zartesten und großmütigsten. Schnell hörte er auf, eine unentbehrliche Rolle im Leben Françoises zu spielen. Sie hatte gelernt, ihn zu ersetzen.

Kam auch nur ein Lieferant oder ein Bedienter mit einem Paket zu uns, wußte Françoise die paar Augenblicke, die er in der Küche auf Mamas Antwort wartete, geschickt auszunutzen; dabei schien sie sich gar nicht um ihn zu kümmern, wies ihm nur mit gelassener Miene einen Stuhl an und blieb bei ihrer Arbeit, aber selten ging er fort, ohne sich fest und dauernd eingeprägt zu haben: »wenn wirs nicht haben, so wollen wirs eben nicht haben.« Hielt sie übrigens sehr darauf, daß man wisse, wir seien reich, so war deshalb der blanke Reichtum, Reichtum ohne Tugend nicht das höchste Gut in Françoises Augen, aber Tugend ohne Reichtum war ebensowenig ihr Ideal. Reichtum war für sie eine notwendige Voraussetzung der Tugend, ohne ihn blieb die Tugend auch ohne Verdienst und Reiz. Sie trennte beide so wenig voneinander, daß sie schließlich einem die Eigenschaften des andern verlieh, die Tugend mit einigem Komfort versehn wissen wollte und dem Reichtum etwas Erbauliches zuerkannte.

Hatte sie dann das Fenster ziemlich rasch – sonst würde, scheint es, Mama sie »nach Noten ausgeschimpft« haben – zugemacht, begann Françoise seufzend den Küchentisch abzuräumen.

»Es gibt Guermantes, die wohnen rue de la Chaise,« sagte der Kammerdiener, »ich hatte einen Freund, der dort in Stellung war; er war zweiter Kutscher bei ihnen. Und ich kenne einen, nicht dieser Kamerad, sondern sein Schwager, der hat mit einem Piqueur des Barons von Guermantes zusammen gedient. Mir kanns gleich sein, es ist ja nicht mein Vater«, setzte er hinzu; er hatte die Gewohnheit, seine Rede mit den neuesten Witzen zu schmücken, wie er die Schlager des Jahres zu trällern pflegte.

Françoise hatte die müden Augen einer alternden Frau, die alles, was Combray betraf, in unbestimmter Ferne sahen; sie verstand den Witz nicht, der in den Worten lag, merkte aber, daß einer drin sein mußte, denn sie standen außer Zusammenhang mit dem andern, was der Diener gesagt hatte, und sie wußte, er war ein Witzbold. Sie setzte ein wohlwollendes verblüfftes Lächeln auf, als wollte sie sagen: immer derselbe, dieser Viktor. Übrigens war sie glücklich, sie wußte, derartiges mitanzuhören, hing von fern mit den achtbaren gesellschaftlichen Vergnügungen zusammen, für die man in allen Kreisen sich gern gut anzieht und eine Erkältung riskiert. Schließlich glaubte sie, in dem Kammerdiener einen Freund zu haben, denn immer wieder verriet er ihr mit Entrüstung, was die Republik wieder Schreckliches gegen den Klerus vorhatte. Françoise hatte noch nicht eingesehn, daß unsere schlimmsten Feinde nicht die sind, die uns widersprechen und uns zu überzeugen versuchen, sondern die, welche Nachrichten, die uns betrüben können, aufbauschen oder erfinden, dabei sich aber hüten, sie berechtigt erscheinen zu lassen, denn das würde unsern Kummer vermindern und könnte ein wenig Achtung für die Gegenpartei in uns wecken, die wollen sie uns aber, um uns desto schmerzlicher zu treffen, als entsetzliche Sieger zeigen.

»Die Herzogin muß mit alldem verbandelt sein«, nahm Françoise das Gespräch über die Guermantes aus der rue de la Chaise wieder auf, wie man ein Musikstück in Andante wiederholt. »Ich weiß nicht mehr, wer mir gesagt hat, daß einer von denen dem Herzog seine Kusine geheiratet hat. Jedenfalls ist es dieselbe ›Liniatur‹. Eine große Familie, die Guermantes!« Das sagte sie mit Ehrfurcht und begründete die Größe der Familie gleichzeitig mit der Zahl ihrer Mitglieder und dem Glanz ihres Ruhmes wie Pascal die Wahrheit der Religion mit der Vernunft und der Autorität der Heiligen Schrift. Sie hatte für beides nur das eine Wort ›groß‹, und so bildeten beide Dinge für sie eine Einheit; ihr Wortschatz hatte wie gewisse Steine fehlerhafte Stellen, die auch ihr Denken stellenweise verdunkelten.

»Ich frage mich, ob das nicht die sind, die ihr Schloß in Guermantes zehn Meilen von Combray haben, dann müssen sie auch mit der Kusine aus Algier verwandt sein.« Meine Mutter und ich hatten lange nicht gewußt, wen Françoise mit dieser Kusine aus Algier meine, bis wir herausbekamen, daß Françoise unter Algier die Stadt Angers verstand. So kann uns etwas Fernes bekannter sein, als etwas Nahes. Françoise kannte den Namen Algier von den scheußlichen Datteln her, die wir zu Neujahr geschickt bekamen, aber Angers war ihr unbekannt. Ihre Sprache war wie die französische und wie insbesondere die französischen Ortsbezeichnungen voll von Irrtümern. »Ich wollte darüber mit Ihrem Butler sprechen.– Wie sagt man doch zu dem?« unterbrach sie sich, als beschäftige sie eine Frage der Etikette, »ja richtig, Antoine sagt man zu ihm«, gab sie dann sich selbst zur Antwort, als ob Antoine ein Titel wäre. »Der hätte mir darüber was sagen können, aber er ist ein vornehmer Herr, ein großer Pedant, es ist, als wenn man ihm die Zunge abgeschnitten hätte oder als hätte er vergessen, sprechen zu lernen. Ach (hier wurde sie unaufrichtig), wenn ich nur weiß, was in meinem Topf kocht, kümmere ich mich nicht um die andern. Jedenfalls ist das nicht christlich von ihm. Und dann ist es keiner, der tapfer dran geht (aus dieser Würdigung hätte man schließen können, Françoise habe über Tapferkeit ihre Meinung geändert; in Combray nämlich behauptete sie, die mache die Männer zu reißenden Tieren. Aber das würde nicht stimmen: tapfer bedeutete hier nur arbeitsam). Man sagt auch, er stiehlt wie ein Rabe, aber man muß nicht jeden Tratsch glauben. Hier gehen von wegen der Portierloge alle Angestellten weg, die Portierleute sind eifersüchtig und hetzen die Herzogin auf. Aber man kann schon sagen, dieser Antoine ist ein Taugenichts und seine ›Antoinesse‹ taugt nicht mehr als er.« Um ein Femininum zu dem Namen Antoine zu finden, das die Frau des Butlers bezeichnete, hatte Françoise sich bei ihrer grammatikalischen Neuschöpfung wohl unbewußt an chanoine und chanoinesse gehalten. Das war sprachlich nicht schlecht. In der Nähe von Notre-Dame gibt es noch eine Straße, die rue Chanoinesse heißt; dieser Name war ihr (da sie nur von Stiftsdamen bewohnt wurde) von den Franzosen alter Zeit gegeben worden, die die richtigen Zeitgenossen Françoises waren. Gleich darauf lieferte Françoise übrigens wieder ein Beispiel dieser Femininbildung. Sie sagte: »Aber ganz gewiß gehört das Schloß Guermantes der Herzogin. Sie ist doch dortzuland die Frau ›mairesse‹; das ist schon etwas!«

»Ich glaube gern, daß das etwas ist«, sagte im Ton der Überzeugung der Lakai, er hatte die Ironie nicht gemerkt.

»Ach, was du denkst, mein Junge! Das soll etwas sein? Für Leute wie die ist das gar nichts, Bürgermeister und Bürgermeisterin zu sein. Wenn mir das Schloß Guermantes gehörte, mich bekäme man nicht oft in Paris zu sehn. Ich begreife auch nicht, daß Leute wie unsere Herrschaft darauf verfallen, in dieser elenden Stadt zu bleiben, statt nach Combray zu gehn, sobald sie frei sind und niemand sie zurückhält. Worauf warten sie noch, um sich zurückzuziehen, wo es ihnen doch an nichts mangelt? Etwa auf den Tod? Wenn ich nur trocken Brot zu essen hätte und Holz, um warm zu haben im Winter, ich wäre schon lange daheim in meines Bruders Häuschen zu Combray. Da unten, da fühlt man doch wenigstens, daß man lebt, hat nicht alle die Häuser vor der Nase, und nachts ist es so still, man hört mehr als zwei Meilen weit die Frösche singen.«

»Das muß wirklich schön sein, Madame«, rief der junge Lakai mit Begeisterung, als ob das mit den Fröschen eine Besonderheit von Combray sei wie in Venedig das Gondelfahren.

Er war, nebenbei bemerkt, noch nicht so lange im Haus wie der Kammerdiener und sprach mit Françoise über Dinge, die nicht ihn, sondern sie interessierten. Und Françoise, die ein Gesicht schnitt, wenn man sie als Köchin behandelte, hatte für den Lakaien, der von ihr als der »Gouvernante« sprach, ein besonderes Wohlwollen, wie es manche Fürsten zweiten Grades für artige junge Leute haben, die sie »Hoheit« anreden.

»Man weiß wenigstens, was man tut und in welcher Jahreszeit man lebt. Es ist nicht wie hier, wo es zu Ostern so wenig wie zu Weihnachten die armseligste Butterblume gibt, wo ich nicht einmal ein kleines Angelus läuten höre, wenn ich meine alten Knochen aus dem Bett schleppe. Da unten hört man jede Stunde, wenn es auch nur ein armseliges Glöckchen ist, aber du sagst dir: »Jetzt kommt mein Bruder vom Feld«; du siehst, wie der Tag sinkt, man läutet für das irdische Wohlergehn, du hast Zeit dich umzudrehen, eh du deine Lampe ansteckst. Hier wird es Tag und wird Nacht, man geht schlafen und weiß nicht besser als ein Tier, was man eigentlich getan hat.«

»Méséglise scheint auch sehr hübsch zu sein, Madame«, unterbrach der junge Lakai, für den das Gespräch eine etwas abstrakte Richtung nahm: er hatte uns zufällig bei Tisch von Méséglise sprechen hören.

»Oh! Méséglise!« sagte Françoise mit dem breiten Lächeln, das immer auf ihre Lippen kam, wenn man die Namen Méséglise, Combray oder Tansonville aussprach. Sie gehörten ganz und gar zu ihrem eigenen Dasein, und wenn sie ihr von außen begegneten, in einem Gespräch vorkamen, wurde sie munter, ähnlich wie Schüler, wenn der Lehrer beim Unterricht auf eine bekannte zeitgenössische Persönlichkeit anspielt, von der sie nie geglaubt hätten, ihr Name könne vom Katheder herab erklingen. Françoise hatte noch das besondere Vergnügen, daß diese Gegenden für sie etwas anderes als für die andern waren, alte Kameraden, mit denen man allerlei zusammen unternommen hatte; sie lächelte ihnen zu, als verstünden sie sie, denn sie fand in ihnen viel von sich selbst.

»Das kannst du wohl sagen, mein Kind, Méséglise ist recht hübsch«, begann sie dann wieder mit schlauem Lachen, »aber wo hast denn du was von Méséglise gehört?«

»Wo ich was von Méséglise gehört habe? Aber das ist doch ganz bekannt: man hat mir davon gesprochen, sogar öfter davon gesprochen«, antwortete er mit der verbrecherischen Ungenauigkeit derer, die, wenn wir objektiv feststellen wollen, wie wichtig etwas, das uns angeht, für die andern ist, mit ihrem Bescheid uns das unmöglich machen.

»Ihr könnt mir glauben, dort unter den Kirschbäumen ists besser als am Küchenherd.«

Sie sprach ihnen sogar von Eulalie und sagte, das sei eine gute Person gewesen. Françoise hatte vollständig vergessen, daß sie Eulalie Zeit ihres Lebens wenig geliebt hatte, wie alle, die zu Hause nichts zu essen haben, diese Hungerleider, die dann als rechte Tagediebe, wenn die Reichen ihnen etwas zukommen lassen, »sich mausig machen«. Jetzt litt sie nicht mehr darunter, daß Eulalie es so gut verstand, sich jede Woche von meiner Tante »was zustecken« zulassen. Das Lob der Tante aber sang sie unaufhörlich.

»Dann waren Sie also in Combray selbst bei einer Kusine unserer Gnädigen?« fragte der junge Lakai.

»Ja, bei Frau Octave, das war eine fromme Dame, liebe Kinder, bei der gab es immer etwas, und immer vom besten, Rebhühner, Fasanen, damit knauserte sie nicht, man konnte zu fünfen, zu sechsen zum Essen kommen, an Fleisch fehlte es nie und noch dazu beste Qualität und Weißwein und Rotwein, alles, was man wollte. Alles ging auf ihre Kosten, da konnte die Familie Monate bleiben, Jahre! Ihr könnt mirs glauben, hungrig ist man da nie fortgegangen. Wie der Herr Pfarrer es uns oft beigebracht hat: wenn eine Frau darauf rechnen kann, zum lieben Gott zu kommen, dann ists wahr und wahrhaftig Frau Octave. Die Arme, ich höre sie noch, wie sie mit ihrem Stimmchen sagte: »Françoise, Sie wissen ja, ich esse nichts, aber es soll bei mir für alle so gut zu essen geben, als ob ich mitäße.« Nein, für sie war es wahrhaftig nicht, was da gekocht wurde. Hättet sie sehn sollen. Sie wog nicht mehr als eine Tüte Kirschen, rein gar nichts. Sie wollte mir nicht glauben, hat nie zum Arzt gehen wollen. Ach, da unten wurde nicht so husch husch gegessen. Sie wollte, ihre Bedienten sollten gut genährt werden. Hier haben wir erst wieder heut morgen nicht mal Zeit gehabt, einen Bissen zu essen. Alles geht Hals über Kopf.«

Besonders die gerösteten Zwiebäcke, die mein Vater aß, brachten sie außer sich. Sie war überzeugt, er wolle die nur, um sich wichtig zu tun und ihr »Beine zu machen«.

»So was hab ich nie gesehn, muß ich sagen«, meinte der junge Lakai. Es klang, als habe er alles gesehn, als erstrecke sich seine tausendjährige Erfahrung über alle Länder und ihre Sitten, und darunter gäbe es nirgends die, Brot zu rösten. »Ja, ja,« brummelte der Butler, »das kann alles noch ganz anders werden, in Kanada sollen die Arbeiter streiken, und neulich hat der Minister zu unserm Herrn gesagt, daß er dafür zweihunderttausend Franken gekriegt hat.« Dem Butler lag es fern, ihn deshalb zu tadeln. Er selber war durchaus ehrlich, hielt aber alle Politiker für verdächtig, und in seinen Augen war, sich bestechen zu lassen, nicht so schlimm wie der kleinste Diebstahl. Er fragte sich nicht einmal, ob er denn dies historische Wort auch richtig verstanden habe, es kam ihm gar nicht unwahrscheinlich vor, daß der Schuldige es selbst zu meinem Vater gesagt habe, ohne daß dieser ihn vor die Tür setzte. Aber die Combrayer Philosophie hinderte Françoise, zu hoffen, die Streiks in Kanada könnten eine Rückwirkung auf das Zwiebackrösten haben. »Sehn Sie, solange die Welt Welt sein wird,« sagte sie, »wird es Herren geben, die uns herumhetzen, und Diener für ihre Launen.« Der Theorie vom beständigen Herumhetzen zum Trotz, sagte meine Mutter, die vermutlich für die Länge des Frühstücks andere Maße hatte als Françoise:

»Was die nur anstellen mögen, jetzt sitzen sie schon über zwei Stunden bei Tisch.«

Und sie klingelte schüchtern drei- oder viermal. Françoise, ihr Lakai und der Butler hörten das Klingeln wie ein Signal; noch dachten sie nicht daran zu kommen, aber immerhin war es wie das erste Stimmen der Instrumente, man merkte, das Konzert werde bald anfangen, es gebe nur noch ein paar Minuten Pause. Als dann das Klingeln sich häufiger wiederholte und dringender wurde, gaben unsere Bedienten schon mehr darauf acht: nun hatten sie wohl nicht mehr viel Zeit vor sich, die Wiederaufnahme der Arbeit stand nahe bevor; und als es dann einmal etwas nachhaltiger schellte, stießen sie einen Seufzer aus und faßten ihre Entschlüsse: der Lakai ging hinunter, eine Zigarette vor der Tür zu rauchen, Françoise stellte noch ein paar Betrachtungen über uns an, wie: »Die können keinen Augenblick stillsitzen« und ging dann hinauf in ihren sechsten Stock, ihre Sachen zu ordnen, während der Butler in meinem Zimmer sich Briefpapier suchte und rasch seine Privatkorrespondenz erledigte.

Trotz der hochmütigen Miene des herzoglichen Butlers hatte mir Françoise schon in den ersten Tagen mitteilen können, daß die Guermantes ihr Haus nicht auf Grund eines Rechtes aus unvordenklichen Zeiten bewohnten, sondern es neuerdings gemietet hatten und daß der Garten auf der Seite, die ich nicht kannte, ziemlich klein sei und allen anstoßenden Gärten ähnlich; schließlich erfuhr ich auch, zu sehn gäbe es da weder Lehnsherrngalgen noch Fischweiher, nicht Bannbackhaus noch Scheuer, weder Gerichtslaube, noch feste oder Zugbrücken, geschweige denn fliegende, so wenig wie Zollhaus, Kirchturm und Malhügel. Wie aber damals, als die Bucht von Balbec alles Geheimnisvolle für mich verloren hatte und eine Wassermasse geworden war, die man mit jeder beliebigen andern Salzwassermasse auf dem Globus auswechseln konnte, der Maler Elstir ihr plötzlich ein Eigenleben gegeben hatte, als er sagte, sie sei Whistlers opalener Golf in Silberblau, so bekam jetzt der Name Guermantes, dem Françoises Gewalt die letzte Stätte, die aus ihm hervorgegangen war, entrissen hatte, neuen Klang, als ein alter Freund meines Vaters uns eines Tages, an dem von der Herzogin die Rede war, erklärte: »Sie nimmt die erste Stelle im Faubourg Saint-Germain ein, sie hat das erste Haus des Faubourg.« Wohl war der erste Salon, das erste Haus des Faubourg Saint-Germain wenig neben all den Stätten, von denen ich geträumt hatte. Aber auch diese Stätte, die nun wohl die letzte war, behielt etwas, das bei aller Einschränkung doch mehr war als das Stoffliche, aus dem es bestand, besaß eine verborgene Besonderheit.

Und für mich war es eine Notwendigkeit geworden, in dem »Salon« der Frau von Guermantes und in ihren Freunden das Geheimnis ihres Namens suchen zu können, umsomehr als ich es in ihrer Person nicht fand, wenn ich sie morgens ausgehn und nachmittags ausfahren sah. Gewiß war sie mir schon in der Kirche von Combray blitzschnell verwandelt worden, die Farbe des Namens Guermantes und der Nachmittage am Ufer der Vivonne hatte nicht eingehn können in ihre undurchlässigen und spröden Wangen, und aus den Trümmern meines Traums war sie hervorgegangen wie Schwan und Weide, in die ein Gott oder eine Nymphe sich verwandelt haben und die von nun an den Gesetzen der Natur unterworfen bleiben, im Wasser gleiten oder im Winde wehen werden. Und doch hatten sich diese verlorenen Spiegelbilder, kaum daß ich sie aufgegeben, wiedergebildet wie die rosa und grünen Spiegelungen der untergegangenen Sonne hinter dem Ruder, das sie gebrochen hat, und in meinen einsamen Gedanken hatte der Name schnell das Erinnerungsbild des Gesichts sich zu eigen gemacht. Jetzt aber sah ich sie oft an ihrem Fenster, im Hof, auf der Straße; und gelang es mir nicht, den Namen Guermantes in ihr zu integrieren, zu denken, sie sei Frau von Guermantes, so gab ich für meinen Teil die Schuld daran meinem Geist, der unfähig sei, bis zum Ziel durchzuführen, was ich von ihm verlangte; sie aber, unsere Nachbarin, schien denselben Irrtum zu begehn, und das störte sie offenbar gar nicht, sie hatte keine meiner Skrupel, vermutete nicht einmal, daß es ein Irrtum sei. Frau von Guermantes bemühte sich sichtlich, in ihrer Kleidung der Mode zu folgen, als glaube sie, eine Frau wie alle andern geworden zu sein, und erstrebte eine Eleganz der Kleidung, in der beliebige Frauen es ihr gleichtun, sie vielleicht sogar übertreffen konnten; ich hatte gesehn, wie sie auf der Straße eine gut angezogene Schauspielerin mit Bewunderung betrachtete; und als erkenne sie das Urteil der Vorübergehenden an, deren Gewöhnlichkeit sie heraustreten ließ, indem sie ihr unzulängliches Dasein mitten unter ihnen harmlos spazieren führte, sah ich sie morgens, ehe sie ausging, vor dem Spiegel die ihrer unwürdige Rolle der eleganten Frau mit einer Überzeugung spielen, in der nichts Abgelöstes oder Ironisches lag, mit Leidenschaft, Verdruß und Eitelkeit wie eine Königin, die bei einer Hofaufführung die Rolle einer Zofe übernommen hat; wie in der Sage hatte sie ihre angeborene Größe ganz vergessen, sie sah nach, ob ihr Schleier gut sitze, glättete ihre Ärmel, richtete ihren Mantel, wie der göttliche Schwan alle Bewegungen seiner tierischen Art macht; seine rechts und links vom Schnabel aufgemalten Augen offen hat, ohne den Blick aufzutun, sich mit einemmal als richtiger Schwan auf einen Knopf oder einen Regenschirm wirft und sich nicht erinnert, daß er ein Gott ist. Aber wie der Reisende, den der erste Anblick einer Stadt enttäuscht, sich sagt, er müsse erst die Museen besuchen, mit Leuten aus dem Volk bekannt werden und in den Bibliotheken arbeiten, um den Reiz der Stadt zu erleben, so sagte ich mir, würde mich Frau von Guermantes empfangen, würde ich einer ihrer Freunde, dränge ich in ihr Dasein ein, ich würde erkennen, was unter der orangenfarben glänzenden Hülle ihr Name wirklich, objektiv für die andern enthalte; hatte doch der Freund meines Vaters gesagt, der Kreis Guermantes sei etwas ganz Besondres innerhalb des Faubourg Saint-Germain.

Das Leben, das ich dort vermutete, mußte einer von aller Erfahrung verschiedenen Quelle entstammen, ich konnte mir nicht vorstellen, daß auf den Abendgesellschaften Menschen zugegen wären, wie ich sie aus früherem Verkehr kannte, wirkliche Menschen; so eigentümlich dachte ich mir dies Leben. Sonst würden ja diese Menschen, die ihre Natur doch nicht mit einem Schlage ändern konnten, dort so reden, wie ich sie reden gehört hatte, ihre Partner würden sich dazu erniedrigen, in derselben menschlichen Sprache ihnen zu antworten; dann gäbe es auf einer Abendgesellschaft im ersten Salon des Faubourg Saint-Germain Augenblicke genau der Art, wie ich sie schon erlebt hatte und das war unmöglich. Allerdings stieß mein Geist auf gewisse Schwierigkeiten, und die Gegenwart des Leibes Jesu Christi in der Hostie schien mir kein dunkleres Mysterium als dieser erste Salon des Faubourg, der seltsamerweise auf dem rechten Seineufer lag und mir so nahe war, daß ich in meinem Zimmer hören konnte, wie morgens die Möbel in ihm geklopft wurden. Aber die Demarkationslinie, die mich vom Faubourg Saint-Germain trennte, schien mir nicht weniger wirklich, weil sie nur ideal war; für mich fing das Faubourg schon an mit der Matte im Korridor der Guermantes, von der meine Mutter, als einmal die Tür offenstand und wir sie da liegen sahen, zu sagen gewagt hatte, sie sei in recht schlechtem Zustand. Und dann: mußte ihr Eßzimmer, die dunkle Galerie mit den roten Plüschmöbeln, die ich manchmal aus unserm Küchenfenster sehn konnte, nicht den geheimnisvollen Zauber des Faubourg Saint-Germain für mich besitzen, unbedingt dazu gehören, geographisch darinnen liegen? Denn in diesem Eßzimmer empfangen zu werden, hieß, ins Faubourg Saint-Germain gehn, seine Luft atmen; die, welche, ehe man zu Tisch ging, neben Frau von Guermantes auf dem Ledersofa der Galerie saßen, waren alle aus dem Faubourg Saint-Germain. Gewiß konnte man auch außerhalb des Faubourg in gewissen Abendgesellschaften mitten unter dem gewöhnlichen Volk eleganter Leute bisweilen einen dieser Menschen majestätisch thronen sehn, die nur Namen sind und, wenn man versucht, sie sich vorzustellen, bald das Ansehn eines Turniers, bald das eines Domänenforstes annehmen. Aber hier im ersten Salon des Faubourg Saint-Germain, in der dunkeln Galerie waren nur sie. Sie waren die Säulen aus kostbarem Gestein, die den Tempel tragen. Selbst zu den vertraulichen kleinen Gastereien konnte Frau von Guermantes nur unter ihnen ihre Gäste wählen, und bei einem Abendessen von zwölf Personen, die sich um den gedeckten Tisch versammelten, waren sie, wie die goldenen Apostelstatuen der Sainte-Chapelle, symbolische geweihte Pfeiler vor dem Tisch des Herrn. Und in dem kleinen Garten zwischen den hohen Mauern hinterm Haus zu sein, wo Frau von Guermantes im Sommer nach Tisch Liköre und Limonaden auftragen ließ, dort zwischen neun und elf Uhr abends auf den Eisenstühlen – die mit ebenso großer Macht begabt waren wie das Ledersofa, – zu sitzen, ohne die eigenste Luft des Faubourg Saint-Germain zu atmen, war in meinen Augen so unmöglich wie Siesta halten in der Oase von Figuig, ohne damit in Afrika zu sein. Nur Einbildungskraft und Glaube unterscheiden gewisse Gegenstände und Wesen von andern und schaffen eine Atmosphäre. Ach, ich würde wohl nie in diesen malerischen Stätten, zwischen diesen Naturerscheinungen, diesen Sehenswürdigkeiten und Kunstgebilden des Faubourg Saint-Germain einen Schritt tun! Und so genügte es mir, zu erbeben, wenn ich vom hohen Meer und ohne Hoffnung, je dort zu landen, wie ein vorgebautes Minaret, wie eine erste Palme, ein erstes Stück fernländischen Gewerbes oder exotischer Pflanzenwelt, die abgenutzte Matte des Ufers sah.

Begann für mich das Haus Guermantes an der Tür des Flurs, so mochten sich nach der Meinung des Herzogs seine Nebengebäude viel weiter erstrecken, er hielt alle Mieter für Pächter, hörige Bauern oder Aufkäufer von Nationalgut, deren Meinung nicht mitzählt, er rasierte sich morgens im Nachthemd an seinem Fenster, ging in den Hof hinunter, je nach der Witterung, in Hemdsärmeln, im Pyjama, im buntkarrierten langhaarigen Rock oder in kurzen Mänteln, unter denen der Rock hervor sah, und ließ sich von einem seiner Bereiter ein neugekauftes Pferd vorführen. Mehr als einmal beschädigte das Pferd Jupiens Laden, und wenn der dann eine Entschädigung verlangte, entrüstete sich der Herzog. »Ganz abgesehn von allen Wohltaten der Herzogin im Hause und in der Gemeinde,« sagte Herr von Guermantes, »ist es eine Gemeinheit von diesem Individuum, etwas von uns zu verlangen.« Aber Jupien ließ sich nichts gefallen und schien von irgendwelchen »Wohltaten« der Herzogin nichts zu wissen. Tatsächlich war sie wohltätig gewesen, aber man denkt immer an das, was man für den einen getan hat, vergißt darüber den andern und erregt dadurch bei ihm nur um so größere Unzufriedenheit. Übrigens war auch von andern Gesichtspunkten als dem der Wohltätigkeit das Viertel – und zwar bis auf weite Entfernung – für den Herzog nur eine Verlängerung seines Hofes, eine ausgedehntere Rennbahn für seine Pferde. Hatte er gesehn, wie ein neues Pferd trabte, ließ er es anspannen und durch die nächsten Straßen fahren, der Bereiter mußte neben dem Wagen herlaufen, das Pferd am Zügel halten und es vor dem Herzog auf und abtraben lassen; Herr von Guermantes stand auf dem Trottoir, hochaufgerichtet, lang und mächtig, im hellen Mantel, die Zigarre im Munde, den Kopf erhoben und spähte durch sein Monokel bis zu dem Augenblick, in dem er auf den Sitz sprang, selbst kutschierte, um das Pferd auszuproben, und schließlich mit dem neuen Gespann abfuhr, um in den Champs-Elysées seine Mätresse zu treffen.

Zwei Paare pflegte Herr von Guermantes im Hof zu begrüßen, die mehr oder weniger zu seinen Kreisen gehörten, einen Vetter von ihm, der mit seiner Frau wie ein Arbeiterehepaar, das sich nicht um seine Kinder kümmern kann, ganz außer dem Hause lebte: sie ging in die »Schola«, Kontrapunkt und Fuge studieren, er in sein Atelier, Holzskulptur und gepreßte Lederarbeit zu machen, sodann Baron und Baronin von Norpois, beide immer schwarz gekleidet, sie wie eine Stuhlvermieterin, er wie ein Leichenträger; sie gingen einige Mal am Tage in die Kirche. Sie waren Neffe und Nichte des ehemaligen Botschafters, den wir kannten; einmal hatte mein Vater ihn an der Treppe getroffen und sich nicht denken können, wo er herkomme; eine so hervorragende Persönlichkeit, die mit den bedeutendsten Staatsmännern Europas in Beziehung stand und vermutlich wenig Wert auf eitle aristokratische Standesunterschiede legte, konnte doch wohl nicht mit diesen obskuren, klerikalen, engstirnigen Adligen umgehn. Sie wohnten erst seit kurzem im Hause; Jupien kam einmal in den Hof, dem Gatten der gerade Herrn von Guermantes begrüßen wollte, etwas zu sagen, und redete ihn, da er seinen Titel nicht genau kannte, »Herr Norpois« an.

»Herr Norpois, das ist ja glänzend! Nur Geduld! Bald wird dieser Mitmensch Sie Bürger Norpois anreden«, rief Herr von Guermantes dem Baron zu. Endlich konnte er seine üble Laune gegen Jupien austoben, der »Monsieur« zu ihm sagte und nicht »Monsieur le Duc«.

Als einmal Herr von Guermantes eine Auskunft brauchte, die mit dem Beruf meines Vaters zusammenhing, hatte er sich ihm selbst sehr liebenswürdig vorgestellt. Seitdem hatte er ihn oft um eine nachbarliche Gefälligkeit zu bitten, und sobald er ihn die Treppe herunterkommen sah – mein Vater war dann immer in Gedanken bei seiner Arbeit und vermied am liebsten jede Begegnung –, verließ der Herzog seine Stallknechte, kam über den Hof auf meinen Vater zu, rückte ihm mit der ererbten Dienstfertigkeit der ehemaligen Kammerdiener des Königs den Mantelkragen zurecht, faßte ihn an der Hand und behielt sie in seiner, er tätschelte sie ihm sogar, um mit der Schamlosigkeit einer Kurtisane ihm zu beweisen, er feilsche nicht mit der Berührung seiner kostbaren Haut, und ließ sein verdrossenes Opfer, das nur daran dachte, freizukommen, bis übers Hoftor hinaus nicht los. Eines Tages, als wir vorbeikamen, während er gerade mit seiner Frau ausfuhr, hatte er uns sehr tief gegrüßt, bei dieser Gelegenheit hatte er ihr wohl auch meinen Namen gesagt, aber ob sie sich dessen und meines Gesichtes noch erinnerte? Und dann war es auch eine recht klägliche Empfehlung, als einer ihrer Mieter bezeichnet zu werden! Wichtiger wäre es gewesen, die Herzogin bei Frau von Villeparisis zu treffen, die mich gerade durch meine Großmutter hatte auffordern lassen, sie zu besuchen; da sie wußte, daß ich die Absicht hatte, mich mit Literatur zu befassen, hatte sie hinzugefügt, ich würde bei ihr Schriftsteller treffen. Aber mein Vater fand, ich sei noch etwas zu jung, um in Gesellschaft zu gehn, und da ihm mein Gesundheitszustand immer Sorge machte, wollte er mir nicht noch unzweckmäßige Gelegenheiten zu neuen Ausgängen verschaffen.

Da einer der Lakaien von Frau von Guermantes oft mit Françoise plauderte, hörte ich die Namen einiger Salons, in denen sie verkehrte, aber vorstellen konnte ich sie mir nicht: sie waren ein Teil von ihrem Leben, jenem Leben, das ich nur durch ihren Namen hindurch sah; mußten sie mir daher nicht unfaßbar bleiben?

»Heut Abend werden bei der Prinzessin von Parma chinesische Schattenspiele aufgeführt«, sagte der Lakai, »aber wir gehn nicht hin, denn um fünf Uhr nimmt unsere gnädige Frau den Zug nach Chantilly, um zwei Tage bei dem Herzog von Aumale zu verbringen, nur die Zofe und der Kammerdiener kommen mit. Ich bleibe hier. Sie wird ärgerlich sein, die Prinzessin von Parma, mehr als viermal hat sie an die Frau Herzogin geschrieben.«

»Also dies Jahr gedenkt ihr nicht aufs Schloß Guermantes zu gehn?«

»Das erste Mal, daß wir nicht hingehn: wegen dem Herrn Herzog seinem Rheumatismus hat der Doktor verboten, daß man wieder hingeht, bevor die Heizung gelegt ist, aber vorher war man alle Jahre bis im Januar da. Ist die Heizung nicht fertig, dann wird die gnädige Frau einige Tage nach Cannes zu der Herzogin von Guise gehn, aber sicher ist es noch nicht.«

»Gehn Sie denn ins Theater?«

»Wir gehn manchmal in die Oper, manchmal auf die Abonnementsabende der Prinzessin von Parma, das ist alle acht Tage; was man da sieht, scheint sehr schick zu sein; es gibt Stücke, Opern, alles. Die Frau Herzogin hat kein Abonnement nehmen wollen, aber wir gehn abwechselnd in die Loge von der einen oder andern Freundin von Madame, oft in die Parterreloge der Fürstin Guermantes, das ist die Frau von unserm Herrn seinem Vetter. Und die Schwester vom Herzog von Bayern. – Und Sie, Sie gehn so einfach wieder nach Haus?« fragte der Lakai. Obwohl er sich mit den Guermantes gleichsetzte, hatte er doch von »Herrschaften« im allgemeinen eine diplomatische Vorstellung, die ihn veranlaßte, Françoise so achtungsvoll zu behandeln, als wäre sie bei einer Herzogin in Dienst. »Geht es Ihnen mit der Gesundheit gut, Madame?«

»Bis auf die verflixten Beine! Auf der Ebene, da geht es ja (auf der Ebene besagte: im Hof, auf der Straße, wo Françoise ganz gern spazieren ging, mit einem Wort: auf flachem Gelände) aber die verteufelten Treppen! Auf Wiedersehn, Herr Nachbar, vielleicht bekommt man Sie heut Abend noch zu sehn.«

Sie wollte gern noch weiter mit dem Lakaien plaudern, zumal er ihr mitgeteilt hatte, die Söhne der Herzöge hätten öfter den Fürsten-Titel und behielten ihn bis zum Tode des Vaters. Sicherlich wird der Kult des Adels, vermischt mit einem ihm feindlichen Geist der Empörung, dem er sich anpaßt, erblich aus der französischen Scholle geschöpft und muß im Volke sehr stark sein. Man konnte Françoise von dem Genie Napoleons oder von der drahtlosen Telegraphie sprechen, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, so etwas hörte sie, ohne auch nur einen Augenblick langsamer die Asche aus dem Kamin zu fegen oder den Tisch zu decken; wurden ihr aber solche Besonderheiten erzählt – und daß der jüngere Sohn des Herzogs von Guermantes im allgemeinen Fürst von Oléron hieß –, dann rief sie: »Das ist schön!« und blieb staunend wie vor einem Kirchenfenster stehn.

Von dem Kammerdiener des Fürsten von Agrigent, der sich mit ihr angefreundet hatte, da er häufig Briefe zur Herzogin brachte, erfuhr Françoise auch, man höre in der Gesellschaft viel von einer künftigen Ehe des Marquis von Saint-Loup mit Fräulein von Ambresac, es sei schon so gut wie entschieden.

Die Villa oder die Theaterloge, in die Frau von Guermantes ihr Leben umpflanzte, waren für mich nicht minder märchenhafte Stätten als ihre Wohnräume. Die Namen Guise, Parma, Guermantes-Bavière unterschieden die Badeorte, in die sie sich begab, von allen andern Badeorten, die täglichen Feste, welche die Spur ihres Wagens mit ihrem Hause verband, von allen andern Festen. Besagten sie mir, in diesen Badeorten, in diesen Festen bilde sich Stück um Stück das Leben der Frau von Guermantes, so gaben sie mir damit noch keine Aufklärung über sie. Diese Dinge gaben dem Leben der Herzogin immer neue Richtung, aber dadurch vertauschte es lediglich ein Geheimnis mit dem andern und von ihrem eigenen verflüchtigte sich damit nichts, es änderte nur seine Lage und blieb mitten im Strom des Lebens der andern durch eine Scheidewand geschützt, in ein Gefäß eingeschlossen. Die Herzogin konnte im Karneval am Ufer des Mittelmeers frühstücken, aber nur in der Villa der Frau von Guise, wo die Königin der Pariser Gesellschaft in ihrem weißen Piqué-Kleid mitten unter zahlreichen Fürstinnen nur ein Gast war wie alle andern, darum aber für mich nur noch bezaubernder, nur noch mehr sie selbst – wie eine Primadonna bei einem Solo nacheinander den Platz jeder ihrer Schwestern, der Tänzerinnen, einnimmt; sie konnte chinesische Schattenspiele ansehn, aber nur auf einer Abendgesellschaft bei der Prinzessin von Parma; sie konnte Trauerspiel oder Oper besuchen, aber nur in der Parterreloge der Fürstin Guermantes.

Wir lokalisieren im Körper eines Wesens alle Möglichkeiten seines Lebens, die Erinnerung an Menschen, die es gekannt hat, die es verläßt oder aufsucht. Hätte ich von Françoise erfahren, Frau von Guermantes werde zu Fuß zum Frühstück bei der Prinzessin Parma gehn und sah ich sie mittags in fleischfarbenem Atlas aus der Wohnung herunter kommen – das Gesicht überm Kleid in gleichem Farbton wie eine Wolke über der untergegangenen Sonne –, dann sah ich alle Freuden des Faubourg Saint-Germain vor mir in so kleinem Umfang vereint wie in einer Muschel und umfaßt von den schimmernden Schalen aus rosa Perlmutter.

 

Mein Vater hatte im Ministerium einen Freund, einen gewissen A. J. Moreau. Um sich von den andern Moreaus zu unterscheiden, ließ er vor seinen Namen immer die beiden Anfangsbuchstaben setzen, und man nannte ihn kurz A. J. Dieser A. J. hatte, ich weiß nicht auf welche Weise, einen Parkettplatz zu einer Galavorstellung in der Oper bekommen; den schickte er meinem Vater, und da die Berma, die ich seit meiner Enttäuschung damals nicht wieder hatte spielen sehn, einen Akt aus Phèdre geben sollte, setzte meine Großmutter durch, daß mein Vater mir die Eintrittskarte gab.

Offengestanden legte ich keinen großen Wert darauf, die Berma zu hören, die mir ein paar Jahre vorher solche Aufregung verursacht hatte. Und nicht ohne Melancholie stellte ich fest, wie kalt mich jetzt ließ, wofür ich damals Gesundheit und Ruhe zurückgestellt hatte. Ich war zwar nicht minder leidenschaftlich darauf aus, köstliche Partikel Wirklichkeit zu betrachten, die ich in meiner Phantasie mir vorstellte. Aber diese ergaben sich für mich nicht mehr aus dem Vortrag einer großen Schauspielerin; seit meinen Besuchen bei Elstir galt der innere Glauben, den ich damals dem Spiel und der tragischen Kunst der Berma geweiht hatte, gewissen Wandteppichen, gewissen modernen Bildern; und da mein Glaube, meine Sehnsucht nicht mehr dem Vortrag und den Haltungen der Berma einen dauernden Kult weihte, war das »Ebenbild«, das ich von ihnen in mir trug, nach und nach vergangen wie jene »Ebenbilder« der Verstorbenen im alten Ägypten, die beständig ernährt werden mußten, um lebend erhalten zu bleiben. Diese Kunst war geringfügig und gebrechlich geworden. Es wohnte keine tiefe Seele mehr in ihr.

Als ich mit der Eintrittskarte, die mein Vater mir gegeben, die große Treppe der Oper hinaufstieg, sah ich vor mir einen Mann, den ich zuerst für Herrn von Charlus hielt, dessen Haltung er hatte; als er den Kopf wandte, um einen Angestellten um eine Auskunft zu bitten, sah ich, daß ich mich geirrt hatte, indessen ordnete ich den Unbekannten nicht nur der Art nach, wie er gekleidet war, sondern auch, wie er mit dem Kontrolleur und mit den Logenschließerinnen, die ihn warten ließen, sprach, sofort in dieselbe Gesellschaftsschicht ein. Denn trotz aller individuellen Eigenheiten bestand damals noch zwischen allen reichen Dandies dieses Teils der Aristokratie und allen reichen Dandies der Finanz und Industrie ein sehr deutlicher Unterschied. Da, wo einer der letzteren durch scharfen hochmütigen Ton dem Untergeordneten gegenüber seinen Schick bekräftigen zu müssen gemeint hätte, lächelte der Grandseigneur sanft, erkünstelte Bescheidenheit und Geduld, und schien es für ein Vorrecht seiner guten Erziehung zu halten, daß er tat, als wäre er ein beliebiger Zuschauer. Mancher Sohn eines reichen Bankiers, der in diesem Augenblick in das Theater kam, hätte angesichts des gutmütigen Lächelns, hinter dem der Grandseigneur die unüberschreitbare Schwelle seines kleinen Privatuniversums verbarg, ihn für einen einfachen Mann halten können, wäre ihm nicht die erstaunliche Ähnlichkeit mit der aus allen illustrierten Blättern bekannten Abbildung eines Neffen des Kaisers von Österreich, des Prinzen von Sachsen, aufgefallen, der damals sich gerade in Paris aufhielt. Der war, wie ich wußte, ein naher Freund der Guermantes. Als ich mich jetzt selbst dem Kontrolleur näherte, hörte ich diesen wirklichen oder vermeintlichen Prinzen von Sachsen lächelnd sagen: »Ich weiß die Nummer der Loge nicht, meine Kusine hat mir gesagt, ich brauche nur nach ihrer Loge zu fragen.«

Es war vielleicht der Prinz von Sachsen, und die Frau, die seine Augen in Gedanken sahen, als er sagte: »Meine Kusine hat mir gesagt, ich brauche nur nach ihrer Loge zu fragen«, war vielleicht die Herzogin von Guermantes (die ich dann einen der Augenblicke ihres unvorstellbaren Lebens in der Loge ihrer Kusine würde leben sehn können); sein eigentümlich lächelnder Blick, seine einfachen Worte streichelten mir das Herz (angenehmer als eine abstrakte Träumerei es gekonnt hatte) abwechselnd mit den Fühlern eines möglichen Glücks und eines ungewissen Zaubers. Soviel war sicher: er zweigte mit seinen Worten zum Kontrolleur von diesem gewöhnlichen Abend meines alltäglichen Lebens einen Weg ab, welcher vielleicht in eine neue Welt führte. Nun betrat er einen Seitengang, den man ihm anwies, als er das Wort Parterreloge ausgesprochen hatte; der Gang war feucht und rissig und schien zu Meeresgrotten hinzuleiten, zum mythologischen Königreiche der Wassernymphen. Ich hatte vor mir nur einen Herrn im Frack, der sich entfernte; aber ich ließ ihn wie von einem unsicher eingestellten Scheinwerfer, dessen Licht nie genau auf ihn fiel, umspielt werden von dem Gedanken: es ist vielleicht der Prinz von Sachsen, er geht zur Herzogin von Guermantes. Und obwohl er ganz allein war, schien dieser Gedanke unfaßbar, groß mit ruckweisen Bewegungen wie eine Projektion ihm voranzugehn und ihn zu leiten, wie jene Gottheit, die unsichtbar für alle andern Menschen bei dem griechischen Kämpfer weilt.

Während ich meinen Platz einnahm, suchte ich mich auf einen Vers aus Phèdre zu besinnen, der mir nicht genau gegenwärtig war. So wie ich ihn mir vorsagte, hatte er nicht die richtige Zahl Versfüße; da ich aber nicht versuchte, sie zu zählen, schien mir zwischen seiner Ungestalt und einem klassischen Vers überhaupt kein gemeinsames Maß zu bestehn. Es würde mich nicht gewundert haben, hätte ich mehr als sechs Silben aus diesem ungeheuerlichen Satzgebilde entfernen müssen, um einen zwölffüßigen Vers daraus zu machen. Plötzlich fiel mir der richtige Vers ein, die unlöslichen Härten einer unmenschlichen Welt verschwanden magisch, und alsbald füllten die Silben des Verses das Maß eines Alexandriners; was zu viel war, löste sich leicht und geschmeidig ab wie eine Luftblase, die an der Oberfläche des Wassers platzt. Und wirklich war das Ungeheuerliche, mit dem ich da gerungen hatte, nur ein einziger Versfuß gewesen.

Eine Anzahl Parkettplätze war im Bureau zum Verkauf angeboten und von Snobs oder Neugierigen genommen worden, die gern Leute beobachten wollten, die sie sonst bei keiner Gelegenheit aus solcher Nähe zu sehn bekamen. Hier konnte man in der Tat ihr wirkliches gesellschaftliches Leben, das gewöhnlich verborgen blieb, öffentlich betrachten, denn die Prinzessin von Parma hatte selbst die Balkonsitze, die Rang- und Parterrelogen unter ihre Freunde verteilt, und der Saal war wie ein Salon, wo jeder von Zeit zu Zeit seinen Platz wechselt und sich bald hier, bald dort neben eine Freundin setzt.

Neben mir saßen gewöhnliche Leute, welche die Abonnenten nicht kannten, um aber anzudeuten, sie wüßten sie zu erkennen, ganz laut deren Namen nannten. Diese Abonnenten, äußerten sie, kämen hierher wie in ihren Salon, damit wollten sie sagen, sie gäben nicht acht auf das, was gegeben würde. Aber das war ganz falsch. Ein genialischer Student, der einen Parkettplatz genommen hat, um die Berma zu hören, denkt immer nur daran, daß er ja nicht seine Handschuhe schmutzig mache, den Zufallsnachbarn nicht störe, sondern freundlich stimme; hat er einen Bekannten im Saal entdeckt, dessen Blick ihm ausweicht, verfolgt er ihn immer aufs neue mit seinem Lächeln; einem Blick, der ihn trifft, weicht er unhöflich aus; nach langem verlegenen Zögern entschließt er sich endlich zu gehn und den Bekannten zu begrüßen; ehe er bis zu ihm gekommen ist, klingelt es, und er muß zurück, fliehend wie die Hebräer im Roten Meer, durch die brandenden Fluten der Zuschauer und Zuschauerinnen, die er aufzustehn zwingt, und dabei zerreißt er ihnen die Kleider und tritt ihnen auf die Füße. Dagegen legten die Personen aus der vornehmen Gesellschaft in ihren Logen hinter der Terrasse des Balkons, wo sie so wie in kleinen schwebenden Salons, von denen eine Wand weggenommen ist, oder wie in kleinen Cafés, wo man eine Erfrischung nimmt, waren, ohne sich durch die goldgerahmten Spiegel und die roten Sofas der Einrichtung im neapolitanischen Geschmack unangenehm berührt zu fühlen, eine nachlässige Hand auf die Goldschäfte der Säulen, welche den Tempel der Musik tragen, ließen sich nicht durch die übertriebenen Ehrenbezeugungen aus der Fassung bringen, die zwei geschnitzte Figuren, Palmen und Lorbeer zu den Logen neigend, ihnen darzubringen schienen, und so hätten nur sie den Geist frei gehabt, um das Stück zu hören, wenn anders sie Geist gehabt hätten.

Erst waren da nur verschwommene Finsternisse, aus denen plötzlich wie der Glanz eines Edelsteins, den man selbst nicht sieht, der Phosphorglanz zweier berühmter Augen, oder wie ein Medaillon von Henry IV. auf schwarzem Hintergrund das geneigte Profil des Herzogs von Aumale brach, dem eine unsichtbare Dame zurief: »Gestatten Hoheit, daß ich Ihnen den Mantel abnehme«, worauf der Fürst antwortete: »Aber nein, was machen Sie, Frau von Ambresac!« Sie tat es doch, trotz dieser unbestimmten Abwehr, und wurde von allen um eine solche Ehre beneidet.

Fast überall in den andern Parterrelogen hatten sich die lichten Gottheiten, die diese düstern Stätten bewohnten, an dunkle Wände geflüchtet und blieben unsichtbar. Allein in dem Maße, da die Aufführung weiterging, lösten sich weich eine nach der andern ihre menschenähnlichen Formen von den Tiefen der Nacht, die sie schmückten, ab, hoben sich ins Licht, tauchten auf mit halbnackten Leibern und machten halt an der senkrechten Grenze, dem Helldunkel der Oberfläche, auf der ihre leuchtenden Gesichter hinter der lachenden, leicht schäumenden Brandung ihrer Federfächer und unter perlendurchzogenen purpurnen Haarkronen, die wie von kräuselnden Fluten gebogen waren, zum Vorschein kamen. Danach begannen die Parkettplätze, der Aufenthalt der Sterblichen, auf immer getrennt von dem düster durchsichtigen Königreich, das hier und da in den lichten spiegelnden Augen der Wassergöttinnen mit flüssig voller Fläche endete. Die Klappsitze des Ufers und die Formen der Untiere im Parkett malten sich in diesen Augen nur nach den Gesetzen der Optik und je nach ihrem Einfallswinkel (so wie es uns mit den beiden Teilen der Außenwelt geht, die, wie wir wissen, nicht die primitivsten Ansätze zu einer Seele, wie die unsere ist, besitzen, so daß es uns unsinnig vorkommen würde, ihnen ein Lächeln oder einen Blick zuzuwerfen: die Mineralien und die Personen, mit denen wir nicht in Beziehung stehn). Diesseits der Grenze ihres Gebietes wandten die strahlenden Meertöchter immer wieder sich lächelnd zurück zu bärtigen Tritonen, die an den Schluchten des Abgrunds hingen, zu Halbgöttern, die aus den Wassern wuchsen, als Schädel einen glänzenden Kiesel besaßen, über den die Flut eine glatte Alge gespült hatte, und als Blick eine runde Scheibe aus Bergkristall. Sie neigten sich zu ihnen und boten ihnen Bonbons an; bisweilen wich die Flut zur Seite vor einer neuen Nereide, die verspätet, lächelnd, verwirrt aus Schattentiefen aufblühte; war dann der Akt zu Ende und keine Hoffnung mehr, die melodischen Geräusche der Erde zu hören, welche sie an die Oberfläche gelockt hatten, tauchten sie alle zugleich unter, die Schwestern, und verschwanden in die Nacht. Aber von allen Schlupfwinkeln, an deren Schwelle ein leichter Anteil an den Werken der Menschen die neugierigen Göttinnen, die unnahbaren, gezogen hatte, war der berühmteste der halbdunkle Block, den man unter dem Namen Parkettloge der Fürstin Guermantes kannte.

Wie eine große Göttin, die von fern die Spiele der Untergötter leitet, war die Fürstin absichtlich etwas im Hintergrunde geblieben; sie saß auf einem seitlichen Sofa, das rot war wie ein Korallenfels, neben einem glasigen Strahlenfänger, vermutlich einem Spiegel, der an den Einschnitt eines senkrecht in das geblendete Kristall der Wasser stoßenden dunkelflüssigen Strahls gemahnte. Feder und Blütenkrone zugleich, wie manche Meergewächse, fiel eine große weiße Blume, flaumig wie ein Flügel von der Stirn der Fürstin an ihrer einen Wange entlang, folgte deren Biegung mit koketter, liebend lebendiger Geschmeidigkeit, schien sie halb einzuschließen wie das weiche Nest der Seeschwalbe ein rosiges Ei. Über die Frisur der Fürstin und bis auf ihre Augenbrauen, weiter unten, in Höhe ihrer Brust wieder gehalten, fiel ein Netz aus weißen Muscheln, wie man sie in gewissen südlichen Meeren fischt und die vermengten sich hier mit Perlen: ein Meermosaik, kaum aus den Wellen gestiegen und von Zeit zu Zeit in den Schatten sinkend, aber auch dort von menschlichem Dasein durchseelt durch die lebhaften, immer bewegten Augen der Fürstin. Die Schönheit, die sie über die sagenhaften andern Töchter des Halbdunkels erhob, war nicht rein stofflicher Natur und lag nicht einfach nur in Nacken, Schultern, Armen und Taille. Aber die köstliche unvollendete Linie dieser Taille lockte als Ausgangspunkt unsichtbarer Linien das Auge unwiderstehlich an, diese Linien zu wunderbaren Neuschöpfungen rings um die Frau zu verlängern, sie wie das Spektrum einer Idealgestalt auf die Finsternisse zu projizieren.

»Das ist die Fürstin Guermantes«, sagte meine Nachbarin zu dem Herrn, der mit ihr zusammen war, und bemühte sich, das Wort Fürstin mit mehreren f zu sprechen, um diese Benennung lächerlich zu machen. »Sie geht mit ihren Perlen nicht gerade sparsam um. Wenn ich soviel hätte, ich glaube, ich würde mich nicht so damit behängen, ich finde nicht, daß das vornehm ist.«

Und doch fühlten alle, die sich umsahen, wer im Saal sei, und dabei die Fürstin erkannten, wie sich in ihrem Herzen der legitime Thron der Schönheit für sie erhob. Die Herzogin von Luxembourg, Frau von Morienval, Frau von Saint-Euverte und soviele andre stellte man fest an dem Zusammentreffen einer dicken roten Nase mit einer Hasenscharte oder zweier runzeliger Backen mit einem dünnen Schnurrbart. Diese Züge genügten übrigens, um Bewunderung zu erregen, sie hatten nur die konventionelle Bedeutung von Schriftzeichen, aus denen man einen berühmten imposanten Namen entziffern konnte, sie brachten aber schließlich auf den Gedanken, Häßlichkeit habe etwas Aristokratisches und das vornehme Gesicht einer großen Dame brauche nicht auch noch obendrein schön zu sein. Jedoch wie manche Künstler statt ihres Namens unten auf ihre Bilder irgendeine an sich schöne Form, einen Schmetterling, eine Eidechse oder eine Blume setzen, so brachte die Fürstin in der Ecke ihrer Loge die Form eines köstlichen Körpers und Gesichtes an und zeigte dadurch, daß Schönheit die vornehmste Signatur sein kann; denn in den Augen der Adelsfreunde war die Anwesenheit der Frau von Guermantes, die in das Theater nur Leute mitbrachte, die auch sonst zu ihrem nächsten Kreise gehörten, die beste Bürgschaft für die Echtheit des Bildes, das ihre Loge darstellte, sie sahen hier eine Szene aus dem besondern intimen Leben der Fürstin in ihren Palästen zu München und Paris heraufbeschworen.

Unsere Phantasie ist wie ein abgespielter Leierkasten, der immer etwas andres als das angegebene Lied spielt: so fingen jedesmal, wenn ich von der Fürstin Guermantes-Bavière sprechen hörte, gewisse Werke aus dem sechzehnten Jahrhundert in mir zu spielen an. Jetzt, da ich sah, wie sie einem dicken Herrn im Frack überzuckerte Bonbons anbot, mußte ich sie von diesen Bildern freimachen. Gewiß lag es mir fern, daraus zu schließen, sie und ihre Gäste seien Wesen wie alle andern. Ich begriff, was sie machten, war nur ein Spiel; als Vorspiel zu den Akten ihres wahren Lebens (dessen wichtigen Teil sie sicherlich nicht hier verlebten) waren sie auf Grund mir unbekannter Riten übereingekommen, so zu tun, als böten sie Bonbons an und als dankten sie für Bonbons; diese Gebärde hatte nicht ihren üblichen Sinn und war im voraus geregelt wie der Schritt einer Tänzerin, die sich abwechselnd auf die Fußspitze hebt und rings um eine Schärpe herumquirlt. Wer weiß, vielleicht sagte die Göttin, während sie ihre Bonbons anbot, in spöttischem Ton (denn ich sah sie lächeln): »Wollen Sie Bonbons?« Das machte mir nichts aus. Ich hätte es entzückend raffiniert gefunden, wenn eine Göttin diese im Stil von Mérimée oder Meilhac absichtlich trockenen Worte an einen Halbgott gerichtet hätte und er, der wußte, welch erlesene Gedanken sie beide aufhoben für den Augenblick, in dem sie ihr wirkliches Leben wieder aufnehmen würden, auf das Spiel eingegangen wäre und im selben geheimnisvoll schalkhaften Ton geantwortet hätte: »Ja, ich nehme gern einen Kirschbonbon.« Und ich hätte ihr Zwiegespräch mit derselben Begier angehört wie gewisse Szenen aus Le Mari de la Débutante, die, gerade weil Poesie und große Gedanken (Dinge die mir vertraut waren und die Meilhac doch gewiß ganz leicht hätte hineintun können) in ihnen fehlten, mir an sich elegant erschienen, herkömmlich elegant und dadurch um so geheimnisvoller und lehrreicher.

»Der Dicke da ist der Marquis von Ganancay«, sagte mit der Miene des Eingeweihten mein Nachbar; er hatte den Namen, den man hinter ihm flüsterte, schlecht verstanden.

Mit gestrecktem Hals, schrägem Gesicht, das dicke runde Auge an das Glas des Monokels geklebt, bewegte sich der Marquis von Palancy langsam im durchsichtigen Dunkel umher und schien nicht mehr von dem Publikum des Parketts zu sehn als ein Fisch, der hinter der Glaswand eines Aquariums entlangschwimmt, von der Menge neugieriger Besucher. Von Zeit zu Zeit machte er Halt, schwebte ehrwürdig, pustend, bemoost, und die Zuschauer hätten nicht sagen können, ob er litt, schlief, schwamm, Eier legte oder nur atmete. Niemand machte mich so neidisch wie er, so vertraut war ihm diese Loge, so gelassen nahm er die Bonbons, die ihm die Fürstin reichte, dabei traf ihn ein Blick ihrer schönen Augen, und den Diamanten, in den sie eingeschnitten waren, schienen Verständnis und Freundschaft flüssig zu machen; wenn sie dann aber wieder eine Pause machten und nur noch ihre rein stoffliche Schönheit, ihren nur mineralogischen Glanz hatten, genügte die Ablenkung durch den kleinsten Reflex, und sie steckten die Tiefen des Parterres mit unmenschlichen, waagerecht strahlenden Feuern in Brand.

Als nun der Akt aus Phèdre begann, in dem die Berma spielte, kam die Fürstin in den Vordergrund der Loge, und, als wäre sie selbst eine Theatererscheinung, sah ich in der neuen Lichtzone, die sie durchschnitt, nicht nur die Farbe, sondern auch die Materie ihres Schmuckes sich ändern. Jetzt lag die Loge ausgetrocknet am Lande und gehörte nicht mehr zur Wasserwelt, die Fürstin war auch keine Nereide mehr; weiß-blau beturbant, erschien sie wie eine wunderbare Tragödin im Kostüm der Zaïre oder vielleicht der Orosmane; als sie sich dann in die erste Reihe gesetzt hatte, war das weiche Seeschwalbennest, das das rosige Perlmutter ihrer Wangen umhegte, in daunigem samtenem Glanz ein riesiger Paradiesvogel geworden.

Da wurden meine Blicke von der Loge der Fürstin Guermantes durch eine kleine, schlechtgekleidete, häßliche, heißäugige Frau abgelenkt, die in Begleitung von zwei jungen Männern in meiner Nähe Platz nahm. Der Vorhang ging auf. Melancholisch mußte ich feststellen, es war von meiner Stimmung von damals nichts mehr übrig, als ich noch, um nichts von der außergewöhnlichen Erscheinung, für die ich ans Ende der Welt gereist wäre, zu verlieren, meinen Geist vorbereitet hatte, wie Astronomen die empfindlichen Platten, die sie in Afrika, auf den Antillen aufstellen, um eine Sonnenfinsternis oder einen Kometen exakt zu beobachten; als ich zitterte, eine Wolke (Verstimmung der Künstlerin oder irgendein Vorfall im Publikum) könne die intensivste Entfaltung des Schauspiels verhindern; als ich ihm nur dann unter den besten Bedingungen beizuwohnen glaubte, wenn ich mich eigens in jenes Theater begab, das ihr wie ein Altar geweiht war, wo einen Teil ihrer Erscheinung vor dem kleinen roten Vorhang, wenn auch nur als ein Zubehör, die Kontrolleure mit der weißen Nelke bildeten, die sie ernannt hatte, und die Wölbung des Raumes über dem Parterre voll schlecht gekleideter Leute, die Logenschließerinnen, die das Programm mit ihrer Photographie verkauften, und die Maronenhändler auf dem Square, lauter Gefährten und Vertraute meiner Eindrücke von damals, die ich von ihnen nicht trennen konnte. Damals hatten Phèdre, die »Szene der Liebeserklärung«, und die Berma für mich eine Art unabhängigen Daseins. Abgelegen von der Welt geläufiger Erfahrung, bestanden sie durch sich selbst, ich mußte zu ihnen hin, um so tief als ich vermochte, in sie einzudringen; öffnete ich Augen und Seele auch ganz weit, ich konnte doch nur wenig von ihnen in mich einsaugen. Aber wie angenehm schien mir das Leben: mochte, was ich selbst erlebte, bedeutungslos sein, unwesentlich wie die Augenblicke, in denen man sich anzieht oder zum Ausgehn fertig macht, darüber gab es im Unbedingten, lohnend und schwer zu erreichen, unmöglich ganz zu besitzen, die bestandhaftere Wirklichkeit, Phèdre und die Art, wie die Berma den Vers sprach. Mit diesen Träumereien vom Vollkommenen in der dramatischen Kunst geladen – man hätte von ihnen einen erheblichen Vorrat gewinnen können, hätte man damals zu einer beliebigen Minute des Tages und womöglich der Nacht meinen Geist zerlegt – war ich wie eine galvanische Säule, die Elektrizität entwickelt. Und es war soweit gekommen, daß ich krank oder auf die Gefahr, daran zu sterben, hätte hingehn müssen, die Berma zu hören. Jetzt aber hatte das alles, wie ein Hügel, der von weitem aus Azur zu bestehn scheint und in der Nähe unserem gewöhnlichen Weltbild sich einfügt, das Bereich des Unbedingten verlassen und war nur noch ein Ding wie alle andern, ich konnte Kenntnis davon nehmen, ich war ja da; die Künstler waren Leute derselben Substanz wie meine Bekannten und bemühten sich, so gut wie möglich die Verse aus Phèdre zu sprechen, und diese Verse bildeten auch nicht mehr eine erhabene eigentümliche, von allen abgetrennte Substanz, sondern waren mehr oder weniger gelungene Verse, die jederzeit in die große Masse der französischen Verse zurückkehren konnten, zu denen sie gehörten. Das war sehr entmutigend für mich, denn wenn der Gegenstand meines eigensinnigen Begehrens nicht mehr da war, meine Neigung zu beharrlicher Träumerei blieb bestehn, sie wechselte von Jahr zu Jahr den Gegenstand, wurde aber immer wieder zu wildem Drange. Der Tag, an dem ich krank verreiste, um in einem Schloß ein Bild von Elstir oder einen gotischen Wandteppich zu sehn, glich dem, an welchem ich nach Venedig reisen, dem, an welchem ich die Berma hören, dem, an welchem ich nach Balbec reisen sollte; und immer fühlte ich schon voraus, wofür ich jetzt Opfer brachte, das würde mich in kurzer Zeit kalt lassen, dann werde ich, ohne sie anzusehn, ganz nah an den Bildern, den Teppichen vorbeigehn können, für die ich jetzt schlaflose Nächte, qualvolle Krisen auf mich nehmen würde. An der Unbeständigkeit ihres Gegenstandes merkte ich, wie vergeblich und wie groß zugleich meine Anspannung war, viel größer als ich geglaubt (so fühlen Neurastheniker sich doppelt erschöpft, wenn man sie darauf hinweist, daß sie erschöpft sind). Inzwischen gab mein Traum immer wieder allem, was sich mit ihm verknüpfen konnte, Zaubermacht. Und selbst in meinen fleischlichsten Sehnsüchten, die immer eine bestimmte Richtung einhielten, immer um den gleichen Traum kreisten, hätte ich als ersten Antrieb eine Idee erkennen können, eine Idee, der ich mein Leben geopfert hätte, und in ihrer innersten Mitte war, wie in den Nachmittagsträumereien über dem Buche im Garten zu Combray die Idee der Vollkommenheit.

Ich war nicht mehr so nachsichtig wie damals gegen das rechtschaffene Streben, Liebe und Zorn auszudrücken, das ich in Vortrag und Spiel von Aricie, Ismene und Hippolyte bemerkt hatte. Wohl suchten die Künstler – es waren dieselben – noch immer mit demselben Scharfsinn hier ihrer Stimme etwas zärtlich Weiches oder berechnet Zweideutiges, dort ihren Gebärden tragische Weite oder demütige Süße zu geben. Ihre Betonung befahl der Stimme: »Sei sanft, sing wie die Nachtigall, sei hold« oder »Mach dich wild«, und dann fiel sie über die Stimme: her, um sie wütend mit sich zu reißen. Die aber sträubte sich, blieb außerhalb der Diktion, blieb eigensinnig ihre natürliche Stimme mit ihren stofflichen Fehlern und Reizen, ihrer alltäglichen Plattheit oder Ziererei und brachte so ein Zusammenspiel von akustischen oder sozialen Erscheinungen zustande, das vom Gefühle für die vorgetragenen Verse sich nicht hatte beeinflussen lassen.

Ebenso sagte die Gebärde dieser Künstler zu ihren Armen und ihrem Peplon: »Seid majestätisch.« Aber die unbotmäßigen Glieder ließen zwischen Schulter und Ellenbogen einen Bizeps sich spreizen, der von der Rolle nichts wußte; sie drückten immer nur die Sinnlosigkeit alltäglichen Lebens aus und brachten statt Racines Nuancen Muskelzusammenhänge zum Vorschein; und im Fall der Gewänder, die sie bewegten, sträubte nur eine fade textile Geschmeidigkeit sich gegen die mechanischen Fallgesetze.

Mit einemmal rief die kleine Dame in meiner Nähe: »Kein Mensch klatscht! Wie sie sich ausstaffiert hat! Sie ist zu alt, sie kann nicht mehr, dann verzichtet man eben.«

Da die Nachbarn zischten, versuchten ihre beiden jungen Begleiter sie zur Ruhe zu bringen, und ihre Wut brach nur noch aus den Augen. Diese Wut konnte sich übrigens nur gegen Erfolg und Ruhm richten, denn die Berma, die soviel Geld verdiente, besaß nichts als Schulden. Da sie immerfort Geschäfts und Freundschaftsverabredungen hatte, zu denen sie dann nicht kommen konnte, liefen durch alle Straßen Boten, um ihre Absagen zu überbringen; in den Hotels bestellte sie Wohnräume, die sie nie bezog; Ozeane von Parfüm wurden aufgebraucht, ihre Hunde zu waschen, allen Direktoren mußte sie Abstandsgelder zahlen. In Ermangelung größerer und weniger wollüstiger Ausgaben, als Kleopatra sie hatte, hätte sie es fertig gebracht, in Rohrpostbriefen und in Wagenfahrten Provinzen und Königreiche zu verzehren. Aber die kleine Dame war eine Schauspielerin, die kein Glück gehabt und der Berma einen tödlichen Haß geweiht hatte. Jetzt erschien diese auf der Bühne. O Wunder! Wie Hausaufgaben, an denen wir abends bis zur Erschöpfung studiert haben, nachdem wir geschlafen, auswendig gekonnt in uns bereitliegen – wie Gesichter von Toten, auf die wir uns mit leidenschaftlicher Mühe vergebens zu besinnen versucht haben, wenn wir nicht mehr an sie denken, lebensähnlich uns vor Augen schweben – so zwang das Talent der Berma, das mir entging, als ich gierig sein Wesen zu erfassen versuchte, jetzt nach Jahren des Vergessens in einer Stunde, da ich ohne inneren Anteil war, deutlich und unwiderstehlich mich zur Bewunderung. Damals zog ich, um dies Talent loszulösen von dem, was ich hörte, die Rolle selbst ab, die doch Gemeingut aller Schauspielerinnen ist, die Phèdre spielen, ich hatte sie ja vorher studiert, um sie abrechnen zu können und als Rest nur das Talent der Berma zu erhalten. Aber dies Talent, das ich außerhalb der Rolle wahrzunehmen suchte, bildete eine Einheit mit ihr. Ein großer Musiker (das mußte bei Vinteuil der Fall sein, wenn er Klavier spielte) meistert sein Instrument so vollkommen, daß man nicht einmal mehr weiß, ob er überhaupt Klavierspieler ist. Man sieht ab von dem ganzen Aufwand an Muskelkraft, den hie und da die glänzenden Wirkungen krönen, sieht ab von dem ganzen Sprühregen der Noten, in dem ein Hörer, der nicht weiß, woran er sich halten soll, das Talent handgreiflich verwirklicht zu finden glaubt – sein Spiel ist ganz durchsichtig, ganz voll von dem, was es darstellt, man bemerkt es gar nicht mehr selbst, es ist nur noch ein Fenster, das auf ein Meisterwerk geht. Absichten, die wie ein majestätischer oder zarter Saum Stimme und Spiel von Aricie, Ismene, Hippolyte umgaben, hatte ich bemerken können; aber Phèdre hatte sie einverleibt, und meinem Geist gelang es nicht, einzelne Einfälle und Wirkungen aus ihrer Vortragsweise und ihren Haltungen loszureißen, da war nur sparsam schlichte, einheitliche Oberfläche, aus der sie nirgends hervorragten, sie waren aufgesogen. In der Stimme der Berma haftete nichts mehr von zäher, und dem Geiste widerstrebender Materie, kein Zuviel von Tränen floß über die Ränder, wie man sie über die Marmorstimmen von Aricie und Ismene fließen sah, welche sie nicht aufsaugen konnten. Bis in ihre zartesten Zellen war sie geschmeidig wie das Instrument eines großen Geigers, bei dem man von schönem Ton spricht, und dabei keine physische Besonderheit, sondern eine seelische Großheit ausdrücken will; wie in antiker Landschaft an der Stelle der entschwundenen Nymphe eine leblose Quelle plötzlich erscheint, hatte sich in der Stimme der Berma eine erkennbare sinnfällige Absicht in einen Klangwert von seltsam zugehöriger kühler Klarheit verwandelt. Die Verse, welche ihre Stimme über die Lippen drängten, schienen mit gleicher Welle auch ihre Arme über die Brust zu heben, wie Wasser treibendes Laub bewegt. Bühnenhaltung, die sie langsam ausgebildet hatte und immer wieder modeln sollte, war aus weit tieferen Überlegungen hervorgegangen als die, von welchen Spuren sich in den Gebärden ihrer Kolleginnen finden ließen; und diese Überlegungen hatten die Herkunft aus dem Willen abgelegt, und in eine Art Strahlung sich aufgelöst; und davon kreisten rings um die Gestalt der Phèdre reiche und mannigfaltige Elemente, welche der gebannte Zuschauer nicht für das Werk der Kunst, sondern für Gaben des Lebens nahm; selbst die weißen Schleier, die sie schwach und treu hüllten, schienen lebendiger Stoff und aus dem halb heidnischen, halb jansenistischen Leid gewoben zu sein, um das sie sich fröstelnd wie ein gebrechliches Raupengespinst zusammenzogen. Und all das, Stimme, Haltung, Gebärden und Schleier lagen um diesen Leib einer Idee: das ist ein Vers (ein Leib, der nicht wie Menschenkörper als undurchsichtiges Hindernis vor der Seele liegt und sie nicht sehn läßt, sondern als ein geläutertes belebtes Gewand, in dem sie sich breitet und in dem man sie wiederfindet); sie umgaben ihn lediglich als ergänzende Hüllen, welche die Seele, die sie sich angepaßt und erfüllt hatte, nicht versteckten, sondern strahlender sie weitergaben, als die Lagerung verschiedenartiger durchsichtig gewordener Substanzen, deren Schichtung den innerst gefangenen Strahl nur reicher bricht und die flammengetränkte Materie, welche ihn einschließt, weiter, kostbarer, schöner macht. So lag die Darstellung der Berma um das Werk, ein zweites, auch vom Genius belebtes Werk; – vom Genius Racines?

Mein jetziger Eindruck war offengestanden angenehmer als der von damals, aber in seiner Art kein anderer. Nur stellte ich ihn nicht mehr einer vorgefaßten, abstrakten, falschen Idee vom dramatischen Genie gegenüber; ich begriff, was ich vor mir hatte, war gerade das dramatische Genie. Mir fiel ein, wenn ich keinen Genuß gehabt hatte, als ich die Berma zum erstenmal hörte, so lag es daran, daß ich ihr mit zu großem Verlangen entgegenkam, wie einst Gilberte, wenn ich sie in den Champs-Elysées traf. Und das war vielleicht nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen beiden Enttäuschungen, es gab eine noch tiefere. Der Eindruck, den wir von sehr ausgeprägten Persönlichkeiten, Werken (oder Darstellungen) haben, ist besonderer Art. Wir bringen Ideen von »Schönheit«, »großem Stil«, »Pathos« mit, die wir zur Not auch in einem banalen, regelrechten Talent oder Gesicht zu erkennen uns einbilden könnten, doch unser hingegebenes Betrachten hat vor sich eine eindringliche Form, zu der es keinen verstandesmäßigen Gegenwert besitzt, und soll das Unbekannte aus ihr heraus lösen. Man hört einen scharfen Klang, eine bizarr fragende Betonung. Man fragt sich: »Empfinde ich Schönheit? Bewunderung? Ist das Reichtum des Kolorits, Adel, Kraft?« Und aufs neue antwortet eine schrille Stimme, ein wunderlich fragender Ton, man empfängt ganz materiell den herrisch zwingenden Eindruck von einem ganz unbekannten Wesen, da bleibt kein Spielraum für die »Weite der Interpretation«. Und darum müssen gerade die wahrhaft schönen Werke den aufrichtigen Zuhörer am meisten enttäuschen, denn in unserm Ideenvorrat ist nicht eine einzige Idee, die einem individuellen Eindruck entspricht.

Das zeigte mir das Spiel der Berma. Darin lag der Adel und der Scharfsinn der Vortragsweise. Jetzt verstand ich auch, was man meinte, wenn man eine weitgehende dichterische, mächtige Darstellung lobte, man war überein gekommen, diese Bezeichnungen zu geben wie man die Namen Mars, Venus, Saturn Sternen gibt, die nichts Mythologisches haben. Wir fühlen in einer Welt, wir denken und benennen in einer andern, wir können zwischen beiden eine Übereinstimmung herstellen, aber nicht den Zwischenraum ausfüllen. Klein ist dieser Zwischenraum, diese Spalte, ich hätte sie damals überschreiten müssen, als ich zum erstenmal die Berma spielen sah, angespannt zuhörte, Mühe hatte, zu meinen Vorstellungen von »Adel der Darstellung« und »Ursprünglichkeit« zu kommen, und erst nach einem Augenblick seelischer Leere Beifall klatschte, einen Beifall, der nicht aus meinem Eindruck selber kam, sondern gewissermaßen an meine vorgefaßten Ideen von dem Genuß anknüpfte, mir sagen zu können: »Endlich höre ich also die Berma.« Dem Unterschied zwischen einem stark individuellen Wesen oder Werk und der Idee der Schönheit entspricht der zwischen dem, was wir empfinden und den Ideen Liebe und Bewunderung. Daher erkennt man sie nicht wieder. Ich hatte keinen Genuß gehabt, als ich die Berma hörte (und ebensowenig, wenn ich Gilberte sah). Ich hatte mir gesagt: »Also bewundere ich sie nicht.« Dabei dachte ich damals doch nur daran, das Spiel der Berma zu ergründen, war nur damit beschäftigt, suchte meinen Geist so weit wie möglich zu öffnen, um alles, was dies Spiel enthielt, in mich aufzunehmen, und jetzt begriff ich: nichts anderes war Bewunderung gewesen.

War nun der Genius, den die Darstellung der Berma mir enthüllte, wirklich einzig der Genius Racines?

Das glaubte ich zuerst. Aber ich sollte eines besseren belehrt werden, als der Akt der Phèdre vorüber war. Während das Publikum die Künstlerin herausrief, richtete die alte wütende Schauspielerin ihre winzige Gestalt auf, drehte sich schräg, setzte ein starrendes Gesicht auf und kreuzte die Arme über die Brust, um zu zeigen, sie nehme an dem Beifall der andern nicht teil, sie hielt ihren Widerspruch für welterschütternd und wollte ihn besonders deutlich machen, aber er wurde gar nicht beachtet.

Das nächste Stück war eine der Neuheiten, die ich ehedem, weil sie unberühmt waren, für geringfügig und abseitig hielt, zumal sie außerhalb der Vorstellung, die man von ihnen gab, nicht lebten. Dafür blieb mir die Enttäuschung erspart, die ich bei klassischen Stücken hatte, mit ansehn zu müssen, wie die Ewigkeit eines Meisterwerkes räumlich von der Rampe und zeitlich von der Dauer einer Aufführung eingeschränkt wird, die es erledigt wie ein gelegentliches Gebet. Jede Tirade, die, wie ich merkte, jetzt vom Publikum geliebt wurde und einst berühmt werden würde, dachte ich mir mangels überlieferten Ruhmes in Gedanken künftig berühmt; das entsprach in entgegengesetzter Richtung der Vorstellung, wie Meisterwerke bei ihrem ersten unsicheren Erscheinen gewirkt haben mochten, als man ihren Titel zum erstenmal hörte und noch nicht mit den andern Werken des Verfassers in einer Reihe und einem Licht sah. Diese Rolle sollte also eines Tages zu den schönsten der Berma gehören und neben Phèdre stehn. Sie hatte schon an und für sich literarischen Wert, aber obendrein spielte die Berma sie ebenso herrlich wie die Phèdre. Da begriff ich, für die große Tragödin war das Werk des Schriftstellers nur ein an sich belangloses Mittel, um ein Meisterwerk der Darstellung zu schaffen. So hatte Elstir, der große Maler, den ich aus Balbec kannte, von den Motiven zweier gleich wertvoller Bilder das eine in einem charakterlosen Schulgebäude, das andre in einer Kathedrale gefunden, die selbst ein Meisterwerk war. Und wie der Maler Haus, Karren und Menschen in einer großen Lichtwirkung auflöst, die sie gleichartig macht, so breitete die Berma weite Schleier von Schauer oder Innigkeit über die Worte, die dabei, abgeflacht oder gehoben, zu einer Einheit verschmolzen, während eine mittelmäßige Künstlerin sie alle einzeln vorgebracht hätte. Und doch bekam jedes seine besondere Tönung, und die Vortragsweise der Berma hinderte nicht, daß man den Vers zu hören bekam. Ist es nicht schon ein erstes Element von geordneter Mannigfaltigkeit, das heißt, von Schönheit, wenn man einen Reim hört, also etwas, das gleichartig und dabei verschieden ist vom vorhergehenden Reim, von ihm begründet wird, einen neuen Gedanken in ihn als Spielart einführt, und wenn man zwei übereinander gelagerte Systeme fühlt, ein gedankliches und ein metrisches? Aber die Berma ließ die Worte, ja, die Verse, sogar »Tiraden« in weitere Zusammenspiele eingehn, und es war reizend zu sehn, wie sie an der Grenze dieser Zusammenspiele haltmachen, abbrechen mußten; so macht es einem Dichter Freude, beim Reime das Wort, das hervorbrechen will, einen Augenblick zaudern zu lassen, und einem Musiker, die verschiedenen Worte in einem Text in einen und denselben Rhythmus zu verschmelzen, der gegen sie angeht und der sie mitreißt. So wußte die Berma in die Wendungen des modernen Dramatikers wie in Racines Verse große Darstellungen von Adel, Schmerz und Leidenschaft einzufügen, die ihre eigenen Meisterwerke waren; und in ihnen erkannte man sie, wie den Maler in den Bildnissen, die er nach verschiedenen Modellen gemacht hat.

Jetzt lag es mir fern, wie damals zu wünschen, ich könnte die einzelnen Haltungen der Berma oder die Lichtwirkung, die sie einen Augenblick in einer gleich wieder verschwindenden Beleuchtung gab, festhalten oder sie einen Vers hundertmal wiederholen lassen. Ich begriff: mein Verlangen von damals ging weiter als die Absichten des Dichters, der Tragödin, des großen Künstlers, der die Stücke für sie inszenierte; der Zauber, der im Fluge den Vers streifte, die unstäten, beständig sich wandelnden Gebärden, die eilende Folge der Bilder: das alles war das flüchtige Ergebnis, das Augenblicksziel, das bewegliche Kunstwerk, um welches es der dramatischen Kunst zu tun ist; ein allzu begeisterter Zuhörer, der diese Dinge festhalten wollte, würde das Kunstwerk zerstören. Es lag mir auch nichts daran, die Berma ein andres Mal wieder zu hören; sie hatte mich befriedigt; als ich noch zu sehr bewunderte, um nicht von dem Gegenstand meiner Bewunderung enttäuscht zu sein (ob dieser Gegenstand nun Gilberte oder ob er die Berma war), erwartete ich im voraus vom Eindruck von morgen Freuden, die der von gestern mir versagt hatte. Jetzt aber suchte ich meine Freude, die ich vielleicht fruchtbarer hätte ausnutzen können, nicht zu ergründen und sagte mir in der Ausdrucksweise meiner ehemaligen Schulkameraden: »Ich gebe wirklich der Berma den ersten Platz.« Dabei hatte ich das unbestimmte Gefühl: ich würde dem Genius der Berma wohl kaum gerecht, wenn ich so meine Vorliebe bekräftigte und Preise verlieh, so sehr mich das im übrigen beruhigen mochte.

Als das zweite Stück begann, sah ich nach der Parterreloge der Frau von Guermantes. Die Fürstin machte eine Bewegung, die eine köstliche Linie zeichnete, welcher ich mit der Phantasie bis ins Leere folgte; sie wandte den Kopf zum Hintergrund der Loge, und ihre Gäste standen auf und wandten sich ebenfalls nach hinten, und durch die Doppelreihe, die sie bildeten, kam sicher und hoheitsvoll wie eine Göttin, zugleich aber mit ungeahnter Sanftheit, die begütigen sollte, daß sie so spät erschien und alle mitten in der Vorstellung aufstörte, die Herzogin von Guermantes; weißer Musselin, der sie umhüllte, und eine geschickt naive, schüchterne Verwirrung vermischte sich ihrem Siegerlächeln, während sie auf ihre Kusine zuging; sie machte einem jungen blonden Herrn in der ersten Reihe eine tiefe Verbeugung, wandte sich dann den heiligen Meerungeheuern, die im Hintergrund der Höhle schwebten, zu, und sagte diesen Halbgöttern vom Jokeyklub – in diesem Moment hätte ich einer von ihnen sein mögen und Herr von Palancy am liebsten – guten Tag, wie man es tut, wenn man einander fünfzehn Jahre gut gekannt hat. Das Geheimnis des lächelnden Blickes, den sie an ihre Freunde richtete, während sie dem und jenem ihre Hand überließ, fühlte ich, konnte aber sein Rätsel nicht entziffern; hätte ich das Prisma seines bläulichen Glanzes zerteilen, die Kristallbildungen auflösen können, er hätte mir vielleicht das Wesen des unbekannten Lebens, das sich jetzt hier auftat, enthüllt. Der Herzog von Guermantes folgte seiner Frau, die Spiegelungen seines Monokels, das Lachen seiner Zahnreihen, die weiße Farbe seiner Nelke und des gefältelten Hemdes drängten Augenbrauen, Lippen und Frack zur Seite, um ihrem Lichte Platz zu machen; mit einer Geste seiner ausgestreckten Hand, die er ganz gerade, ohne den Kopf zu bewegen, auf ihre Schultern legte, hieß er die untergeordneten Meergeschöpfe, welche ihm Platz machten, sich wieder setzen und verneigte sich tief vor dem jungen blonden Mann. Es war, als habe die Herzogin erraten, ihre Kusine, deren Übertreibungen (dazu wurde von ihrem geistreich französischen und maßvollen Standpunkt das germanisch Poetische und Pathetische leicht) sie, wie man sagte, gern ein bißchen ins Komische zog, werde an diesem Abend eines der Kleider tragen, in denen die Herzogin sie »kostümiert« fand, und sie habe ihr eine Unterweisung im guten Geschmack geben wollen. An Stelle des wunderbaren weichen Gefieders, das der Fürstin vom Haupte bis auf die Schultern fiel, an Stelle des Netzes aus Muscheln und Perlen trug die Herzogin nur eine einfache Reiherfeder im Haar, die über ihre gebogene Nase und ihre flach aufliegenden Augen ragte und wie der Schopf eines Vogels wirkte. Hals und Schultern tauchten aus einer schneeigen Flut von Musselin, gegen die ein Fächer aus Schwanenfedern schlug, darunter aber umschloß das Kleid, das nur an der Taille mit unzähligen Pailletten, teils aus Metallstäbchen und -kugeln, teils aus Brillanten, geschmückt war, ihren Körper mit britischer Präzision. So verschieden indessen die beiden Kleidungen waren –, als die Fürstin ihrer Kusine den Stuhl, den sie bisher eingenommen, gegeben hatte, sah man, wie sich beide einander zuwandten und sich gegenseitig bewunderten.

Vielleicht würde am nächsten Tag Frau von Guermantes mit einem gewissen Lächeln von der etwas zu umständlichen Frisur der Fürstin sprechen, sicher aber erklären, diese sei deshalb nicht weniger entzückend und wunderbar zurechtgemacht gewesen; und auch die Fürstin würde, obwohl sie persönlich die Art, wie ihre Kusine sich kleidete, etwas zu kalt, zu trocken, zu sehr »Modehaus« fand, in dieser strengen Nüchternheit ein köstliches Raffinement entdecken. Zwischen beiden glich die prästabilierte Harmonie und allgemeine Gravitation ihrer Erziehung die Gegensätze der Kleidung und Haltung aus. In unsichtbaren magnetischen Strahlen, welche die Eleganz des Benehmens zwischen ihnen spielen ließ, verging das lebhafte Naturell der Fürstin, während die Geradheit der Herzogin sich anziehen und anpassen ließ und sanft und reizend wurde.

Um zu begreifen, wie sehr die Berma persönliche und dichterische Gaben in dem Stück entfaltete, das da gespielt wurde, hätte man nur die Rolle, die sie gab und die sie allein geben konnte, einer andern Schauspielerin anzuvertrauen brauchen; dementsprechend hätte ein Zuschauer, der zu dem Balkon hinaufsah, in zwei Logen eine »Ausstaffierung« sehn können, von denen die eine an die Fürstin Guermantes erinnern wollte und ihrer Trägerin, der Baronin von Morienval, nur etwas Verschrobenes, Anspruchsvolles und ein Aussehn nach schlechter Erziehung gab, während die andere mit ihrer geduldigen, kostspieligen Mühe, Stil und Schick der Herzogin von Guermantes nachzuahmen, Frau von Cambremer nur einer Kleinstädterin anglich, die auf Draht gezogen, steif, trocken und spitz senkrecht im Haar einen Federbusch balanzierte, der nach Leichenwagenverzierung aussah. Eigentlich gehörte diese Frau wohl gar nicht in einen Saal, in dem alle Logen (selbst die in den obersten Rängen, die von unten wie große Körbe voll menschlicher Blumen an roten Samtbändern – den Zwischenwänden – von der Decke herabhängend schienen) mit den glänzendsten Frauen der Saison das Wandelbild dieses einen Tages bildeten. Todesfälle, Skandale, Krankheiten, Zwiste sollten es bald verändern, für den Augenblick aber war es von Spannung und Hitze, von Taumel, Staub, Eleganz und Langweile festgehalten: es war ein ewiger tragischer Augenblick unbewußter Erwartung und sanfter Betäubung, wie er, von einem späteren Zeitpunkt her gesehn, dem Platzen einer Bombe oder der ersten Flamme einer Feuersbrunst vorherzugehn scheint.

Daß Frau von Cambremer zugegen war, hatte seinen besondern Grund: die Prinzessin von Parma, die wie die meisten echten Hoheiten frei von Snobismus, dafür aber von dem Ehrgeiz, wohltätig zu sein, verzehrt war – diese Leidenschaft war bei ihr nicht geringer als die Neigung für das, was sie für »Kunst« hielt – hatte hier und da einige Logen Frauen wie Frau von Cambremer überlassen, die nicht zur hohen Adelsgesellschaft gehörten, aber durch wohltätige Stiftungen zu der Prinzessin Beziehungen hatten. Frau von Cambremer sah immerfort die Herzogin und die Fürstin Guermantes an, und da sie keine wirklichen Beziehungen zu ihnen hatte, konnte sie das ganz bequem tun, ohne daß es aussah, als hasche sie um einen Gruß. Und doch verfolgte sie seit zehn Jahren mit unermüdlicher Geduld das Ziel, bei den beiden großen Damen empfangen zu werden. Sie hatte ausgerechnet, in fünf Jahren werde sie ganz bestimmt am Ziele sein. Da sie aber an einer unheilbaren Krankheit litt, deren unerbittlichen Charakter sie zu kennen vermeinte (auf ihre medizinischen Kenntnisse tat sie sich etwas zu gut), fürchtete sie, nicht lange genug mehr zu leben. An diesem Abend machte es sie wenigstens glücklich zu denken, alle diese Frauen, die sie nicht kannte, sähen neben ihr einen von ihren eigenen Freunden, den jungen Marquis von Beausergent, einen Bruder von Frau von Argencourt. Der verkehrte nämlich in beiden Kreisen, und die Frauen des zweiten schmückten sich gern vor den Augen des ersten mit seinem Erscheinen. Er saß hinter Frau von Cambremer und hatte seinen Stuhl schräg gestellt, um in die andern Logen sehn zu können. Er kannte alle, und um sie zu grüßen, hob er seine hübsche geschmeidige Figur und den feinen Blondkopf ein wenig und ließ die blauen Augen voller Achtung und zugleich doch gelassen lächeln. Scharf schnitt er in das Rechteck der schrägen Fläche, die er ausfüllte, gleichsam den alten Stich eines stolzen und höflichen Grandseigneurs. In dieser Art nahm er öfters die Einladung der Frau von Cambremer an, sie ins Theater zu begleiten; im Saal und nachher im Vestibül verblieb er immer mitten in der Menge der glänzenderen Freundinnen, die er ringsum hatte, brav an ihrer Seite; er vermied es, mit ihnen zu sprechen, es hätte ihnen peinlich sein können, da er sich sozusagen in schlechter Gesellschaft befand. Kam die Fürstin Guermantes, schön und leicht wie Diana, vorbei und ließ ihren unvergleichlichen Mantel nachschleppen, dann wandten sich alle Köpfe, und alle Augen folgten ihr (die der Frau von Cambremer ganz besonders), Herr von Beausergent aber vertiefte sich in ein Gespräch mit seiner Nachbarin und beantwortete das strahlende Freundeslächeln der Fürstin etwas erkünstelt und gezwungen mit wohltuender Kühle und untadelhafter Zurückhaltung, damit in dieser Lage seine Liebenswürdigkeit nicht peinlich werde.

Hätte Frau von Cambremer nicht gewußt, daß die Parterreloge der Fürstin gehörte, sie hätte doch gemerkt, daß die Herzogin von Guermantes dort zu Gast war, so interessiert betrachtete sie Schauspiel und Zuschauerraum, um liebenswürdig gegen ihre Wirtin zu sein. Zugleich mit dieser zentrifugalen Kraft wirkte aber eine entgegengesetzte, und wieder gab sie, um liebenswürdig zu sein, auf ihre eigene Kleidung, ihren Reiher, ihr Halsband, ihre Taille acht und zugleich auf die der Fürstin; sie schien sich zur Untertanin, zur Sklavin ihrer Kusine zu erklären, und nur hierher gekommen, um die Fürstin zu sehn, bereit, ihr anderswohin zu folgen, falls die Inhaberin der Loge die Laune ankäme, wegzugehn, und alle andern im Saal schien sie nur als Fremde, wenn auch interessante Fremde, anzusehn, obwohl da viele Freunde von ihr waren, in deren Logen sie an andern Abenden sich einfand; wobei sie ihnen dann dieselbe ausschließliche, dehnbare, einem bestimmten Wochentag gemäße Anhänglichkeit bewies. Frau von Cambremer wunderte sich, die Herzogin heut abend zu sehn. Sie hatte sie noch in Guermantes vermutet, wo sie, wie sie wußte, lang blieb. Aber manchmal, hatte man ihr erzählt, wenn es in Paris eine Aufführung gab, die sie für interessant hielt, ließ Frau von Guermantes, gleich nachdem sie mit den Jägern Tee getrunken, anspannen, fuhr bei Sonnenuntergang in raschem Trab durch den dämmernden Wald, dann auf die Landstraße und nahm in Combray den Zug, um abends in Paris zu sein. »Vielleicht kommt sie von Guermantes eigens, um die Berma zu hören«, dachte bewundernd Frau von Cambremer. Und ihr fiel ein, Swann in dem doppelsinnig klingenden Jargon, den er mit Herrn von Charlus gemein hatte, sagen gehört zu haben. »Die Herzogin ist eins der vornehmsten Wesen von Paris, ausgesuchteste Auslese, feinste Auswahl.« Ich aber, der das Leben der beiden Kusinen (das ich nicht mehr aus ihren Gesichtern entnehmen konnte, weil ich sie gesehn hatte) von den Namen Guermantes, Bavière, Condé herleitete, hätte ihr Urteil über Phèdre lieber gehört, als das des größten Kritikers der Welt. Denn in seinem hätte ich nur Einsicht gefunden, Einsicht, die höher war als meine eigne, aber vom selben Schlage. Jedoch was die Herzogin und die Fürstin Guermantes dachten, hätte mir von der Natur dieser beiden poetischen Wesen ein unschätzbares Zeugnis gegeben; ich suchte es mit Hilfe ihrer Namen mir vorzustellen und vermutete einen irrationalen Zauber darin. Was Fieberdurst und Sehnsucht in mir von ihrer Meinung erwarteten, war der Zauber der Sommernachmittage, an denen ich in der Gegend um Guermantes spazieren gegangen war.

Frau von Cambremer suchte herauszufinden, was für Kleider die beiden Kusinen trugen. Für mich stand es außer Frage, daß diese Kleider ihnen eigen waren, nicht nur wie die Livree mit rotem Kragen und blauem Aufschlag einst ausschließlich den Guermantes und Condé gehörte, sondern vielmehr wie einem Vogel sein Gefieder eignet, das nicht allein ein Schmuck seiner Schönheit, sondern ein weiterer Teil seines Körpers ist. Die Kleidung der beiden Frauen erschien mir als eine schneeige oder bunte Verstofflichung ihrer innern Regung; und wie die Gebärden, die ich an der Fürstin Guermantes beobachtet hatte, für mich durchaus einer verborgenen Idee entsprachen, bekamen die Federn, die von der Stirn der Fürstin herabfielen und die blendende, mit Flitter besetzte Taille ihrer Kusine, einen bestimmten Sinn; sie waren Attribute, welche nur diesen Frauen eigneten und den Sinn dieser Wahrzeichen wollte ich erkennen: Der Paradiesvogel schien mir so unzertrennlich zur Fürstin zu gehören wie der Pfau zur Juno, und es war mir undenkbar, daß irgendeine andere Frau die Flittertaille der Herzogin sich aneignen könne, ebensogut hätte sie auf Minervas fransenschimmernde Ägide Anspruch erheben dürfen. Nicht in den kalten Allegorien der Decke, sondern in dieser Parterreloge sah ich durch Wolken, welche ein Wunder zerrissen hatte, die versammelten Götter, wie sie unterm roten Velum in einem lichten Durchblick zwischen zwei Pfeilern des Himmels das Schauspiel, das Menschen geben, sich betrachten. Und in den taumelnden Schrecken, welcher beim Anblick dieser Augenblicksverklärung mich überkam, mischte sich das friedevolle Wissen, daß die Unsterblichen mich nicht kannten. Zwar hatte mich die Herzogin einmal mit ihrem Gatten gesehn, würde sich aber schwerlich daran erinnern; ich litt nicht darunter, daß sie von ihrem Platz in der Loge auf den Korallenwald des Parketts in seiner anonymen Gesamtheit blickte, glücklicherweise war mein Wesen darin aufgelöst; da mit einemmal wollten es die Gesetze der Strahlenbrechung, daß die undeutliche Protozoenform meines jeder Besonderheit baren Daseins in den gelassenen Blickstrom jener blauen Augen kam; ich sah eine Helle in ihnen aufleuchten: die Herzogin wurde aus einer Göttin zur Frau und schien mir mit einem Schlage tausendmal schöner, sie hob die weiß behandschuhte Hand, die auf der Logenbrüstung geruht hatte zu einem freundschaftlichen Wink, und zugleich fühlten meine Blicke sich gekreuzt vom unabsichtlich entflammten Licht aus den Augen der Fürstin, das sich mitentzündete, einfach weil sie sich etwas bewegte, um zu erkennen, wem ihre Kusine da Guten Tag sage, während diese, die mich erkannt hatte, den himmlischen Strahlenregen ihres Lächelns über mich ausgoß.

 

Von nun an faßte ich jeden Morgen, lange bevor die Herzogin ausging, nachdem ich einen großen Umweg gemacht, Posten an der Ecke der Straße, welche sie für gewöhnlich entlangkam; und meinte ich dann, sie werde gleich erscheinen, so ging ich, mit zerstreuter Miene in ganz andere Richtung blickend, ihr entgegen und hob die Augen erst, wenn ich in ihre Höhe kam und zwar so, als hätte ich gar nicht erwartet, sie zu erblicken. Die ersten Tage wartete ich sogar, um sie nicht zu verfehlen, vor dem Hause. Und so oft das Hoftor aufging (um soviel Leute nacheinander durchzulassen, die nicht die Erwartete waren), setzte sich seine Erschütterung in meinem Herzen in Schwingungen fort, die lange brauchten, um sich zu beruhigen. Nie war der übereifrige Verehrer einer großen Schauspielerin, der vor dem Bühnenausgang der schönen Unbekannten auflauert, nie die wütende oder begeisterte Menge, die den Verurteilten beschimpft oder den großen Mann im Triumph tragen will und bei jedem Geräusch, das aus dem Gefängnis oder aus dem Palast kommt, meint, er seis, so aufgeregt wie ich, beim Warten auf die große Dame, die in ihrem einfachen Kleid mit der Anmut des Ganges (der war ganz anders, als wenn sie in einen Salon oder eine Loge trat) aus dem Morgenspaziergang – und für mich ging nur sie allein auf der Welt spazieren – ein ganzes Gedicht von Gewähltheit und die erlesenste Zier, die seltsamste Blüte des schönen Tags machte. Damit aber dem Pförtner meine Anstalten nicht auffielen, ging ich nach drei Tagen viel weiter fort bis zu irgendeinem Punkte des Weges, den die Herzogin gewöhnlich zurücklegte. Vor jenem Theaterabend machte ich solche kleinen Spaziergänge oft vor dem Frühstück, wenn gutes Wetter war; hatte es geregnet, so ging ich beim ersten Sonnenstrahl ein bißchen vor die Tür; und sah ich dann plötzlich auf dem noch feuchten Trottoir in der Herrlichkeit einer Straßenkreuzung, die da im blonden sonnengebeizten Staubnebel stand, ein Schulmädchen mit ihrer Lehrerin oder ein Milchmädchen mit weißen Ärmeln, so blieb ich regungslos stehn, eine Hand am Herzen, das schon dem fremden Leben entgegendrängte; ich versuchte, mir Straße, Stunde und die Türe zu merken, in welcher das kleine Mädchen, dem ich manchmal nachging, verschwunden war, um nicht wieder herauszukommen. Zum Glück waren diese Bilder, die ich hegte und mir wiederzusehn vornahm, zu flüchtig, um meinem Gedächtnis sich nachhaltiger einzuprägen. Und doch, es machte mich nicht mehr so traurig, krank zu sein, noch immer nicht den Mut zum Arbeiten oder ein Buch anzufangen gefunden zu haben; die Erde schien mir wohnlicher, das Leben ein interessanterer Weg, seit ich sah, die Straßen von Paris waren wie die Wege in Balbec beblüht mit unbekannten Schönen, wie ich sie oft aus den Wäldern von Méséglise zu beschwören versucht hatte, und deren jede ein Verlangen wachrief, das nur sie mir stillen zu können schien.

Als ich von der Opéra-Comique nach Hause kam, hatte ich für den nächsten Tag denen, die ich seit einiger Zeit wiederzutreffen wünschte, das Bild der Frau von Guermantes zugesellt, wie sie in ihrer hohen Frisur aus lockerem Blondhaar aus der Parterreloge ihrer Kusine ein zärtliches Versprechen mir zugelächelt hatte. Ich hatte im Sinne, den Weg zu gehn, von dem mir Françoise gesagt hatte, die Herzogin schlage ihn ein, dabei aber, um die beiden jungen Mädchen, die ich vorgestern gesehn, wiederzutreffen, wenn möglich auf den Ausgang eines Kursus und eines Konfirmandenunterrichts achtzugeben. Unterdessen überkam mich von Zeit zu Zeit das flimmernde Lächeln der Frau von Guermantes und das süße Gefühl, das dieses Lächeln mir gegeben hatte. Und ohne recht zu wissen, was ich tat, versuchte ich dies (wie eine Frau auf einem Kleide eine bestimmte Art Juwelenknöpfe, die man ihr gegeben hat, ausprobt) den romantischen Vorstellungen anzupassen, die ich seit langem hegte; Albertines Kälte, Gisèles verfrühte Abreise und vorher die gewollte allzulange Trennung von Gilberte hatten sie in mir freigemacht (der Vorstellung zum Beispiel, von einer Frau geliebt zu werden, mit ihr das Leben zu teilen); diesen Vorstellungen näherte ich dann das Bild des einen oder andern der beiden jungen Mädchen und versuchte gleich darauf, die Erinnerung an die Herzogin ihnen anzupassen. Neben diesen Vorstellungen war die Erinnerung an Frau von Guermantes in der Opéra-Comique nur etwas Kleines, ein winziger Stern seitab im langen leuchtenden Kometenschweif; überdies waren mir diese Vorstellungen vertraut, schon lange, bevor ich Frau von Guermantes kennenlernte; die Erinnerung an die Herzogin in der Loge dagegen besaß ich in unvollkommener Form, und sie kam mir zeitweise abhanden; nun hätte ich in den Stunden, in denen ihr Bild von dem schwanken Zustand, den es mit Bildern anderer hübscher Frauen in mir teilte, zu einer einmaligen und endgültigen – alle andern weiblichen Bilder ausschließenden – Verbindung mit meinen soviel älteren romantischen Vorstellungen überging, – in diesen Stunden, in denen ich mich am deutlichsten seiner erinnerte, hätte ich mich bemühen sollen, genau herauszufinden, wie es war; aber da wußte ich noch nicht, daß es für mich so entscheidend werden würde; da war es nur süß wie ein erstes Stelldichein mit Frau von Guermantes in meinem Innern, war die erste, einzig wahre, einzig nach dem Leben gemachte Skizze, die einzige, die wirklich Frau von Guermantes war; und dies Erinnerungsbild, das ich nur einige Stunden lang glücklich festhielt, ohne es beachten zu können, mußte wohl doch sehr reizend sein, denn zu ihm kehrten immer, damals noch frei, noch ohne Hast, ohne Mühe und ohne alles Erzwungene, Beklemmende, meine Liebesgedanken zurück; in dem Maße, als sich sodann diese Gedanken in ihm festsetzten, wuchs ihm von ihnen größere Kraft zu, wurde es selbst aber undeutlicher; bald konnte ich es nicht mehr wiederfinden, und ich entstellte es in meinen Träumereien wohl ganz und gar; denn jedesmal, wenn ich Frau von Guermantes sah, ermittelte ich einen, nebenbei bemerkt, jedesmal wechselnden Unterschied zwischen dem, was ich mir vorgestellt hatte, und dem, was ich sah. Zwar erkannte ich jetzt jeden Tag, wenn Frau von Guermantes am andern Ende der Straße erschien, ihre hohe Gestalt, den klaren Blick unter dem weichen Haar, all die Dinge, um derentwillen ich da war; hatte ich aber ein paar Sekunden später die Augen erst abgewandt, um den Anschein zu wecken, als erwarte ich diese Begegnung gar nicht, und hob sie dann, wenn ich auf gleiche Höhe mit ihr gekommen war, zur Herzogin, dann sah ich rote Flecken – ich wußte nicht, ob von der frischen Luft oder von ihrer rötlichen Hautfarbe – auf einem mürrischen Gesicht, das trocken und ganz entschieden nicht so liebenswürdig wie an dem Phèdre-Abend den Gruß erwiderte, den ich täglich mit überraschter Miene, welche ihr nicht zu gefallen schien, an sie richtete. Einige Tage kämpfte noch das Erinnerungsbild der beiden jungen Mädchen unter ungleichen Aussichten mit dem der Frau von Guermantes um die Vorherrschaft in meinen Liebesgedanken, bis das der Herzogin wie von selbst häufiger auftauchte, während die Nebenbuhlerinnen von selbst ausschieden; und schließlich hatte ich, im Grunde absichtlich und wie aus Vorliebe und zum Vergnügen, alle meine Liebesgedanken auf dies Bild übertragen. Ich dachte nicht mehr an die kleinen Mädchen aus dem Konfirmandenunterricht noch an ein gewisses Milchmädchen; und dennoch hoffte ich nicht mehr, auf der Straße zu finden, was ich eigentlich dort gesucht hatte, weder das zärtliche Versprechen des Lächelns vom Theater her noch die Silhouette und das klare Gesicht unter blondem Haar, die es nur von weitem gab. Jetzt hätte ich nicht einmal angeben können, wie Frau von Guermantes aussah und woran ich sie erkannte; denn jeden Tag war in ihrer Gesamterscheinung das Gesicht ein anderes, gerade wie Kleid und Hut.

Wenn ich gestern unter einer lila Kapotte ein sanftes glattes Gesicht näher kommen sah, dessen Anmut sich symmetrisch um zwei blaue Augen verteilte und die Linie der Nase fast verschwinden ließ, warum fühlte ich dann die freudige Erregung, ich würde nicht nach Hause kommen, ohne Frau von Guermantes gesehn zu haben? Und erlebte doch denselben Schauer, heuchelte dieselbe Gleichgültigkeit, wandte die Augen ebenso zerstreut ab wie gestern, wenn heut in einer Querstraße unter einem marineblauen Helmhut im Profil längs einer roten Backe eine Adlernase erschien, die wie bei einer ägyptischen Gottheit von einem scharfen Auge überschnitten war? Einmal bekam ich sogar statt einer Frau mit Vogelnase geradezu einen richtigen Vogel zu sehn: Kleid und Helmhut der Frau von Guermantes waren aus Pelzwerk und ließen keinen Stoff erkennen, sie stak darin wie gewisse Geier, deren dichtes glattes, gleichmäßig fahlrotes Gefieder aussieht wie eine Haarfarbe. Mitten in diesem natürlichen Gefieder krümmte der kleine Kopf seinen Schnabel und die flach aufliegenden Augen waren scharf und blau.

An manchen Tagen ging ich stundenlang die Straße kreuz und quer, ohne Frau von Guermantes zu sehn, mit einemmal tauchte aus einem Milchladen, der sich zwischen zwei Häusern dieses aristokratischen und volkstümlichen Viertels versteckte, undeutlich das fremde Gesicht einer eleganten Dame auf, die sich dort Sahnenkäse zeigen ließ, und ehe ich sie noch erkannte, traf mich wie ein Blitz, der dem übrigen Bilde voraneilte, der Blick der Herzogin; ein andermal, als ich sie nicht traf und schon Mittag läuten hörte, sah ich ein, es lohne nicht, länger zuwarten, und schlug traurig den Heimweg ein; ganz in meine Enttäuschung verloren, ließ ich meine Blicke auf einen Wagen, der wegfuhr, fallen, ohne etwas zu sehn, bis ich mit einemmal begriff, das Nicken der Dame dort im Wagen galt mir; diese Dame, deren schlaffe, bläßliche oder vielmehr lebhaft gespannte Züge unter rundem Hute mit hohem Reiher ein fremdes Gesicht bildeten, das ich nicht zu kennen gemeint hatte, war Frau von Guermantes, und ich hatte mich von ihr grüßen lassen, ohne auch nur den Gruß zu erwidern. Und manchmal fand ich sie, wenn ich heimkam, an der Pförtnerloge, und der gräßliche Pförtner, dessen Späherblicke ich haßte, machte ihr tiefe Bücklinge und hatte sicher was zu »klatschen«, denn hinter den Gardinen versteckt, beobachtete die ganze Dienerschaft der Guermantes zitternd das Gespräch, von dem es nichts hören konnte: den oder jenen würde die Herzogin nun sicher wieder nicht ausgehn lassen, weil der Pförtner ihn verraten hatte. Und da ich nacheinander soviel verschiedene Gesichter erscheinen sah, die in dem Gesamteindruck der Kleidung einen mannigfach wechselnden, bald schmalen bald breiten Platz einnahmen, haftete meine Liebe nicht an dem oder jenem Teil von Haut und Stoff, der von Tag zu Tag mit einem andern seinen Platz vertauschte; das alles war immer ganz anders und neu, nur meine Erregung blieb unverändert, denn durch alles hindurch fühlte ich, dort hinter dem neuen Kragen an unbekannter Wange, das war immer wieder Frau von Guermantes. Ich liebte die Unsichtbare, die das alles in Bewegung setzte, sie, deren feindliche Haltung mir Kummer machte, deren Nahen mich aus der Fassung brachte, deren Leben ich haschen und deren Freunde ich vertreiben wollte! Sie konnte eine blaue Feder aufpflanzen oder eine feuerrote Gesichtsfarbe haben, für mich hätte ihr Tun dadurch seine Wichtigkeit nicht verloren.

Hätte ich nicht selbst gefühlt, daß es Frau von Guermantes lästig war, mir täglich zu begegnen, ich hätte es indirekt an dem kalten, vorwurfsvollen und mitleidigen Gesicht gemerkt, das Françoise hatte, wenn sie mir behilflich war, mich für die Morgenspaziergänge zurechtzumachen. Sobald ich sie um meine Sachen bat, ging ein feindlicher Hauch durch ihre abgespannten müden Züge. Ich bemühte mich auch gar nicht, Françoises Vertrauen zu gewinnen, ich fühlte, es werde mir doch nicht gelingen. Wie sie es fertig brachte, sofort zu spüren, was uns, meinen Eltern und mir, Unangenehmes zustieß, ist mir immer dunkel geblieben. Vielleicht ging das gar nicht mit übernatürlichen Dingen zu, vielleicht hatte sie ihre eigenen Benachrichtigungswege; so erfahren wilde Völkerschaften gewisse Neuigkeiten mehrere Tage, ehe die Post sie der europäischen Kolonie mitteilt, und zwar nicht auf dem Wege der Telepathie, sondern von Hügel zu Hügel durch Feuerzeichen. In dem besondern Fall meiner Spaziergänge hatten vielleicht die Dienstboten der Frau von Guermantes ihre Herrin äußern hören, sie sei es müde, unvermeidlich auf ihrem Wege mich anzutreffen, und diese Äußerungen Françoise wiederholt. Nun hätten meine Eltern wohl jemand andern als Françoise mit meiner Bedienung betrauen können, aber ich hätte dabei nichts gewonnen. In gewissem Sinne war Françoise weniger ein Dienstbote als andere. An ihrer Art zu empfinden, gut und mitleidig, hart und hochmütig, scharfsinnig und beschränkt zu sein, merkte man das Dorf-Fräulein mit weißer Haut und roten Händen, dessen Eltern »schon sehr von woher«, aber verarmt und gezwungen waren, ihr Kind zu fremden Leuten in Stellung zu geben. Mit ihrer Gegenwart wurde in unser Haus Landluft und das gesellschaftliche Leben auf einem Bauernhofe von vor fünfzig Jahren verpflanzt: eine Art umgekehrte Reise, bei der die Sommerfrische zu dem Sommergast kommt. Wie der Glasschrank eines Bezirksmuseums in gewissen Provinzen mit Handarbeiten und Bortenwirkereien von Bäuerinnen, so war unsere Pariser Wohnung mit Françoises Worten angefüllt, welche von einem altherkömmlichen heimatlichen Fühlen eingegeben waren und sehr alte Regeln befolgten. Darein hatte sie wie mit farbigen Fäden Kirschbäume und Vögel ihrer Kindheit und das Sterbebett ihrer Mutter verwoben, das sie noch sah. Trotzdem hatte sie, sobald sie in Paris in unsern Dienst getreten war – und jede andere hätte das an ihrer Stelle erst recht getan – die Ideen, die Rechtslehre und Rechtsauslegung der Dienstboten aus den andern Stockwerken angenommen, und um sich für die Hochachtung, die uns zu bezeugen sie sich gezwungen fühlte, zu entschädigen, hinterbrachte sie uns, was die Köchin aus dem vierten Stock ihrer Dame für Grobheiten sagte, und zwar mit solcher Dienstboten-Genugtuung, daß wir zum erstenmal im Leben uns mit der unleidlichen Mieterin im vierten Stock in gewisser Weise solidarisch fühlten und uns sagten, wir seien vielleicht tatsächlich »Herrschaft«. Diese Änderung in Françoises Wesen war vielleicht unvermeidlich. Bei gewissen anormalen Existenzen stellen sich zwangsläufig gewisse Mängel ein, so bei der, welche der König in Versailles zwischen seinen Höflingen führte, seltsam wie die eines Pharao oder Dogen, und mehr noch als bei seiner bei der seiner Höflinge. Die Existenz der Dienstboten ist zweifellos etwas noch viel Ungeheuerlicheres, und nur Gewohnheit macht uns blind dafür. Aber ich wäre bis in noch viel eigentümlichere Einzelheiten verdammt gewesen, denselben Dienstboten zu behalten, selbst wenn ich Françoise entlassen hätte. Verschiedene andere konnten später in meinen Dienst treten; schon behaftet mit den allgemeinen Dienstbotenfehlern machten sie doch bei mir noch eine jähe Veränderung durch. Wie Stoß gesetzmäßig Gegenstoß hervorruft, richteten sie in ihrem Wesen, um nicht von den Härten des meinen zu leiden, alle an gleicher Stelle Rückzugsmöglichkeiten ein und benützten dafür meine Lücken, um ihre eignen Posten vorzuschieben. Diese Lücken kannte ich so wenig wie die Vorsprünge, zu denen ihre Zwischenräume werden konnten, gerade deswegen, weil es Lücken waren. Meine Dienstboten aber lehrten mich sie kennen, an der Art wie sie sich nach und nach verschlechterten. An ihren unabänderlich immer wieder erworbenen Fehlern lernte ich meine natürlichen unveränderlichen Fehler kennen; ihr Wesen wurde zu einer Art »Negativ« meines eignen. Meine Mutter und ich, wir hatten uns früher oft über Frau Sazerat lustig gemacht, wenn sie von ihren Dienstboten sagte: »Diese Rasse, diese Sorte«. Aber ich muß gestehn: wenn ich keinen Anlaß hatte zu wünschen, ich könnte Françoise durch eine andere ersetzen, so lag das daran, daß diese andere ebenso unvermeidlich zur allgemeinen Rasse der Dienstboten und zur besonderen Sorte meiner Dienstboten gehört hätte.

Um auf Françoise zurückzukommen, nie in meinem Leben habe ich eine Demütigung erlitten, ohne auf Françoises Gesicht im voraus fertiges Beileid zu lesen, und wenn es mich ärgerte, daß sie mich beklagte, und ich mir den Anschein geben wollte, vielmehr einen Erfolg davongetragen zu haben, waren meine Lügen schon an ihrer ebenso achtungsvollen wie sichtlichen Ungläubigkeit gescheitert; sie war sich ihrer Unfehlbarkeit bewußt. Sie kannte die Wahrheit: sie sprach sie nicht aus, machte nur eine kleine Bewegung mit den Lippen, als habe sie gerade den Mund voll und müsse erst mit einem guten Bissen fertig werden. Sie sprach sie nicht aus; das habe ich wenigstens lange Zeit geglaubt, denn damals bildete ich mir noch ein, daß man die Wahrheit den andern durch Worte mitteilte. Die Worte, die man mir sagte, hinterließen in meinem empfindlichen Bewußtsein immer ihre unveränderliche Bedeutung, und ich hielt es nicht für möglich, es liebe mich jemand nicht, der mir gesagt hatte, er liebe mich; darin war ich so leichtgläubig wie Françoise, wenn sie etwa in der Zeitung las, ein Priester oder sonst ein Herr sei fähig, auf briefliche Anfrage uns gratis ein Mittel, das unfehlbar alle Krankheiten heile, zu schicken oder eine Anweisung, unsere Einkünfte zu verhundertfachen. (Wenn ihr dagegen unser Hausarzt die einfachste Salbe gegen den Schnupfen verschrieb, seufzte sie, die sonst den härtesten Schmerzen so gut standhielt, da habe sie etwas in die Nase bekommen, das jucke fürchterlich, da könne man ja nicht leben noch sterben.) An Françoises Beispiel erfuhr ich zum erstenmal (verstehn sollte ich es erst viel später an einem neuen und viel schmerzlicheren Beispiel, das, wie man in den späteren Teilen dieses Buches sehn wird, eine Person gab, die mir teurer war), daß Wahrheit nicht gesagt zu werden braucht, um kundgetan zu werden, man kann sie vielleicht sicherer herausbekommen, ohne die Worte abzuwarten, ja ohne sie überhaupt in Rechnung zu ziehen, und zwar an tausend äußeren Zeichen, ja sogar an gewissen unsichtbaren Wirkungen, die in der Welt der Charaktere dem entsprechen, was in der physischen Natur die atmosphärischen Veränderungen sind. Das hätte ich vielleicht ahnen können, denn damals sagte ich selbst oft Sachen, die durchaus unwahr waren, und tat zugleich durch viele ungewollte Bekenntnisse meines Körpers und meines Benehmens die Wahrheit kund – und diese Bekenntnisse verstand Françoise vortrefflich auszulegen –, vielleicht hätte ichs ahnen können, aber dazu hätte ich eben wissen müssen, daß ich bisweilen log und betrog. Aber Lug und Trug stellten sich bei mir wie bei allen unmittelbar und ganz zufällig ein; zum Schutz seiner Interessen ließ mein Geist, der selber auf ein schönes Ideal gerichtet war, meinen Charakter diese dringende und jämmerliche Arbeit im Dunkeln verrichten, und er sah sich nicht danach um. War Françoise abends nett zu mir, bat sie mich um Erlaubnis, sich in mein Zimmer zu setzen, so kam mir ihr Gesicht durchscheinend vor, ich sah sie gütig und aufrichtig. Aber Jupien, dessen Neigung zum Klatsch ich erst später kennen lernen sollte, entdeckte mir seither, sie habe gesagt, ich sei den Strick nicht wert, mit dem man mich hängen müßte, und habe ihr immer alles mögliche Schlechte zufügen wollen. Diese Worte Jupiens ergaben in einer neuen Farbe einen Abzug meiner Beziehungen zu Françoise, und der war recht verschieden von dem, auf dem ich gern und oft meine Blicke ruhen ließ, denn da verehrte Françoise mich unbedingt und unbeirrt und versäumte keine Gelegenheit, mich zu rühmen. So begriff ich denn, daß nicht nur die physische Welt anders sein kann als wir sie sehn; alle Wirklichkeit ist vielleicht ganz verschieden von dem, was wir unmittelbar wahrzunehmen glauben, Bäume, Sonne und Himmel wären vielleicht ganz anders als wir sie sehn, wenn Wesen sie kennten, die andersgebaute Augen als wir oder für diese Verrichtung statt der Augen andere Organe besäßen, welche von Bäumen, Sonne und Himmel Entsprechendes gäben, das nicht visuell wäre. Jäh wie Jupien ihn mir eröffnete, erschreckte mich dieser Ausblick auf die wirkliche Welt. Dabei handelte es sich doch nur um Françoise, um die ich mich wenig kümmerte. War es in allen menschlichen Beziehungen ebenso? Und bis zu welchem Grad von Verzweiflung konnte mich das eines Tages bringen, wenn es in der Liebe ebenso war? Geheimnis der Zukunft! Zunächst handelte es sich also nur um Françoise. Meinte sie aufrichtig, was sie zu Jupien gesagt hatte? Hatte sie es nur gesagt, um Jupien mit mir zu entzweien, vielleicht nur, damit man nicht Jupiens Tochter nehme, um sie zu ersetzen? Eins stand für mich fest: es war mir unmöglich, auf unmittelbare und sichere Art zu erfahren, ob Françoise mich liebte oder nicht ausstehen konnte. Und so hat sie zuerst mir den Gedanken eingegeben: eine Person steht nicht, wie ich geglaubt hatte, mit ihren Eigenschaften und Fehlern, mit dem was sie im allgemeinen vorhat, und dem, was sie mit uns beabsichtigt, klar und unbewegt vor uns (wie ein Garten, durch ein Gitter gesehn, mit all seinen Beeten uns vor Augen liegt), sondern sie ist ein Schatten, in den wir nie eindringen, den wir nie unmittelbar erkennen können. Mit Hilfe von Worten und sogar von Handlungen, die uns, die einen wie die andern, unzureichend und obendrein einander widersprechend unterrichten, machen wir uns mancherlei Meinungen über ihn und können uns abwechselnd mit gleicher Wahrscheinlichkeit vorstellen, daß Haß oder Liebe aus dem Schatten leuchte.

Ich liebte Frau von Guermantes wirklich. Das größte Glück, das ich von Gott hätte erbitten können, wäre gewesen, er solle alles Mißgeschick auf sie niedergehn lassen und, zugrundegerichtet, mißachtet, aller Vorrechte, die mich von ihr trennten, beraubt, ohne Haus zum Wohnen, ohne Leute, die sich herabließen, sie zu grüßen, solle sie zu mir kommen, mich um ein Asyl zu bitten. Ich stellte mir vor, wie sie das tat. Und selbst an Abenden, an denen eine Veränderung der Atmosphäre oder meines eigenen Gesundheitszustandes in meinem Bewußtsein vergessene Blätter entrollte, auf denen Eindrücke von ehedem eingezeichnet waren, nutzte ich nicht die erneuernden Kräfte, die in mir erwachten, wandte sie nicht an, um im eigenen Innern Gedanken zu entziffern, welche gewöhnlich mir entgingen, kurz, ich machte mich nicht an die Arbeit, lieber sprach ich laut vor mich hin, in aufgeregten äußerlichen Gedankengängen, erging mich in nutzlosen Gesprächen und Rednergebärden, erfand einen richtigen Abenteuerroman, steril und unwahr, in dem die Herzogin ins Elend geriet und mich anflehen kam, mich, der durch eine Reihe entsprechend anderer Umstände reich und mächtig geworden war. Und hatte ich dann Stunden damit verbracht, mir solche Umstände auszudenken und Sätze auszusprechen, die ich der Herzogin sagen wollte, wenn ich sie unter mein Dach aufnähme, so blieb die Lage dieselbe; ich hatte eben in Wirklichkeit gerade die Frau für meine Liebe erwählt, die vielleicht die meisten verschiedenen Vorzüge vereinte; und so konnte ich mir in ihren Augen keinen Nimbus erhoffen; denn sie war so reich, wie die Reichsten der Nichtadeligen, ganz abgesehn von ihrem persönlichen Reiz, der sie in Mode brachte und aus ihr eine Art Königin unter den Frauen schuf.

Ich fühlte allerdings, es mißfiel ihr, daß ich jeden Morgen ihr entgegenging; hätte ich aber auch den Mut gehabt, das zwei oder drei Tage zu unterlassen, Frau von Guermantes hätte den Verzicht, für mich ein großes Opfer, vielleicht gar nicht bemerkt oder ihn einem von meinem Willen unabhängigen Hindernis zugeschrieben. Um es fertig zu bringen, die Begegnung mit ihr zu vermeiden, hätte ich es so einrichten müssen, daß sie mir unmöglich wurde; mein immer neues Bedürfnis, die Herzogin zu treffen, für die Dauer eines Augenblicks der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit zu sein, die Person, an die sich ihr Gruß richtete, dies Bedürfnis war stärker als der Verdruß, ihr zu mißfallen. Ich hätte mich eine Zeitlang entfernen müssen, und dazu hatte ich nicht den Mut. Einen Moment dachte ich daran. Manchmal sagte ich zu Françoise, sie solle meine Koffer packen, und gleich darauf, sie solle sie wieder auspacken. Françoise sagte mit einer Anleihe beim Wortschatz ihrer Tochter, ich sei »vertrottelt«. (Daran kann man sehn, daß der Dämon der Nachahmung und die Furcht, altfränkisch zu erscheinen, die natürlichsten und selbstgewissesten Formen ändert.) Sie ärgerte sich an mir, sie sagte, ich »balanciere« immer; wenn sie nicht mit den Modernen wetteifern wollte, dann griff sie auf die Sprache Saint-Simons zurück. Sie konnte es allerdings noch weniger leid en, wenn ich als Herr und Gebieter auftrat. Sie wußte, das war mir nicht natürlich, es stand mir nicht oder, wie sie es ausdrückte, mich kleidete das Gewollte nicht. Zum Abreisen hätte ich nur in einer Richtung, die mich Frau von Guermantes näherte, den Mut gehabt. Hieß es nicht, ihr viel näher kommen, wenn ich – statt morgens auf der Straße einsam, verschämt, mit dem Gefühl, kein einziger meiner an sie gerichteten Gedanken erreiche sein Ziel, endlos herumstand und herumlief, ohne weiterzukommen – wenn ich statt dessen viele Meilen von Frau von Guermantes fort reiste, aber zu jemandem, den sie kannte, von dem sie wußte, er war anspruchsvoll in der Wahl seiner Beziehungen, und der schätzte mich, konnte ihr von mir sprechen, konnte meine Wünsche – vielleicht noch nicht bei ihr durchsetzen, aber ihr doch mitteilen; dank diesem Menschen, mit dem ich zusammen überlegen würde, ob er es auf sich nehmen könne, ihr die oder die Bestellung zu überbringen oder nicht, würde ich meinen einsamen stummen Träumereien eine neue ausgesprochene aktive Form geben, und das würde für mich ein Fortschritt, beinahe eine Verwirklichung sein. Was sie während ihres geheimnisvollen »Guermantes«-Lebens tat, damit beschäftigten sich beständig meine Traumgedanken, und dem beizukommen, wenn auch nur auf mittelbare Art, mit einem Hebel sozusagen, indem ich jemanden in Tätigkeit setzte, dem der Zugang zum Haus der Herzogin, zu ihren Gesellschaftsabenden, zu lang ausgedehnter Unterhaltung mit ihr nicht verwehrt war, das würde, wohl aus größerer Entfernung, aber viel wirksamer, eine Berührung mit ihr ergeben als meine allmorgendliche Kontemplation auf der Straße.

 

Saint-Loups Freundschaft und Bewunderung für mich schienen mir bisher unverdient und waren mir gleichgültig geblieben. Jetzt mit einem Mal maß ich ihnen Wert bei. Wenn er sie doch Frau von Guermantes enthüllte! Ich wäre imstande gewesen, ihn darum zu bitten. Sobald man verliebt ist, möchte man alle kleinen unbekannten Vorrechte, die man besitzt, der geliebten Frau unterbreiten, wie im gewöhnlichen Leben Enterbte und Zudringliche es tun. Man leidet darunter, daß sie nichts von ihnen weiß, man sucht sich zu trösten mit dem Gedanken, gerade weil sie nicht sichtbar sind, füge die Geliebte; vielleicht ihrer Vorstellung von uns solche unbekannt gebliebenen Vorzüge bei.

Saint-Loup konnte seit langem nicht mehr nach Paris kommen, sei es – wie er behauptete – weil sein Beruf ihn in Anspruch nahm, sei es vielmehr, weil seine Maitresse, mit der zu brechen er schon zweimal drauf und dran gewesen, ihm Kummer bereitete. Oft hatte er mir gesagt, es würde gut für ihn sein, wenn ich ihn in der Garnison besuchen käme, deren Name mir am Tage nach seiner Abreise auf dem Umschlag des ersten Briefes, den ich von meinem Freund erhielt, so viel Freude gemacht hatte. Sie lag nicht so weit von Balbec wie man aus dem ackerländischen Charakter der Gegend hätte schließen sollen, in einer der typischen kleinen aristokratisch-militärischen Städte, umgeben von weiter Landschaft, in welcher oft fernhin und bisweilen aussetzend ein dunstiger Klang schwimmt und – wie eine Pappelallee schlängelnd den Lauf eines Baches abzeichnet und verhüllt – den Stellungswechsel eines Regimentes beim Manöver bemerkbar macht. Die Atmosphäre der Straßen, Avenuen und Plätze hat mit der Zeit eine Art dauernden kriegerisch-musikalischen Erlebens angenommen, der derbste Lärm von Karren und Trambahnen verklingt in unbestimmten Trompetensignalen, welche dem halluzinierten Ohr die Stille unaufhörlich widerhallt. Das Städtchen lag auch von Paris nicht sehr weit, ich hätte mit dem Schnellzug noch am gleichen Abend zur Mutter und Großmutter heimfahren und die Nacht in meinem Bette schlafen können. Kaum hatte ich das begriffen, so verwirrte mich schmerzliches Verlangen; ich hatte nicht Willenskraft genug zu dem Entschluß, nicht nach Paris zurückzukehren und in der Stadt zu bleiben, aber auch nicht genug, um einen Dienstmann daran zu hindern, meine Handtasche zu nehmen und zu einer Droschke zu tragen; hinter ihm hergehend mußte ich die verödete Seele eines Reisenden annehmen, der auf seine Sachen aufpaßt und den keine Großmutter erwartet, mußte ungezwungen wie einer, der schon nicht mehr an das, was er will, denkt und dreinschaut, als wüßte er, was er will, in den Wagen steigen und dem Kutscher die Adresse der Kavalleriekaserne geben. Ich dachte, Saint-Loup würde die Nacht im Gasthof, in dem ich abstiege, schlafen, um mir die erste Berührung mit der unbekannten Stadt weniger beklemmend zu machen. Ein Mann von der Wache ging ihn suchen, und ich wartete vor der Tür der Kaserne, wie vor einem großen Schiff, durch das Novemberwind geht; alle Augenblicke kamen – es war sechs Uhr abends – Soldaten zu zweit und zweit auf die Straße heraus, schwankend, als ob sie in einem exotischen Hafen, wo sie gerade vor Anker lagen, an Land gingen.

Saint-Loup erschien, wandte sich nach allen Seiten und ließ sein Monokel vor sich herfliegen; ich hatte meinen Namen nicht sagen lassen und war voll Ungeduld, seine Überraschung und Freude zu genießen.

»Ach, ist das ärgerlich!« rief er, als er mich plötzlich bemerkte, und wurde rot bis über die Ohren, »gerade habe ich den Wochendienst übernommen, die nächsten acht Tage werde ich nicht ausgehen können!«

Benommen von dem Gedanken, ich sollte die erste Nacht allein verbringen – es kannte ja niemand so gut wie er meine abendlichen Beklemmungen, er hatte sie in Balbec oft beobachtet und gelindert –, unterbrach er seine Klage und wandte sich mir leise lächelnd zu mit zärtlichen, etwas ungleichmäßigen Blicken: die einen kamen aus seinem Auge, die andern durch sein Monokel, und alle spielten auf seine Erregung über dies Wiedersehn mit mir an, und zugleich auf die wichtige Angelegenheit, die ich noch immer nicht begriff, die mich aber nun anging, auf unsere Freundschaft.

»Mein Gott! Wo wollen Sie nur schlafen? Zu dem Hotel, in dem wir essen, kann ich Ihnen wirklich nicht raten, das liegt neben dem Ausstellungsgebäude, wo bald die Festlichkeiten anfangen werden, da wird es sehr voll sein. Nein, besser das Hôtel de Flandre, das ist ein Schlößchen aus dem achtzehnten Jahrhundert mit alten Möbeln und Tapeten. Das »gibt sich« ganz hübsch als ›historischer Herrensitz!‹«

Saint-Loup verwandte bei jeder Gelegenheit das Wort »gibt sich« für »nach etwas aussehn«: die gesprochene Sprache hat ebenso wie die geschriebene von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach solchen Veränderungen des Wortsinns, Tönungen des Ausdrucks. Und gerade wie die Journalisten oft nicht wissen, welcher literarischen Schule ihre feinen Wendungen entstammen, rührte Saint-Loups Wortschatz und Sprechweise von der Nachahmung dreier verschiedener Ästheten her, von denen er keinen kannte; ihre Redeweise war ihm auf Umwegen übertragen worden. »Übrigens« schloß er, »ist dieses Hotel Ihrer Gehörhyperästhesie ganz gut angepaßt. Sie werden keine Nachbarn haben. Ich gebe zu, der Vorteil ist kümmerlich, es kann ja morgen ein anderer Gast hinkommen, es würde also nicht lohnen, für das Hotel unsichere Vorzüge geltend zu machen. Nein, ich empfehle es Ihnen wegen seines Aussehens. Die Zimmer sind recht sympathisch, alle Möbel altertümlich und bequem, das hat etwas Beruhigendes.« Aber ich war nicht so künstlerisch aufgelegt wie Saint-Loup, und mein mögliches Vergnügen über ein hübsches Haus war oberflächlich, spielte kaum eine Rolle und konnte nicht die beginnende Beklemmung beschwichtigen, die mich quälte wie damals in Combray, wenn meine Mutter mir nicht Gute Nacht sagen kam, oder am Tage meiner Ankunft in Balbec in dem zu hohen Zimmer, das nach Vetiver roch. An meinem starren Blick merkte Saint-Loup das.

»Ach, Sie machen sich nichts aus dem hübschen Schloß, mein armer Kleiner, Sie sind ganz blaß; und ich dummer Kerl erzähle Ihnen da von Wandteppichen, die Sie nicht einmal Mut haben werden, anzusehn. Ich kenne das Zimmer, in das man Sie tun würde, ich persönlich finde es sehr freundlich, aber ich verhehle mir nicht, für Sie mit Ihrer Empfindlichkeit ist es nicht dasselbe. Sie müssen nicht glauben, daß ich Sie nicht verstehe, ich kenne diese Gefühle nicht, aber ich kann mich in Ihre Lage hineindenken.«

Ein Unteroffizier, der im Hof ein Pferd ausprobte und sehr damit beschäftigt war, es zum Springen zu bringen, der den Gruß der Soldaten nicht erwiderte, sondern auf die, welche ihm in den Weg kamen, einen Hagel von Schimpfworten losließ, lächelte jetzt Saint-Loup zu, und da er ihn in Begleitung eines Freundes sah, grüßte er. Aber da bäumte sich sein Pferd und schäumte. Saint-Loup warf sich ihm entgegen faßte es am Zügel, brachte es zur Ruhe und kam wieder zu mir.

»Ich versichere Ihnen,« sagte er zu mir, »ich fühle deutlich, was Sie durchmachen, und leide darunter; es macht mich ganz unglücklich,« (liebevoll legte er mir die Hand auf die Schulter) »zu denken: hätte ich bei Ihnen bleiben können, vielleicht, wenn wir bis zum Morgen mit einander plauderten, hätte ich ein wenig von Ihrer Trübsal verjagt. Ich könnte Ihnen ja Bücher leihen, aber Sie werden, wenn Sie in diesem Zustand sind, nicht lesen können. Und ich werde es auf keinen Fall durchsetzen, mich hier vertreten zu lassen; das habe ich nun schon zweimal hintereinander getan, weil meine Kleine gekommen war.«

Und er runzelte die Stirn vor Verdruß und zugleich infolge der Anstrengung, mit der er wie ein Arzt nach einem Heilmittel gegen mein Leiden suchte.

»Lauf und mach Feuer in meinem Zimmer«, sagte er zu einem Soldaten, der vorüberkam. »Los, nicht so langweilig, vorwärts.«

Dann wandte er sich von neuem mir zu, und das Monokel und der kurzsichtige Blick spielten auf unsere große Freundschaft an:

»Nein, daß Sie hier sind, in dieser Kaserne, wo ich soviel an Sie gedacht habe –, ich traue meinen Augen nicht, ich glaube zu träumen. Geht es Ihnen nun im Ganzen mit der Gesundheit eher besser? Das werden Sie mir nachher alles erzählen. Wir wollen zu mir hinaufgehen, nicht zu lange im Hof bleiben, hier weht ein kräftiges Lüftchen, ich merke es schon nicht mehr, aber Sie sind nicht daran gewöhnt, und ich fürchte, es wird Ihnen kalt werden. Nun und die Arbeit, haben Sie sich dran gemacht? Nein? Sie sind komisch! Wenn ich Ihre Anlagen hätte, ich glaube, ich würde von morgens bis abends schreiben. Es macht Ihnen mehr Vergnügen, nichts zu tun. Zum Unglück sind immer die Mittelmäßigen wie ich zum Arbeiten bereit, und die, die etwas könnten, wollen nicht. Und ich habe noch nicht einmal gefragt, wie es Ihrer Frau Großmutter geht. Ihr Proudhon verläßt mich nicht.«

Ein großer, schöner, majestätischer Offizier kam langsam mit feierlichem Schritt eine Treppe herunter. Saint-Loup grüßte ihn und machte seinen beständig ruhelosen Körper für die Zeit, in der er die Hand in Höhe des Käppis hielt, starr. Aber er hatte sie zu heftig in diese Haltung geschnellt, sich dabei zu schroff aufgerichtet und ließ nun gleich nach vollzogenem Gruß die Schulter ganz aus ihrer Lage gleiten und die Hand so hastig abrutschen, daß sich für den Augenblick weniger ein Erstarren als eine schwingende Spannung ergab, in der die übertriebenen Bewegungen, die vollzogen waren, und die neu beginnenden einander aufhoben. Ohne sich zu nähern, ruhig, wohlwollend, würdig »kaiserlich«, kurz ganz das Gegenteil von Saint-Loup, hob nun auch der Offizier, aber ohne jede Eile, die Hand ans Käppi.

»Ich muß dem Rittmeister ein Wort sagen,« flüsterte Saint-Loup mir zu, »seien Sie doch so freundlich, auf mein Zimmer zu gehn und mich zu erwarten. Es ist das zweite rechts im dritten Stock, ich komme gleich nach.«

Im Sturmschritt, das Monokel nach allen Richtungen voranflattern lassend, eilte er geradewegs auf den würdig langsamen Rittmeister zu. Dem wurde gerade sein Pferd vorgeführt, und bevor er sich anschickte, es zu besteigen, gab er einige Befehle mit angelerntem Adel in jeder Bewegung; er sah aus wie auf einem historischen Gemälde und als begebe er sich in eine Schlacht des ersten Kaiserreichs und nicht einfach nach Hause in die Wohnung, die er für die Dauer seines Aufenthaltes in Doncières gemietet hatte (sie lag an einem Platz, der, in vorgreifender Ironie gegen diesen Napoleoniden, Place de la République hieß!). Ich ging eine Treppe hinauf und war mit jedem Augenblick in Gefahr, auf den beschlagenen Stufen auszugleiten. Ich sah in die Mannschaftsstuben mit kahlen Wänden und Doppelreihen von Betten und Sattelzeug. Man zeigte mir Saint-Loups Zimmer. Einen Augenblick blieb ich vor der geschlossenen Tür stehn, denn ich hörte von drinnen Geräusch; da wurde etwas gerückt, etwas anderes fallen gelassen; ich merkte, das Zimmer war nicht leer, es war jemand drin. Dann aber war es nur das angesteckte Feuer, das brannte. Es konnte sich nicht ruhig verhalten, es verschob sehr ungeschickt die Scheite. Ich trat ein; da ließ es eins herausrollen, ein anderes rauchen. Und selbst wenn es sich nicht immerzu bewegte, wie ordinäre Leute, machte es doch die ganze Zeit seine Geräusche, die nun, da ich die Flamme steigen sah, als Feuergeräusche sich mir zu erkennen gaben; wäre ich aber auf der anderen Seite der Wand gewesen, ich hätte gemeint, sie kämen von einem, der schnaubt und herumläuft. Schließlich nahm ich im Zimmer Platz. Libertybespannung und alte deutsche Stoffe aus dem achtzehnten Jahrhundert schützten es vor dem Geruch, den das übrige Gebäude ausströmte, einem groben, faden und muffigen Geruch wie von Schwarzbrot. In diesem reizenden Zimmer hätte ich gewiß glücklich und ruhig essen und schlafen können. Fast fühlte man Saint-Loups Gegenwart im Raum; Handbücher auf dem Tisch neben den Photographien (unter denen ich meine und die der Frau von Guermantes erkannte) und das Feuer beschworen sie herauf, das sich endlich an seinen Kamin gewöhnt hatte. Es wartete wie ein lagerndes Tier glühend, schweigsam und treu, ließ nur von Zeit zu Zeit eine bröckelnde Kohle fallen oder eine Flamme die Innenwand des Kamins belecken. Ich hörte das Ticktack von Saint-Loups Taschenuhr, die irgendwo in meiner Nähe sein mußte. Dies Ticktack wechselte alle Augenblicke seinen Platz, denn ich sah die Uhr nicht, das Ticken schien von hinter mir, von vorn, von rechts, von links zu kommen und manchmal auszusetzen, als wäre es weit weg. Mit einemmal entdeckte ich die Uhr auf dem Tisch. Nun hörte ich das Ticken nur noch an einer bestimmten Stelle, von der es nicht fortrückte. Wenigstens glaubte ich es an dieser Stelle zu hören; ich hörte es dort nicht, ich sah es dort, denn Töne haben keine Stätte. Wir verknüpfen sie mit Bewegungen, und so werden sie uns von Nutzen, indem sie uns von diesen Nachricht geben und sie notwendig und natürlich zu machen scheinen. Sicherlich kommt es bisweilen vor, daß ein Kranker, dem man die Ohren hermetisch verstopft hat, nicht mehr das Geräusch solch eines Feuers hört, wie es jetzt in Saint-Loups Kamin lärmte, Brände und Asche herstellte und dann in den Korb fallen ließ, er hört auch nicht die Trambahnen vorüberkommen, wie sie jetzt mit regelmäßigen Pausen auf dem Marktplatz von Doncières ihr Klingeln in die Höhe steigen ließen. Und wenn der Kranke liest, werden die Seiten unhörbar sich wenden, als blättere ein Gott sie um. Der dumpfe Lärm eines Bades, das man ihm bereitet, wird leiser und klingt aus der Ferne wie ein himmlisches Zwitschern. Zurückweichen und Versickern des Geräuschs nehmen ihm alle aggressive Gewalt; waren wir eben noch aufgeschreckt von Hammerschlägen, die über unserm Kopf die Decke erschütterten, so haben wir nun unsere Freude daran, ihren Schall aufzufangen, leicht, schmeichelnd, fern wie Rascheln von Blättern über der Landstraße, in denen der Westwind spielt. Man legt Patiencen und hört die Karten nicht, es ist, als bewege man sie nicht, sondern sie regten sich selbst, kämen unserm Wunsche, mit ihnen zu spielen, zuvor und fingen an mit uns zu spielen. In diesem Zusammenhang könnte man sich fragen, ob in der Liebe (– und außer in der eigentlichen Liebe auch in der zum Leben, zum Ruhm, anscheinend gibt es ja Leute, die diese letzten beiden Gefühle kennen –) man nicht wie die sich verhalten sollte, die, statt zu flehen, der Lärm solle doch aufhören, sich gegen ihn die Ohren verstopfen; sie sollten wir nachahmen, unsere Aufmerksamkeit, unsere Widerstandskraft auf uns selbst verweisen, ihnen nicht das äußere Wesen, das wir lieben, zu bewältigen geben, sondern unser Vermögen, an diesem Wesen zu leiden.

Um auf den Klang zurückzukommen! Wenn man eine der Kugeln, die den Gehörgang abschließen, verdichtet, zwingen sie das junge Mädchen, das über uns ein lärmendes Lied spielte, zum Pianissimo; bestreicht man eine der Kugeln mit einer fetten Masse, gleich muß das ganze Haus ihrer Tyrannei gehorchen, und ihre Gesetze erstrecken sich sogar auf die Umgebung draußen. Das Pianissimo genügt nicht mehr, die Kugel läßt augenblicklich das Klavier schließen, und die Musikstunde ist plötzlich zu Ende; der Herr, der über unserm Kopf auf und ab ging, gibt mit einemmal seinen Rundgang auf; der Verkehr der Wagen und Trambahnen wird unterbrochen, als erwarte man ein Staatsoberhaupt. Diese Abschwächung der Klänge stört sogar bisweilen den Schlaf statt ihn zu schützen. Noch gestern hat das ununterbrochene Geräusch, das uns beständig die Bewegung auf der Straße und im Haus beschrieb, schließlich uns eingeschläfert wie ein langweiliges Buch; heute wird auf der Oberfläche der über unsern Schlaf ausgebreiteten Stille das Aufprallen eines Tones, der stärker ist als die andern, hörbar, leicht wie ein Seufzer, ohne Verbindung mit irgend einem andern Klang, geheimnisvoll; es ist etwas in ihm, das erklärt werden will, und das genügt, uns aufzuwecken. Und nimmt man für einen Augenblick dem Kranken die eingelegte Watte vom Trommelfell, erscheint plötzlich das Licht, das volle Sonnenlicht des Klanges von neuem und wird blendend im Weltall wiedergeboren; in aller Eile kehrt das Volk der vertriebenen Geräusche zurück; wir wohnen, als wäre sie von musizierenden Engeln psalmodiert, der Auferstehung der Stimme bei. Für einen Augenblick füllen sich die leeren Straßen mit den rasch hintereinander schwingenden Flügeln der singenden Trambahnen. Und im Zimmer selbst hat der Kranke, nicht wie Prometheus das Feuer, aber das Geräusch des Feuers geschaffen. Die Wattepfropfen verstärken oder lockern, bedeutet abwechselnd das eine und das andere der beiden Pedale spielen lassen, die man dem Klangwesen der äußeren Welt hinzugefügt hat.

Allein es gibt auch eine Unterdrückung der Geräusche, die nicht nur vorübergehend ist. Ein ganz taub Gewordener kann nicht einmal einen Topf Milch neben sich kochen lassen, ohne auf dem aufgeklappten Deckel den weißen hyperboräischen Widerschein mit den Augen belauern zu müssen, der dem eines Schneesturms gleicht; das Warnungszeichen, das er dann klug befolgt, wenn er, wie der Herr die Flut besänftigt, die elektrischen Kontakte abstellt; denn schon erreicht das krampfhaft steigende Ei der kochenden Milch mit einigen schrägen Wallungen seinen Hochstand, schwillt, rundet halb umschlagende Segel, welche die Sahne gefaltet hat, wirft eins davon perlmuttern in den Sturm, und wenn das elektrische Wetter durch Unterbrechen des Stroms rechtzeitig beschworen wird, werden alle um sich selbst wirbeln und in Magnolienblütenblätter verwandelt abtreiben. Hat aber der Kranke nicht schnell genug die nötigen Vorsichtsmaßregeln getroffen, werden bald seine Bücher und seine Uhr überschwemmt sein und nach dieser milchigen Springflut kaum auftauchen aus einem weißen Meer, er wird seine alte Haushälterin zu Hilfe rufen müssen, die, mag er auch ein berühmter Politiker oder ein großer Schriftsteller sein, ihm sagen wird, er benehme sich nicht vernünftiger als ein fünfjähriges Kind. Ein anderes Mal ist plötzlich in dem verzauberten Zimmer vor der verschlossenen Tür eine Person erschienen, die vorher nicht da war, ein Besuch, den man nicht hat eintreten hören, und macht nun wortlose Gebärden wie auf einem der kleinen Marionettentheater, die für Leute, die der gesprochenen Sprache überdrüssig sind, etwas so Beruhigendes haben. Und für den völlig Tauben wird es, da der Verlust eines Sinnes der Welt soviel Schönheit hinzufügt als sein Besitz es nicht vermochte, eine Wonne, sich nun auf einer Erde zu ergehn, die fast ein Eden ist, in dem der Ton noch nicht erschaffen worden. Die höchsten Wasserfälle sind, wenn sie ihr kristallenes Band nur seinen Augen entrollen, stiller als das unbewegte Meer, sind Katarakte des Paradieses. War vor seinem Taubwerden das Geräusch die wahrnehmbare Form für die Ursache einer Bewegung, nimmt er nun die geräuschlos bewegten Dinge wie ohne Ursache wahr; aller klanghaften Eigenheiten ledig, zeigen sie eine eigenmächtige Tatkraft, sie scheinen zu leben; sie regen sich, werden wieder starr, fangen aus sich selbst Feuer. Von selbst enteilen sie gleich geflügelten Ungeheuern der Vorwelt. Im einsamen nachbarlosen Haus des Tauben wird die Bedienung, die schon, bevor sein Gebrechen vollständig war, sehr zurückhaltend und schweigsam sich vollzog, nunmehr mit Heimlichkeit von Stummen versehn wie für einen Märchenkönig. Und so ist auch wie auf dem Theater, was an Gebäuden der Taube aus seinem Fenster sieht – Kaserne, Kirche, Rathaus – nur Kulisse. Stürzt es eines Tages zusammen, mag eine Staubwolke sich über sichtlichen Trümmern erheben: es wird doch körperloser als ein Theaterpalast, dessen Leichtheit es nicht einmal hat, in das magische Weltall fallen, ohne daß der Sturz der schweren Steine mit der Gemeinheit irgend eines Geräusches die keusche Stille befleckte.

Die erheblich relativere Stille, die in dem kleinen Soldatenzimmer herrschte, in dem ich mich seit einer Weile befand, wurde gebrochen. Die Tür ging auf, und Saint-Loup, trat, sein Monokel fallen lassend, lebhaft ein.

»Ach, Robert«, sagte ich, »bei Ihnen ist gut sein; wie schön wäre es, dürfte man hier essen und schlafen.«

Und wahrhaftig, wenn das nicht verboten gewesen wäre, welche Ruhe ohne Trübsal hätte ich da genossen, im Schutz dieser Atmosphäre von Stille, Wachsamkeit und Heiterkeit, die tausend geregelte, gelassene Willen, tausend sorglose Geister in der großen Gemeinschaft, wie eine Kaserne sie darstellt, unterhalten, hier, wo die Zeit die Form der Tätigkeit bekommen hat, wo die traurige Stundenglocke ersetzt ist durch die fröhliche Fanfare der Appelle, von denen in beständiger Schwebe über den Pflastern der Stadt als bröckelndes Stäuben die tönende Erinnerung stand; – eine Stimme voll Musik, die sicher war, vernommen zu werden, denn sie war nicht nur Gebot der Autorität, der gehorcht werden muß, sondern auch das der Weisheit, die Glück anbefiehlt.

»Sie möchten wohl lieber hier bei mir zu Nacht bleiben als allein in das Hotel gehn«, sagte Saint-Loup lachend zu mir.

»Ach, Robert, es ist grausam von Ihnen, das ironisch aufzufassen,« erwiderte ich, »Sie wissen, daß es unmöglich ist und daß ich da drüben viel zu leiden haben werde.«

»Nun, das schmeichelt mir,« sägte er, »gerade habe ich selbst auch den Gedanken gehabt, Sie würden heut Abend lieber hier bleiben. Da bin ich zum Rittmeister gegangen und hab ihn einfach darum gebeten.«

»Und er hats erlaubt?« rief ich.

»Ohne die geringste Schwierigkeit zu machen.«

»Ich finde ihn bezaubernd!«

»Nun, das ist zu viel. Aber jetzt lassen Sie mich meinen Burschen rufen, er soll unser Abendessen besorgen.«

Ich mußte mich umdrehen, um meine Tränen zu verbergen.

Mehrere Mal kamen der eine oder der andere von Saint-Loups Kameraden herein. Er warf sie hinaus.

»Mach, daß du fortkommst.«

Ich bat ihn, sie dableiben zu lassen.

»Nicht doch, sie würden Ihnen auf die Nerven gehn, das sind ganz ungebildete Geschöpfe. Sie können nur über Pferdestriegeln sprechen, allenfalls über Rennen. Und dann würden sie auch mir die kostbaren Minuten verderben, auf die ich mich so gefreut habe. Wohlverstanden, wenn ich von der Mittelmäßigkeit meiner Kameraden spreche, soll das nicht heißen, alles, was zum Militär gehört, sei ohne geistige Interessen. Durchaus nicht. Wir haben einen Major, das ist ein bewundernswerter Mann. Er hat einen Kursus abgehalten, in dem er die Kriegsgeschichte wie eine reine Wissenschaft behandelt, wie eine Art Algebra. Sogar vom ästhetischen Standpunkt ist das bei seiner abwechselnd induktiven und deduktiven Methode von einer Schönheit, deren Reiz Sie sich nicht verschließen würden.«

»Ist es vielleicht der, welcher mir erlaubt hat, hier zu bleiben?«

»Gottlob nein, der Mann, den Sie wegen dieser Kleinigkeit so »bezaubernd« finden, ist der größte Dummkopf, den je die Erde getragen hat. Er ist ausgezeichnet, soweit er sich mit dem täglichen Dienst und mit der Haltung seiner Leute befaßt; Stunden verbringt er mit dem Quartierwachtmeister und dem Oberschneider. Da haben Sie seine Mentalität. Übrigens verachtet er, wie alle hier, sehr den vortrefflichen Major, von dem ich sprach. Mit dem verkehrt niemand, weil er Freimaurer ist und nicht zur Beichte geht. Nie würde der Fürst Borodino diesen Kleinbürger bei sich empfangen. Und das ist denn doch ein unverschämter Dünkel von Seiten eines Menschen, dessen Urgroßvater ein kleiner Bauer war und der, wären nicht die napoleonischen Kriege gekommen, vermutlich auch nur ein Bauer wäre. Übrigens ist ihm seine gesellschaftliche Stellung – nicht Fisch noch Fleisch – wohl bewußt. Er geht kaum einmal in den Jockey, so sehr fühlt er sich da befangen, dieser angebliche Fürst.«

Ein und derselbe Nachahmungstrieb ließ Robert die sozialen Theorien seiner Lehrer und die gesellschaftlichen Vorurteile seiner Verwandten annehmen, und unbewußt vereinigte er Liebe zur Demokratie und Verachtung für den Adel des Kaiserreichs.

Ich betrachtete die Photographie seiner Tante, und der Gedanke, daß Saint-Loup diese Photographie besaß und sie mir vielleicht geben könnte, machte ihn mir noch lieber und ließ in mir den Wunsch aufkommen, ihm tausend Dienste zu leisten; das schien mir geringe Gegengabe. Denn diese Photographie war für mich eine Begegnung mehr, die hinzukam zu meinen früheren Begegnungen mit Frau von Guermantes, ja sie wurde sogar zu einer Art Dauerbegegnung, es war, als habe ein plötzlicher Fortschritt in unsern Beziehungen bewirkt, daß Frau von Guermantes nun vor mir stehn blieb im Gartenhut und mich zum erstenmal die Rundung ihrer Wange, die Biegung des Nackens, den Winkel der Augenbrauen in Muße betrachten ließ (das war mir ja alles bisher wie verschleiert, so schnell kam sie immer vorüber, so verwirrend waren meine Eindrücke, so unbeständig die Erinnerung); dies Gesicht und dazu Brust und Arme einer Frau andächtig zu betrachten, die ich immer nur in hochgeschlossenem Kleide gesehn hatte, war mir eine wollüstige Entdeckung, eine Gunst. Linien, die anzuschaun mir fast verboten schien, konnte ich hier studieren wie in einem Traktat der einzigen Geometrie, die Wert für mich hatte. Als ich dann wieder auf Robert blickte, kam er mir auch ein wenig wie eine Photographie seiner Tante vor; das war ein kaum minder erschütterndes Mysterium: war sein Gesicht auch nicht unvermittelt aus dem ihren hervorgegangen, beide hatten doch einen gemeinsamen Ursprung. Die Züge der Herzogin von Guermantes, wie sie meiner Vision von Combray eingezeichnet waren, die Adlernase, die stechenden Augen, hatten, so schien es, dazu gedient – in einem entsprechenden schmalen Exemplar von zu feiner Haut Roberts Gesicht so auszuschneiden, daß es fast genau dem seiner Tante aufliegen konnte. Begierig betrachtete ich an ihm die bezeichnenden Züge der Guermantes, dieses Geschlechtes, das so eigentümlich geblieben war mitten in einer Welt, in der es nicht verloren geht, in der es isoliert bleibt in seiner göttlich ornithologischen Glorie: es scheint in sagenhaften Zeiten aus der Vereinigung einer Göttin mit einem Vogel entsprungen zu sein.

Ohne die Ursachen zu kennen, war Robert gerührt von meiner Ergriffenheit. Die wurde übrigens noch stärker durch das Wohlbehagen, welches Kaminwärme und der Champagnerwein bewirkten, der zugleich in Schweißtropfen auf meiner Stirn und in Tränen aus meinen Augen perlte. Mit dem Wein benetzten wir Rebhühner, und ich war verwundert beim Essen, wie jeder Profane, der in einem bestimmten Lebenskreise findet, was er von diesem ausgeschlossen meinte (ein Freidenker zum Beispiel, der in einem Pfarrhaus an einem ausgezeichneten Essen teilnimmt). Und als ich am nächsten Morgen aufgewacht war, ging ich an Saint-Loups hochgelegenes Fenster, das die ganze Gegend beherrschte, und warf einen neugierigen Blick hinaus, um die Bekanntschaft meiner Nachbarin, der Landschaft zu machen, die ich am Tage vorher gar nicht bemerkt hatte, denn ich war zu spät angekommen, zu einer Zeit, als sie schon in Nacht gebettet schlief. Aber wenn sie auch schon früh wach war, als ich das Fenster öffnete, sah ich sie doch nur, wie man sie aus einem Schloßfenster nach der Teichseite zu sieht, noch ganz eingemummelt in das weiche weiße Morgenkleid aus Nebel, das mich fast nichts erkennen ließ. Aber ich wußte, bevor die Soldaten, die im Hof mit den Pferden zu tun hatten, mit Striegeln fertig waren, würde sie dies Gewand abgelegt haben. Inzwischen bekam ich nur einen magern Hügel zu sehn, der seinen schon schattenlosen, dürren, rauhen Rücken an die Kaserne drängte. Hinter durchbrochenen Reifvorhängen ließen meine Augen nicht von der Fremden, die zum ersten Male mich ansah. Als ich dann später gewohnheitsmäßig in die Kaserne kam, hatte mein Bewußtsein von der Gegenwart des Hügels, selbst wenn ich ihn nicht ansah, ihn viel wirklicher gemacht als das Hotel in Balbec und unser Haus in Paris; an die dachte ich wie an Abwesende, wie an Tote, das heißt, ohne recht an ihre Existenz zu glauben, und so kam es mir gar nicht zum Bewußtsein, wie sich der gespiegelte Umriß des Hügels selbst den geringsten Eindrücken einzeichnete, die ich in Doncières hatte, um mit jenem ersten Morgen zu beginnen, dem guten Eindruck von Wärme, den mir die Schokolade machte, die Saint-Loups Bursche in dem behaglichen Zimmer, so recht dem optischen Zentrum zur Beobachtung des Hügels, bereitete: der Gedanke, etwas anderes zu tun als ihn zu betrachten, etwa sich auf ihm zu ergehn, war durch den Nebel, der über ihm lag, unmöglich geworden. Er durchtränkte die Form des Hügels, vermengte sich dem Geschmack der Schokolade, durchzog den Faden meiner Gedanken und hat so, ohne daß ich überhaupt nur an ihn dachte, mein ganzes Denken damals beschlagen, wie meinen Eindrücken von Balbec ein unwandelbares massives Gold verbunden geblieben war oder wie denen von Combray die nachbarliche Gegenwart der Außentreppen aus schwärzlichem Sandstein ein Grau in Grau gab. Übrigens blieb dieser Nebel nicht tief in den Morgen hinein, die Sonne sandte, anfangs erfolglos, einige Pfeile gegen ihn aus, die ihn mit Brillanten verbrämten, um ihn dann ganz zu bewältigen. Nun konnte der Hügel seinen grauen Bug den Strahlen preisgeben, die eine Stunde später, als ich in die Stadt hinabging, dem Rot der Herbstblätter, dem Rot und Blau der Wahlanschläge auf den Mauern eine Glut gaben, die auch mir das Herz erhob; singend zog ich übers Pflaster hin und mußte mich zurückhalten, um nicht vor Freude zu hüpfen.

Aber vom zweiten Tage ab hieß es im Hotel schlafen. Und ich wußte im voraus, da würde mich unvermeidlich Traurigkeit heimsuchen. Sie war wie ein atembeklemmendes Aroma, das seit meiner Geburt jedes neue Zimmer, und das will sagen, jedes Zimmer für mich ausströmte; in dem, welches ich gewöhnlich bewohnte, war ich nicht zugegen, meine Gedanken blieben anderswo und schickten an ihrer Stelle nur die Gewohnheit hin. Aber ich konnte diese weniger empfindliche Dienerin, die Gewohnheit, nicht beauftragen, sich meiner Angelegenheiten in einer neuen Gegend anzunehmen: dorthin ging ich ihr voraus, dort kam ich allein an und mußte mit den Dingen das Ich in Berührung bringen, welches ich immer nur in Zwischenzeiten von Jahren wiederfand; es war immer das gleiche, war nicht groß geworden seit Combray, seit meiner ersten Ankunft in Balbec, als ich untröstlich über einem ausgepackten Koffer weinte.

Diesmal aber hatte ich mich getäuscht. Ich hatte keine Zeit traurig zu sein, denn ich war nicht einen Augenblick allein. Von dem alten Palais blieb ein Überschuß von Luxus, der in einem modernen Hotel nicht auszunutzen war und, abgelöst von jeder praktischen Verwendung, müssiggängerisch eine Art Leben angenommen hatte: da liefen Gänge wieder zurück, von wo sie ausgegangen waren, und alle Augenblicke kreuzte man ihr zielloses Hin und Her, Vorsäle, lang wie Korridore und ausgeschmückt wie Salons, schienen eher selbst hier zu wohnen statt einen Teil der Wohnung zu bilden; man hatte sie keinem Appartement einfügen können, und so streiften sie um das meine herum und boten mir gleich ihre Gesellschaft an, eine Art müßiger, aber gar nicht geräuschvoller Nachbarn, subalterne Schemen der Vergangenheit, denen man gestattet hatte, sich vor den Türen der vermieteten Zimmer lautlos aufzuhalten; jedesmal, wenn ich sie auf meinem Wege antraf, waren sie mir gegenüber von schweigsamer Zuvorkommenheit. Kurz, auf diese Behausung war der Begriff einer Unterkunft, die einfach unsere gegenwärtige Existenz umschließt und uns nur vor Kälte und dem Anblick anderer Leute behütet, durchaus nicht anzuwenden; diese Gesellschaft von Zimmern war ebenso wirklich wie eine Siedlung von Personen, und wenn man heimkam, sah man sich genötigt, diesem Leben, mochte es auch noch so schweigsam sein, zu begegnen, aus dem Wege zu gehn oder es zu begrüßen. Man bemühte sich, nicht zu stören, und nicht ohne Ehrfurcht konnte man den großen Salon betrachten, der seit dem achtzehnten Jahrhundert die Gewohnheit angenommen hatte, bewölkt von seiner gemalten Decke zwischen altgoldenen Täfelungen sich auszustrecken. Eine vertraulichere Neugier bekam man für die kleinen Zimmer, die, unbekümmert um die Symmetrie, rings um den Salon unzählig und verwundert liefen und bestürzt zum Garten flohen, in den sie dann so leicht die drei ausgebrochenen Stufen hinabsteigen konnten.

Wollte ich beim Ausgehn oder Heimkommen nicht den Fahrstuhl nehmen noch mich auf der großen Treppe sehn lassen, bot mir eine kleinere Nebentreppe, die nicht mehr benutzt wurde, ihre Stufen dar, die sich sehr geschickt aneinanderfügten; in ihrem Aufstieg schien vollkommenes Ebenmaß zu bestehn, wie sie in einer Folge von Farben, Gerüchen, Geschmacksempfindungen oft einen eigentümlichen Sinnenreiz uns erregt. Um den des Auf- und Absteigens kennen zu lernen, mußte ich hierher kommen wie ehedem in einen Alpenort, um zu begreifen, daß die gewöhnlich nicht wahrgenommene Tätigkeit des Atmens eine andauernde Wollust sein kann. Mir wurde die Kraftersparnis zu teil, die uns sonst nur Dinge gewähren, welche wir lange in Gebrauch haben, als ich den Fuß zum erstenmal auf diese Stufen setzte; sie waren mir vertraut, bevor ich sie kennen lernte; Süße von Gewohnheiten, die ich noch nicht hatte annehmen können, war ihnen wie im voraus eigen, vielleicht von den einstigen Hausherren anvertraut und einverleibt, und diese Süße konnte für mich höchstens nachlassen, wenn ich mich an sie gewöhnt hatte. Ich öffnete ein Zimmer, die Doppeltür schloß sich hinter mir, der Vorhang ließ eine Stille herein, über die ich ein berauschendes Königtum in mir fühlte; ein Marmorkamin, mit ziseliertem Kupfer geschmückt – zu Unrecht hätte man in ihm nichts weiter als einen Vertreter der Kunst des Directoire vermutet – machte mir Feuer, und ein kleiner niedriger Sessel half mir, mich so bequem und behaglich zu wärmen, als säße ich auf dem Teppich. Die Wände umarmten das Zimmer und trennten es vom Rest der Welt; und um hereinzulassen und einzubegreifen, was es vollständig machte, wichen sie vor der Bibliothek zurück und sparten eine Einbuchtung aus für das Bett, zu dessen beiden Seiten Säulen leicht die überhöhte Decke des Alkovens trugen. In die Tiefe hin wurde das Zimmer verlängert von zwei ebenso breiten Kabinetten, das zweite von ihnen trug an der Wand, um die Stille, die man in ihm suchen kam, zu durchduften, einen wollüstigen Rosenkranz aus Iriskörnern aufgehangen; ließ ich die Türen offen, während ich mich in diesen letzten Schlupfwinkel zurückzog, so beschränkten sie sich nicht darauf, den Raum zu verdreifachen, ohne daß er dadurch aufhörte, harmonisch zu sein, sie gaben nicht nur neben dem Genuß der Sammlung den der Ausdehnung meinem Blick zu kosten, sie fügten auch noch der Lust an meiner unverletzt gebliebenen und nicht mehr eingesperrten Einsamkeit das Gefühl der Freiheit hinzu. Dieses Gelaß ging auf einen einsamen Hof, und es beglückte mich, den zum Nachbarn zu haben, als ich ihn am nächsten Morgen entdeckte, wie er gefangen lag zwischen hohen Mauern, in denen kein Fenster Licht empfing; er enthielt nichts als zwei gelbgewordene Bäume, die aber hinreichten, um dem reinen Himmel eine lila Süße zu geben.

Ehe ich mich schlafen legte, wollte ich noch einmal aus meinem Zimmer, um mein ganzes zauberhaftes Gebiet zu erforschen. Ich ging durch eine lange Galerie, die mir nacheinander mit allem, was sie mir für schlaflose Stunden zu bieten hatte, aufwartete: einem Sessel in der Ecke, einem Spinett auf einer Erhöhung, einem blauen Fayencetopf voll Aschenpflanzen und dem antik gerahmten Phantom einer Dame aus alter Zeit mit gepudertem Haar, in das sich blaue Blumen mischten, in der Hand einen Nelkenstrauß. Als ich bis ans Ende gekommen war, sagte die dichte Mauer, in der sich keine Tür öffnete, mir treuherzig: »jetzt mußt du umkehren, aber du siehst, du bist hier zu Hause«, und der dicke weiche Teppich fügte, um auch dran zu kommen, hinzu, wenn ich heute nacht nicht schlafen könnte, sollte ich nur ruhig barfuß herkommen, und die Fenster ohne Läden, die auf das Land schauten, versicherten mir, sie würden die Nacht wach bleiben, ich könne kommen, wann ich wolle, ohne Furcht, jemand aufzuwecken. Und nur ein kleines Kabinett überraschte ich hinter einem Vorhang; von der Mauer festgehalten, hatte es nicht entschlüpfen können und hatte sich da ganz eingeschüchtert versteckt; erschrocken sah es mich mit seinem mondscheinblauen Rundfenster an.

Ich ging schlafen, aber die Gegenwart des Deckbetts, der Säulchen, des kleinen Kamins stellten meine Aufmerksamkeit anders ein als in Paris; und hinderten mich, dem gewohnten Trott meiner Träumereien mich zu überlassen. Und da gerade dieser besondere Zustand von Aufmerksamkeit den Schlaf einhüllt, beeinflußt, modelt und auf gleiche Stufe mit der oder jener Serie unserer Erinnerungen stellt, wurden die Bilder, die in dieser ersten Nacht meine Träume erfüllten, einem Gedächtnis entliehen, das ganz verschieden war von dem, welches gewöhnlich mein Schlaf sich dienstbar machte. War ich schlafend versucht, mich zu meinem herkömmlichen Gedächtnis wieder hinziehen zu lassen, so sorgte das ungewohnte Bett und der angenehme Zwang, auf meine verschiedenen Lagen, wenn ich mich umdrehte, achten zu müssen, schon dafür, den neuen Traumfaden zurechtzurücken oder einzuhalten. Mit dem Schlaf geht es wie mit der Wahrnehmung der Außenwelt. Es genügt eine Änderung unserer Gewohnheiten, um ihn dichterisch zu gestalten, es genügt, daß wir beim Auskleiden unabsichtlich auf unserm Bett eingeschlafen sind, um die Dimensionen des Schlafes zu ändern und seine Schönheit fühlbar zumachen. Man wacht auf, es ist vier auf der Uhr, erst vier Uhr morgens, aber wir glauben, der ganze Tag sei verflossen, dieser Schlaf von wenigen Minuten, den wir nicht gesucht haben, scheint uns vom Himmel gestiegen zu sein, kraft eines göttlichen Rechtes, gewaltig und voll wie der goldene Reichsapfel eines Kaisers. Morgens, verdrossen von dem Gedanken, daß mein Großvater schon fertig war und man auf mich wartete, um in die Gegend von Méséglise zu gehn, wurde ich von der Fanfare eines Regimentes, das täglich unter meinem Fenster vorüberkam, aufgeweckt. Aber zwei- oder dreimal – und ich spreche davon, weil man das Leben der Menschen nicht beschreiben kann, wenn man es nicht baden läßt in dem Schlaf, in den es taucht, der es Nacht um Nacht umgibt wie das Meer eine Halbinsel – legte sich mein Schlaf widerstandsfähig genug ins Mittel, um den Anprall der Musik aufzuhalten, und ich hörte nichts. An andern Tagen gab er einen Augenblick nach, aber mein Bewußtsein war noch etwas schlafbefangen, und wie vorher anästhesierte Organe einen operativen Eingriff, den sie zunächst nicht fühlen, erst ganz zuletzt als leises Brennen wahrnehmen, wurde es nur sanft von den scharfen Spitzen der Pfeifen berührt; sie streichelten es wie ein undeutliches frisches Morgengezwitscher; und nach der knappen Unterbrechung, in der die Stille Musik geworden war, setzte sie mit meinem Schlummer wieder ein, ehe noch die Dragoner ganz vorüber waren, und entwand mir die letzten Büschel des klangsprudelnden Straußes. Und so schmal und schlafumschränkt war die Zone meines Bewußtseins, die von den sprudelnden Blumen gestreift worden war, daß später, wenn Saint-Loup mich fragte, ob ich die Musik gehört habe, ich dessen nicht mehr sicher war; der Klang der Fanfare konnte ja ebenso imaginär gewesen sein wie der, den ich tags nach dem geringsten Geräusch vom Pflaster der Stadt aufsteigen hörte. Vielleicht hatte ich die Musik nur im Traum gehört aus Furcht, aufgeweckt zu werden oder vielmehr es nicht zu werden und den Anblick der vorüberziehenden Truppe zu versäumen; denn oft lag ich, während ich mich schon von dem Geräusch aufgeweckt meinte, noch im Schlaf, und weiterschlummernd glaubte ich noch eine Stunde lang, wach zu sein, und spielte mir selbst in winzigen Schatten auf der Leinwand meines Schlafes die verschiedenen Schauspiele vor, die er mir entzog und denen ich doch beizuwohnen wähnte.

Was man am Tage getan hätte, vollbringt man manchmal tatsächlich, wenn der Schlaf kommt, im Traum, das heißt nach der Umlenkung, die das Einschlafen bewirkt, und verfolgt dabei einen andern Weg, als man im Wachen eingeschlagen hätte. Dieselbe Geschichte spielt und hat ein anderes Ende. Trotz alledem ist die Welt, in der man schlafend lebt, ganz anders und, wer schwer einschläft, sucht vor allem, aus unserer Welt zu entkommen. Erst wälzt er verzweifelt, stundenlang mit geschlossenen Augen Gedanken, wie er sie auch mit offenen Augen gehabt hätte; wenn er dann aber bemerkt, daß die eben verflossene Minute dumpf belastet war von einem Gedankengang, der mit den Gesetzen der Logik in deutlichem Widerspruch steht, faßt er Mut, und mit zwingender Deutlichkeit weist seine kurze »Geistesabwesenheit« darauf hin, daß die Pforte offen steht, durch die er vielleicht alsbald der Wahrnehmung des Wirklichen wird entschlüpfen und mehr oder weniger weit von ihm Halt machen können, was ihm einen mehr oder weniger ›guten‹ Schlaf verschafft. Aber ein großer Schritt ist schon getan, wenn man dem Wirklichen den Rücken kehrt und die ersten Höhlen erreicht, in denen die Autosuggestionen wie Hexen den höllischen Schmaus eingebildeter Krankheiten oder wiederausbrechender Nervenerkrankungen bereiten und auf die Stunde lauern, in welcher die im unbewußten Schlaf aufgestiegenen Krisen sich stark genug entfalten werden, um ihm ein Ende zu machen.

Nicht weit davon liegt abgesondert der Garten, wo wie unbekannte Blumen sehr von einander verschiedene Schlafarten wachsen, der Datura-Schlaf, der Haschisch-Schlaf, der aus mancherlei Ätherstoffen, aus Belladonna, Opium, Baldrian, – Blumen, die geschlossen bleiben bis zu dem Tag, da der Unbekannte, dem sie vorbestimmt sind, kommen wird und sie berühren: dann gehn sie auf und geben dem Überraschten, Entzückten lange Stunden hindurch den Duft ihrer besondern Träume. Tief hinten im Garten steht mit offenen Fenstern das Kloster, in dem man die Lektionen wiederholen hört, die man vorm Einschlafen gelernt hat und erst beim Erwachen können wird; und dies vorherzusagen, tickt die innere Weckeruhr, die unsre Besorgnis so gut gestellt hat, daß, wenn unsere Wirtschafterin uns melden wird: es ist sieben Uhr, sie uns schon zum Aufstehn bereit findet. An den dunkeln Wänden der Kammer, die auf die Träume hinausgeht und in der unablässig Vergessen des Liebeskummers am Werk ist – bisweilen wird seine Arbeit unterbrochen und zerstört von einem Alpdruck voll Erinnerungen, um schnell dann wieder einzusetzen – hangen, auch noch, wenn man schon wach ist, Denkbilder der Träume, doch so im Finstern, daß wir sie zum erstenmal erst mitten am Nachmittag bemerken, wenn der Strahl einer verwandten Vorstellung unvermutet sie trifft; dann sind manche, die während unseres Schlafes von harmonischer Klarheit waren, schon ganz unkenntlich geworden, wir erkennen sie nicht mehr und können sie nur eilig der Erde wiedergeben wie zu schnell verweste Tote oder wie Gegenstände, die so zerstört, so nah am Zerfallen sind, daß der geschickteste Ausbesserer ihnen keine Form mehr geben, nichts mit ihnen anfangen kann. – Nah am Gitter ist der Steinbruch, in dem die Tiefschlafe nach Stoffen suchen, des Schläfers Kopf damit so dick zu bestreichen, daß, ihn zu erwecken, sein eigener Wille selbst am goldklarsten Morgen Hammerschläge tun muß wie ein junger Siegfried. Jenseits aber hausen noch die Alpdrucke, von denen die Ärzte töricht behaupten, sie ermüdeten mehr als Schlaflosigkeit, während sie im Gegenteil dem Denkenden helfen, sich der Qual der Aufmerksamkeit zu entziehen; die Alpdrucke mit ihren phantastischen Bilderbüchern, in denen unsere verstorbenen Verwandten gerade einen schweren Unfall durchgemacht haben, der aber eine baldige Genesung nicht ausschließt. Und bis sie genesen, halten wir sie in einem kleinen Rattenkäfig, da hocken sie, kleiner als weiße Mäuse, sind besät mit dicken roten Pickeln, jeder mit einer Feder besteckt, und halten uns ciceronische Reden. Neben dem Bilderbuch ist die Drehscheibe des Aufwachens, dank der wir zu unserm Verdruß gleich nachher in ein Haus müssen, das seit fünfzig Jahren zerstört ist; sein Bild wird in dem Maße, als der Schlaf sich entfernt, von mehreren anderen Bildern verlöscht, bis wir zu dem kommen, das nur einmal erscheint, in dem Augenblick, da die Scheibe stillsteht, und das eins wird mit dem, das wir mit offnen Augen sehn.

Manchmal hatte ich nichts gehört, da ich in einem der Schlafe lag, in die man fällt wie in ein Loch, aus dem bald nachher gezogen zu werden ganz glücklich macht: dann ist man schwer, überfüttert, und verdaut alles, was uns, wie dem Herkules die Nymphen, die ihn ernähren, die flinken vegetativen Kräfte zugetragen haben, die, wenn wir schlafen, doppelt tätig sind.

Das nennt man einen bleiernen Schlaf, und es scheint, man ist nach dem Erwachen eine Weile lang selbst eine einfache Bleifigur. Man ist niemand mehr. Wie kommt es nur, daß, wenn wir dann unsere Gedanken, unsere Persönlichkeit suchen, wie man einen verlorenen Gegenstand sucht, wir schließlich unser eigenes Ich finden und nicht irgend ein anderes? Warum, wenn man sich wieder ans Denken macht, verkörpert sich dann nicht eine neue Persönlichkeit statt der früheren in uns? Wer weiß, was uns so zu wählen heißt und warum unter Millionen Menschenwesen, die man jetzt sein könnte, man gerade das zu fassen bekommt, das man gestern war. Was leitet uns, wenn wirklich eine Unterbrechung stattgefunden hat (sei es, daß der Schlaf vollkommen war, sei es, daß die Träume uns ganz wesensfremd waren)? Es ist wirklich ein Sterben gewesen, wie wenn das Herz zu schlagen aufgehört hat und erst rhythmisches Ziehen an der Zunge uns wiederbelebt. Zweifellos erweckt das Zimmer, haben wir es auch nur einmal gesehn, Erinnerungen, an die ältere sich knüpfen. Oder schliefen in uns einige Erinnerungen und kommen uns nun zum Bewußtsein. Die Auferstehung beim Erwachen – nach dem wohltuenden Anfall von Geisteszerrüttung, der Schlaf heißt – muß wohl dem Vorgang gleichen, der stattfindet, wenn man sich auf einen vergessenen Namen, Vers oder Kehrreim besinnt. Und so ist vielleicht auch die Auferstehung der Seele nach dem Tode als ein Gedächtnisphänomen aufzufassen.

Hatte ich ausgeschlafen und lockte mich der durchsonnte Himmel, während zugleich die Frische der letzten hellkalten Herbstmorgen, mit denen schon der Winter beginnt, mich zurückhielt, dann hob ich den Kopf, um die Bäume zu betrachten, an denen die Blätter nur noch durch ein, zwei goldne oder rosa Pinselstriche angedeutet waren und an sichtbaren Fäden in der Luft festgehalten schienen; ich reckte, den Körper halb unter den Decken geborgen, den Hals; wie eine Schmetterlingspuppe, die gerade ausschlüpfen will, war ich ein Doppelwesen, dessen verschiedenen Teilen nicht die gleiche Umgebung entsprach; meinem Blick genügte Farbe ohne Wärme, meiner Brust hingegen wars um Wärme und nicht um Farbe zu tun. Ich stand erst auf, wenn mein Feuer angesteckt war, und betrachtete das süß durchsichtige Bild des lila und goldenen Morgens, dem ich künstlich die fehlende Wärme hinzufügte, indem ich mein Feuer schürte, das brannte und rauchte wie eine gute Pfeife und mir wie diese einen zugleich derben und zarten Genuß verschaffte, – derb, weil er auf materiellem Behagen beruhte, zart, weil hinter ihm eine reine Vision als Wischzeichnung erschien. Mein Ankleidezimmer hatte eine Tapete von heftigem Rot, auf dem weiße und schwarze Blumen schwammen; man sollte denken, ich hätte mich schwer an ihren Anblick gewöhnen können. Aber sie waren mir nur neu, zwangen mich, mit ihnen nicht in Zwiespalt, sondern in Fühlung zu treten, gaben mir eine neue Art Heiterkeit und Lieder beim Aufstehen ein, taten eine Lust kräftig wie Mohnblumenrot in mein Herz, ich sah hinter dem heiteren Wandschirm, zu dem dies neue Haus mir wurde, die Welt ganz anders als in Paris; dies Haus lag ganz anders als das meiner Eltern, und reine Luft strömte hinein. An manchen Tagen hatte ich unruhige Sehnsucht, meine Großmutter wiederzusehn, oder Furcht, sie könne leidend sein; oder mir fiel irgend etwas ein, das ich in Paris angefangen zurückgelassen hatte und das nun nicht weiterging; manchmal auch irgendeine Schwierigkeit, die ich mir selbst hier zu machen verstanden hatte. Eine oder die andere dieser Sorgen hatte mir den Schlaf geraubt, dann war ich machtlos gegen meine Traurigkeit und sie füllte im Augenblick mein ganzes Dasein aus. Dann schickte ich aus dem Hotel jemanden in die Kaserne mit einem Wort für Saint-Loup: ich schrieb ihm, wenn es ihm wirklich möglich sei – ich wußte, es war nicht leicht –, möchte er doch so gut sein, einen Augenblick heraufzukommen. Nach einer Stunde erschien er dann; und wenn ich ihn klingeln hörte, fühlte ich mich schon von meinen Sorgen frei. Ich wußte, waren sie stärker als ich, er war stärker als sie, meine Aufmerksamkeit löste sich von ihnen los und wandte sich ihm zu, der alles zu entscheiden hatte. Nun war er eingetreten, und schon hatte er rings um mich die frische Luft getan, in der er früh morgens soviel Tätigkeit entfaltete, eine Lebenssphäre, die sehr verschieden von der meines Zimmers war, und unmittelbar paßte ich durch entsprechendes Reagieren mich ihr an.

»Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, daß ich Sie belästigt habe; mich quält da etwas, Sie werden es erraten haben.«

»Aber nein, ich habe mir einfach gedacht, daß Sie Lust hatten, mich zu sehn, das fand ich sehr nett von Ihnen. Ich war entzückt, daß Sie mich holen ließen. Aber was gibts denn? Gehts uns nicht gut? Was kann man für Sie tun?«

Er hörte meine Erklärungen an und antwortete mir präzis; aber schon bevor er sprach, hatte er mich sich selbst ähnlich gemacht; neben den wichtigen Beschäftigungen, die ihn so eifrig, munter und zufrieden machten, kam der Verdruß, der mir eben noch keinen schmerzlosen Augenblick ließ, mir so nebensächlich vor wie ihm: ich war wie ein Mann, der seit mehreren Tagen die Augen nicht hat öffnen können und nun einen Arzt kommen läßt; der schiebt ihm sanft und geschickt das Lid zurück, nimmt ein Sandkorn fort und zeigt es ihm: der Kranke ist geheilt und beruhigt. All meine Plackereien lösten sich in ein Telegramm auf, das Saint-Loup abzuschicken übernahm. Das Leben war anders, war schön: ein Überfluß von Kraft durchflutete mich, ich wollte etwas tun.

»Was machen Sie jetzt?« fragte ich Saint-Loup.

»Ich werde Sie verlassen, man rückt in dreiviertel Stunden ab und braucht mich.«

»Dann war es Ihnen also sehr peinlich herzukommen?«

»Nein, es war mir gar nicht peinlich, der Rittmeister war sehr nett, er hat gesagt, wenn es sich um Sie handle, müsse ich kommen; aber ich möchte doch nicht den Eindruck erwecken, als mißbrauche ich seine Freundlichkeit.«

»Wenn ich schnell aufstünde und auch dahin ginge, wo Sie exerzieren werden? Es würde mich sehr interessieren, und ich könnte vielleicht in den Pausen mit Ihnen plaudern.«

»Ich rate Ihnen nicht dazu; Sie haben wach gelegen; haben sich wegen einer Sache, die, ich versichere Ihnen, nichts zu bedeuten hat, Gedanken gemacht; jetzt, da sie Sie nicht mehr aufregt, drehen Sie sich nur nach der andern Seite um und schlafen Sie, das wird für die Entmineralisierung Ihrer Nervenzellen ausgezeichnet sein; schlafen Sie aber nicht zu schnell ein, unsere verflixte Musik wird unter Ihren Fenstern vorüberkommen; aber gleich nachher werden Sie, denke ich mir, Ruhe haben, und abends zum Essen sehn wir uns wieder.«

Später aber sah ich öfters dem Regiment beim Felddienst zu. Ich fing an, mich für die militärischen Theorien zu interessieren, die beim Essen Saint-Loups Freunde entwickelten, ich freute mich tagelang darauf, ihre verschiedenen Vorgesetzten aus der Nähe zu sehn, wie jemand, der die Musik zu seinem Hauptstudium macht und seine Zeit in Konzerten verbringt, Vergnügen daran findet, in die Cafés zu gehn, wo man sich unter die Orchestermusiker mischen kann. Um auf das Manövergelände zu gelangen, mußte ich große Märsche machen. Abends, nach dem Essen, sank mir bisweilen vor Schlafsucht der Kopf, als wäre ich von einem Schwindel befallen. Am nächsten Tag fiel es mir auf, daß ich die Fanfare ebensowenig gehört hatte wie morgens in Balbec das Strandkonzert nach Abenden, an denen Saint-Loup mich nach Rivebelle zum Essen mitgenommen hatte. Und wenn ich mich dann erheben wollte, fühlte ich mich dazu köstlich unfähig; an einen unsichtbaren tiefen Boden waren meine Gliedmaßen gefesselt, und die Ermüdung machte in ihnen die nährenden Muskelfasern fühlbar. Ich fühlte mich voller Kraft, das Leben erstreckte sich weit vor mir; ich hatte zurückgefunden bis zu den guten Müdigkeiten meiner Kindheit in Combray nach Tagen, an denen wir in der Gegend um Guermantes spazieren gegangen waren. Die Dichter behaupten, wir finden für einen Augenblick wieder, was wir einst gewesen sind, wenn wir in ein bestimmtes Haus oder einen Garten eintreten, wo wir in jungen Tagen gelebt haben. Aber das sind sehr gewagte Pilgerfahrten, sie bringen ebensoviel Enttäuschung wie glücklichen Erfolg mit sich. Die dauernden Stätten, Zeitgenossen verschiedener Jahre, finden wir besser in uns selbst. Dazu kann uns in bestimmtem Maße eine große Ermüdung, der eine gute Nacht folgt, dienen. Wenn uns solche Müdigkeiten hinabbringen in die tiefsten unterirdischen Gänge des Schlafes, in denen keine Spieglung unseres wachen Daseins, kein Schimmer des Gedächtnisses mehr den inneren Monolog erhellt – soweit nicht auch er aufhört –, wenden sie Boden und Gestein unseres Körpers ganz um und lassen da, wo unsere Muskeln eintauchen, ihre Verzweigungen winden und neues Leben einsaugen, den Garten, in dem wir Kinder waren, uns wiederfinden. Man braucht nicht zu reisen, um ihn wiederzusehn, man muß hinabsteigen, um ihn wiederzufinden. Was die Erde bedeckt hat, ist nicht mehr auf ihr, sondern unter ihr; ein Ausflug genügt nicht, um die tote Stadt zu besuchen, Ausgrabungen sind notwendig. Aber man wird sehn, daß gewisse flüchtige und zufällige Eindrücke noch viel besser und mit schärferer Klarheit in das Vergangene zurückführen als diese organischen Veränderungen. Ihr Flug ist leichter, unkörperlicher, schwindelnder, unfehlbarer, unsterblicher.

Bisweilen war meine Müdigkeit noch größer: ich hatte hintereinander mehrere Tage, ohne mich ausruhen zu können, den Manövern beigewohnt. Welch ein Segen war dann die Heimkehr ins Hotel! Beim Zubettgehn war mirs, als wäre ich endlich Zauberern und Hexenmeistern, wie sie die in unserm siebzehnten Jahrhundert beliebten Romane bevölkerten, entkommen. Schlaf und lange Morgenruhe waren dann nur noch ein reizendes Märchen. Reizend und vielleicht auch wohltuend. Ich sagte mir, die schlimmsten Leiden haben ihre Zufluchtstätte, und man kann immer in Ermangelung eines Bessern Ruhe finden. Diese Gedanken führten mich recht weit.

An Ruhetagen, an denen indessen Saint-Loup auch nicht ausgehn durfte, besuchte ich ihn oft in der Kaserne. Es war nicht weit dahin; ich mußte die Stadt verlassen, und den Viadukt überschreiten. Dort hatte ich zu beiden Seiten weite Aussicht. Eine scharfe Brise blies fast immer auf diesen Höhen und erfüllte alle Gebäude der Kaserne: sie dröhnten unablässig als Höhle der Winde. War er dienstlich beschäftigt, wartete ich vor der Tür seines Zimmers oder in der Kantine auf Robert, plauderte mit einigen seiner Kameraden, denen er mich vorgestellt hatte (die besuchte ich später bisweilen auch, wenn er nicht da war), und sah aus dem Fenster hundert Meter unter mir das kahle Land mit frischen Saatstreifen hier und da, die oft von Regenfeuchte und Sonnenschein durchsichtig leuchteten wie Email. Da hörte ich manchmal über Robert sprechen und konnte mich bald überzeugen, wie beliebt und allbekannt er war. Bei mehreren Angehörigen anderer Schwadronen, reichen jungen Bürgerlichen, welche die adelige Gesellschaft nur von außen kannten, ohne in ihr zu verkehren, wurde das Wohlgefallen an dem, was sie von Saint-Loups Charakter wußten, noch verdoppelt durch den Nimbus, den in ihren Augen ein junger Mann besaß, den sie oft am Sonnabend abend, wenn sie Urlaub nach Paris hatten, im Café de la Paix mit dem Herzog von Uzès und dem Prinzen Orléans speisen sahen. Und so war sein hübsches Gesicht, seine zwanglos nachlässige Art zu gehn und zu grüßen, der beständige Schwung seines Monokels, die Übertriebenheit seiner zu hohen Käppis und des zu feinen und allzu hellroten Tuches seiner Hosen, ein Teil von dem geworden, was sie sich unter »Schick« vorstellten; der fehle, versicherten sie, den elegantesten Offizieren des Regimentes, sogar dem majestätischen Rittmeister, der mir erlaubt hatte, in der Kaserne zu übernachten; dieser wirkte nach ihrer Meinung viel zu feierlich und dadurch fast gewöhnlich.

Einer erzählte, der Rittmeister habe ein neues Pferd gekauft. »Er kann so viel Pferde kaufen, wie er will. Ich habe Sonntag morgen in der Allee des Acacias Saint-Loup getroffen, der hat denn doch einen ganz andern Schick beim Reiten!« antwortete ein Zweiter, und zwar als Sachverständiger; denn die Klasse, zu der diese jungen Leute gehörten, verkehrt zwar nicht mit den Personen der hohen Gesellschaft, aber Geld und Muße gestatten ihr, in der Kenntnis aller käuflichen Vornehmheiten es dem Adel gleichzutun. Höchstens war die ihre, was zum Beispiel die Kleidung betraf, viel beflissener und untadeliger als Saint-Loups freie und nachlässige Eleganz, die m einer Großmutter so sehr gefiel. Immer waren diese Söhne großer Bankleute und Wechselmakler etwas aufgeregt, wenn sie nach dem Theater Austern aßen, und am Nachbartisch saß der Unteroffizier Saint-Loup. Was gab es dann alles am Montag nach dem Urlaub in der Kaserne zu erzählen! Dem einen, der zu Saint-Loups Schwadron gehörte, hatte er »sehr nett« Guten Tag gesagt, ein anderer gehörte zwar nicht zu seiner Schwadron, aber Saint-Loup hatte ihn trotzdem erkannt, meinte er, denn zwei- oder dreimal hatte er das Monokel auf ihn gerichtet.

»Und mein Bruder hat ihn im »La Paix« gesehn«, sagte einer, der den Urlaubstag bei seiner Mätresse verbracht hatte, »er soll einen viel zu weiten Rock angehabt haben, der gar nicht gut fiel.«

»Was hatte er für eine Weste?«

»Seine Weste war nicht weiß, sondern lila mit einer Art Palmen drauf. Ist doch toll!«

Die Altgedienten (Leute aus dem Volk, die nichts vom Jokey wußten und Saint-Loup einfach in die Gruppe der schwerreichen Unteroffiziere unterbrachten, in die sie alle taten, die, ob ruiniert oder nicht, flott lebten, hochbezifferte Einkünfte oder Schulden hatten und gegen die Soldaten freigebig waren) sahen in Saint-Loups Auftreten, Monokel, Hosen und Käppis nichts Aristokratisches, fanden sie deshalb aber nicht minder interessant und bezeichnend. Sie erkannten an diesen Eigentümlichkeiten Art und Wesen, die ein für allemal dieser beliebteste Ranghöhere des Regiments für sie aufwies, er besaß eben Lebensart wie sonst keiner, kümmerte sich nicht um das, was die Vorgesetzten dachten, und das hing natürlich damit zusammen, daß er so gut zum Soldaten war. Der Morgenkaffee in der Mannschaftsstube und die Ruhestunde nachmittags schmeckten besser, wenn einer von den Älteren der genießerisch trägen Korporalschaft eine saftige Einzelheit über ein Käppi von Saint-Loup vorsetzte.

»So hoch wie mein Sattelzeug.«

»Na, Alter, du denkst wohl, mit uns kannst dus machen. So hoch wie dein Sattelzeug? Ausgeschlossen«, unterbrach ein junger Kandidat der Philosophie; er versuchte, Jargon zu reden, um nicht zu rekrutenhaft auszusehn, und wagte den Widerspruch, um sich eine Tatsache bestätigen zu lassen, die ihn entzückte.

»Nicht so hoch wie mein Sattelzeug? Du hasts vielleicht gemessen. Ich sage dir, der Oberstleutnant hat ihn angestarrt, als wollte er ihn in Arrest stecken. Brauchst aber nicht zu glauben, daß unser famoser Saint-Loup sich was draus machte, er ging und kam, tat den Kopf runter und in die Höhe, und das Monokel flog immer vorneweg. Neugierig bin ich, was der Häuptling sagen wird. Kann sein, er sagt gar nichts, aber ärgern tut er sich sicher. Dies Käppi ist übrigens noch gar nichts. Zu Hause in der Stadt soll er über dreißig solche haben.«

»Woher weißt denn du sowas, Alter? Von unserm ollen Korporal?« fragte der Kandidat.

»Woher ich das weiß? Na, von seinem Burschen natürlich.«

»Das war auch einer, der nicht gerade zu beklagen ist!«

»Versteht sich! Mehr Moos als ich hat er mal sicher! Und dann gibt er ihm auch noch all seine Sachen, na überhaupt alles. Er war mit seiner Ration in der Kantine nicht zufrieden. Da kommt mein Saint-Loup daher, und der Suppensudler kriegt was zu hören: Ich wünsche, daß er gut beköstigt wird, was es kostet, ist mir gleich.«

Diesen nicht gerade erschütternden Worten gab der Alte durch entschiedene Betonung Nachdruck, und seine mittelmäßige Nachahmung hatte großen Erfolg. Wenn ich die Kaserne verließ, machte ich einen Spaziergang. Abends speiste ich täglich mit Saint-Loup in dem Hotel, wo er und seine Freunde in Pension waren. Vorher aber ging ich in mein Hotel, gleich nach Sonnenuntergang, um mich zwei Stunden auszuruhen und zu lesen. Auf die Dachhauben des Schlosses am Marktplatz tat der Abend kleine rosa Wölkchen, der Farbe der Ziegel angepaßt, und vollendete die Harmonie, indem er diese Farbe etwas milderte. Ein Strom von Leben beflutete meine Nerven, den keine meiner Bewegungen erschöpfen konnte; jeder Schritt, mit dem ich das Pflaster berührte, federte, mir war, als habe ich Merkurflügel an den Fersen. Der eine Brunnen war noch voll rotem Licht, im andern machte der Mondschein das Wasser schon opalen. Zwischen beiden spielten die Straßenkinder, schrien und beschrieben, einem Gesetz der Stunde gehorchend, Kreise wie Schwalben oder Fledermäuse es tun. Neben dem Hotel waren die alten Staatspaläste und die Orangerie von Louis XVI., in denen jetzt Sparkasse und Generalkommando sich befanden, von innen erhellt durch blaßgoldene Gaslampen. Dies schon bei hellem Tage angesteckte Licht paßte zu den hohen breiten Fenstern aus dem achtzehnten Jahrhundert, in denen noch ein letzter Widerschein vom Sonnenuntergang war, wie zu einem lebhaft geröteten Gesicht ein Schmuck von blondem Schildpatt; es verlockte mich, mein Kaminfeuer und meine Lampe aufzusuchen. Sie kämpfte allein in der Fassade meines Hotels mit der Dämmerung. Ihr zur Liebe kam ich heim, schon ehe es ganz Nacht geworden war, auf sie freute ich mich wie auf eine Vespermahlzeit. Im Zimmer behielt ich dieselbe Fülle der Empfindungen wie draußen. Schwellend durchdrang sie den Umriß von Dingen, die uns sonst oft fade und leer vorkommen, die gelbe Flamme des Feuers, die derb himmelblaue Tapete, auf der der Abend wie ein Schuljunge rosa Korkzieherkringel gekritzelt hatte, die wunderlich gemusterte Decke des runden Tisches, auf dem ein Stoß Schulpapier und ein Tintenfaß nebst einem Roman von Bergotte mich erwarteten. Diese Dinge haben seither für mich den Reichtum eines ganz besondern Daseins bewahrt, und mir scheint, ich könnte ihn wieder aus ihnen herausholen, wenn es mir gegeben würde, sie wiederzufinden. Froh dachte ich an die eben verlassene Kaserne zurück, deren Wetterfahne in allen Winden drehte. Wie ein Taucher, der in dem Schlauch, welcher bis über die Oberfläche des Wassers reicht, atmet, fühlte ich mich gesundem Leben und freier Luft verbunden, da ich als Anknüpfungspunkt diese Kaserne besaß, diese hohe Warte über der von grünschimmernden Kanälen durchfurchten Landschaft. Mein kostbares Vorrecht, dem ich Dauer wünschte, war es, so oft ich wollte, unter die Schuppen und in die Gebäude da oben mich begeben zu können, immer sicher, gut empfangen zu werden.

Um sieben Uhr zog ich mich an und ging wieder aus, um mit Saint-Loup in dem Hotel, in welchem er Pension genommen hatte, zu speisen. Ich liebte es, dahin zu Fuß zu gehn. Es war ganz dunkel, und vom dritten Tage an begann mit Einbruch der Nacht ein eisiger Wind zu wehen, der Schnee anzuzeigen schien. Unterwegs hätte ich, sollte man meiner, ununterbrochen an Frau von Guermantes denken müssen; daß ich in Roberts Garnison gekommen war, damit wollte ich doch nur ihr mich zu nähern versuchen. Aber Erinnerung und Kummer sind bewegliche Dinge. Es gibt Tage, an denen sie sich so weit entfernen, daß wir sie kaum noch bemerken, wir glauben dann schon, sie seien vorbei. Und dann geben wir auf anderes acht. Und die Straßen der Stadt waren noch nicht wie an Orten, wo wir gewöhnlich leben, einfach Mittel für mich geworden, um von einer Stelle zur andern zu gehn. Das Leben, welches die Bewohner dieser unbekannten Welt führten, mußte wohl wunderbar sein, oft hielten mich die erhellten Scheiben einer Wohnung fest, ich blieb unbewegt in der Nacht stehn und sah in die wahrhaften und geheimnisvollen Szenen eines Daseins, in das ich nicht eindrang. Hier zeigte der Genius des Feuers mir in einem purpurfarbenen Bild die Schenke eines Kastanienhändlers, wo zwei Unteroffiziere, die ihre Säbel abgeschnallt neben sich auf Stühle gelegt hatten, Karten spielten, ohne zu ahnen, daß ein Zauberer sie wie auf einem Bühnenbild aus der Nacht erstehn ließ und so, wie sie in diesem Augenblick tatsächlich waren, vor die Augen eines draußen stehngebliebenen Spaziergängers, den sie nicht sehn konnten, beschwor. Dort in einem kleinen Trödelladen warf eine halb heruntergebrannte Kerze ihr rotes Licht auf einen Kupferstich und verwandelte ihn in eine Rötelzeichnung, während im Kampf mit dem Schatten der Schein der dicken Lampe ein Stück Leder bräunte, in einen Dolch schimmernde Flitterstreifen einbrannte, Bilder, die nur schlechte Kopien waren, mit kostbarer Vergoldung wie mit Patina der Vergangenheit oder Firnis eines Meisters überzog und aus der muffigen Höhle, in der es nur Talmi und schlechte Machwerke gab, einen unschätzbaren Rembrandt machte. Bisweilen hob ich die Augen bis zu einer geräumigen alten Wohnung, deren Läden nicht geschlossen waren: da paßten sich Männer und Frauen allabendlich einem andern Lebenselement als am Tage amphibisch an, sie schwammen langsam in der fetten Flüssigkeit, die bei Einbruch der Nacht unablässig aus den Lampenbehältern steigt und die Zimmer bis zum Rande ihrer Stein- und Glaswände erfüllt; darin verbreiteten sie mit dem Hin und Her ihrer Leiber ölig goldene Kreise. Ich nahm meinen Weg wieder auf, und oft hielt mich, in der schwarzen Gasse, die vor der Kathedrale abbiegt, wie einst auf der Straße nach Méséglise Verlangen fest, mir wars, als würde eine Frau auftauchen, um es zu stillen; fühlte ich in der Dunkelheit plötzlich ein Kleid vorüberstreifen, so ließ mein heftiges Lustgefühl gar nicht den Glauben in mir aufkommen, die Berührung sei zufällig, und ich versuchte, eine erschrockene Vorübergehende in die Arme zu schließen. Diese gotische Gasse besaß für mich eine mächtige Wirklichkeit; hätte ich hier ein Weib auftreiben und besitzen können, unbedingt hätte ich geglaubt, daß uns die altertümliche Wollust vereinen werde; wäre es auch nur eine einfache Hure gewesen, die hier jeden Abend Posten faßte, Winter, Fremde, Dunkelheit und Mittelalter hätten ihr Geheimnis ihr geliehen. Ich dachte an die Zukunft: der Versuch, Frau von Guermantes zu vergessen, schien mir schrecklich, aber vernünftig, und zum ersten Male möglich, vielleicht sogar leicht. In der vollkommenen Stille des Stadtteils hörte ich vor mir Sprechen und Lachen wie von angetrunken heimkehrenden Spaziergängern. Ich blieb stehn, um sie zu sehen, blickte nach der Seite, von der ich das Geräusch gehört hatte. Aber ich mußte lange warten, denn die Stille rings umher war so tief, daß noch weit entfernte Geräusche äußerst scharf und stark hindurchdrangen. Endlich kamen die Spaziergänger an, nicht, wie ich geglaubt hatte, vor mir, sondern ein ganzes Stück hinter mir. Ob nun die Kreuzung der Straßen und die dazwischen liegenden Häuser durch Rückprall diese Ohren-Täuschung bewirkt hatten oder ob es überhaupt sehr schwer ist, einen Ton zu lokalisieren, dessen Stelle man nicht kennt, ich hatte mich ebenso wie über die Entfernung auch über die Richtung getäuscht.

Der Wind wurde stärker. Er war ganz stachelig und körnig von kommendem Schnee, ich kam wieder in die Hauptstraße und sprang auf die kleine Trambahn. Von der Plattform herab erwiderte ein Offizier scheinbar, ohne sie zu sehn, die Grüße von Soldaten, die schwerfällig auf dem Bürgersteig vorüberkamen, die Gesichter von Kälte angemalt; sie wirkten – in dieser Stadt, die der plötzliche Sprung des Herbstes in einen Winteranfang weiter gen Norden gerückt zu haben schien – wie die kupferroten, die Breughel seinen lustigen, schlemmenden und verfrorenen Bauern gibt.

Und nun stieß ich auch vor dem Hotel, in dem ich Saint-Loup und seine Freunde treffen sollte – die beginnenden Feste zogen viel Volk von nah und fern herbei –, während ich geradeswegs über den Hof an rotflackernden Küchen entlangging, in denen Hühner am Bratspieß gedreht, Schweine geröstet, noch lebende Hummern in das, was der Wirt das »ewige Feuer« nannte, geworfen wurden, auf eine Menschenansammlung, die einer »Volkszählung von Bethlehem«, wie sie die alten flämischen Meister malten, würdig gewesen wäre. Im Hofe zu Gruppen geschart, fragten die Ankommenden den Wirt oder einen seiner Gehilfen, ob er sie beköstigen und beherbergen könnte (wenn sie denen nicht gut genug aussahen, wurde ihnen meist lieber eine Unterkunft in der Stadt angewiesen), und Küchenjungen kamen vorbei, zappelndes Geflügel am Halse packend. Und im großen Speisesaal, den ich das erstemal durchquerte, eh ich die kleine Stube fand, in der mein Freund mich erwartete, mußte man auch an eine mit altertümlicher Naivität und flandrischer Übertreibung dargestellte Mahlzeit aus dem Evangelium denken, angesichts der vielen Fische, Masthühner, Birkhähne, Schnepfen und Tauben, welche aufgeputzt und dampfend von atemlosen Kellnern angebracht wurden, die auf dem Parkett schlitterten, um schneller zu gehn. Sie legten das Geflügel auf der gewaltigen Anrichte nieder, wo es sogleich zerteilt wurde; da häufte es sich – weil schon viele mit ihrer Mahlzeit fertig waren, als ich eintraf – unbenutzt, und sein Überfluß und die Übereile, mit der es herangebracht wurde, entsprach nicht so sehr den Ansprüchen der Schmausenden als vielmehr der Hochachtung vor dem heiligen Text, der peinlich wörtlich befolgt und dabei kindlich bebildert wurde mit Einzelheiten aus dem wirklichen Ortsleben, und dazu kam eine ästhetisch religiöse Beflissenheit, aller Augen den Glanz des Festes durch Überfluß an Nahrungsmitteln und Eifer der Bedienenden darzutun. Einer von diesen stand am Ende des Saals, ohne sich zu rühren, in Gedanken versunken neben einer Anrichte; an den wollte ich mich wenden, er allein schien mir ruhig genug, um mir Auskunft zu geben, in welchem Zimmer man unsern Tisch gedeckt habe. So ging ich denn zwischen Kochern entlang, die hier und da angesteckt waren, um die Schüsseln für Nachzügler warmzuhalten (was nicht hinderte, daß in der Saalmitte schon die Nachtische bereitstanden auf den Händen einer Riesenfigur, die manchmal noch auf Flügeln einer Kristallente stand – die war in Wirklichkeit nur aus Eis, das täglich ein kunstbeflissener Koch in echt flämischem Geschmack mit glühendem Eisen zurechtmodelte); auf die Gefahr, von den andern umgerannt zu werden, ging ich geradeswegs auf diesen Bedienten zu, ich glaubte, in ihm einen der altherkömmlichen Figuren biblischer Texte zu erkennen, peinlich genau gab er das stumpfnasige, naiv und schlecht gezeichnete Gesicht und die verträumte Miene wieder, welche das Wunder der göttlichen Gegenwart, das die andern noch nicht ahnen, schon halb vorherweiß. Hinzufügen muß ich noch, daß dieser Darstellung eine himmlische Ergänzungsschar beigegeben war, die lediglich aus Cherubim und Seraphim bestand. Ein junger musikalischer Engel, das vierzehnjährige Gesicht von blondem Haar umrahmt, spielte zwar nicht ein bestimmtes Instrument, träumte aber vor einem Gong oder einem Stoß Teller, indes minder kindliche Engel durch die unermeßlichen Räume des Saales eilten und die Luft mit dem beständigen Schwirren ihrer Servietten erfüllten, die an ihren Leibern herabhingen, spitzauslaufend wie Flügel auf Bildern der Primitiven. Ich floh die etwas undeutlichen Gebiete, die von Palmen schleierhaft verhüllt waren, hinter denen die himmlischen Diener fernher wie aus der ewigen Seligkeit auftauchten, und bahnte mir einen Weg bis zu dem kleinen Saal, in dem Saint-Loups Tisch war. Hier fand ich einige seiner Freunde, die immer mit ihm speisten, alle von Adel bis auf ein oder zwei, in denen aber die andern schon auf der Schule Freunde gewittert hatten; durch ihre Beziehung zu diesen bewiesen sie, daß sie den Bürgern, und wären es selbst Republikaner, nicht grundsätzlich feindlich gesinnt waren, vorausgesetzt, daß sie saubere Hände hatten und in die Messe gingen. Gleich beim erstenmal zog ich, bevor man sich zu Tisch setzte, Saint-Loup in einen Winkel des Eßsaals und sagte vor allen andern, die uns aber nicht hören konnten, zu ihm:

»Robert, Ort und Stunde sind schlecht gewählt, um Ihnen das zu sagen, aber es wird nur eine Sekunde dauern. In der Kaserne vergesse ich immer, Sie zu fragen: die Photographie auf Ihrem Tisch, ist das nicht Frau von Guermantes?«

»Gewiß, das ist meine liebe Tante.«

»Ach natürlich, ich bin zu töricht, ich hab es doch schon gewußt und bin gar nicht mehr darauf gekommen; mein Gott, Ihre Freunde werden ungeduldig werden, sprechen wir schneller, sie sehn nach uns her, oder wir wollen lieber ein anderes Mal davon sprechen, es ist ja ganz unwichtig.«

»Aber nein, legen Sie nur los. Die da können ruhig warten.«

»Nicht doch, ich möchte nicht unhöflich sein, sie sind so liebenswürdig; und wissen Sie, soviel liegt mir gar nicht daran.«

»Sie kennen die gute Oriane?«

Die »gute« Oriane – er hätte auch sagen können: die »brave« Oriane – bedeutete nicht, daß Saint-Loup Frau von Guermantes für besonders gut hielt. In solchem Fall ist brav, vortrefflich, gut nur eine einfache Verstärkung des Wortes »die« und bezeichnet eine beiden Teilen bekannte Person, über die man zu jemandem, der nicht zum engsten Freundeskreis gehört, nichts Rechtes zu sagen weiß. »Gut« ist Vorspiel und gibt die Möglichkeit, sich einen Augenblick zu besinnen, bis man darauf kommt zu sagen »Sehn Sie sie häufig?« oder »Ich habe sie seit Monaten nicht gesehn« oder »Dienstag seh ich sie« oder »Aus der ersten Jugend muß sie schon heraus sein«.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie amüsant es für mich ist, daß das ihre Photographie ist, wir wohnen nämlich jetzt in ihrem Haus, und ich habe seltsame Dinge über sie gehört (ich wäre sehr in Verlegenheit gewesen, zu sagen, was für welche), so kommt es, daß sie mich sehr interessiert, vom literarischen Standpunkt aus, Sie verstehn, wie soll ich sagen, von einem Balzac-Standpunkt aus, Sie sind ja so klug, Sie verstehn schon aus der Andeutung; aber nun Schluß, was sollen Ihre Freunde von meiner Erziehung denken?«

»Sie denken gar nichts; ich habe ihnen gesagt, daß Sie ein außerordentlicher Mensch sind, und sie sind vielmehr eingeschüchtert als Sie selbst.«

»Sie sind zu freundlich. Also, was ich noch sagen wollte: Frau von Guermantes ahnt doch nicht, daß ich Sie kenne, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht; ich habe sie seit letztem Sommer nicht gesehn, seit sie wieder in der Stadt ist, hatte ich noch keinen Urlaub.«

»Ich wollte Ihnen nämlich sagen, man hat mir versichert, sie hält mich für ganz idiotisch.«

»Das glaub ich nicht: Oriane ist kein Genie, aber sie ist doch auch nicht dumm.«

»Sie wissen, mir ist im allgemeinen nicht daran gelegen, daß Sie Ihre gute Meinung über mich öffentlich kundtun, ich bin nicht eitel. Es ist mir gar nicht angenehm, daß Sie Ihren Freunden (zu denen wir gleich wieder hingehn werden) Freundliches über mich gesagt haben. Wenn Sie aber Frau von Guermantes wissen lassen könnten, was Sie von mir denken, sogar mit ein bißchen Übertreibung, damit würden Sie mir eine große Freude machen.«

»Sehr gern, wenn Sie weiter nichts von mir verlangen, das ist nicht schwer. Aber was kann Ihnen daran liegen, was sie von Ihnen denkt? Ich vermute, das müßte Ihnen doch höchst gleichgültig sein; jedenfalls, wenns weiter nichts ist, darüber können wir vor der ganzen Gesellschaft oder auch, wenn wir wieder allein sind, sprechen. Ich fürchte, es strengt Sie an, wenn Sie beim Sprechen solange stehn müssen, noch dazu so unbequem, und wir haben doch viel Gelegenheit, uns allein zu sehn.«

Gerade die Unbequemlichkeit hatte mir den Mut gegeben, mit Robert zu sprechen; die Gegenwart der andern diente mir zum Vorwand, um meine Wendungen kurz und abgerissen vorzubringen und so leichter meine Lüge zu verbergen, ich hätte meines Freundes Verwandtschaft mit der Herzogin vergessen, auf diese Art ließ ich ihm auch keine Zeit, mich auszufragen, weshalb ich denn wünsche, daß Frau von Guermantes wisse, ich sei mit ihm befreundet, intelligent usw. Fragen, die mich umso mehr verwirrt hätten, als ich nichts darauf zu antworten gewußt hätte.

»Robert, von einem so klugen Manne wie Sie wundert es mich, daß er nicht begreift: man darf nicht darüber streiten, ob etwas einem Freunde auch Vergnügen machen könne, man muß es einfach tun. Hätten Sie mich um gleichviel was gebeten – und es wäre mir sehr lieb, daß Sie mich einmal um etwas bäten –, Sie können sicher sein, ich hätte keine Erklärungen von Ihnen verlangt. Ich verlange viel mehr, als: das, worum ich bitte; mir liegt gar nichts an der Bekanntschaft der Frau Guermantes; aber um Sie auf die Probe zu stellen, hätte ich Ihnen sagen sollen, ich wünschte mit Frau von Guermantes zu speisen; ich weiß, dafür hätten Sie nichts getan.«

»Das hätte ich nicht nur getan, ich werde es tun.«

»Wann denn?«

»Sobald ich nach Paris komme, in drei Wochen, ganz bestimmt.«

»Wir werden sehn; sie wird übrigens gar nicht wollen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«

»Aber das ist doch weiter nichts.«

»Sagen Sie das nicht, es ist sehr, sehr viel, denn jetzt sehe ich, was für ein Freund Sie sind; ob, was ich Sie bitte, wichtig oder nicht, unangenehm oder nicht ist, ob mir wirklich daran liegt oder ob ich Sie nur auf die Probe stellen will, gleichviel, Sie sagen, Sie werden es tun, und beweisen so Güte des Geistes und Herzens. Ein törichter Freund hätte erst diskutiert.«

Gerade das hatte er getan; aber vielleicht wollte ich ihn bei der Eigenliebe fassen; vielleicht war ich auch aufrichtig; der einzige Prüfstein für das Verdienst eines Menschen war mir sein Nutzen für das, was allein mir wichtig schien, meine Liebe. Dann fügte ich noch etwas hinzu, vielleicht war das ein bißchen falsch von mir, vielleicht aber kam es wirklich aus überströmender Zuneigung, weil ich ihm dankbar war, meinen Vorteil gewahrt fand und weil die Natur von den Zügen der Frau von Guermantes soviel in die Erscheinung ihres Neffen gelegt hatte. Ich sagte:

»Nun müssen wir zurück zu den andern und ich habe Sie doch erst um die eine Sache gebeten, die weniger wichtige, die andere ist es für mich mehr, aber ich fürchte, Sie werden sie mir abschlagen; würde es Ihnen unangenehm sein, wenn wir uns duzten?«

»Unangenehm? aber nein. »Tränen der Freude! Ungenanntes Glück!««

»Wie ich Ihnen dankbar bin ... dir dankbar bin. Sie müssen anfangen! Das macht mir soviel Vergnügen. Sie brauchen gar nichts zu tun für Frau von Guermantes, wenn Sie wollen, das Duzen genügt mir.«

»Man wird beides tun.«

»Ach, Robert! Hören Sie,« sagte ich noch nachher beim Essen zu Saint-Loup, »das war doch sehr komisch, unsere Unterhaltung, die wir immer wieder, wozu eigentlich, weiß ich nicht, abbrachen – Sie wissen schon, die Dame, von der ich Ihnen gesprochen habe ...«

»Ja.«

»Sie wissen doch, wen ich meine.«

»Sie halten mich wohl für einen Trottel, einen Kretin?«

»Würden Sie mir wohl ihre Photographie geben?«

Erst wollte ich ihn nur bitten, sie mir zu leihen. Aber im Aussprechen wurde ich schüchtern, fand meine Bitte indiskret, und, um das nicht merken zu lassen, faßte ich sie brutaler ab und so plump, als wäre sie etwas ganz Natürliches.

»Nein, da müßte ich sie erst um Erlaubnis bitten«, antwortete er. Und dabei wurde er rot. Ich begriff, daß er einen Hintergedanken hatte, mir einen unterschob, und meiner Liebe nur halb, unter Vorbehalt gewisser moralischer Grundsätze, zu Diensten war, und ich war wütend auf ihn.

Und doch war ich gerührt, wie anders Saint-Loup sich mir gegenüber benahm, seit ich nicht mehr mit ihm allein, seit seine Freunde dabei waren. Seine größere Liebenswürdigkeit hätte mich kaltgelassen, hätte ich sie für gewollt gehalten; aber ich fühlte, wie unabsichtlich sie war, wie sie alles enthielt, was er in meiner Abwesenheit über mich sagen mochte und, wenn er mit mir allein war, verschwieg. Auch bei unserm Alleinsein vermutete ich, daß es ihm Vergnügen machte, mit mir zu plaudern, aber dies Vergnügen blieb immer unausgesprochen. Jetzt überwachte er mit schrägem Blick, ob bestimmte Wendungen von mir, an denen er gewöhnlich, ohne sichs merken zu lassen, seine Freude hatte, bei seinen Freunden den erwarteten Eindruck hervorbrachten, der dem, was er ihnen vorhergesagt hatte, entsprach. Die Mutter einer Debütantin könnte nicht gespannter an den Stichworten ihrer Tochter und der Haltung des Publikums hängen. Sprach ich etwas aus, worüber er, mit mir allein, nur gelächelt hätte, fürchtete er, man habe nicht gut verstanden, und sagte zu mir: »Wie? Wie?«, damit ich wiederhole und Aufmerksamkeit errege, wandte sich gleich zu den andern, sah sie lachend an und munterte sie dadurch unabsichtlich zum Mitlachen auf; so wurde die Vorstellung, die er von mir besaß und ihnen oft ausgedrückt haben mochte, zum erstenmal mir deutlich. Da sah ich plötzlich mich selbst von außen, wie einer, der seinen Namen in der Zeitung liest oder sich im Spiegel sieht.

An einem dieser Abende wollte ich eine ziemlich komische Geschichte von Frau Blandais erzählen, hielt aber unmittelbar ein, weil ich mich erinnerte, daß Saint-Loup sie bereits kannte; denn als ich sie ihm am Tag nach meiner Ankunft erzählen wollte, hatte er mich unterbrochen und gesagt: »Das haben Sie mir schon in Balbec erzählt«. Jetzt aber ermunterte mich Saint-Loup zu meiner großen Überraschung fortzufahren und versicherte mir, er kenne diese Geschichte nicht und würde sie mit viel Vergnügen hören. Ich sagte: »Im Augenblick können Sie sich nicht darauf besinnen, aber Sie werden sie bald wiedererkennen«. – »Aber nein, ich schwöre dir, du verwechselst das. Nie hast du sie mir erzählt. Nur zu«. Und während der ganzen Geschichte heftete er seine begeisterten Blicke fieberhaft bald auf mich, bald auf seine Kameraden. Erst als ich unter allgemeinem Gelächter endete, begriff ich, daß er sich gedacht hatte, die Geschichte würde seinen Kameraden eine hohe Meinung von meinem Geiste geben, und deshalb so tat, als kenne er sie nicht. So ist die Freundschaft.

Am dritten Abend unterhielt sich einer seiner Freunde, den zu sprechen ich die ersten beiden Male keine Gelegenheit hatte, lange mit mir; ich hörte, wie er halblaut zu Saint-Loup seine Freude an diesem Gespräch äußerte. In der Tat sprachen wir fast den ganzen Abend miteinander vor unsern Gläsern Sauterne, die wir nicht leer tranken, und waren von den andern getrennt und gegen sie geschützt durch die herrlichen Schleier einer der Zuneigungen zwischen Männern, die, wenn sie auf keiner leiblichen Anziehung beruhen, die einzig ganz geheimnisvollen sind. So rätselhafter Natur war mir in Balbec Saint-Loups Empfinden mir gegenüber vorgekommen, es hatte nichts mehr gemein mit dem Inhalt unserer Gespräche, war abgelöst von jeder materiellen Bindung, unsichtbar, ungreifbar, und doch fühlte er als eine Art Phlogiston oder Gas seine Gegenwart deutlich genug in sich, um lächelnd davon sprechen zu können. Vielleicht lag in der Sympathie, die hier an einem einzigen Abend entstanden war, und wie eine Blume in der Wärme des kleinen Zimmers in wenigen Minuten aufging, etwas noch Überraschenderes. Als Robert mit mir von Balbec sprach, konnte ich mich nicht enthalten, ihn zu fragen, ob er denn wirklich bestimmt Fräulein von Ambresac heiraten würde. Er erklärte mir, nichts derartiges sei bestimmt, ja es sei nie davon die Rede gewesen, er habe die Dame nie gesehn und wüßte gar nicht, wer sie sei. Hätte ich in diesem Augenblick einige der Personen aus der Gesellschaft gesehn, die mir diese Heirat angekündigt hatten, sie würden mir Fräulein von Ambresacs Vermählung mit einem, der nicht Saint-Loup war, und die Saint-Loups mit einer, die nicht Fräulein von Ambresac war, mitgeteilt haben. Sie wären sehr erstaunt gewesen, wenn ich sie an ihre dem widersprechenden und doch erst kürzlich geäußerten Prophezeiungen erinnert hätte. Damit dies Spielchen so weitergehn, nacheinander auf jeden Namen die größtmögliche Zahl von Verbindungen häufen und so die falschen Neuigkeiten vervielfachen kann, hat die Natur dieser Art von Spielern ein so kurzes Gedächtnis und so große Leichtgläubigkeit gegeben.

Saint-Loup hatte mir von einem andern seiner Kameraden gesprochen, der auch zugegen war; mit dem verstand er sich besonders gut, sie waren in diesem Kreise die beiden einzigen Anhänger der Wiederaufnahme des Dreyfusprozesses.

»Oh! Der ist nicht wie Saint-Loup«, sagte mir mein neuer Freund, »das ist ein Besessener und dabei nicht einmal aufrichtig. Am Anfang hat er gesagt: »Man braucht nur abzuwarten; da gibt es einen Mann, den ich kenne, der ist geschickt und dabei gütig, General Boisdeffre; seiner Meinung wird man sich, ohne zu zaudern, anschließen können.« Als er dann aber erfuhr, daß Boisdeffre Dreyfus für schuldig erklärte, taugte Boisdeffre nichts mehr; Klerikalismus und Generalstabsvorurteile hinderten ihn, aufrichtig zu urteilen; dabei ist niemand oder war wenigstens niemand vor seiner Dreyfuszeit so klerikal wie unser Freund. Dann hat er uns gesagt, man werde die Wahrheit unbedingt erfahren, die Angelegenheit käme in die Hände von Saussier, der sei als republikanischer Soldat (unser Freund ist aus einer ultramonarchistischen Familie) ein Mann von Erz und habe ein unbeugsames Gewissen. Als aber Saussier Esterhazys Unschuld verkündete, hat er für diesen Urteilsspruch neue Erklärungen gefunden, die nicht für Dreyfus, sondern für General Saussier ungünstig waren. Da hatte dann der Geist des Militarismus Saussier verblendet (er selbst ist wohlbemerkt ebenso militaristisch wie klerikal oder war es wenigstens, denn ich weiß nicht mehr, was ich jetzt von ihm denken soll). Seine Familie ist untröstlich, ihn in solchen Ideen leben zu sehn.«

»Sehn Sie«, sagte ich, und dabei wandte ich mich, um auch ihn in die Unterhaltung zu ziehen und nicht den Eindruck zu erwecken, als wolle ich mich mit seinem Kameraden absondern, halb an Saint-Loup, »der Einfluß, den man der Umgebung zuschreibt, trifft vor allem für die geistige Umgebung zu. Man ist der Mensch seiner Idee. Nun gibt es viel weniger Ideen als Menschen, daher gleichen sich alle Menschen derselben Idee. Da eine Idee nichts Stoffliches hat, können die Leute, die den Menschen einer Idee nur körperlich umgeben, an seiner Idee nichts ändern.«

Saint-Loup gab sich mit dieser Erklärung noch nicht zufrieden. Sein Entzücken über meine Worte wurde noch verstärkt durch die Lust, mich vor seinen Freunden glänzen zu lassen, er tätschelte mich wie ein Pferd, das als erstes durchs Ziel gelaufen ist, und sagte immer wieder geschwind: »Weißt du, du bist der intelligenteste Mensch, den ich kenne.« Dann besann er sich und fügte hinzu: »Außer Elstir – das ärgert dich doch nicht, nicht wahr? Du verstehst mein Bedenken. Ich sage das, wie man vergleichsweise zu Balzac hätte sagen können: Sie sind der größte Romanschriftsteller des Jahrhunderts, neben Stendhal. Äußerste Gewissenhaftigkeit, verstehst du, im Grunde riesige Bewunderung. Nein? Das mit Stendhal machst du nicht mit?« Sein treuherziges Vertrauen auf mein Urteil verriet sich in einem reizend fragenden, fast kindlichen Lächeln seiner grünen Augen. »Ah! Gut, ich sehe, du bist meiner Meinung. Bloch kann Stendhal nicht leiden, das finde ich idiotisch von ihm. Die Chartreuse ist wohl doch eine enorme Sache? Ich bin froh, daß du meiner Meinung bist. Sag, was liebst du am meisten in der Chartreuse?« fragte er mit jugendlichem Ungestüm. Und seine Körperkraft gab der Frage fast etwas erschreckend Bedrohliches. »Mosca? Fabrice?« Schüchtern antwortete ich, Mosca habe etwas von Herrn von Norpois. Darauf stürmisches Gelächter von Seiten des jungen Siegfried – Saint-Loup. Kaum hatte ich noch hinzugefügt: »Aber Mosca ist erheblich klüger und weniger pedantisch«, da schrie Robert Bravo, klatschte in die Hände und rief, fast erstickend vor Lachen: »Das stimmt! Ausgezeichnet! Du bist fabelhaft.«

Als ich weiterreden wollte, unterbrach Saint-Loup; es hatte nämlich einer der jungen Soldaten lächelnd auf mich gezeigt und dabei zu Saint-Loup gesagt:

»Duroc, ganz und gar Duroc.« Ich wußte nicht, was das bedeutete, aber in seiner schüchternen Miene bemerkte ich äußerstes Wohlwollen. Während ich sprach, wollte Saint-Loup keine Äußerungen der Zustimmung von den andern, er verlangte Schweigen. Und wie ein Kapellmeister seine Musiker unterbricht und mit dem Taktstock klopft, weil einer zu laut wurde, erteilte er dem Störenfried einen Verweis:

»Gibergue, Sie müssen schweigen, wenn man spricht. Sie werden das nachher vorbringen. – Fahren Sie doch fort«, wandte er sich dann an mich.

Ich atmete auf; ich hatte gefürchtet, er werde mich alles von vorn anfangen lassen.

»Und wie eine Idee«, fuhr ich fort, »etwas ist, das nicht teilhaben kann am menschlichen Eigennutz und nie Nutzen ziehen könnte aus dem Vorteil der Leute, so sind auch die Menschen einer Idee nicht vom Gedanken an Nutzen beeinflußt.«

»Na, da macht ihr Augen, Kinder!« rief Saint-Loup, als ich ausgeredet hatte. Er war meinen Worten mit so ängstlicher Besorgnis gefolgt, als ginge ich auf dem straffen Seil. »Was wollten Sie denn sagen, Gibergue?«

»Ich meinte, der Herr erinnerte mich sehr an den Major Duroc. Ich glaubte, den Major zu hören.«

»Ja, daran hab ich oft gedacht,« erwiderte Saint-Loup, »es besteht viel Ähnlichkeit, aber Sie werden sehn, er hat noch tausenderlei, was Duroc nicht hat.«

Der Freund von Saint-Loup hatte einen Bruder, einen Musikschüler an der Schola Cantorum, der dachte über jedes neue Musikwerk ganz anders als seine Eltern, Vettern und Klubkameraden, aber genau so wie alle andern Schüler der Schola; ebenso hatte der adlige Unteroffizier (Bloch stellte sich ihn als ungewöhnlichen Menschen vor nach meiner Beschreibung. War er gerührt, daß der junge Mann zur gleichen Partei gehörte wie er selbst, so machte doch die adelige Herkunft und religiöse und militärische Erziehung aus ihm etwas ganz andres und gab ihm den Reiz eines Eingeborenen aus fernem Land) eine »Mentalität« – ein Ausdruck, der damals aufkam – entsprechend der aller Dreyfusanhänger im allgemeinen und der Blochs im besondern, auf welche die Familienüberlieferungen und die Rücksichten auf das Vorwärtskommen keine Wirkung ausübten. Ähnlich war der Fall einer jungen orientalischen Fürstin, die ein Vetter von Saint-Loup geheiratet hatte: sie mache, sagte man, Verse so schön wie die von Victor Hugo und Alfred de Vigny, und doch vermutete man bei ihr eine andre Art Geist als danach zu erwarten war, nämlich den einer orientalischen Fürstin, die einsiedlerisch in einem Palast aus Tausend und eine Nacht lebt. Den Schriftstellern, die den Vorzug hatten, sich ihr zu nähern, blieb die Enttäuschung oder vielmehr die Freude vorbehalten, einer Unterhaltung beizuwohnen, die nicht an Scheherezade, sondern an einen Geist von der Art Alfred de Vignys oder Victor Hugos gemahnte.

Mit diesem jungen Mann wie auch mit den andern Freunden Roberts und mit Robert selber unterhielt ich mich besonders gern über das Leben in der Kaserne, die Offiziere in der Garnison und die Armee im allgemeinen. Da nun einmal die kleine Umwelt, in der wir essen, plaudern und unser wirkliches Leben führen, ungeheure Maße annimmt und gewaltig überschätzt wird, so daß neben ihr der abwesende Rest der Welt nicht aufkommen kann und wesenlos wird wie ein Traum, hatte ich angefangen, mich um die verschiedenen Persönlichkeiten in der Kaserne, um die Offiziere zu bekümmern, die ich im Hof bemerkte, wenn ich Saint-Loup besuchen kam, oder beim Aufwachen sah, wenn das Regiment unter meinen Fenstern vorüberkam. Gern hätte ich Einzelheiten über den Obersten gehört, den Saint-Loup so bewunderte, und über seinen Unterricht in Kriegsgeschichte, der mir angeblich »sogar vom ästhetischen Standpunkt« so gut gefallen haben würde. Ich kannte bei Robert einen gewissen Wortschwall, der allzu oft etwas leer wirkte, in andern Fällen aber merken ließ, wie er tiefe Ideen, für die er durchaus Verständnis besaß, sich angeeignet hatte. Was die Armee betraf, so war Robert damals leider vorwiegend mit der Dreyfusaffäre beschäftigt. Er sprach wenig darüber, weil er der einzige Dreyfusanhänger der Tafelrunde war; die andern waren heftige Gegner der Revision mit Ausnahme meines Tischnachbarn und neuen Freundes, dessen Meinungen ziemlich schwankend schienen. Er war ein überzeugter Bewunderer des Obersten, der für einen hervorragenden Offizier galt, die Bewegung gegen die Armee in verschiedenen Tagesbefehlen gebrandmarkt hatte und deshalb für einen Dreyfusgegner gehalten wurde; nun hatte er aber gehört, sein verehrter Vorgesetzter habe Äußerungen fallen lassen, die auf Zweifel an Dreyfus' Schuld hindeuteten, und er bewahre Picquart seine Achtung. In letzterer Beziehung war jedenfalls das Gerücht von des Obersten Dreyfusfreundschaft schwach begründet, wie es immer die Gerüchte sind, die, ohne daß man weiß, woher sie stammen, ein großes Ereignis umkreisen. Denn als bald danach der Oberst beauftragt worden war, den ehemaligen Chef des Nachrichtenbureaus zu verhören, behandelte er ihn mit einer Roheit und Verachtung, wie sie noch nicht vorgekommen war. Gleichwohl hatte mein Nachbar, der sich übrigens nicht gestattet hätte, den Obersten selbst um Auskunft zu bitten, in höflichem Tone – wie etwa eine katholische Dame einer jüdischen mitteilt, ihr Pfarrer tadle die Judenmetzeleien in Rußland und bewundere die Großmut gewisser Israeliten – zu Saint-Loup gesagt, der Oberst sei dem Dreyfusismus, wenigstens einem bestimmten Dreyfusismus gegenüber nicht der unduldsame, engherzige Gegner, als den man ihn hinstellte.

»Das wundert mich nicht,« sagte Saint-Loup, »denn er ist ein Mann von Geist. Aber trotzdem verblenden ihn die Vorteile seiner Herkunft und vor allem der Klerikalismus. Ja, Major Duroc,« wandte er sich dann an mich, »der Lehrer der Kriegsgeschichte, von dem ich dir gesprochen habe, der ist offenbar tief von unsern Ideen durchdrungen. Das Gegenteil würde mich auch sehr wundern; er ist ja nicht nur höchst intelligent, sondern auch Radikalsozialist und Freimaurer.«

Einmal aus Höflichkeit gegen seine Freunde, denen Saint-Loups Glaubensbekenntnisse eines Dreyfusanhängers peinlich waren, und dann, weil mich das übrige mehr anzog, fragte ich meinen Nachbarn, ob dieser Oberst tatsächlich aus der Kriegsgeschichte eine Darstellung von echt ästhetischer Schönheit mache.

»Tatsächlich.«

»Was verstehn Sie darunter?«

»Nun zum Beispiel, alles was Sie, nehmen wir an, in einer Erzählung aus der Kriegsgeschichte lesen, die kleinsten Tatsachen, die geringfügigsten Ereignisse sind Merkmale einer Idee, die man freilegen muß, die oft andere Ideen wie in einem Palimpsest überdecken. Auf diese Art bekommen Sie ein ebenso sinnvolles Ganzes, wie in irgendeiner beliebigen Wissenschaft oder Kunst, ein Ganzes, das dem Geiste genug tut.«

»Beispiele, wenn ich nicht zu viel verlange.«

»Es ist schwer, dir das so einfach zu erklären«, unterbrach Saint-Loup. »Du liest zum Beispiel, dies oder jenes Armeekorps hat einen Vorstoß gemacht ... Aber bevor man weiter geht, ist der Name des Korps und seine Zusammensetzung nicht ohne Bedeutung. Wird die Operation nicht zum erstenmal unternommen, sehn wir für die gleiche Operation noch ein Korps erscheinen, so kann das ein Anzeichen sein, daß die vorhergehenden durch besagte Operation vernichtet oder sehr geschwächt wurden, weil sie nicht imstande waren, sie gut auszuführen. Dann muß man erkunden, was für ein Korps das jetzt vernichtete war: waren es Stoßtruppen, die für starke Angriffe in Reserve gehalten worden, so hat ein neues weniger qualifiziertes Korps wenig Aussicht auf Erfolg da, wo jene versagt haben. Steht man nicht mehr im Anfang eines Feldzugs, kann das neue Korps aus sehr gemischten Bestandteilen zusammengestellt sein, das gibt den Kräften, über die der Kriegführende verfügt, der Nähe des Augenblicks, in dem sie denen des Gegners nicht gewachsen sein werden, eine Bedeutung, die für die Operation selbst, welche das Korps unternehmen will, von jeweils verschiedener Wichtigkeit sein kann; ist es nämlich nicht imstande, seine Verluste wettzumachen, so wird auch ein Erfolg mit mathematischer Genauigkeit es nur einer schließlichen Vernichtung entgegenführen. Nicht weniger bedeutungsvoll ist, nebenbei bemerkt, Name und Nummer des Korps, das ihm gegenübersteht. Handelt es sich um eine bedeutend schwächere Einheit, die aber bereits mehrere wichtige Einheiten des Gegners aufgerieben hat, so bekommt die Operation einen ganz andern Charakter. Sollte sie selbst mit dem Verlust der verteidigten Stellung enden, diese auch nur eine Weile gehalten zu haben, kann ein großer Erfolg sein, wenn es genügt hat, um mit geringen Kräften sehr wichtige Kräfte des Gegners zu vernichten. Wenn schon die Analyse der Kampftruppe so wichtige Probleme enthält, wirst du verstehn, wie bedeutsam das Studium der Stellung selbst ist, der Straßen und Eisenbahnstrecken, die sie beherrscht, der Verproviantierung, die sie beschützt. Man muß das, was ich den ganzen geographischen Kontext nennen möchte, studieren«, fügte er lachend hinzu. (Mit diesem Ausdruck war er offenbar sehr zufrieden; jedes Mal, wenn er ihn wieder anwandte, noch Monate später, hatte er immer dasselbe Lachen.) »Liest du, während der eine der Kriegführenden die Operation vorbereitete, wurde eine seiner Streifwachen in der Nähe der Stellung vom Gegner vernichtet, kannst du daraus unter anderm den Schluß ziehen, daß der erstere versucht hat, sich über die Verteidigungsarbeiten Aufklärung zu verschaffen, mit denen der andere seinen Angriff zum Scheitern zu bringen beabsichtigte. Eine besonders heftige Aktion gegen einen Punkt kann bedeuten: man will ihn erobern, aber auch: man will den Gegner da festhalten, nicht dort mit ihm kämpfen, wo er angegriffen hat, es kann auch bloß eine Finte sein, die durch verstärkte Kampftätigkeit die Wegnahme von Truppen an dieser Stelle verbergen soll (das ist eine klassische Finte aus den Kriegen Napoleons). Ferner, um die Bedeutung eines Manövers, sein wahrscheinliches Ziel und somit die andern Bewegungen, die es begleiten oder ihm folgen sollen, zu verstehn, ist es weniger wichtig, den erteilten Befehl – der kann zur Täuschung des Gegners gegeben worden sein und um einen möglichen Mißerfolg zu verdecken –, als das Militärreglement des betreffenden Volkes zu kennen. Es läßt sich immer annehmen, das Manöver, das eine Armee hat unternehmen wollen, sei gleich dem, welches das zur Zeit gültige Reglement für entsprechende Umstände vorschreibt. Nimm zum Beispiel den Fall: das Reglement schreibt vor, einen Frontangriff mit einem Flankenangriff zu begleiten, der Flankenangriff mißlingt, der Tagesbefehl behauptet, er sei außer Zusammenhang mit dem Frontangriff und nur eine Ablenkungsbewegung gewesen; dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit in dem Reglement und nicht in den Aussagen des Tagesbefehls zu suchen. Und bei jeder Armee kommen zu den Reglements noch die Traditionen, Gewohnheiten und Doktrinen hinzu. Das Studium der diplomatischen Tätigkeit, die immer auf die militärische einwirkt oder reagiert, darf auch nicht vernachlässigt werden. Aus anscheinend unwesentlichen Zwischenfällen, die von den Zeitgenossen falsch verstanden wurden, wirst du ersehn, daß der Feind auf eine Unterstützung rechnete, die, wie aus eben diesen Zwischenfällen hervorgeht, ihm versagt wurde, und daß er daher in Wirklichkeit nur einen Teil seines strategischen Programms ausführen konnte. Verstehst du, derart Kriegsgeschichte zu lesen, so wird, was dem Durchschnittsleser wirrer Bericht bleibt, für dich ein so vernunftgemäßes Ganzes sein wie ein Bild für den Kunstfreund, der sieht, was die dargestellte Person trägt und in Händen hält, während der verdutzte Museenbesucher von wesenlosen Farben irregeführt und gequält wird. Wie es aber bei gewissen Bildern nicht genügt zu bemerken, daß eine Person einen Kelch hält, man vielmehr wissen muß, warum der Maler ihr den Kelch in die Hände gegeben und was er damit versinnbildlicht hat, so sind militärische Operationen auch nicht nur durch ihren unmittelbaren Zweck bestimmt, sie werden im Geist des kriegführenden Feldherrn gewöhnlich älteren Schlachten nachgebildet, und diese sind, wenn du willst, eine Art Vorzeit, Bibliothek, Studium, Etymologie, Aristokratie für die neuen Schlachten. Beachte, daß ich jetzt nicht von der lokalen, wie soll ich sagen, spatialen Identität der Schlachten spreche. Die gibt es auch. Ein Schlachtfeld war und bleibt im Lauf der Jahrhunderte nicht das Feld einer einzigen Schlacht. Ist es Schlachtfeld gewesen, so bedeutet das: es hat bestimmte Bedingungen der geographischen Lage und geologischen Natur vereinigt und sogar bestimmte Mängel für den Gegner aufgewiesen (einen Fluß, zum Beispiel, der es in zwei Hälften teilt) und ist so zu einem guten Schlachtfeld geworden. Das ist es gewesen, wird es also wieder sein. Ein Maleratelier kann man nicht aus einem beliebigen Zimmer, ein Schlachtfeld nicht aus einer beliebigen Stätte machen. Es gibt Orte, die dafür vorher bestimmt sind. Noch einmal, nicht davon will ich dir sprechen, sondern von dem Typus der Schlacht, die man nachahmt, von einer Art strategischem Abzug, einem taktischen Pasticcio, wenn du willst, der Schlacht bei Ulm, Lodi, Leipzig, Cannä. Ich weiß nicht, ob es in Zukunft noch Kriege geben wird, auch nicht zwischen welchen Völkern, aber wenn, dann sei sicher: es wird (und zwar von Seiten des Feldherrn mit Bewußtsein) wieder ein Cannä, Austerlitz, Roßbach, Waterloo geben, von andern zu schweigen, die manche Leute sich nicht scheuen auszusprechen. Feldmarschall von Schlieffen und General von Falkenhausen haben schon im voraus gegen Frankreich eine Schlacht bei Cannä vorbereitet, nach Hannibals Art: Fesselung des Gegners auf der ganzen Front und Vorstoß beider Flügel, besonders des rechten in Belgien, während Bernhardi die schräge Schlachtordnung Friedrichs des Großen, die Schlacht bei Leuthen der bei Cannä vorzieht. Andere geben ihre Ansichten nicht so rücksichtslos zum Besten, aber ich wette mit dir, mein Junge, Beauconseil, der Schwadronführer, dem ich dich neulich vorgestellt habe, ein Offizier mit großer Zukunft, hat seine kleine Attacke am Pratzen schon gründlich studiert, kennt sie bis in alle Ecken und Enden und hält sie in Reserve; sollte er je Gelegenheit haben, sie auszuführen, wird er nicht danebenhauen, er wird sie uns groß und breit vorsetzen. Das Einstoßen des Zentrums bei Rivoli, glaub mir, das wird man machen, solange es noch Kriege gibt. Das ist ebensowenig veraltet wie die Ilias. Ich behaupte sogar, man ist fast verurteilt zu Frontangriffen, man will doch nicht wieder in den Irrtum von 70 verfallen, sondern angreifen, immer nur angreifen. Ganz klar bin ich mir allerdings darüber noch nicht; während nämlich sonst nur zurückgebliebene Geister sich diesem herrlichen Grundsatz widersetzen, möchte doch einer meiner jüngsten Lehrer, Mangin, ein genialer Mann, der Defensive ihren Platz einräumen, wenn auch natürlich nur provisorisch. Man kommt recht in Verlegenheit, ihm etwas zu erwidern, wenn er als Beispiel Austerlitz anführt, wo die Defensive nur das Vorspiel des Angriffs und Sieges ist«.

Solche Theorien Saint-Loups machten mich glücklich. Sie ließen mich hoffen, daß ich hier in Doncieres mit den Offizieren, von denen man mir beim Sauternes, der seinen Schimmer auf sie ausstrahlte, erzählte, nicht hereingefallen war wie in Balbec, wo meine Überschätzung alles vergrößerte, den König und die Königin von Polynesien, die kleine Gesellschaft der vier Feinschmecker, den jungen Spieler, den Schwager von Legrandin, die jetzt alle in meinen Augen so klein geworden waren, daß sie kaum noch für mich existierten. Was mir heute gefiel, würde mir vielleicht morgen nicht gleichgültig sein, wie es mir bisher immer geschehn war; das Wesen, das ich in diesem Augenblick noch war, würde vielleicht nicht einem nahen Untergang geweiht sein, denn der flüchtig glühenden Leidenschaft, die ich in diesen paar Abenden allem, was das militärische Leben betraf, entgegenbrachte, gab Saint-Loup durch seine Worte über die Kriegskunst eine geistige Grundlage von dauerhafter Natur; an die konnte ich mich halten, brauchte nicht zu versuchen, mir etwas vorzumachen, würde mich weiter wie bisher für die Arbeiten meiner Freunde in Doncières interessieren und gern bald wieder sie besuchen kommen. Um indes noch sicherer zu sein, daß die Kriegskunst wirklich eine Kunst im geistigen Sinne des Wortes sei, sagte ich zu Saint-Loup:

»Was Sie sagen, Verzeihung, was du sagst, interessiert mich sehr, aber da gibt es einen Punkt, der mich beunruhigt. Ich fühle es, ich könnte mich für die Kriegskunst begeistern. Nur müßte sie für mich auch darin mit den andern Künsten übereinstimmen, daß die lernbare Regel bei ihr nicht alles ist. Du sagst, man bildet Schlachten nach. Ich finde es in der Tat, wie du sagst, ästhetisch, unter einer modernen Schlacht eine ältere zu sehn, ich kann dir nicht sagen, wie sehr diese Vorstellung mir gefällt. Aber spielt denn dann der Genius des Feldherrn keine Rolle? Tut er wirklich weiter nichts als Regeln anzuwenden? Oder ist es, das vollkommene Wissen vorausgesetzt, mit den großen Generälen wie mit großen Chirurgen, die vor zwei inhaltlich genau übereinstimmenden Krankheitsbildern an einer Kleinigkeit, die sie, vielleicht auf Grund einer Erfahrung, neu deuten, doch spüren: in diesem Fall ist eher dies, im andern eher das zu tun, hier sollte man operieren, dort von einer Operation absehn.«

»Das will ich meinen! Du wirst sehn, wie Napoleon nicht angreift, wenn alle Regeln wollen, daß er angreife, eine dunkle Ahnung rät ihm davon ab. Lies zum Beispiel bei Austerlitz oder auch 1806 die Weisungen, die er Lannes gibt. Anderseite kannst du gewisse Generäle ein Manöver Napoleons schülerhaft nachahmen und zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kommen sehn. Zehn Beispiele dafür 1870. Aber selbst um zu erklären, was der Gegner tun kann, ist das, was er tut, nur ein Anzeichen, das sehr Verschiedenes bedeuten kann. Von diesen verschiedenen Ausdeutungen kann jede die richtige sein, wenn man sich an vernünftige Überlegung und Wissenschaft hält, wie es ja auch verwickelte Fälle gibt, wo alle Heilkunde der Welt nicht hinreichen würde, um zu entscheiden, ob das unsichtbare Geschwür ein Gewebetumor ist oder nicht, ob ein Eingriff gemacht werden muß oder nicht. Witterung, Ahnung wie bei einer Wahrsagerin (du verstehst) entscheidet bei dem großen Feldherrn wie bei dem großen Arzt. So habe ich dir, um ein Beispiel herauszugreifen, gesagt, was eine Rekognoszierung im Anfang einer Schlacht bedeuten kann. Aber sie kann noch zehnerlei anderes bedeuten, zum Beispiel: der Feind soll glauben, man wird hier angreifen, während man dort angreifen will, oder die Bewegung soll ihm die Vorbereitungen zu der wirklichen Operation verschleiern, oder er soll gezwungen werden, Truppen heranzuziehen, sie dort, wo sie nicht gebraucht werden, festzusetzen und festzuhalten, oder man will sich vergewissern, über was für Kräfte er verfügt, Fühlung mit ihm behalten, ihn zwingen, sein Spiel aufzudecken. Daß man in einer Operation große Truppenmassen bindet, beweist durchaus nicht immer, daß diese Operation die eigentliche ist; man kann sie ernstlich ausführen, obwohl sie nur eine Finte ist, damit diese Finte eben mehr Aussicht hat, den Gegner zu täuschen. Hätte ich Zeit, von diesem Gesichtspunkt aus dir die Kriege Napoleons zu erzählen, glaub mir, die einfachen klassischen Bewegungen, die wir studieren und die du uns beim Felddienst zu deinem Spaziergangsvergnügen wirst ausführen sehn, kleiner Schlemmer – Verzeihung, ich weiß, du bist krank – also, im Kriege, wenn man hinter diesen Bewegungen die gespannte Aufmerksamkeit, das Nachdenken und Nachprüfen des Oberkommandos fühlt, erregen sie uns wie die einfachen Feuer eines Leuchtturms, dies körperliche Licht, das doch eine Ausgießung des Geistes ist und den Raum durchstreift, um den Schiffen die Gefahr anzuzeigen. Es ist vielleicht unrecht von mir, dir nur von Kriegsliteratur zu sprechen. Wie Bodenbeschaffenheit, Wind- und Lichtrichtung anzeigen, wo ein Baum wachsen wird, so bestimmen tatsächlich die Bedingungen, unter denen ein Feldzug geführt wird, und die Eigentümlichkeiten des Geländes, auf dem man manöveriert, in gewisser Weise die Pläne, zwischen denen ein Feldherr zu wählen hat, und begrenzen sie. Längs des Gebirges, in einem System von Tälern, in gewissen Ebenen kannst du fast mit Notwendigkeit, wie den großartigen Gang einer Lawine, den Marsch der Heere vorhersagen.«

»Jetzt nimmst du wieder dem Feldherrn die Freiheit und dem Gegner, der in seinen Plänen lesen will, das Ahnungsvermögen, das du mir vorhin für ihn zugestanden hast.«

»Aber durchaus nicht! Du erinnerst dich des philosophischen Buches, das wir in Balbec zusammen lasen über den Reichtum der Welt des Möglichen im Vergleich zur wirklichen Welt. In einer gegebenen Lage werden sich vier verschiedene Pläne aufdrängen, zwischen denen der Feldherr zu wählen hat, gerade wie eine Krankheit verschiedene Entwicklungen durchmachen kann, auf die der Arzt gefaßt sein muß. Und auch dann noch verursachen menschliche Schwäche und Größe neue Ungewißheit. Nehmen wir an, der Feldherr wählt aus zufälligem Anlaß (etwa weil er anderweitige Ziele erreichen will, weil die Zeit drängt oder sein Truppenbestand klein und die Verpflegung schlecht ist) unter den vier Plänen den ersten, der unvollkommener, aber weniger kostspielig und schneller auszuführen geht und zur Ernährung seiner Armee ein reicheres Land bietet. Er fängt also nach dem ersten Plan zu operieren an; der Feind, erst unsicher, durchschaut diesen bald, und zu große Hindernisse stellen sich der Ausführung entgegen; das nenne ich das Risiko aus menschlicher Schwäche; nun gibt der Feldherr den ersten Plan auf und versucht es mit dem zweiten, dritten oder vierten. Aber sein Versuch mit dem ersten Plan kann auch – und das nenne ich menschliche Größe – eine Finte gewesen sein, um den Gegner festzuhalten und dort, wo er sich nicht angegriffen glaubt, zu überraschen. So wurde bei Ulm Mack, der den Feind im Westen erwartete, von Norden her, wo er sich ungefährdet glaubte, eingeschlossen. Mein Beispiel ist übrigens nicht sehr gut gewählt. Und Ulm ist eher ein Typ der Aufrollungstaktik, wie man sie in Zukunft wiederaufnehmen wird, es ist nicht nur ein klassisches Beispiel, von dem Feldherrn sich werden anleiten lassen, sondern eine gewissermaßen notwendige Form (notwendig unter andern, es bleibt Wahl und Mannigfaltigkeit bestehn), notwendig wie eine typische Kristallbildung. Aber das alles besagt noch nichts. Ich komme auf unser philosophisches Buch zurück; es ist wie mit den logischen Prinzipien oder den wissenschaftlichen Gesetzen: die Wirklichkeit paßt sich ihnen ungefähr an; aber denke an den großen Mathematiker Poincaré: es ist nicht sicher, daß die Mathematik streng exakt sei. Die Reglements, von denen ich dir sprach, sind im Ganzen von einer Wichtigkeit zweiten Ranges und werden übrigens von Zeit zu Zeit geändert. So haben wir Kavalleristen eine Felddienstordnung von 1895, die, wie man wohl sagen kann, überholt ist, sie beruht auf der alten abgekommenen Lehrmeinung, die von dem Kavallerieangriff nur eine seelische Wirkung erwartet durch den Schrecken, den der Angriff auf den Gegner ausübt. Dagegen stehn die klügsten unserer Lehrer, die besten Köpfe in der Kavallerie und namentlich der Major, von dem ich dir sprach, auf dem Standpunkt, die Entscheidung werde durch ein richtiges Handgemenge herbeigeführt, in dem man mit Säbel und Lanze ficht und der Zähere Sieger bleibt, nicht nur einfach seelisch dadurch, daß er Schrecken erregt, sondern ganz wirklich.«

»Saint-Loup hat recht, wahrscheinlich wird die nächste Felddienstordnung Anzeichen dieser Entwicklung aufweisen«, sagte mein Nachbar.

»Es ist mir sehr angenehm, daß du mir zustimmst, deine Ansichten scheinen meinem Freunde nämlich mehr Eindruck zu machen als meine«, sagte Saint-Loup lachend, vielleicht verdroß ihn die entstehende Neigung zwischen seinem Kameraden und mir ein wenig, vielleicht aber wollte er nur liebenswürdig sein, sie auch öffentlich feststellen und anerkennen. »Und dann habe ich vielleicht die Wichtigkeit der Reglements etwas herabgesetzt. Sie werden verändert, das ist richtig. Aber bis dahin beherrschen sie die militärische Situation, die Feldzugs- und Konzentrationspläne. Spiegelt sich in ihnen eine falsche Auffassung der Strategie, so können sie den ersten Anstoß zur Niederlage geben. Das alles ist ein bißchen zu technisch für dich«, wandte er sich an mich. »Im Grunde wirst du dir sagen können: am stärksten wird die Entwicklung der Kriegskunst gefördert durch die Kriege selbst. Im Lauf eines etwas längeren Feldzugs kann man sehen, wie einer der Kriegführenden aus den Lehren nutzen zieht, die ihm Erfolge und Fehler des Gegners geben, wie er die Methoden des andern vervollkommnet und dieser wieder ihn überbietet. Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Bei den furchtbaren Fortschritten der Artillerie werden die künftigen Kriege, wenn es überhaupt noch Kriege gibt, so kurz sein, daß, ehe man daran denken kann, aus Lehren Vorteil zu gewinnen, der Frieden geschlossen sein wird.«

»Sei nicht so empfindlich,« sagte ich zu Saint-Loup und antwortete damit auf das, was er vor seinen letzten Worten gesagt hatte. »Ich habe dir doch recht eifrig zugehört.«

»Wenn du nicht gleich wieder böse wirst, sondern es erlaubst,« nahm Saint-Loups Freund wieder auf, »möchte ich dem, was du gesagt hast, hinzufügen: es liegt nicht nur am Geist des Führers, wenn typische Schlachten nachgeahmt werden und sich häufen. Mitunter kann ein Fehler des Führers (wenn er zum Beispiel den Wert des Gegners unterschätzt) ihn dazu bringen, von seinen Truppen übertriebene Opfer zu verlangen, Opfer, die gewisse Einheiten mit erhabener Selbstverleugnung bringen; ihre Haltung entspricht dann der Haltung unserer Einheiten in anderen Schlachten und wird in der Geschichte als austauschbares Beispiel angeführt: um bei 1870 zu bleiben, die preußische Garde bei Saint-Privat, die Turkos bei Fröschweiler und Weißenburg.«

»Austauschbar, sehr richtig! ausgezeichnet! Du bist intelligent,« sagte Saint-Loup.

Diese Beispiele waren mir nicht gleichgültig, da es mir immer wichtig war, im Besonderen das Allgemeine gezeigt zu bekommen. Aber vor allem interessierte mich der Genius des Feldherrn, ich wollte mir klar darüber werden, worin er bestehe, wie in einer gegebenen Lage, in der ein ungenialer Feldherr dem Gegner nicht standhalten kann, der geniale es anfängt, die gefährdete Schlacht wiederherzustellen; das war doch nach Saint-Loup sehr wohl möglich und von Napoleon zu wiederholten Malen verwirklicht worden. Und um zu verstehn, was militärische Größe sei, bat ich um Vergleiche zwischen den Generalen, deren Namen ich kannte, fragte, wer eine richtige Feldherrnnatur, wer die höhere taktische Begabung habe, auf die Gefahr hin, meine neuen Freunde zu langweilen. Sie ließen sich aber wenigstens nichts anmerken und antworteten mir mit unermüdlicher Güte.

Ganz abgetrennt war ich (nicht nur von der großen, einzigen, in die Ferne reichenden Nacht, – da draußen pfiff von Zeit zu Zeit ein Zug und machte die Freude, hier zu sein, nur noch lebhafter, oder eine Stunde schlug, zum Glück noch lange nicht die, zu der die jungen Leute ihre Säbel nehmen und heimkehren mußten) – sondern auch von allen äußeren Sorgen, fast sogar von der Erinnerung an Frau von Guermantes, dank der Güte Saint-Loups, zu der die seiner Freunde hinzukam, die sie gewissermaßen verdichtete; dank auch der Wärme dieses kleinen Eßzimmers und der Schmackhaftigkeit der köstlichen Gerichte, die man uns vorsetzte. Die machten meiner Phantasie ebensoviel Vergnügen wie meinem Gaumen. Das Stückchen Natur, dem sie entnommen wurden, das rauhe Weihwasserbecken der Auster, darin noch einige Tropfen Salzwasser blieben, oder ästiges Rebholz und gelbliches Laub einer Weintraube, umgab sie bisweilen noch, selbst uneßbar, schön und fern wie Landschaft, und beschwor im Lauf des Essens eine Siesta am Weinberg und einen Gang durch Meerwellen; an andern Abenden brachte nur der Koch die besondere Herkunft der Gerichte zur Geltung; er bot sie in ihrem natürlichen Rahmen wie ein Kunstwerk dar; ein Fisch, in polnischer Brühe gekocht, kam auf langer irdener Platte, hob sich von einer Streu bläulicher Gräser ab, unversehrt, aber davon, daß er lebend ins kochende Wasser geworfen worden, noch verbogen, rings von Schalwerk kleiner Trabantentiere, Taschenkrebsen, Krabben und Muscheln umgeben, erschien er wie auf einer Keramik von Bernard Palissy.

»Ich bin eifersüchtig, ich bin wütend«, sagte Saint-Loup, halb lachend, halb im Ernst zu mir, auf meine endlosen Einzelgespräche mit seinem Freund anspielend. »Finden Sie ihn klüger als mich, lieben Sie ihn mehr? Dann gibts wohl nur noch ihn?« Männer, die sehr in eine Frau verliebt sind und unter lauter galanten Frauenfreunden leben, erlauben sich Scherze, die andere weniger unschuldig finden und nicht wagen würden.

Sobald die Unterhaltung allgemein wurde, vermied man es, von Dreyfus zu sprechen, um Saint-Loup nicht zu kränken. Gleichwohl machten zwei seiner Kameraden eine Woche später einmal die Bemerkung, es sei doch seltsam, daß er, der in einer ausgesprochen militärischen Umgebung lebe, so dreyfusfreundlich und fast antimilitaristisch sei. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, sagte ich: »Der Einfluß der Umgebung ist eben nicht so wichtig, wie man glaubt.« Damit wollte ichs genug sein lassen und nicht die Gedankengänge wiederaufnehmen, die ich ein paar Tage vorher Saint-Loup vorgebracht hatte. Um mich aber für etwas, das ich ihm fast wörtlich gesagt hatte, zu entschuldigen, fügte ich hinzu: »Das ist es ja gerade, was ich neulich ...« Aber ich hatte nicht mit der Kehrseite seiner liebenswürdigen Bewunderung für mich und einige andere Personen gerechnet. Seiner Bewunderung für diese entsprach nämlich ein völliges Assimilieren ihrer Ideen, und schon nach vierundzwanzig Stunden hatte er vergessen, daß es nicht seine eigenen Ideen waren. Ganz als habe meine bescheidene These immer schon in seinem Hirn gewohnt und als jagte ich nur auf seinen Feldern, glaubte er mich nur herzlich willkommen heißen und mir beistimmen zu müssen:

»Gewiß doch! Die Umgebung spielt keine Rolle.«

Und lebhaft – als fürchte er, ich könnte ihn unterbrechen oder verstünde ihn nicht, fuhr er fort: »Den wahren Einfluß übt die geistige Umgebung aus! Man ist der Mensch seiner Idee!«

Er hielt einen Augenblick inne, mit dem Lächeln eines Menschen, der gut verdaut hat, ließ dann sein Monokel fallen, heftete seinen durchbohrenden Blick auf mich und sagte in herausforderndem Ton: »Alle Menschen derselben Idee sind einander ähnlich.« Gewiß hatte er ganz vergessen, daß ich ihm vor wenigen Tagen das gesagt hatte, woran er sich nun so genau erinnerte.

 

Nicht jeden Abend kam ich in der gleichen Stimmung in Saint-Loups Restaurant. Kann eine Erinnerung, ein Kummer uns so ganz entschwinden, daß wir nichts mehr von ihm merken, so kommt er doch auch, und manchmal nach langer Zeit, wieder und verläßt uns nicht. An manchen Abenden hatte ich, wenn ich die Stadt durchquerte, um in das Restaurant zu gehn, solche Sehnsucht nach Frau von Guermantes, daß ich kaum atmen konnte: es war, als habe ein geschickter Anatom einen Teil meiner Brust bloßgelegt, herausgenommen und durch eine entsprechende Masse unkörperlichen Schmerzes, durch ein Äquivalent aus Sehnsucht und Liebe ersetzt. Und sind auch die Nähte gut gemacht, es ist doch recht beschwerlich zu leben, wenn man statt Eingeweiden Sehnsucht nach einem Wesen hat; die scheint mehr Platz zu brauchen als jene, man fühlt sie immerzu; und dann, was für ein zweideutiger Zustand, einen Teil seines Körpers denken zu müssen. Immerhin scheint man mehr wert zu sein. Beim leisesten Windhauch seufzt man vor Beklemmung, aber auch vor Liebesweh. Ich sah den Himmel an. War er klar, sagte ich mir: Vielleicht ist sie auf dem Lande, sie sieht dieselben Sterne an; wer weiß, wenn ich ins Restaurant komme, wird Robert zu mir sagen: »Eine gute Neuigkeit, meine Tante hat mir geschrieben, sie möchte dich sehn, sie kommt hierher.« Nicht nur an das Firmament heftete ich meine Gedanken an Frau von Guermantes. Ein sanft streifender Wind schien mir Botschaft von ihr zu bringen wie einst in den Kornfeldern von Méséglise von Gilberte: man ändert sich nicht, man läßt nur in das Gefühl, das man mit einem Wesen verbindet, manche eingeschlafenen Elemente eintreten, die es erweckt und doch nicht teilt. Und immer zwingt uns etwas, diese besondern Gefühle wahrer zu machen, das heißt, sie mit einem allgemeineren Gefühl sich verbinden zu lassen, das die ganze Menschheit teilt; die Individuen und der Kummer, den sie uns verursachen, sind nur eine Gelegenheit, mit diesem Gefühl zu kommunizieren. Es brachte einige Lust in meine Pein, daß ich wußte, sie war ein Teil der allgemeinen Liebe. Wohl glaubte ich in meinem Weh, mit dem Frau von Guermantes, ihre Kälte, ihre Ferne nicht so deutlich verknüpft waren, wie es im Geiste des Gelehrten Ursache mit Wirkung ist, Traurigkeiten wiederzuerkennen, die ich um Gilbertes willen empfunden hatte, oder in Combray, abends, wenn Mama nicht in meinem Zimmer blieb, oder bei dem Gedanken an gewisse Seiten von Bergotte, aber ich schloß nicht daraus, daß Frau von Guermantes gar nicht die Ursache dieses Wehs sei. Gibt es doch auch unbestimmte physische Schmerzen, die in Gebiete ausstrahlend sich verbreiten, welche außerhalb des erkrankten Körperteils liegen; wenn dann der Arzt genau den Punkt berührt, woher sie kommen, verlassen sie jene Gebiete und zerstreuen sich ganz; und doch gab vorher ihre Ausdehnung ihnen einen so verhängnisvoll undeutlichen Charakter: unfähig, sie zu erklären oder auch nur zu lokalisieren, hielten wir es für unmöglich, sie zu heilen. Nach dem Restaurant zu weitergehend, sagte ich zu mir selbst: »Jetzt hab ich schon vierzehn Tage Frau von Guermantes nicht gesehn.« Vierzehn Tage, das war wohl nur für mich etwas Ungeheueres, der ich, wenn es sich um Frau von Guermantes handelte, nach Minuten rechnete. Für mich bekamen nicht nur Sterne und Wind, sondern auch die errechenbaren Bruchteilchen der Zeit etwas schmerzlich Schönes. Jeder Tag war jetzt wie der immer in Bewegung scheinende Kamm eines undeutlich sichtbaren Hügels: auf der einen Seite, fühlte ich, könnte ich hinabsteigen ins Vergessen, auf der andern riß mich das Bedürfnis, die Herzogin wiederzusehn, fort. Und ich war bald mehr dem einen, bald mehr dem andern nah und ohne stabiles Gleichgewicht. Eines Tages sagte ich mir: »Heut Abend wird vielleicht ein Brief dasein«, und hatte, als ich zum Essen kam, den Mut, Saint-Loup zu fragen:

»Hast du nicht zufällig Nachrichten aus Paris?«

»Ja,« antwortete er düster, »schlechte.«

Ich atmete auf; der Kummer traf nur ihn, die Nachrichten waren von seiner Geliebten. Aber bald merkte ich, sie würden unter anderm zur Folge haben, daß Robert mich nicht zu seiner Tante mitnehmen könne.

Ich erfuhr, es war ein Streit zwischen ihm und seiner Geliebten ausgebrochen, sei es brieflich, sei es gelegentlich eines Morgenbesuches, den sie ihm zwischen zwei Zügen gemacht hatte. Und selbst die geringfügigeren Zwiste, die sie bisher gehabt hatten, schienen immer unversöhnlich sein zu müssen. Denn sie war übellaunig, stampfte gleich mit dem Fuß, weinte aus so unbegreiflichen Gründen wie Kinder, die sich in ein dunkles Kämmerchen einschließen, nicht zum Essen kommen, jede Auskunft verweigern und nur noch heftiger schluchzen, wenn man schließlich mit aller Vernunft zu Ende ist und ihnen Schläge gibt. Saint-Loup litt schrecklich unter diesem Zwist, aber wenn man das einfach so ausdrückt, fälscht man die Vorstellung, die man sich von seinem Schmerz zu machen hat. War er wieder allein und hatte nur noch an seine Geliebte zu denken, die mit Respekt vor ihm abgereist war, weil sie ihn energisch gesehn hatte, vergingen seine Qualen angesichts des Unabänderlichen, und das Aufhören einer Qual ist etwas so Süßes, daß der einmal zur Gewißheit gewordene Zwist für ihn ein wenig von dem Reiz bekam, den eine Versöhnung gehabt hätte. Etwas später stellte sich bei ihm als sekundäres Symptom ein neuer Schmerz ein, der seinem eigenen Wesen entsprang: er litt bei dem Gedanken, sie habe vielleicht eine Annäherung gesucht, es sei nicht ausgeschlossen, daß sie von ihm ein Wort erwarte. Lasse er sie nun warten, werde sie, um sich zu rächen, vielleicht an dem und dem Abend, dem und dem Ort etwas tun ... Er brauche ihr nur zu telegraphieren, er komme, damit sie es nicht tue: andere werden vielleicht die Zeit nutzen, die er verloren gehn lasse, in einigen Tagen würde es zu spät sein, um sie wiederzugewinnen, sie würde in andern Händen sein. Von all diesen Möglichkeiten wußte er nichts Bestimmtes, seine Geliebte wahrte ihr Schweigen, und das machte ihn schließlich so toll vor Schmerz, daß er sich fragte, ob sie sich nicht am Ende in Doncierès verborgen halte oder nach Indien verreist sei.

Man hat gesagt, Schweigen sei eine Macht; es ist aber in ganz besonderm Sinne eine schreckliche Macht derer, die geliebt werden. Sie steigert die Qual des Liebenden, der wartet. Nichts verlockt so sehr, uns einem Wesen zu nähern, als das, was uns von ihm trennt; und welche Schranke wäre schwerer zu durchbrechen als das Schweigen? Man hat auch gesagt, Schweigen sei eine Marter und könne den, der im Gefängnis dazu gezwungen werde, wahnsinnig machen. Aber marternder als Schweigen zu wahren, ist es, aushalten zu müssen, daß das geliebte Wesen schweigt! Robert sagte sich: »Was tut sie wohl, daß sie so schweigt? Gewiß betrügt sie mich mit andern?« Er sagte auch: »Was hab ich getan, daß sie so schweigt? Sie haßt mich vielleicht und für immer.« Und er machte sich Vorwürfe. So machte ihn das Schweigen wahnsinnig vor Eifersucht und Reue. Solches Schweigen ist grausamer als das der Gefängnisse, ist selbst Gefängnis. Eine wohl unkörperliche, doch undurchdringliche Klausur, dieses eingeschobene Stück leere Luft, das die Sehstrahlen des Verlassenen nicht durchdringen können. Was kann schrecklicher beleuchten als das Schweigen, das uns statt einer Abwesenden tausend zeigt, und jede ergibt sich einem andern Verrat! Bisweilen fühlte Robert eine plötzliche Entspannung, er glaubte, das Schweigen werde augenblicklich aufhören, der erwartete Brief werde kommen. Er sah ihn ankommen, er lauschte auf jedes Geräusch, ihm war schon leichter, er flüsterte: »Der Brief! Der Brief!« Hatte er dann schon eine Traumoase voll zärtlicher Liebe zu sehn gemeint, fand er sich wieder im Wirklichen, im Wüstensand endlosen Schweigens watend. Im voraus litt er, ohne einen einzigen zu übergehn, alle Schmerzen, die ein Bruch mit sich bringt, und glaubte doch wiederum zeitweise, den Bruch vermeiden zu können. Er glich den Leuten, die in der Aussicht, ihre Heimat verlassen zu müssen, – eine Aussicht, die sich dann gar nicht verwirklicht –, alle ihre Angelegenheiten ordnen. Ihre Gedanken, die nicht mehr wissen, wohin sie morgen gehören, bewegen sich für den Augenblick ganz losgelöst von ihren Trägern, wie das Herz, das man einem Kranken herausnimmt, getrennt vom Körper weiterschlägt. Immerhin gab ihm die Hoffnung auf die Wiederkehr der Geliebten Mut, im Bruche zu beharren, wie der Glaube, man könne lebend aus dem Kampfe wiederkehren, dem Tode zu trotzen hilft. Und da Gewohnheit von allem, was Menschen anpflanzen, am wenigsten Nährboden braucht, um zu gedeihen, und als erstes auf dem anscheinend trostlosesten Felsen keimt, hätte Robert an den Bruch, der zunächst eine Finte von ihm war, vielleicht ganz redlich sich gewöhnt. Aber immer im Ungewissen und voller Erinnerungen an jene Frau, geriet er in einen Zustand, welcher der Liebe glich. Indes zwang er sich, ihr nicht zu schreiben; vielleicht schien es ihm nicht so qualvoll, ohne seine Geliebte, als unter bestimmten Bedingungen mit ihr zu leben, oder er hielt es nach der Art, wie sie sich verlassen hatten, für nötig, ihre Entschuldigungen abzuwarten, damit sie bewahre, was sie nach seiner Meinung, wenn nicht an Liebe, so doch wenigstens an Achtung und Rücksicht für ihn empfände. Er beschränkte sich darauf, an das Telephon zu gehn, das man jüngst in Doncières eingerichtet hatte und von einer Zofe, die er bei seiner Freundin angestellt hatte, Erkundigungen einzuziehen und ihr Weisungen zu geben. Die Telephonverbindung war, nebenbei bemerkt, etwas umständlich und nahm ihm viel Zeit; Roberts Geliebte hatte nämlich ein kleines Grundstück in der Umgegend von Versailles gemietet. Damit folgte sie dem Geschmack ihrer literarischen Freunde, welche die Hauptstadt häßlich fanden; vor allem aber tat sie es um ihrer Tiere willen, der Hunde, des Affen, der Kanarienvögel und des Papageien, deren beständigen Lärm ihr Pariser Wirt nicht länger dulden wollte. Nun konnte Robert in Doncières des Nachts keinen Augenblick mehr schlafen. Einmal schlummerte er bei mir, von Müdigkeit überwältigt, ein wenig ein. Plötzlich fing er an, aus dem Schlafe zu sprechen, er wollte laufen, etwas verhindern, er sagte: »Ich höre sie, Sie werden nicht ... werden nicht ...« Dann wachte er auf. Er sagte, er habe geträumt, er sei auf dem Lande bei dem Quartierwachtmeister gewesen. Der versuchte ihn von einem Teil des Hauses zu entfernen. Saint-Loup hatte erraten, daß der Wachtmeister einen sehr reichen und sehr lasterhaften Leutnant zu Besuch habe, der, wie er wußte, sehr nach seiner Freundin begehrte. Und mit einmal hatte er im Traum deutlich die regelmäßig wiederkehrenden und aussetzenden Schreie gehört, die seine Geliebte in den Augenblicken der Wollust auszustoßen pflegte. Da hatte er den Wachtmeister zwingen wollen, ihn in das Zimmer zu führen. Und der hielt ihn fest, wollte ihn nicht hinein lassen und setzte eine sehr gekränkte Miene auf, so indiskret fand er dies Verlangen. Robert sagte, er werde diese Miene nie vergessen können.

»Ein idiotischer Traum«, schloß er, noch ganz außer Atem.

Aber schon in der nächsten Stunde war er einige Male drauf und dran, seiner Geliebten zu telephonieren und sie um eine Aussöhnung zu bitten. Seit kurzem hatte mein Vater Telephon, aber ich weiß nicht, ob Saint-Loup damit viel gedient gewesen wäre. Auch schien es mir nicht eben angemessen, meinen Eltern, ja auch nur einem Apparat in ihrem Hause die Vermittlerrolle zwischen Saint-Loup und seiner Geliebten zu geben, mochte diese auch noch so fein und vornehm empfinden. Der Eindruck von Saint-Loups Schrecktraum verwischte sich ein wenig in seinem Bewußtsein. Mit zerstreutem, starrem Blick kam er während all dieser schrecklichen Tage zu mir, und ich sah ihr Nacheinander wie die herrlich geschwungene Kurve eines schmiedeeisernen Geländers, an dem Robert lehnte und sann, was für einen Entschluß seine Freundin fassen werde.

Endlich fragte sie ihn, ob er sich darauf einlassen würde, zu verzeihen. Kaum hatte er begriffen, daß der Bruch vermieden war, sah er alle Nachteile einer neuen Annäherung. Übrigens litt er schon weniger und hatte den Schmerz fast hingenommen; er würde ja wohl doch in einigen Monaten von neuem sein Stechen zu fühlen bekommen, wenn die Liebschaft wieder begann. Er zauderte nicht lange. Vielleicht zauderte er überhaupt nur, weil er endlich sicher war, seine Geliebte wieder zu sich nehmen zu können, und es zu können, bedeutete für ihn, es zu tun. Allein sie bat ihn, nicht vor dem ersten Januar nach Paris zu kommen, damit sie erst ihre Ruhe wiederfinde. Er hatte nicht den Mut, nach Paris zu gehn, ohne sie dort zu sehn. Anderseits war sie damit einverstanden, mit ihm zu verreisen, aber dafür brauchte er einen richtigen Urlaub, den Rittmeister von Borodino ihm nicht bewilligen wollte.

»Das verdrießt mich wegen unseres Besuches bei meiner Tante, den wir nun aufschieben müssen. Ostern komme ich aber sicher wieder nach Paris.«

»Dann können wir nicht zusammen zu Frau von Guermantes gehen. Ostern werde ich schon in Balbec sein. Aber das macht gar nichts.«

»In Balbec? Aber da sind Sie doch erst im August hingegangen.«

»Ja, aber dies Jahr muß man mich aus Gesundheitsgründen früher hinschicken.«

Seine Hauptsorge war, ich könne ungünstig über seine Geliebte urteilen nach dem, was er mir von ihr erzählt hatte. »So heftig ist sie nur, weil sie zu freimütig ist und zu sehr in ihren Empfindungen aufgeht. Aber sie ist ein wundervolles Geschöpf. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein poetisches Zartgefühl sie hat. Jedes Jahr geht sie zum Totensonntag nach Brügge. Das ist hübsch, nicht wahr? Wenn du sie jemals kennen lernst, wirst du sehn, sie hat etwas Großzügiges ...« Und da er gewisse Ausdrücke literarischer Kreise aus der Umwelt dieser Frau angenommen hatte, fuhr er fort: »Sie hat etwas Siderales, Seherisches, du verstehst, was ich sagen will, der Dichter, der fast ein Priester ist.«

Ich suchte beim Essen die ganze Zeit nach einem Vorwand, der Saint-Loup gestatten würde, seine Tante zu bitten, sie möge mich empfangen, ohne seine Rückkehr nach Paris abzuwarten. Diesen Vorwand lieferte mir mein Wunsch, die Bilder Elstirs wiederzusehn, des großen Malers, den Saint-Loup und ich in Balbec kennengelernt hatten. Der Vorwand enthielt übrigens einige Wahrheit: bisher hatte ich, wenn ich Elstir besuchte, von seiner Malerei Verständnis und Liebe für Dinge nähergebracht bekommen wollen, die mehr waren als diese Kunst, ein richtiges Tauwetter, ein authentischer Provinzplatz, lebendige Frauen am Strande (allenfalls hätte ich von ihm das Porträtieren der Wirklichkeiten verlangt, die ich noch nicht tiefer zu durchdringen verstanden hatte, eines Weißdornpfades zum Beispiel, nicht damit er mir ihre Schönheit festhalte, sondern sie mir entdecke), jetzt aber war ich begierig auf die Originalität und den Reiz dieser Malereien selber, und vor allem wollte ich noch andre Bilder von Elstir sehn.

Übrigens schien mir jedes Bild von ihm, auch das unbedeutendste, etwas ganz anderes zu sein als die Meisterwerke selbst von größeren Malern. Sein Werk war wie ein verschlossenes Königreich mit unüberschreitbaren Grenzen und von unvergleichlicher Materie. Begierig hatte ich die seltenen Zeitschriften gesammelt, in denen Aufsätze über ihn veröffentlicht waren, und daraus erfahren, daß er erst neuerdings Landschaften und Stilleben male; begonnen habe er mit mythologischen Darstellungen (von zwei solchen hatte ich in seinem Atelier die Photographien gesehn), dann hatte er lange Zeit unter dem Eindruck der japanischen Kunst gestanden.

Einige der bezeichnendsten Werke seiner verschiedenen Malweisen befanden sich in der Provinz. Ein Haus etwa in Les Andelys, in dem eine seiner schönsten Landschaften hing, erschien mir so wertvoll, machte mir so viel Reiselust, wie ein Dorf aus der Gegend von Chartres, dessen Kalkstein eines der glorreichen Fenster einfaßt; und zu dem Besitzer dieses Meisterwerks, zu dem Menschen, der da in seinem bäurischen Haus an der Landstraße verborgen und eingeschlossen wie ein Astrologe, einen dieser Spiegel der Welt – denn das ist ein Bild Elstirs – befragte, der es vielleicht für mehrere tausend Franken gekauft hatte, fühlte ich die Sympathie, die uns zum Herzen und Charakter derer zieht, die über etwas Wesentliches ebenso denken wie wir. Drei wichtige Werke meines Lieblingsmalers waren in einer der Zeitschriften als im Besitz der Frau von Guermantes bezeichnet. Es war also doch schließlich ganz aufrichtig von mir, als ich an dem Abend, an dem Saint-Loup mir die Reise seiner Freundin nach Brügge ankündigte, beim Essen vor seinen Freunden ihm wie einen plötzlichen Einfall hinwarf:

»Wenn du erlaubst, komm ich noch ein letztes Mal auf das Thema von der Dame, über die wir gesprochen haben, zurück. Du erinnerst dich doch an Elstir, den Maler, den ich in Balbec kennen lernte.«

»Aber natürlich.«

»Du erinnerst dich meiner Bewunderung für ihn?«

»Gewiß, und auch des Briefes, den wir ihm überbringen ließen.«

»Nun denn, einer der Gründe, nicht der wichtigste, nur einer, der noch hinzukommt, weshalb ich besagte Dame gern kennen lernen möchte, du weißt doch noch, welche ich meine.«

»Ja doch! Was machst du für Parenthesen.«

»Dieser Grund ist, es gibt bei ihr wenigstens ein sehr schönes Bild von Elstir.«

»Ach, das wußte ich nicht.«

»Elstir wird Ostern sicherlich in Balbec sein, Sie wissen, er verbringt jetzt fast das ganze Jahr an der Küste. Sehr gern hätte ich vor meiner Abreise dies Bild gesehn. Ich weiß nicht, ob Sie vertraulich genug mit Ihrer Tante stehn; könnten Sie mich in ihren Augen geschickt ein wenig herausstreichen, damit sie nichts dagegen hat, und sie bitten, mich, da Sie doch um die Zeit nicht dasein werden, ohne Sie das Bild sehn zu lassen?«

»Selbstverständlich, ich verbürge mich für meine Tante, das wird gemacht.«

»Wie ich Sie liebe, Robert!«

»Es ist nett von Ihnen, mich zu lieben, aber noch netter wäre es, mich zu duzen, wie Sie es versprochen haben und wie du schon angefangen hattest.«

»Ich hoffe, was Sie da heimlich bereden, ist nicht Ihre Abreise«, sagte einer von Roberts Freunden zu mir. »Sie müssen wissen, wenn Saint-Loup in Urlaub geht, braucht sich deshalb hier nichts zu ändern, wir sind da! Es wird vielleicht für Sie weniger unterhaltsam sein, aber man wird sich alle Mühe geben, so gut es geht, Sie seine Abwesenheit vergessen zu machen.« Als man nämlich schon glaubte, Roberts Freundin werde allein nach Brügge gehn, wurde bekannt, der Rittmeister von Borodino, welcher bisher dagegen war, habe dem Unteroffizier Saint-Loup einen längeren Urlaub nach Brügge bewilligt. Und das kam so: Dieser Fürst war sehr stolz auf seinen üppigen Haarwuchs und ein eifriger Kunde des ersten Friseurs der Stadt, eines früheren Gehilfen des ehemaligen Friseurs von Napoleon III. Der Rittmeister von Borodino stand sehr gut mit dem Friseur, er war trotz seiner geheimnisvoll vornehmen Manieren einfach mit kleinen Leuten. Nun war der Fürst seit mindestens fünf Jahren bei ihm mit einer Rechnung in Rückstand, welche die vielen Fläschchen »Portugal« und »Eau des Souverains«, die Brennscheren, Rasierbestecks und Streichriemen nicht minder aufschwollen als Shamponieren und Haarschneiden usw. Und der Friseur schätzte Saint-Loup höher, der immer gleich bar zahlte und mehrere Wagen und Reitpferde hatte. Als er nun hörte, Saint-Loup sei verdrossen, weil er nicht mit seiner Geliebten verreisen könne, benutzte er den Augenblick, in dem der Fürst, in ein weißes Chorhemd eingebunden, mit zurückgebogenem Kopf unter seiner drohenden Klinge saß, und führte mit warmen Worten Saint-Loups Sache. Der Bericht über die galanten Abenteuer eines jungen Mannes entlockte dem fürstlichen Rittmeister ein Lächeln bonapartistischer Nachsicht. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß er an seine unbezahlte Rechnung dachte, aber die Empfehlung des Friseurs wirkte so gut auf seine Laune, wie die eines Herzogs sie ihm verdarb. Noch hatte er das Kinn voll Seife, und schon war der Urlaub versprochen und wurde am selben Abend unterschrieben. Der Friseur, der sonst immer sehr großsprecherisch war, und um sich rühmen zu können, mit außerordentlichem Talent zum Lügen, gänzlich erfundene Ruhmestitel sich anmaßte, posaunte dies eine Mal, da er Saint-Loup erwiesenermaßen einen ausgezeichneten Dienst geleistet hatte, seine Tat nicht aus; ja, als müsse die Eitelkeit immer lügen und, wo sich ihr keine Gelegenheit dazu biete, der Bescheidenheit Platz machen – er sprach später nie zu Robert von dem, was er für ihn getan hatte.

Alle sagten mir, wenn Robert nicht da sei, stünden mir, solange ich in Doncières bliebe oder wann immer ich wieder herkäme, ihre Wagen, Pferde, Häuser und freien Stunden zur Verfügung, und deutlich fühlte ich, daß diese jungen Leute von ganzem Herzen ihren Überfluß, ihre Jugend, ihre Lebenskraft in den Dienst meiner Schwäche stellten.

Und nachdem sie darauf bestanden hatten, daß ich bleiben sollte, fragten sie noch: »Können Sie denn nicht jedes Jahr wieder herkommen? Sie sehn doch, daß unser kleiner Betrieb Ihnen gefällt! Und dabei interessieren Sie sich auch noch für alles, was im Regiment passiert, wie ein alter Kavallerist.«

Ich bat sie nämlich immer wieder eifrig, die verschiedenen Offiziere, deren Namen ich wußte, nach dem Grade der Bewunderung, die sie nach ihrer Meinung verdienten, zu klassifizieren, wie ich es ehedem auf dem Gymnasium meine Kameraden mit den Schauspielern des Theâtre-Français hatte tun lassen. Wenn dann statt einen der Generale, die ich immer am häufigsten nennen hörte, Gallifet oder Négrier anzuführen, einer von Saint-Loups Freunden sagte: »Aber Négrier ist einer der mittelmäßigsten Offiziere« und einen neuen, unverbrauchten und schmackhaften Namen, Pau oder Geslin de Bourgogne hinwarf, hatte ich dieselbe freudige Überraschung wie einst, wenn die abgegriffenen Namen eines Thiron oder Febvre durch das plötzliche Auftauchen des ungewohnten Namens Amaury verdrängt wurden. »Sogar besser als Négrier? Aber inwiefern? Geben Sie mir ein Beispiel.« Ich hätte gewollt, daß selbst zwischen den untergeordneten Offizieren des Regiments tiefgehende Unterschiede beständen, und hoffte, mit den Gründen für solche Unterscheidungen das Wesen dessen, was die militärische Überlegenheit ausmachte, zu erfassen. Einer, von dem dergleichen zu hören mich mit am meisten interessiert hatte, weil ich ihn am häufigsten sah, war der Fürst von Borodino. Aber weder Saint-Loup noch seine Freunde liebten, so sehr sie dem stattlichen Offizier, der für tadellose Haltung seiner Schwadron sorgte, Gerechtigkeit widerfahren ließen, den Menschen. Sie sprachen zwar nicht von ihm im selben Ton wie von gewissen Offizieren, die aus dem Mannschaftsstande hervorgegangen und Freimaurer waren, nicht mit den andern verkehrten und neben ihnen immer die finstere Scheu von Offiziersstellvertretern bewahrten; doch schienen sie Herrn von Borodino auch nicht den andern adligen Offizieren beizuzählen. Er war allerdings von diesen auch sehr verschieden in seinem Benehmen, sogar Saint-Loup gegenüber. Die andern machten sichs zu nutze, daß Robert nur Unteroffizier war und somit seine mächtige Familie sich glücklich schätzen konnte, daß er von Vorgesetzten eingeladen wurde, auf die sie sonst herabgeblickt hätte, und sie versäumten keine Gelegenheit, ihn an ihrem Tische zu empfangen, wenn irgendeine große Kanone zugegen war, die einem jungen Unteroffizier nützlich sein konnte. Der Rittmeister von Borodino hatte als einziger nur rein dienstliche Beziehungen zu Robert, die übrigens ausgezeichnet waren. Das hing so zusammen: Der Großvater des Fürsten war vom Kaiser zum Marschall und Fürst-Herzog gemacht worden und hatte sich dann durch seine Heirat mit der kaiserlichen Familie verschwägert; der Vater hatte eine Kusine von Napoleon III. geheiratet und war nach dem Staatsstreich zweimal Minister gewesen, und dennoch fühlte der Fürst, daß er für Saint-Loup und den Kreis der Guermantes nichts Besonderes war; und andererseits waren diese, da er sich nicht auf ihren Standpunkt stellte, in seinen Augen nicht viel. Er vermutete, daß er für Saint-Loup – der mit den Hohenzollern verschwägert war – kein richtiger Adliger, sondern der Enkel eines Bauern war, und betrachtete dafür Saint-Loup als den Sohn eines Mannes, dessen Grafschaft vom Kaiser bestätigt worden, der sich bei ihm um eine Präfektur, dann einen andern Posten bemüht hatte, der tief unter dem Range Seiner Hoheit des Fürsten von Borodino stand, eines Staatsministers, an den man »Monseigneur« schrieb und der des Herrschers Neffe war.

Vielleicht sogar mehr als Neffe. Die erste Fürstin Borodino soll eine Neigung zu Napoleon I. gehabt haben – sie begleitete ihn auf die Insel Elba – die zweite soll Napoleon III. nahe gestanden sein. Von Napoleon I. fand man in dem klaren Gesicht des Hauptmanns, wenn nicht die natürlichen Züge, so doch immerhin die eingelernte Majestät der Maske wieder; vor allem aber hatte der Offizier in dem schwermütig-gütigen Blick und im herunterhängenden Schnurrbart etwas, das an Napoleon III. erinnerte; und wie auffallend diese Ähnlichkeit war, geht aus dem Verhalten Bismarcks hervor, vor den der Fürst nach Sedan geführt wurde. Nachdem er die Bitte, sich dem Kaiser anschließen zu dürfen, ihm erst wie allen andern abgeschlagen hatte, traf sein Blick zufällig den jungen Mann, der sich anschickte wegzugehn; Bismarck war plötzlich überrascht von der Ähnlichkeit, besann sich eines bessern, rief ihn zurück und erteilte ihm die Erlaubnis.

Daß Fürst Borodino weder Saint-Loup noch den andern Angehörigen des Faubourg Saint-Germain im Regiment entgegenkam, während er zwei bürgerliche Leutnants von angenehmem Wesen häufig einlud, hatte seinen Grund: Von seiner kaisernahen Höhe sah er auf alle herab und machte zwischen all diesen Untergebenen nur den Unterschied, daß die einen wußten, sie waren Untergebene – mit denen verkehrte er gern, zumal er bei all seiner majestätischen Würde einfach und leutselig war – während die andern Untergebene waren, die sich für höherstehend hielten, und das ließ er nicht gelten. Während also alle andern Offiziere des Regiments sich um Saint-Loup bemühten, beschränkte sich Fürst Borodino, an den er vom Marschall von X... empfohlen war, darauf, im Dienst, in welchem Saint-Loup übrigens mustergültig war, verbindlich zu ihm zu sein; aber nie empfing er ihn bei sich zu Hause außer bei einer Gelegenheit, bei welcher er durch besondere Umstände sozusagen gezwungen war, ihn einzuladen, und da sich diese während meines Aufenthaltes in Doncières bot, bat er ihn, mich mitzubringen. An diesem Abend, da ich Saint-Loup am Tische seines Hauptmanns sah, konnte ich bis in alle Kleinigkeiten des Benehmens und der Eleganz den Unterschied zwischen den beiden Aristokratien, dem alten Adel und dem von Kaisers Gnaden, beobachten. Saint-Loup entstammte einer Kaste, deren Fehler, so sehr sein Verstand sie mißbilligte, in sein Blut übergegangen waren; diese Kaste übt seit fast einem Jahrhundert keine wirkliche Autorität mehr aus und sieht daher in der begönnernden Liebenswürdigkeit gegen die Bürger, die nun einmal zu ihrer Erziehung gehört, nur eine Übung, die man wie Fechten und Reiten ohne ernsten Zweck zum Vergnügen betreibt; dabei verachtet sie den Bürger hinreichend, um zu glauben, ihre Freundlichkeit schmeichle ihm und ihre Zwanglosigkeit ehre ihn. Saint-Loup gab jedem Bürgerlichen, den man ihm vorstellte, auch wenn er seinen Namen gar nicht verstanden hatte, freundlich die Hand, plauderte mit ihm (wobei er die Beine immer wieder abwechselnd übereinander schlug, sich zurücklehnte und in nachlässiger Haltung den Fuß in die Hand nahm) und redete ihn »Mein Lieber« an. Fürst Borodino dagegen gehörte zu einem Adel, dessen Titel noch ihre Bedeutung bewahrten, da sie sich auf reiche Majorate, den Lohn glorreicher Dienste bezogen und an hohe Amtsstellungen gemahnten, in denen man über viel Menschen gebietet und die Menschen kennen muß; und so betonte er – nicht gerade deutlich und mit persönlichem, klaren Bewußtsein, aber doch rein körperlich in Haltung und Gebärde – seinen Rang, den er als ein Vorrecht ansah; an Bürgerliche, die Saint-Loup auf die Schulter geklopft oder am Arm genommen hätte, wandte er sich mit majestätischer Verbindlichkeit, in der eine erhabene Zurückhaltung die heitere Gutmütigkeit milderte, die ihm natürlich war; er sprach zu ihnen in einem zugleich aufrichtig wohlwollenden und gewollt würdevollen Ton. Das war begreiflich: er stand eben den großen Gesandtschaften und dem Hof, an dem sein Vater hohe Ämter bekleidet hatte, nicht so fern – und an diesem Hof wäre Saint-Loups Benehmen, der Ellbogen auf dem Tisch, der Fuß in der Hand, übel vermerkt worden; vor allem aber sah er nicht so verächtlich auf die Bürgerschaft herab, sie war doch das große Sammelbecken, aus dem der erste Kaiser seine Marschälle, seinen Adel genommen, in dem der zweite einen Fould, einen Rouher gefunden hatte.

Dieser richtige Sohn oder Enkel eines Kaisers hatte nun weiter nichts als eine Schwadron zu befehligen. Was seinen Vater und Großvater beschäftigte, konnte sich bei Herrn von Borodino keinem Gegenstand zuwenden und daher nicht wirklich in seinen Gedanken fortleben. Wie aber der Geist eines Künstlers noch Jahre, nachdem er erloschen, an der Status, die er gemeißelt hat, weiterformt – so hatten diese Gedanken in ihm Gestalt angenommen, Leib und Fleisch, und spiegelten sich in seinem Gesicht. Mit der Lebhaftigkeit des ersten Kaisers in der Stimme wies er einen Unteroffizier zurecht, mit der nachdenklichen Schwermut des zweiten blies er den Rauch seiner Zigarette. Kam er in Zivil durch die Straßen von Doncières, dann drang unter dem runden steifen Hut ein gewisser Glanz aus seinen Augen hervor und ließ rings um den Hauptmann ein fürstliches Inkognito schimmern; man zitterte, wenn er in das Bureau des Quartierwachtmeisters trat, gefolgt vom Adjutanten und Furier wie von Berthier und Masséna. Wählte er den Stoff zu einer Hose für seine Schwadron aus, richtete er auf den Kammerunteroffizier einen Blick, der Talleyrand entlarven und Alexander hätte täuschen können; und bisweilen blieb er, während er einen Sattelappell abhielt, stehn, seine wunderbaren blauen Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, er zwirbelte seinen Schnurrbart und sah aus, als plane er ein neues Preußen und Italien. Aber gleich wurde er dann aus dem dritten wieder der erste Napoleon, tadelte, daß das Sattelzeug nicht geputzt war, und wollte die Mannschaftsküche kosten. Und zu Hause in seinem Privatleben ließ er den Frauen von bürgerlichen Offizieren, vorausgesetzt, daß es nicht Freimaurer waren, auf königsblauem Sèvresgeschirr auftragen, das eines Botschafters würdig gewesen wäre (Napoleon hatte es seinem Vater geschenkt und in dem Kleinstadthaus an der Promenade, das er bewohnte, wirkte es besonders kostbar wie das seltene Porzellan, das Reisende mit besonderm Vergnügen in dem ländlichen Schrank einer alten Burg, die jetzt als blühende und gedeihende Meierei bewirtschaftet wird, bewundern), aber er konnte ihnen mit noch andern Gaben des Kaisers aufwarten: mit dem vornehmen und bezaubernden Benehmen, das auch auf einem repräsentativen Posten wunderbar gewirkt hätte, wäre man als »Geborener« nicht meist für das ganze Leben dem ungerechtesten Scherbengericht ausgeliefert, – mit ungezwungenen Gebärden, Güte und Huld und der geheimnisvollen Reliquie, die leuchtend in seinem Blick weiterlebte und unter ihrem ebenfalls königsblauen Email glorreiche Bilder barg. Von des Fürsten bürgerlichen Beziehungen in Doncières ist mitzuteilen, daß der Oberstleutnant vorzüglich Klavier spielte und die Frau des Stabsarztes sang, als habe sie einen ersten Preis am Konservatorium bekommen. Sie und ihr Mann, sowie der Oberstleutnant mit seiner Frau speisten allwöchentlich bei Herrn von Borodino. Sicher schmeichelte ihnen das; sie wußten, wenn der Fürst nach Paris in Urlaub ging, speiste er bei Frau von Pourtalès und den Murat usw. Aber sie sagten sich: »Es ist ein einfacher Rittmeister, er ist nur allzu glücklich, daß wir zu ihm kommen. Übrigens ist er wirklich ein guter Freund.« Als jedoch Herr von Borodino, der schon seit langem Schritte tat, um sich Paris zu nähern, nach Beauveais versetzt wurde und fortzog, vergaß er die beiden musikalischen Paare so vollständig wie das Theater von Doncières und das kleine Restaurant, aus dem er häufig sein Frühstück hatte kommen lassen, und zu ihrer großen Entrüstung bekamen weder der Oberstleutnant noch der Stabsarzt, die so oft bei ihm gespeist hatten, in ihrem ganzen Leben jemals etwas von ihm zu hören.

 

Eines Morgens gestand mir Saint-Loup, er habe an meine Großmutter geschrieben, um ihr von mir zu berichten und sie, da zwischen Doncières und Paris eine Telephonverbindung in Betrieb war, auf den Gedanken zu bringen, mit mir zu sprechen. Kurz, sie würde mich wohl noch am gleichen Tage anrufen; er riet mir, gegen dreiviertel vier Uhr auf der Post zu sein. Damals war das Telephon noch kein so üblicher Gebrauchsgegenstand wie heutzutage. Aber nur allzuschnell raubt Gewohnheit den ehrwürdigen Erscheinungsformen, mit denen wir in Berührung stehn, ihr Geheimnis: als ich nicht unmittelbar meine Verbindung bekam, war mein einziger Gedanke: das ist doch recht langwierig und unbequem, und fast hatte ich die Absicht, mich zu beschweren. Wie heute uns allen, war es mir nicht schnell genug in seinen plötzlichen Wechselwirkungen, das bewundernswerte Zauberwerk, dem wenige Augenblicke genügen, um vor uns unsichtbar aber gegenwärtig das Wesen erscheinen zu lassen, mit dem wir sprechen wollen. Es bleibt an seinem Tisch in der Stadt, die es bewohnt (im Falle meiner Großmutter Paris), unter einem Himmel anders als unserer, bei einem Wetter, das auch nicht zu sein braucht wie es bei uns ist, mitten in Umständen und Sorgen, die wir nicht kennen und von denen es gleich zu uns sprechen wird, dies Wesen, das nun mit einem Schlage hunderte von Meilen weit nebst der ganzen Atmosphäre von der es weiter umgeben bleibt, dicht an unser Ohr versetzt wird, sobald unsere Laune das so angeordnet hat. Wir gleichen dem Manne im Märchen, dem eine Zauberin auf seinen Wunsch in übernatürlicher Helle seine Großmutter oder seine Braut erscheinen läßt, wie sie gerade in einem Buch blättert, Tränen vergießt oder Blumen pflückt, ganz nah vor seinen Augen und doch weit entfernt, eben dort, wo sie sich tatsächlich befindet. Und damit dies Wunder sich vollziehe, haben wir nur die Lippen der magischen Scheibe zu nähern und – manchmal ein bißchen lange, das gebe ich zu – nach den wachsamen klugen Jungfrauen zu rufen, deren Stimme wir täglich hören, ohne jemals ihr Gesicht zu sehn; sie sind unsere Schutzengel in der finstern abgründigen Welt, deren Pforten sie eifrig bewachen, sind die Allmächtigen, die Abwesende neben uns aufstehn lassen, ohne daß es uns gewährt ist, sie zu erblicken; Danaiden des Unsichtbaren, leeren, füllen und reichen sie einander ohne Unterlaß die Urnen der Töne, höhnische Furien, rufen sie, wenn wir gerade einer Freundin ein Geständnis flüstern, das niemand hören soll, grausam uns zu: »Hier Amt ...« Sie, die immer gereizten Dienerinnen des Mysteriums, die argwöhnischen Priesterinnen des Unsichtbaren, die Telephonfräulein!

Und sobald unser Anruf erklungen ist, – mitten in der bilderreichen Nacht, die sich nur unsern Ohren auftut, ein Geräusch leise – abstrakt – das Geräusch der unterdrückten Entfernung – und die Stimme des lieben Wesens kommt zu uns.

Es ist da, seine Stimme spricht zu uns, ist zugegen. Aber wie fern sie ist! Oft habe ich sie nicht ohne Beklemmung hören können, und bei dem Gedanken erst nach langen Reisestunden kann ich sie sehn, sie, deren Stimme so nah an meinem Ohr ist, fühlte ich deutlicher, wie enttäuschend die scheinbar süßeste Nähe ist, wie weit wir sein können von den geliebten Personen gerade im Augenblick, da wir meinen, wir brauchten nur die Hand auszustrecken, um sie festzuhalten. Wirklich gegenwärtig, diese nahe Stimme, und doch tatsächlich abgetrennt: so wird eine ewige Trennung vorweggenommen! Oft, wenn ich so horchte, ohne die zu sehn, die von so fernher zu mir sprach, schien es mir, als schrie diese Stimme aus Tiefen, von denen man nicht wieder heraufsteigt, und ich erfuhr die Angst, die eines Tages mich umklammern würde, wenn eine Stimme so wiederkäme (allein, nicht mehr an einen Körper gebunden, den ich nie wiedersehn sollte) und flüsterte mir Worte ins Ohr, die ich hätte küssen mögen auf ihrem Wege über für immer in Staub zerfallene Lippen.

An jenem Tage in Doncières fand leider das Wunder nicht statt. Als ich in die Telephonzelle kam, hatte meine Großmutter mich bereits angerufen; ich trat ein, die Leitung war besetzt, es sprach jemand, der offenbar nicht wußte, daß niemand da war, ihm zu antworten, denn als ich den Hörer an mich nahm, fing dies Stück Holz zu reden an wie Hanswurst; ich brachte es wie im Kasperletheater zum Schweigen, indem ich es wieder an seinen Platz tat, aber wie Hanswurst begann es von neuem sein Geschwätz, sobald ich es wieder an mich nahm. Schließlich griff ich zum letzten verzweifelten Mittel, hing den Hörer endgültig an und erstickte so die Zuckungen dieses tönenden Stummels, der bis zur letzten Sekunde plapperte, dann suchte ich den Beamten auf, der mich einen Augenblick warten hieß. Nun sprach ich, und nach einem Augenblick der Stille hörte ich plötzlich die Stimme, die ich mit Unrecht gut zu kennen glaubte. Bisher, so oft meine Großmutter zu mir sprach, hatte ich, was sie mir sagte, in der offenen Partitur ihres Gesichtes, in dem die Augen viel Platz einnahmen, verfolgt, ihre Stimme selbst aber hörte ich heute zum erstenmal. Und da diese Stimme von dem Augenblick an, da sie ein Ganzes war, in ihren Verhältnissen mir verändert schien und ganz allein und ohne die Begleitung der Gesichtszüge zu mir kam, entdeckte ich, wie über alle Maßen sanft sie war; so sanft war sie vielleicht auch noch nie gewesen, denn heut fühlte meine Großmutter mich fern und unglücklich und glaubte ihre zärtliche Liebe ungehemmt hinströmen lassen zu können, während sie sonst aus erzieherischen »Grundsätzen« sie im Zaum hielt und verbarg. Sanft war sie, aber auch sehr traurig, zunächst wegen ihrer fast abgeklärten Sanftheit selbst: so ohne jede Härte, ohne jedes Element des Widerstandes, ohne alle Selbstsucht mögen wenig menschliche Stimmen jemals gewesen sein; schwach vor lauter Zartheit, schien sie jeden Augenblick in Gefahr zu zerbrechen, zu verhauchen in einen reinen Tränenstrom. Und dann: ich hatte sie allein bei mir, sah sie ohne die Maske des Gesichtes und bemerkte in ihr zum erstenmal all den Kummer, der im Laufe des Lebens Sprünge in sie geschlagen hatte.

Was so neu und herzzerreißend auf mich wirkte, war das nur die Stimme, weil sie so allein war? Nein: diese Einsamkeit der Stimme war wie ein Symbol, sie beschwor eine andere Einsamkeit herauf, aus der sie unvermittelt hervorging, die Einsamkeit meiner Großmutter, die zum erstenmal von mir getrennt war. Die Weisungen und Verbote, die sie mir im gewöhnlichen Leben alle Augenblicke erteilt hatte, der Verdruß, gehorchen zu müssen, und das Fieber des Trotzes, die sonst meiner Liebe zu ihr die Waage gehalten hatten, das alles war jetzt unterdrückt und konnte es sogar auch in Zukunft sein (denn meine Großmutter verlangte nicht mehr, mich bei sich und unter ihrem Gesetz zu haben, sie wollte mir gerade die Hoffnung aussprechen, ich könne ganz in Doncières bleiben oder wenigstens meinen Aufenthalt solange wie möglich ausdehnen, was für meine Gesundheit und Arbeit nur gut sein konnte); und so hielt ich denn hier unter der kleinen Glocke: nah an meinem Ohr, frei von allem Gegendruck, der sonst sie im Gleichgewicht hielt, unser beider Liebe, die mich nun unwiderstehlich hinriß. Daß meine Großmutter mich bleiben hieß, gab mir ein qualvoll tolles Bedürfnis, zu ihr zurückzukehren. Die Freiheit, die sie von nun an mir ließ – und ich hätte nie vermutet, daß sie es könne – schien mir plötzlich so traurig wie es etwa meine Freiheit nach ihrem Tode sein würde (dann würde ich sie doch noch lieben und sie hätte für immer auf mich verzichtet). »Großmutter, Großmutter!« rief ich und hätte sie küssen mögen, aber in meinem Bereich war nur dies Phantom einer Stimme, so unberührbar wie das, welches vielleicht mich besuchen kommen würde, wenn meine Großmutter tot wäre. »Sprich zu mir«; aber da geschah es, daß sie mich noch mehr allein ließ, plötzlich konnte ich auch ihre Stimme nicht mehr vernehmen. Meine Großmutter hörte mich nicht mehr, war nicht mehr mit mir in Verbindung, wir hatten aufgehört, einander gegenüber, einander hörbar zu sein; ich fuhr fort durch die Nacht tastend, nach ihr zu fragen und fühlte, daß auch von ihr Anrufe in die Irre gehn mochten. In mir pochte dieselbe Angst wie damals in ferner Vergangenheit, als ich, ein kleines Kind, in der Menschenmenge sie verloren hatte; wobei es weniger beängstigend war, sie nicht wiederzufinden als zu fühlen, sie sucht mich, zu fühlen: sie sagt sich, daß ich sie suche. So angstvoll würde mir wohl ums Herz sein an dem Tage, da man zu denen spricht, die nicht mehr antworten können, und man möchte ihnen doch wenigstens zu verstehn geben, was alles man ihnen nicht gesagt hat, und versichern, daß man nicht leide. Mir kam es vor, als wäre sie, die ich zwischen den Schatten hatte verloren gehn lassen, selbst schon ein geliebter Schatten, und allein vor dem Apparate rief ich immer wieder umsonst: »Großmutter, Großmutter«, wie Orpheus allein geblieben den Namen der Toten wiederholt. Ich entschloß mich, die Post zu verlassen und Robert in seinem Restaurant aufzusuchen, um ihm zu sagen, ich werde vielleicht ein Telegramm bekommen, das mich zur Heimreise zwingen würde, und wolle auf alle Fälle wissen, wann die Züge gingen. Allein bevor ich diesen Entschluß faßte, wollte ich gern ein letztes Mal die Töchter der Nacht, die Botinnen des Wortes, die Gottheiten ohne Gesicht anrufen; aber die launischen Hüterinnen wollten nicht mehr die Wunderpforten öffnen, oder sie konnten es wohl nicht mehr; umsonst mochten sie unablässig nach ihrem Brauch den ehrwürdigen Erfinder der Buchdruckerkunst und den jungen Fürsten, Automobilisten und Liebhaber impressionistischer Malerei (der ein Neffe des Rittmeisters von Borodino war) anrufen, »Gutenberg« und »Wagram« ließen ihr Flehen ohne Antwort, ich fühlte, das Unsichtbare, das wir beschworen, würde taub bleiben, und ging.

Als ich zu Robert und seinen Freunden kam, gestand ich ihnen nicht, daß mein Herz nicht mehr bei ihnen und meine Abreise schon unwiderruflich entschieden war. Er schien mir zu glauben, was ich sagte, wie ich aber später erfahren habe, begriff er von der ersten Minute an, daß ich mich nur unsicher stellte und morgen nicht mehr da sein werde. Während nun seine Freunde ihr Essen kalt werden ließen und mit ihm im Fahrplan den Zug suchten, mit dem ich nach Paris zurückfahren könnte, hörte man in kalter, ausgestirnter Nacht das Pfeifen der Lokomotiven; aber jetzt fühlte ich nicht mehr den Frieden, den mir hier so manchen Abend die Freundschaft der einen und das ferne Vorübergehn der andern gegeben hatten. In anderer Form jedoch erfüllten sie an diesem Abend dieselbe Bestimmung: Die Abreise wurde mir leichter, ich brauchte ja nicht allein an sie zu denken; um sie zu bewerkstelligen, fühlte ich die normalere, gesundere Tatkraft meiner energischen Freunde, Saint-Loups Kameraden, und jener andern starken Wesen, der Züge, angewandt, deren Kommen und Gehn morgens und abends von und nach Paris das allzu Kompakte und Unerträgliche meiner langen Trennung von meiner Großmutter in lauter tägliche Möglichkeiten, zu ihr zurückzukehren, zerkleinerte.

»Ich zweifle nicht an deinen Worten, abreisen willst du noch nicht«, sagte Saint-Loup lachend zu mir, »aber tu, als ob du abreisest, und komm morgen Vormittag frühzeitig Abschied nehmen, sonst lauf ich Gefahr, dich nicht wiederzusehn; zum Frühstück bin ich in der Stadt, der Rittmeister hat mir Erlaubnis gegeben; ich muß aber um zwei Uhr wieder in der Kaserne sein, wir sind dann den ganzen Tag auf dem Marsch. Sicher wird mich der Herr, bei dem ich drei Kilometer von hier frühstücke, rechtzeitig heimbringen, damit ich um zwei Uhr wieder in der Kaserne bin.«

Kaum hatte er das gesagt, da wurde aus dem Hotel nach mir geschickt, ich war von der Post ans Telephon gerufen worden. Ich lief hin, sie mußte gleich schließen. Das Wort: »interurban« kam immer wieder in den Antworten vor, die mir die Angestellten gaben. Ich war in äußerster Angst: der Anruf mußte von meiner Großmutter sein. Gleich würde das Amt schließen. Endlich hatte ich die Verbindung. »Bist dus, Großmutter?« Eine Frauenstimme mit stark englischem Akzent antwortete: »Ja, aber ich erkenne Ihre Stimme nicht.« Ich erkannte ebensowenig die Stimme, die zu mir sprach, und dann sagte meine Großmutter doch nicht »Sie« zu mir. Schließlich klärte sich alles auf. Der junge Mann, den seine Großmutter ans Telephon hatte rufen lassen, hieß fast ebenso wie ich und wohnte in einem Nebengebäude des Hotels. Da der Anruf am selben Tage kam, an dem ich meiner Großmutter hatte telephonieren wollen, hatte ich nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß sie es war, die angerufen hatte. Durch dies einfache Zusammentreffen der Umstände begingen Post und Hotel einen doppelten Irrtum.

Am nächsten Vormittag verspätete ich mich und traf Saint-Loup nicht mehr, er war schon fort zum Frühstück auf das Schloß in der Umgegend. Gegen halb zwei Uhr machte ich mich auf den Weg, um auf gut Glück in die Kaserne zu gehn und zu seiner Ankunft dazusein. Als ich die eine der Hauptstraßen, die dahin führen, überschritt, sah ich in meiner Richtung ein Tilbury kommen, das mich im Vorbeifahren auszuweichen zwang. Ein Unteroffizier kutschierte, er trug ein Monokel, es war Saint-Loup. Neben ihm saß der Freund, bei dem er gefrühstückt hatte: ich war ihm schon einmal, in dem Hotel, wo Robert speiste, begegnet. Ich wagte nicht, Robert zu rufen, weil er nicht allein war, wollte aber, daß er anhalte und mich mitnehme; um ihn also aufmerksam zu machen, grüßte ich besonders tief; das ließ sich ja durch das Beisein eines Unbekannten erklären. Ich wußte, Robert war kurzsichtig, hatte aber doch gemeint, wenn er mich nur sehe, werde er mich auch unfehlbar erkennen; wohl sah er den Gruß und erwiderte ihn, hielt aber nicht an. Eiligst fuhr er weiter, ohne auch nur zu lächeln, ohne daß ein Muskel in seinem Gesicht sich bewegte, und begnügte sich damit, eine Zeitlang die Hand am Rand des Käppis zu halten, als beantworte er den Gruß eines Soldaten, den er nicht erkannt hatte ... Ich lief bis zur Kaserne, es war noch weit; als ich ankam, nahm das Regiment im Hof Aufstellung, man ließ mich dort nicht bleiben; ich war trostlos, daß ich Saint-Loup nicht hatte Lebewohl sagen können, ich ging in sein Zimmer hinauf, da war er nicht mehr; ich konnte mich bei einer Gruppe von kranken Soldaten und Rekruten, welche den Felddienst nicht mitmachen brauchten, erkundigen; darunter war der junge Student und ein gedienter Mann, die sahen der Aufstellung des Regimentes zu.

»Haben Sie nicht den Unteroffizier Saint-Loup gesehn?« fragte ich.

»Er ist schon hinuntergegangen«, sagte der Gediente.

»Ich habe ihn nicht gesehn,« sagte der Student.

»Du hast ihn nicht gesehn«, sagte der Gediente, ohne sich weiter um mich zu kümmern. »Du hast unsern famosen Saint-Loup nicht gesehn, mit seiner neuen chiken Attila! Wenn das der Häuptling sieht, Offizierstuch!«

»Mensch, red doch nicht, Offizierstuch!« sagte der junge Student, der revierkrank und dienstfrei war. Er versuchte, etwas unsicher, mit dem Gedienten keck zu reden. »Dies Offizierstuch ist solches Tuch wie meins hier.«

»Monsieur?« fragte zornig der Gediente, der von der Attila gesprochen hatte.

Er war entrüstet, daß der junge Student bezweifelte, die Attila sei aus Offizierstuch, aber als Bretone aus einem Dorf, das Penguern-Stereden heißt, hatte er das Französische so schwer gelernt, als wäre es englisch oder deutsch, und wenn ihn eine Erregung überkam, sagte er immer zwei- oder dreimal »Monsieur«, um sich Zeit zu nehmen und seine Worte zu finden; nach diesen Vorbereitungen überließ er sich dann seiner Beredsamkeit, wobei er sich damit begnügte, einige Worte, die er besser kannte als die andern, zu wiederholen, und zwar ohne Hast mit Vorsichtsmaßregeln gegen die ungewohnten Schwierigkeiten der Aussprache.

»Ach? Solches Tuch wie deins hier«, begann er, und seine Worte wurden immer zorniger und immer langsamer. »Solches Tuch wie deins hier, wenn ich dir sage, es ist Offizierstuch, wenn ichs dir sage, wo ichs dir sage, weiß ichs doch, meine ich.«

»Na also, gut«, sagte der junge Student, er ließ sich von den Beweisgründen des andern überzeugen. »Brauchst uns deshalb keine langen Reden zu halten.«

»Da schau, grad kommt der Häuptling vorbei. Sieh dir doch den Saint-Loup an; wie der loslegt! Was der für einen Kopf aufhat! Das soll ein Unteroffizier sein? Und das Monokel. Der verstehts!«

Ich bat die Soldaten, die sich durch meine Gegenwart nicht stören ließen, mich aus dem Fenster sehn zu lassen. Sie hinderten mich nicht, rückten aber auch nicht zur Seite. Ich sah den Rittmeister von Borodino majestätisch im Trab vorbeikommen. Er sah aus, als wähne er sich in der Schlacht von Austerlitz. Spaziergänger hatten sich vor dem Gitter der Kaserne angesammelt, um das Regiment ausrücken zu sehn. Wie er da aufrecht zu Pferde saß, mit etwas fettem Gesicht, die Backen von kaiserlicher Fülle, und leuchtenden Auges, mochte der Fürst das Spielwerk von Halluzinationen sein, wie ich es jedes Mal war, wenn die Trambahn vorbeigekommen war und die Stille, die ihrem Rollen folgte, mir schrill durchzogen schien von undeutlich bebender Musik. Ich war untröstlich, mich von Saint-Loup nicht verabschiedet zu haben, aber ich reiste doch ab; denn meine einzige Sorge war, wieder zu meiner Großmutter zurückzukommen: bis auf diesen Tag hatte ich hier in der kleinen Stadt mir meine Großmutter, wenn ich nachdachte, was sie wohl so allein tue, vorgestellt, wie sie mit mir zusammen war und mich dabei weggelassen, aber nie damit gerechnet, wie es auf sie wirken mußte, daß ich nicht bei ihr war; jetzt mußte ich mich schnell in ihre Arme werfen, um das bisher ungeahnte, jetzt plötzlich durch ihre Stimme beschworene Phantom einer wirklich von mir getrennten Großmutter loszuwerden, einer Großmutter, die sich darein ergeben hatte, die etwas, was ich noch nicht bei ihr kannte, besaß, ein Alter, die gerade einen Brief von mir bekam in demselben leeren Zimmer, in dem ich mir, als ich nach Balbec abgereist war, schon einmal meine Mutter vorgestellt hatte.

Und gerade dies Phantom sollte ich zu sehn bekommen, als ich nun wirklich in den Salon trat, ohne daß meine Großmutter von meiner Rückkehr benachrichtigt war. Da saß sie und las. Ich war da, oder vielmehr, ich war noch gar nicht da, denn sie wußte es nicht. Wie eine Frau, die man bei einer Handarbeit überrascht, welche sie verbergen wird, wenn man eintritt, saß sie Gedanken hingegeben, die sie nie vor mir sich hatte anmerken lassen. Von mir war – ein Vorrecht, das nicht lange währt, das uns für den kurzen Augenblick der Rückkehr ermöglicht, mit einemmal unserer eigenen Abwesenheit beizuwohnen – nur der Zeuge da, der Beobachter in Hut und Mantel, der Fremde, der nicht zum Haus gehört, der Photograph, der von Orten, welche er nicht wiedersehn wird, eine Aufnahme machen kommt. Was in diesem Moment, als ich meine Großmutter sah, in meinen Augen mechanisch stattfand, war wirklich eine photographische Aufnahme! Wir sehn die geliebten Wesen immer nur in dem belebten System, in der beständigen Bewegung unserer unablässigen Zuneigung, und bevor die die Bilder, die ein Gesicht uns bietet, bis zu uns kommen läßt, nimmt sie sie in ihren Wirbel auf, wirft sie der Vorstellung zu, die wir uns von jeher von ihnen machen, läßt sie mit dieser Vorstellung verwachsen, eins werden. Da Stirn und Wangen meiner Großmutter mir alles Zarteste und Dauerndste ihres Geistes verkörperten, da jeder gewohnte Blick eine Totenbeschwörung und jedes Gesicht, das man liebt, Spiegel der Vergangenheit ist, wie sollte ich nicht das, was an ihr schlaff und anders werden mochte, übersehn! Vernachlässigt unser gedankenbelastetes Auge doch selbst bei den gleichgültigsten Schauspielen des Lebens – ganz wie die klassische Tragödie es tut – alle Bilder, die nicht zur Handlung beitragen und behält nur die, welche das Ziel der Handlung begreiflich machen. Sieht aber statt unseres Auges ein rein materielles Objektiv, eine photographische Platte, dann wird zum Beispiel von dem Akademiker, der aus dem Hof des Instituts tritt und einem Fiaker winken will, nur sein schwankender Gang sichtbar, seine Vorsichtsmaßregeln, um nicht rückwärts zu fallen, die Parabel seines Vorstürzens, als wäre er betrunken oder der Boden mit Glatteis bedeckt. Ebenso ist es, wenn eine grausame List des Zufalls unser bewußtes und frommes Gefühl hindert, rechtzeitig herbeizueilen, um unsern Blicken zu verbergen, was sie nie betrachten sollen, wenn sie ihm zuvorkommen, zuerst am Platze und sich selbst überlassen sind, mechanisch arbeiten wie ein Filmstreifen und statt des geliebten Wesens, das längst nicht mehr existiert, dessen Tod unser Gefühl uns aber nicht enthüllen will, das neue Wesen uns zeigen, welches es hundertmal am Tage mit holder trügerischer Ähnlichkeit bekleidet hat. So erging es mir denn wie einem Kranken, der sich lange nicht mehr gesehn und jederzeit das Gesicht, das er nicht sah, nach dem Idealbilde, das er vom eigenen Ich in sich trägt, gestaltet hat: er schreckt zurück, wenn er im Spiegel mitten aus einem dürren öden Antlitz schräg und rosa wie eine ägyptische Pyramide eine gigantische Nase steigen sieht. Für mich war meine Großmutter noch – ich selbst, ich, der sie immer nur in meiner Seele gesehn, immer an derselben Stelle der Vergangenheit, durch die Transparenz angrenzender und übergelagerter Erinnerungen, und nun sah ich plötzlich in unserm Salon, der ein Teil der neuen Welt bildete, der Welt der Zeit, der Welt, in der die Fremden leben, von denen man sagt »Er wird recht alt«, nun sah ich zum ersten Male und nur für einen Augenblick, denn ganz schnell verschwand sie wieder, auf dem Kanapee unter der Lampe rot, schlaff, gewöhnlich, krank, dösend, mit etwas irren Augen über ein Buch gleitend, eine gedrückte Frau, die ich nicht kannte.

Auf meinen Wunsch, die Elstirs bei Frau von Guermantes zu sehn, hatte Saint-Loup mir gesagt: »Ich bürge für sie.« Zum Unglück bürgte in der Tat nur er für sie. Wir verbürgen uns leicht für andere, wenn wir mit den kleinen Bildern, die sie in unserm Denken darstellen, umgehn und sie nach unserm Geschmack sich bewegen lassen. Sicherlich rechnen wir in solchen Augenblicken auch mit den Schwierigkeiten, die in der von der unsern verschiedenen Natur eines jeden liegen, und wir verfehlen nicht, zu gewissen Mitteln zu greifen, die auf sie wirken – eigenes Interesse, Überredung, Erregung –, um dadurch entgegengesetzte Neigungen unwirksam zu machen. Aber diese Gegensätze zu unserer Natur stellt sich eben wiederum unsere Natur selbst vor, wir selbst beheben die Schwierigkeiten; wir wägen die wirksamen Beweggründe ab. Und sollen dann die andern das, was wir sie in unserm Bewußtsein wiederholt auf unsere Art haben ausführen lassen, im Leben wiederholen, dann wird alles anders, wir stoßen auf unvorhergesehene Schwierigkeiten, welche unüberwindlich sein können. Eine der stärksten ist ohne Zweifel der unwiderstehliche geekelte Widerwille, den in einer Frau, die nicht liebt, der Mann, der sie liebt, entwickelt: während der langen Wochen, die Saint-Loup fern von Paris blieb, forderte seine Tante, der er doch, wie ich nicht zweifelte, die Bitte brieflich ausgesprochen hatte, mich nicht ein einziges Mal auf, die Bilder von Elstir bei ihr anzusehn.

Beweise der Kälte empfing ich noch von einer andern Person im Hause. Von Jupien. Fand er vielleicht, ich hätte gleich bei meiner Rückkehr aus Doncières bei ihm eintreten und ihm guten Tag sagen sollen, noch bevor ich in unsere Wohnung hinaufging? Meine Mutter sagte, nein, man brauche sich nicht zu wundern, Françoise habe ihr gesagt, so sei er nun einmal, sei plötzlichen Anfällen von schlechter Laune ohne Grund ausgesetzt. Das verginge immer wieder nach kurzer Zeit.

 

Indes ging der Winter zu Ende. Und eines Morgens nach wochenlangem Regen- und Sturmwetter hörte ich in meinem Kamin – statt des einförmig schnellenden düstern Windes, der die Begierde, an die See zu gehn, in mir aufrüttelte – das Gurren der Tauben, die in der Mauer nisteten; in vielen ungeahnten Farben spielend – wie eine frühe Hyazinthe, die sanft ihr nährendes Herz aufreißt, auf daß ihre steigende Blüte von Lila und Atlas ertöne – ließ es wie ein aufgehendes Fenster in mein noch verschlossenes schwarzes Zimmer Glanz, laue Luft und Mattheit eines ersten schönen Tages dringen. An diesem Morgen überraschte ich mich dabei, daß ich ein Kaffee-Konzert-Lied trällerte, welches ich vergessen hatte seit dem Jahr, in dem ich nach Florenz und Venedig hatte gehn sollen. So tief dringt, vom Zufall der Stunde begünstigt, die Atmosphäre in unsern Organismus und holt aus dunkler Vorratskammer, die sie bewahrte, vergessene Melodien hervor, welche unser Gedächtnis nicht hat entziffern können. Bald begleitete mit deutlicherem Bewußtsein ein Träumer den Musiker, den ich in mir hörte, ohne gleich erkannt zu haben, was er spielte.

Ich fühlte, es lag nicht nur an Balbec selbst, daß ich dort angesichts der Kirche nicht den Reiz empfunden hatte, den sie für mich besaß, bevor ich sie kannte; in Florenz, Parma oder Venedig würde meine Phantasie sich ebensowenig den Augen unterschieben und statt ihrer sehn können. Das fühlte ich. Gerade so hatte ich an jenem ersten Januar bei Einbruch der Nacht vor einer Anschlagsäule entdeckt, daß es ein Wahn ist zu glauben, gewisse Festtage unterschieden sich wesentlich von den andern Tagen. Und doch konnte ich nicht verhindern, daß die Erinnerung an die Zeit, während welcher ich die Karwoche in Florenz zu verbringen gedachte, auch fernerhin dieser Woche etwas von der Atmosphäre der Blumenstadt gab: Ostern behielt etwas Florentinisches für mich, Florenz etwas Österliches. Die Osterwoche war noch fern; aber in der Reihe der Tage, die ich überblickte, hoben sich die heiligen Tage schon deutlicher ab hinter den dazwischenliegenden. Wie bestimmte Häuser eines Dorfes, das man von fern in Licht und Schatten liegen sieht, zogen sie alles Sonnenlicht auf sich. Das Wetter war milder geworden. Meine Eltern rieten mir, spazieren zu gehn, und gaben mir so selbst einen Vorwand, meine Morgenausgänge fortzusetzen. Ich hatte sie aufgeben wollen, weil ich auf ihnen Frau von Guermantes begegnete. Aber gerade deshalb dachte ich immerfort an diese Spaziergänge. Und so fand ich jeden Augenblick einen neuen Anlaß, auszugehn, der nichts mit Frau von Guermantes zu tun hatte, und konnte mir einreden, ich hätte nicht verfehlt, um diese Zeit auszugehn, auch wenn Frau von Guermantes gar nicht existierte.

Ach! Für mich wäre es belanglos gewesen, jedem andern als ihr zu begegnen, für sie aber, das fühlte ich, mochte es erträglich sein, irgend jemanden zu treffen außer mich. Auf ihrem Morgenspaziergang wurde sie von vielen albernen und von ihr für albern gehaltenen Menschen gegrüßt. Wenn sie sich von der Begegnung mit diesen Leuten nun auch gerade kein Vergnügen versprach, so hielt sie sie doch für nur zufällig. Manchmal blieb sie sogar mit diesen Leuten stehn, denn wir haben zeitweise das Bedürfnis, aus uns herauszugehn und die Gastfreundschaft anderer Seelen anzunehmen, sofern diese Seelen, ob auch noch so bescheiden und häßlich, fremde Seelen sind; mir gegenüber aber fühlte sie, sie würde in meinem Herzen sich selbst finden, und das war ihr ärgerlich. Selbst wenn ich aus einem andern Grund als sie zu sehn, den Weg einschlug, auf dem ich ihr begegnete, zitterte ich wie ein Schuldiger, wenn sie vorüberkam; und um ihr nur nicht zu übertrieben entgegenzukommen, erwiderte ich manchmal kaum ihren Gruß, oder ich sah sie an, ohne sie zu grüßen, wodurch ich sie nur noch mehr verdrießen mochte, sie mußte mich ja obendrein noch für unverschämt und schlecht erzogen halten.

Jetzt trug sie leichtere Kleider oder wenigstens hellere, und wenn sie die Straße herunterkam, waren schon, als ob es bereits Frühling wäre, vor den schmalen Läden, die zwischen den breiten Fassaden der alten aristokratischen Häuser nisteten, und über dem kleinen Schutzdach der Butter-, Obst- und Gemüsehändlerin Vorhänge gegen die Sonne gespannt. Ich sagte mir, die Frau, die ich da spazieren, ihren Sonnenschirm öffnen, die Straße überschreiten sah, war nach dem Urteil der Kenner zur Zeit die Meisterin in der Kunst, diese Bewegungen auszuführen und aus ihnen etwas köstliches zu machen. Sie aber kam daher, als wüßte sie nichts von diesem weitverbreiteten Ruhm, ihr schmaler, unzugänglicher Körper, der nichts von diesem Ruhm absorbiert hatte, wand sich schräg in einer Schärpe von violettem Surah, ihre verdrossen klaren Augen sahen zerstreut vor sich hin und hatten mich vielleicht bemerkt; sie biß sich auf die Lippen, ich sah, wie sie den Muff richtete, einem Armen ein Almosen gab, bei einer Blumenfrau einen Veilchenstrauß kaufte, und dieser Anblick war mir so merkwürdig, als sähe ich einem großen Maler bei seinen Pinselstrichen zu. Und wenn sie auf gleiche Höhe mit mir kam und mich – manchmal mit einem leisen Lächeln – grüßte, war es, als habe sie für mich eine meisterhafte Zeichnung ausgeführt, unter die sie nun noch eine Widmung setzte. Jedes ihrer Kleider schien eine natürliche, notwendige Umrahmung, gleichsam die Projektion einer besondern Erscheinungsform ihrer Seele. An einem Morgen der Fastenzeit begegnete ich ihr, als sie zum Frühstück ausging; sie trug ein hellrotes Samtkleid, am Halse leicht ausgeschnitten. Ihr Gesicht sah träumerisch aus unter dem blonden Haar. Ich war weniger traurig als gewöhnlich, ihr schwermütiger Gesichtsausdruck und diese Art Klausur, mit welcher die heftige Farbe sie umgab und gegen die übrige Welt abschloß, verlieh ihr etwas Unglückliches und Einsames, das mir Sicherheit gab. Das Kleid schien die scharlachroten Strahlen eines Herzens, das ich nicht kannte und vielleicht hätte trösten können, rings um sie her zu verkörpern; geflüchtet in das mystische Licht des sanft gewellten Stoffes gemahnte sie mich an eine Heilige des ersten christlichen Zeitalters. Ich schämte mich, durch meinen Anblick die Märtyrerin zu betrüben. »Aber schließlich gehört die Straße aller Welt.«

Die Straße gehört aller Welt, nahm ich wieder auf und gab diesen Worten einen andern Sinn; es war mir wunderbar, daß tatsächlich in dieser belebten oft regennassen Straße, die dann kostbar wurde, wie es bisweilen in altitalienischen Städten die Straße ist, die Herzogin von Guermantes dem öffentlichen Leben Züge ihres heimlichen Lebens vermischte und mitten in der Menge jedermann sich in ihrem Mysterium zeigte, großartig unentgeltlich wie es große Meisterwerke tun. Da ich morgens ausging, nachdem ich die ganze Nacht wach geblieben, sagten mir meine Eltern, ich sollte mich nachmittags ein wenig hinlegen und zu schlafen versuchen. Um einzuschlafen, bedarf es nicht viel Überlegens, leichter geht es, wenn man sich daran gewöhnt und sogar vermeidet, nachzudenken. Aber das wollte mir beides um diese Zeit nicht gelingen. Bevor ich einschlief, dachte ich lange Zeit, ich würde es nicht können, und selbst, als ich eingeschlafen war, blieb mir noch etwas von meinen Gedanken. Es war nur ein Schimmer in fast vollständiger Dunkelheit, aber genug, um in meinen Schlaf zunächst den Gedanken zu reflektieren, ich könne nicht schlafen, dann, Reflex dieses Reflexes, den Gedanken, ich habe im Schlafen den Gedanken gehabt, daß ich nicht schlafe, und dann durch eine neue Rückstrahlung mein Erwachen ... zu einem neuen Schlummer, in welchem ich Freunden, die in mein Zimmer getreten waren, erzählen wollte, eben im Schlaf habe ich geglaubt, ich schliefe nicht. Diese Schatten waren kaum zu erkennen, es hätte einer großen und recht müßigen Feinheit der Wahrnehmung bedurft, um sie zu erfassen. So habe ich später in Venedig lange nach Sonnenuntergang, wenn es schon ganz Nacht zu sein schien, dank dem doch unsichtbaren Echo einer letzten, unendlich lang über den Kanälen angehaltenen Note von Licht wie durch die Wirkung eines optischen Pedales auf dem Dämmergrau der Wasser die Widerscheine der Paläste gesehn, die für immerdar in schwärzerem Samt aufgerollt schienen. Einer meiner Träume war die Synthese dessen, was meine Phantasie oft sich vorzustellen versucht hatte, einer Seelandschaft und ihrer mittelalterlichen Vergangenheit. Im Schlafe sah ich eine gotische Stadt mitten in einem Meer, dessen Wellen wie auf einem Kirchenfenster erstarrt waren. Ein Meeresarm teilte die Stadt in zwei Teile; grünes Wasser erstreckte sich bis zu meinen Füßen; am gegenüberliegenden Ufer spülte es an eine orientalische Kirche, dann an Häuser, wie sie noch im vierzehnten Jahrhundert dastanden; zu ihnen zu fahren, wäre gewesen, als stiege man den Lauf der Zeitalter stromaufwärts. Diesen Traum, in dem die Natur Kunst gelernt hatte, in dem das Meer gotisch geworden war, diesen Traum, in dem ich an das Unmögliche zu landen wünschte und wähnte, ich meinte ihn schon oft geträumt zu haben. Da es aber dem, was man im Schlaf phantasiert, eigen ist, sich nach der Vergangenheit hin zu vervielfältigen und, obwohl neu, vertraut zu erscheinen, meinte ich mich getäuscht zu haben. Jedoch bemerkte ich, daß ich diesen Traum tatsächlich oft träumte.

Sogar die Verminderung der Fähigkeiten, welche für den Schlaf bezeichnend sind, spiegelten sich in meinem Traum, aber in symbolischer Weise: ich konnte die Gesichter meiner Freunde, die da waren, in der Dunkelheit nicht erkennen, denn man schläft mit geschlossenen Augen; während ich mir selbst im Traum lange Reden hielt, fühlte ich, sobald ich zu meinen Freunden sprechen wollte, den Ton in meiner Kehle stecken bleiben, denn man spricht nicht deutlich im Schlaf; ich wollte zu ihnen gehn und konnte die Beine nicht bewegen, denn man geht im Schlafe nicht; und plötzlich schämte ich mich, vor ihnen zu erscheinen, denn man schläft entkleidet. So sah das Bild des Schlafes, das mein Schlaf selbst entwarf, mit seinen blinden Augen, versiegelten Lippen, gefesselten Beinen und nacktem Körper wie die großen allegorischen Figuren aus, in denen Giotto den Neid mit einer Schlange im Mund dargestellt hat (Swann hatte sie mir gegeben).

Saint-Loup kam nur auf einige Stunden nach Paris. Er versicherte mir, er habe keine Gelegenheit gehabt, zu seiner Tante von mir zu sprechen, zugleich aber verriet er sich unbefangen, indem er sagte: »Oriane ist gar nicht nett, gar nicht mehr meine Oriane von früher, man hat sie mir verändert. Ich versichere dir, es ist nicht der Mühe wert, daß du dich mit ihr beschäftigst. Du erweist ihr viel zu viel Ehre. Möchtest du nicht, daß ich dich meiner Kusine Poictiers vorstelle?« fügte er hinzu, ohne sich darüber klar zu werden, daß mir das kein Vergnügen machen könnte. »Das ist eine verständige junge Frau, die dir gefallen würde. Sie hat meinen Vetter, den Herzog von Poictiers, geheiratet, einen guten Burschen, nur etwas zu einfach für sie. Ich habe ihr von dir gesprochen. Sie hat mich gebeten, dich zu ihr zu bringen, sie ist viel hübscher als Oriane und jünger. Die ist nett, weißt du, die hat Stil.«

Diese Ausdrücke, die eine feinfühlige Natur bezeichnen sollten, hatte Robert erst kürzlich – aber um so eifriger – übernommen. »Ich will nicht behaupten, daß sie Dreyfusanhängerin ist, man muß doch auch ihre Umwelt in Betracht ziehen, aber sie hat gesagt: »Wenn er unschuldig wäre, wie entsetzlich, ihn auf der Teufelsinsel zu lassen.« Du verstehst, nicht wahr? Und dann ist es eine Person, die viel für ihre früheren Lehrerinnen tut, sie hat verboten, daß man sie die Hintertreppe hinaufgehn läßt. Ich versichere dir, die hat Stil. Im Grunde liebt Oriane sie nicht, weil sie ihre geistige Überlegenheit fühlt.«

Françoise war zwar ganz in Anspruch genommen von dem Mitleid, das ihr ein Lakei der Guermantes einflößte – er konnte nicht zu seiner Verlobten gehn, selbst wenn die Herzogin ausgegangen war, es wäre doch sofort durch die Pförtnerloge hinterbracht worden –, dennoch ärgerte es sie, gerade als Saint-Loup mir seinen Besuch machte, nicht dagewesen zu sein; das kam, weil sie jetzt selbst Besuche machte. Unfehlbar ging sie immer an den Tagen aus, an denen ich sie brauchte. Dann mußte sie immer ihren Bruder, ihre Nichte und vor allem ihre Tochter besuchen, die seit kurzem in Paris war. Daß es lauter Familienbesuche waren, machte mir diese Ausgänge, die mich ihrer Dienste beraubten, noch unangenehmer, denn ich sah voraus, sie würde von jedem dieser Besuche als von einer Angelegenheit sprechen, die nach den in Saint-André-des-Champs geltenden Gesetzen unumgänglich sei. So hörte ich mir denn ihre Entschuldigungen immer mit übler Laune an, und die wurde noch schlechter durch Françoises Ausdrucksweise: statt: »ich war bei meinem Bruder, ich war bei meiner Nichte«, sagte sie: »Ich war bei dem Bruder, ich bin schnell hinaufgesprungen, der Nichte guten Tag zu sagen« (oder: »meiner Nichte, der Schlächterin«). Ihre Tochter aber hätte Françoise am liebsten nach Combray heimkehren sehn. Allein die neue Pariserin, die schon wie ein elegantes Fräulein in Abkürzungen redete – aber in vulgären –, erklärte, die Woche, die sie in Combray zubringen sollte, würde ihr recht lang vorkommen, da sie dort nicht einmal den »Intran« zu lesen bekäme. Noch weniger Lust hatte sie, zu Françoises Schwester zu gehn, die in einer gebirgigen Provinz wohnte. »Die Berge,« sagte sie – und gab dabei dem Wort »interessant« einen schrecklichen neuen Sinn –, »die Berge sind gar nicht interessant.« Nach Méséglise zurückzukehren konnte sie sich nicht entschließen, »da sind die Leute so dumm«, da würden auf dem Markt die Gevatterinnen, die »Klatschbasen«, Verwandtschaften mit ihr entdecken und sagen: »Ei, ist das nicht dem seligen Bazireau seine Tochter?« Lieber sterben, als sich da wieder festsetzen, »jetzt, wo sie vom Pariser Leben gekostet hatte«, und Françoise, so altherkömmlich sie empfand, lächelte doch nachgiebig über die modernen Ideen, die die junge »Pariserin« verkörperte, wenn sie sagte: »Mutter, wenn du nicht deinen Ausgangstag hast, brauchst mir bloß eine Rohrpost zu schicken.«

Das Wetter wurde wieder kalt. »Ausgehn? Wozu? Um sich den Tod zu holen?« sagte Françoise, die lieber während der Woche, die ihre Tochter, der Bruder und die Schlächterin in Combray verbrachten, zu Hause blieb. Als letzte Sektiererin, in der die Doktrin meiner Tante Léonie dunkel weiterlebte, fügte Françoise, wenn sie von diesem unzeitgemäßen Wetter sprach, auf Grund einer besondern Naturkunde hinzu: »Das ist der Rückstand von Gottes Zorn!« Ich aber hatte als Antwort auf ihre Klagen nur ein Lächeln voll Sehnsucht und blieb kalt gegen ihre Prophezeiungen, für mich würde ja das Wetter auf alle Fälle schön sein: ich sah schon die Morgensonne auf dem Hügel von Fiesole und wärmte mich an ihren Strahlen; ihre Stärke zwang mich, die Augenlider lächelnd halb zu öffnen und wieder zu schließen, und sie füllten sich wie Alabasterlämpchen mit rosigem Licht. Nun kamen nicht nur die geweihten Glocken aus Italien zurück, Italien kam mit ihnen. Meinen getreuen Händen würde es nicht an Blumen fehlen, den Jahrestag der Reise, die ich damals hatte machen sollen, zu feiern, denn seit das Wetter in Paris wieder kalt geworden wie in jenem andern Jahr gegen Ende der Fastenzeit, als wir unsere Vorbereitungen zur Abreise trafen, öffneten sich mir in der feuchten, eisigen Luft, in der die Kastanienbäume und Platanen der Boulevards und der Baum im Hof unseres Hauses schwammen, schon ein wenig wie in einer Schale reinen Wassers Narzissen, Märzbecher und Anemonen des Ponte-Vecchio.

 

Mein Vater hatte uns erzählt, er wisse jetzt durch A.J., wohin Herr Norpois gehe, wenn er ihm in unserm Hause begegne.

»Zu Frau von Villeparisis, er kennt sie gut, davon wußte ich nichts. Sie scheint ein prachtvolles Wesen, eine bedeutende Frau zu sein. Du solltest sie besuchen«, wandte er sich an mich. »Was mich übrigens gewundert hat: er sprach mir von Herrn von Guermantes als einem ganz ausgezeichneten Manne; ich hatte ihn für derb und dumm gehalten. Er scheint sehr unterrichtet zu sein und viel Geschmack zu haben, nur ist er sehr stolz auf seinen Namen und seine Verwandtschaften. Aber er hat übrigens auch nach dem, was Norpois sagt, eine enorme gesellschaftliche Stellung, nicht nur hier, sondern in ganz Europa. Es scheint, der Kaiser von Österreich und der Kaiser von Rußland stehn mit ihm in freundschaftlichstem Verkehr. Der alte Norpois hat mir gesagt, Frau von Villeparisis habe dich sehr gern und du könntest in ihrem Salon interessante Bekanntschaften machen. Er hat sich sehr lobend über dich ausgesprochen, du wirst ihn bei ihr treffen, und sein Rat kann dir sehr nützlich sein, selbst für den Fall, daß du schriftstellern solltest. Ich sehe schon, du wirst nichts andres tun. Und man kann das als eine ganz schöne Laufbahn ansehn. Ich für mein Teil hätte ja eine andere für dich vorgezogen, aber nun bist du bald ein Mann, wir werden nicht immer um dich sein, und wir dürfen dich nicht hindern, deinem innern Beruf zu folgen.«

Hätte ich wenigstens anfangen können zu schreiben! Aber unter welchen Voraussetzungen ich mich auch an dies Vorhaben machte (wie auch an das, keinen Alkohol mehr zu mir zu nehmen, früh zu Bett zu gehn, zu schlafen, gesund zu sein), ob ich es mit Leidenschaft, mit Methode oder mit Vergnügen tat, ob ich mir einen Spaziergang versagte, ihn verschob und als Belohnung aufhob, ob ich eine Stunde, in der ich mich sehr wohl fühlte, oder die erzwungene Muße eines Tages, an dem ich krank lag, benutzte, was kam schließlich als Ergebnis meiner Bemühungen heraus? Eine weiße Seite, unberührt von jeder Schrift, unausbleiblich wie die Karte, die man bei gewissen Kartenkunststücken zu ziehen gezwungen wird, wie man auch vorher das Spiel gemischt haben mag. Ich war nur das Werkzeug von Gewohnheiten, die sich um jeden Preis durchsetzten, den Gewohnheiten, nicht zu arbeiten, nicht zu Bett zu gehn und nicht zu schlafen; wenn ich ihnen nicht widerstand, wenn ich mich mit dem Vorwand, den ihnen der erste beste Umstand bot, zufrieden gab und sie gewähren ließ, zog ich mich ziemlich schadlos aus der Affäre, ich konnte gegen Ende der Nacht immerhin ein paar Stunden ausruhen, ich las ein wenig, ich vermied größere Exzesse; wollte ich ihnen aber widerstehn, maßte ich mir an, früh zu Bett zu gehn, nur Wasser zu trinken, zu arbeiten, dann wurden sie gereizt, griffen zu den großen Machtmitteln und machten mich ganz krank, ich sah mich gezwungen, die Dosis Alkohol zu verdoppeln, ich legte mich zwei Tage nicht ins Bett, ich konnte nicht einmal mehr lesen, und ich nahm mir vor, ein andermal vernünftiger, das heißt unbesonnener zu sein, wie ein Opfer, das sich berauben läßt aus Furcht, wenn es Widerstand leistet, ermordet zu werden.

Mein Vater hatte inzwischen ein- oder zweimal Herrn von Guermantes getroffen, und jetzt, da Herr von Norpois ihm gesagt hatte, der Herzog sei ein bemerkenswerter Mann, gab er mehr acht auf das, was er sagte. Es traf sich, daß sie im Hof auf Frau von Villeparisis zu sprechen kamen. »Er hat mir gesagt, es sei seine Tante; er spricht ihren Namen Viparisi aus. Er hat mir gesagt, sie habe ungewöhnlich viel Verstand. Er hat sogar hinzugefügt, sie halte ein Bureau d'esprit.« Das Unbestimmte dieser Bezeichnung, die er wohl ein- oder zweimal in alten Memoiren gelesen, ohne ihr aber einen genauen Sinn beizulegen, machte meinem Vater großen Eindruck. Als meine Mutter bemerkte, er fände es nicht gleichgültig, daß Frau von Villeparisis ein Bureau d'esprit hielte, schrieb auch sie bei ihrem großen Respekt vor dem Vater diesem Umstand einige Wichtigkeit zu. Und obwohl sie von meiner Großmutter schon lange wußte, wie hoch die Marquise einzuschätzen sei, machte sie sich jetzt unmittelbar eine günstigere Vorstellung von ihr. Meine Großmutter, die gerade etwas leidend war, begünstigte zunächst diesen Besuch nicht, dann verlor sie das Interesse daran. Seit wir in unserer neuen Wohnung waren, hatte Frau von Villeparisis sie wiederholt gebeten, zu ihr zukommen. Und meine Großmutter hatte immer brieflich geantwortet, sie gehe zur Zeit nicht aus; ihre Briefe siegelte sie übrigens nicht mehr selbst (eine neue Gewohnheit, die wir nicht begriffen), das überließ sie Françoise. Ich aber konnte mir unter dem Bureau d'esprit nichts Bestimmtes vorstellen und hätte mich nicht sehr gewundert, die alte Dame von Balbec vor einer Art »Bureautisch« sitzend zu finden, was übrigens wirklich geschah.

Mein Vater, der im Institut als freies Mitglied kandidieren wollte, hätte zu allem andern gern gewußt, ob die Fürsprache des Botschafters ihm viele Stimmen sichern würde. Wohl wagte er nicht an der Fürsprache des Herrn von Norpois zu zweifeln, aber er war ihrer eigentlich doch nicht ganz sicher. Als man ihm im Ministerium sagte, Herr von Norpois wünsche hier der einzige Vertreter des Instituts zu sein und werde seiner Kandidatur alle möglichen Hindernisse in den Weg legen, zumal sie ihn gerade in diesem Augenblick, wo er eine andere unterstütze, besonders störe, hatte mein Vater gemeint, er habe es mit bösen Zungen zu tun. Als dann aber Herr Leroy-Beaulieu ihm riet zu kandidieren und seine Aussichten abwog, machte es meinem Vater doch Eindruck, daß der große Nationalökonom unter den Kollegen, auf die er bei dieser Gelegenheit rechnen könne, Herrn von Norpois nicht nannte. Mein Vater wagte nicht, dem früheren Botschafter die Frage gradewegs zu stellen, hoffte aber, ich würde von meinem Besuch bei Frau von Villeparisis mit seiner vollzogenen Wahl zurückkommen. Dieser Besuch stand nahe bevor. Die Unterstützung des Herrn von Norpois, die meinem Vater in der Tat zwei Drittel der Stimmen sichern konnte, schien ihm übrigens um so wahrscheinlicher als die Gefälligkeit des Botschafters sprichwörtlich war; selbst die, welche ihn am wenigsten liebten, erkannten an, daß niemand so gern derartige Dienste leiste wie er. Und dann bedachte er doch im Ministerium meinen Vater mehr als irgend einen andern Beamten mit seiner Gunst.

Mein Vater hatte eine andere Begegnung, die ihn sehr verwunderte und dann in äußerste Entrüstung brachte. Er kam auf der Straße an Frau Sazerat vorbei, die verhältnismäßig arm und deshalb nur selten in Paris bei einer Freundin zu Besuch war. Niemand ging meinem Vater so auf die Nerven wie Frau Sazerat. Einmal im Jahre sah meine Mutter sich genötigt, mit sanft bittender Stimme zu ihm zu sagen: »Lieber, ich muß einmal Frau Sazerat einladen, sie wird nicht lange bleiben.« Oder gar: »Höre, lieber Freund, ich muß dich um ein großes Opfer bitten, mach Frau Sazerat einen kleinen Besuch. Du weißt, wie ungern ich dich mit solchen Sachen quäle, aber es wäre so nett von dir.« Mein Vater lachte dann, schalt ein bißchen und machte den Besuch. Obgleich ihn also Frau Sazerat nicht belustigte, ging mein Vater, als er ihr begegnete, doch auf sie zu und nahm den Hut ab, aber zu seiner großen Überraschung begnügte sich Frau Sazerat mit einem eisigen Gruß, wie ihn die Höflichkeit einem Menschen gegenüber verlangt, der etwas Schlechtes begangen hat oder verurteilt ist, künftig auf der andern Erdhälfte zu leben. Ärgerlich und höchst erstaunt war mein Vater heimgekommen. Am nächsten Tag begegnete meine Mutter Frau Sazerat in einem Salon. Die reichte ihr nicht die Hand, lächelte ihr nur traurig und unbestimmt zu wie einer Person, mit der man als Kind gespielt, dann aber alle Beziehungen abgebrochen hat, weil sie ein ausschweifendes Leben geführt, einen Verbrecher oder, was schlimmer ist, einen geschiedenen Mann geheiratet hat. Nun hatte immer zwischen meinen Eltern und Frau Sazerat die höchste gegenseitige Achtung bestanden. Aber (und das wußte meine Mutter nicht) Frau Sazerat war als einzige ihrer Art in Combray Dreyfusanhängerin. Mein Vater war als Freund von Herrn Méline von Dreyfus' Schuld überzeugt. Er hatte Kollegen, die ihn baten, eine revisionistische Liste zu unterzeichnen, ärgerlich zurückgewiesen. Acht Tage lang sprach er nicht mit mir, als er erfuhr, daß ich einer andern Meinung anhing. Seine Überzeugungen waren bekannt. Man war nahe daran, ihn als Nationalisten anzusehn. Als einzige der Familie schien meine Großmutter hochherzig zu zweifeln; so oft man ihr von Dreyfus' möglicher Unschuld sprach, machte sie eine Bewegung mit dem Kopf, deren Sinn wir damals nicht verstanden, sie sah aus wie jemand, den man in ernsteren Gedanken gestört hat. Meine Mutter schwankte zwischen ihrer Liebe zu meinem Vater und der Hoffnung, ich sei einsichtig, sie bewahrte eine unentschiedene Haltung, die sie durch Schweigen ausdrückte. Der Großvater endlich verehrte die Armee (obgleich seine Verpflichtungen als Nationalgardist wie ein Alp auf seinem reifen Mannesalter gelastet hatten); so oft er in Combray ein Regiment am Gartengitter vorbeikommen sah, nahm er, wenn Oberst und Fahne erschienen, den Hut ab. Das alles genügte für Frau Sazerat, die doch das uneigennützige und ehrenhafte Leben meines Vaters und Großvaters kannte, um sie als Schergen des Unrechts anzusehn. Persönliche Verbrechen vergibt man, aber nicht die Teilnahme an einem Gemeinschaftsverbrechen. Seit sie von der Dreyfusfeindschaft meines Vaters wußte, lagen zwischen ihr und ihm Erdteile und Jahrhunderte. Eine solche zeitliche und räumliche Ferne macht es erklärlich, daß mein Vater von ihrem Gruß fast nichts zu sehn bekam und daß sie nicht daran dachte, mit einem Händedruck oder ein paar Worten die Welten, die sie trennten, zu überbrücken.

 

Saint-Loup sollte wieder nach Paris kommen, er hatte mir versprochen, mich zu Frau von Villeparisis mitzunehmen. Dort, hoffte ich, – ohne ihm etwas davon zu sagen – würden wir Frau von Guermantes treffen. Er lud mich ein, mit ihm und seiner Geliebten im Restaurant zu frühstücken, wir würden sie dann zu einer Probe begleiten. Vormittags sollten wir sie in ihrer Wohnung in der Umgegend von Paris abholen.

Bei der Wahl des Restaurants (– im Leben der jungen Adligen, die Geld ausgeben, spielt das Restaurant eine so wichtige Rolle wie die Truhen voll kostbarer Stoffe in den arabischen Märchen) – bat ich Saint-Loup, das zu bevorzugen, in dem Aimé, wie er mir mitgeteilt hatte, als Oberkellner tätig sein sollte, bis die Saison in Balbec begann. Für mich, der soviel vom Reisen träumte und so wenig reiste, hatte es einen besondern Reiz, einen Menschen wiederzusehn, der nicht nur zu meinen Balbecer Erinnerungen, sondern mehr noch zum wirklichen Balbec gehörte; alle Jahre ging er hin, und während mich Schwäche oder meine Vorlesungen zwangen, in Paris zu bleiben, sah er an langen Spätnachmittagen, die Tischgäste erwartend, die Sonne sinken und ins Meer untergehn, er blickte durch die Glasscheiben des großen Speisesaals, hinter denen zur Zeit des Sonnenuntergangs unbewegte Flügel ferner bläulicher Schiffe erschienen wie fremdländische Nachtschmetterlinge in einem Glasschrank. Selbst magnetisiert durch seine Fühlung mit dem starken Magneten Balbec, wurde dieser Oberkellner für mich seinerseits ein Magnet. Ich hoffte, im Gespräch mit ihm schon mit Balbec selbst in Verbindung zu treten und mitten in Paris ein wenig von dem Reiz der Reise zu genießen.

Früh ging ich von Hause fort und ließ Françoise jammernd zurück: der Lakai hatte gestern Abend wieder einmal nicht ausgehn können, um seine Braut zu besuchen. Françoise hatte ihn in Tränen gefunden, er wollte schon hingehn und den Pförtner ohrfeigen, hatte sich aber zusammengenommen, denn er mochte seine Stellung nicht verlieren.

Bevor ich zu Saint-Loup kam, der mich vor seiner Tür erwarten sollte, traf ich Legrandin, den wir seit Combray aus den Augen verloren hatten. Er war ganz grau geworden, hatte aber noch sein jugendliches offenes Gesicht. Er blieb stehn.

»Ah! Sie sind es«, sagte er, »Sie eleganter Herr, noch dazu im Gehrock! Das ist eine Livrée, der mein Unabhängigkeitsbedürfnis sich nicht anpassen könnte. Nun ja, Sie müssen mondän sein, Besuche machen! Um wie ich vor halb verfallenen Gräbern zu träumen, sind mein breiter Schlips und schlichter Rock das rechte Gewand. Sie wissen, ich schätze die anmutige Qualität Ihrer Seele, umsomehr bedauere ich, daß Sie sie verleugnen unter den Heiden. Ist es Ihnen möglich, auch nur einen Augenblick in der übeln Atmosphäre der Salons, die ich nicht atmen kann, zu bleiben, so sprechen Sie über Ihre Zukunft das Urteil, den Fluch des Propheten. Ich sehe Sie deutlich, wie Sie umgehn mit den »leichten Herzen«, mit der Gesellschaft der Schlösser, das ist das Laster der zeitgenössischen Bürgerschaft. Ach, diese Aristokraten! Es war unrecht von der Schreckensherrschaft, daß sie ihnen nicht allen den Kopf abgeschlagen hat. Schlimme Wüstlinge sind sie alle, wo nicht einfach finstere Idioten. Nun ja, mein armes Kind, wenn Ihnen das Vergnügen macht! Während Sie auf so einen five o'clock tea gehn, wird Ihr alter Freund glücklicher sein als Sie, allein in der Vorstadt wird er den rosenfarbenen Mond in den violetten Himmel steigen sehn. Es ist wahr, ich gehöre nicht mehr dieser Erde an, ich fühle mich hier in der Verbannung. Es bedarf der ganzen Kraft des Gesetzes der Schwere, mich festzuhalten, damit ich nicht in eine andere Sphäre entweiche. Ich bin von einem andern Planeten. Leben Sie wohl, verübeln Sie ihm nicht seine alte Freimütigkeit, dem Bauern von der Vivonne, der eben ein Bauer geblieben ist. Um Ihnen zu beweisen, daß ich große Stücke auf Sie halte, werde ich Ihnen meinen letzten Roman schicken. Sie werden das nicht mögen; es ist nicht aufgelöst genug, nicht fin de siècle genug für Sie, zu aufrichtig, zu redlich; Sie brauchen Bergotte, Sie haben es selbst zugegeben, haut-goût für verwöhnte Gaumen raffinierter Feinschmecker. In Ihrem Kreis muß man mich als alten Tölpel ansehn; mein Fehler ist, ich lege Herz in das, was ich schreibe; das trägt man nicht mehr; und das Leben des Volkes ist zu schlicht, um Ihre snobistischen Dämchen zu interessieren. Nun denn, sehn Sie zu, bisweilen an das Wort Christi zu denken: ›Tut also und ihr werdet leben.‹ Leben Sie wohl, Freund.«

Eigentlich war ich ganz gut auf Legrandin zu sprechen, als ich ihn verließ. Gewisse Erinnerungen sind wie gemeinsame Freunde, sie versöhnen wieder; die kleine Holzbrücke mitten in den Feldern voll Butterblumen, wo die vielen Ruinen aus ritterlicher Zeit waren, vereinte Legrandin und mich, wie sie die beiden Ufer der Vivonne verband.

In Paris hatten trotz des beginnenden Frühlings die Boulevardbäume noch kaum ihre ersten Blätter, aber als Saint-Loup und ich aus dem Vorortszug stiegen und in das Dörfchen kamen, wo seine Geliebte wohnte, war es ein Wunder, jeden kleinen Garten mit den großen weißen Ruhealtären der blühenden Obstbäume geziert zu sehn. Es erinnerte an die eigentümlichen kurzlebig phantastischen Lokalfeste, die man sich an bestimmten Jahrestagen von weitem ansieht; dies Fest aber gab die Natur. Die Kirschblüten hafteten so eng an den Zweigen wie weiße Hülsen; von weitem, zwischen Bäumen, die fast noch ohne Blüte und Blatt waren, hätte man dies Weiß in der noch kalten Sonne für Schnee halten können, der anderswo geschmolzen und an den Sträuchern hängen geblieben war. Die großen Birnbäume aber umgaben jedes Haus, jeden bescheidenen Hof mit breiterem, einheitlicherem, glänzenderem Weiß, es war, als ob alle Wohnungen und Gehöfte des Dorfes gleichzeitig ihre erste Kommunion begingen.

Diese Dörfer der Umgegend von Paris haben noch an ihren Toren Parke des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche einst Lustorte, »Folies«, der Intendanten und Favoritinnen waren. Ein Kunstgärtner hatte einen von ihnen, der tiefer als die Straße lag, zur Kultur von Obstbäumen benutzt (oder vielleicht einfach den Plan eines großen Baumgartens der alten Zeit bewahrt). In Schachbrettform angepflanzt, bildeten diese weiter auseinanderstehenden Birnbäume, die in der Blüte hinter den andern zurückgeblieben waren, große – durch niedrige Mauern voneinander getrennte – Vierecke weißer Blüten; auf jeder der vier Seiten malte das Licht sich in anderer Art, und all diese Gemächer ohne Dach sahen aus wie die eines Sonnenpalastes, den man auf irgend einem Kreta entdeckt haben könnte; sie ließen auch an die Kammern eines Wasserbehälters denken oder an die Teile des Meeres, die der Mensch für Fischerei oder Austernzucht abteilt; von den Zweigen spielte das Licht über die Spaliere hin wie über Frühlingsgewässer und ließ hier und dort, durch das lose geflochtene, vom Azurblau der Zweige durchflutete Gitterwerk schimmernd, den weißen Schaum einer in der Sonne perlenden Blüte sich ablösen.

Es war ein altes Dorf, und vor seinem gebräunten und goldig glänzenden Rathaus standen anstelle von beflaggten Klettermasten drei große Birnbäume, die wie für ein lokales Bürgerfest gefällig mit weißer Seide bewimpelt waren. Nie sprach Robert mir zärtlicher von seiner Freundin, als während wir da vorüberkamen.

Nur sie hatte Wurzeln in seinem Herzen geschlagen, seine militärische Laufbahn, seine gesellschaftliche Stellung, seine Familie, all das war ihm gewiß nicht gleichgültig, aber es zählte nicht neben den geringsten Dingen, die seine Geliebte betrafen. Nur die hatten Reiz für ihn, viel mehr Geltung als die Guermantes und alle Könige der Erde. Ich weiß nicht, ob er das selbst so ausdrückte, daß sie von höherer Wesenheit sei als alles, jedenfalls war er nur auf das bedacht, um das besorgt, was sie betraf. Durch sie konnte er leiden, glücklich sein, für sie vielleicht töten. Wirklich interessant und Leidenschaft erregend war ihm nur, was die Geliebte wollte und tat, was sich, nur an flüchtigen Mienen zu merken, auf dem schmalen Raum ihres Gesichtes und unter ihrer gebenedeiten Stirn abspielte. Er, der in allen andern Dingen so zartfühlend war, faßte die Aussicht auf eine glänzende Heirat nur zu dem Zweck ins Auge, sie weiter unterhalten und behalten zu können. Hätte man feststellen wollen, wie hoch er sie einschätzte, ich glaube, nie hätte man einen entsprechend hohen Preis ausdenken können. Sie einfach zu heiraten, daran hinderte ihn ein praktischer Instinkt: er ahnte, sobald sie nichts mehr von ihm zu erwarten habe, würde sie ihn verlassen oder wenigstens nach ihrem Gutdünken leben; um sie zu halten, dürfe er ihr die Spannung auf den nächsten Tag nicht nehmen. Denn er vermutete, sie liebe ihn vielleicht nicht. Gewiß mochte der allgemeine Affekt, den man Liebe nennt, auch ihn – wie er es mit allen Menschen macht – zwingen, bisweilen zu glauben, daß sie ihn liebe. Aber er hatte das deutliche Gefühl, ihre Liebe zu ihm hindere sie nicht, nur seines Geldes wegen bei ihm zu bleiben, und sobald sie nichts mehr von ihm zu erwarten habe, werde sie (ein Opfer der Theorien ihrer literarischen Freunde, meinte er) trotz aller Zuneigung ihn unverzüglich verlassen. – »Ich werde ihr heute,« sagte er, »wenn sie nett ist, etwas schenken, das ihr Vergnügen machen wird. Ein Halsband, das sie bei Boucheron gesehen hat. Es ist im Augenblick etwas teuer für mich, dreißigtausend Franken. Aber das arme Herzchen hat nicht viel Vergnügen im Leben. Sie wird sich mächtig freuen. Sie hatte mir von dem Halsband erzählt und gesagt, sie kenne jemanden, der es ihr vielleicht geben würde. Ich glaube nicht, daß das wahr ist, habe mich aber auf alle Fälle mit Boucheron, welcher der Lieferant meiner Familie ist, verständigt, damit er es mir aufhebe. Ich bin froh, wenn ich denke, daß du sie sehn wirst; ihr Gesicht ist nicht außergewöhnlich schön, weißt du (ich merkte wohl, daß er das Gegenteil dachte und das nur sagte, damit ich sie noch mehr bewundere), vor allem versteht sie, die Dinge wunderbar zu beurteilen; vor dir wird sie vielleicht nicht viel zu sprechen wagen, aber ich freue mich schon im voraus auf das, was sie mir nachher über dich sagen wird, du mußt wissen, sie sagt Dinge, die man unendlich weiterdenken kann, sie hat tatsächlich etwas Pythisches.«

Auf dem Wege zu dem Haus, das sie bewohnte, kamen wir an kleinen Gärten vorbei, und da konnte ich nicht anders, ich mußte stehnbleiben; Kirsch und Birnbäume standen in Blüte; gestern noch leer und unbewohnt wie ein unvermietetes Grundstück, waren die Gärten plötzlich bevölkert und verschönt durch diese neuangekommenen Gäste, deren weiße Kleider man an den Ecken der Alleen durch das Gitter sehn konnte.

»Ich sehe schon, du willst das alles anschauen, du Schönheitsfreund,« sagte Robert zu mir, »warte hier auf mich, meine Freundin wohnt ganz in der Nähe, ich hole sie ab.«

Inzwischen ging ich vor den bescheidenen Gärten auf und nieder. Hob ich den Kopf, sah ich bisweilen junge Mädchen in den Fenstern; im Freien aber in der Nähe eines kleinen Zwischenstocks ließen sich hie und da junge Fliederbüschel, die leicht und geschmeidig in ihren frischen lila Roben im Gezweige hingen, vom Winde schaukeln, ohne auf den Vorübergehenden zu achten, der aufblickte zu ihrem grünen Hochparterre. Ich erkannte in ihnen die violetten Knäuel wieder, welche am Eingang zu Swanns Park gleich hinter dem kleinen weißen Schlagbaum an warmen Frühlingsnachmittagen sich zu einer reizenden Kleinstadtstickerei zusammentaten. Ich geriet auf einen Pfad, der auf eine Wiese führte. Da wehte ein kalter Wind, frisch wie in Combray, aber mitten aus der fetten, feuchten Landerde, wie sie auch am Ufer der Vivonne hätte sein können, hob sich dennoch, rechtzeitig zur Stelle wie die ganze Schar seiner Gefährten, einzeln ein großer weißer Birnbaum und bewegte seine vom Winde gekrampften und von den Strahlen wieder geglätteten und mit Silber bezogenen Blüten wie einen Vorhang von körperhaft und tastbar gewordenem Licht der Sonne lächelnd entgegen.

Mit einemmal erschien Saint-Loup in Begleitung seiner Geliebten, und in der Frau, die ihm die ganze Liebe war, alle Süße, die das Leben zu geben vermag, das geheimnisvolle in einen Körper wie in ein Tabernakel eingeschlossene Wesen, an dessen Erkenntnis immer noch unablässig meines Freundes Phantasie arbeitete (und würde es doch, das fühlte er, nie ganz erkennen), vor dem er beständig sich fragte: wie ist sie selbst hinter dem Schleier von Blick und Fleisch? – in dieser Frau erkannte ich auf der Stelle »Rahel wenn von des Herrn«, die selbe, die vor einigen Jahren – schnell ändern die Frauen jener Welt, wenn sie es überhaupt tun, ihre Stellung – zu der Kupplerin sagte:

»Also, wenn Sie mich morgen für jemand brauchen können, lassen Sie mich holen.«

Und »ließ man sie holen« und war sie dann allein im Zimmer mit diesem Jemand, so wußte sie, was man von ihr wollte, verschloß als vorsichtige Frau oder einer Satzung folgend die Tür, fing an, all ihre Sachen auszuziehen, wie man es vor dem Doktor tut, der einen auskultieren will, und unterbrach sich dabei nur, wenn der »Jemand« die Nacktheit nicht liebte und ihr sagte, sie könne ihr Hemd anbehalten, wie ja auch manche Ärzte, die ein sehr feines Ohr haben und vermeiden wollen, daß ihr Patient sich erkälte, sich damit begnügen, Atem und Herzschlag durch die Wäsche hindurch zu belauschen. Dieser Frau, deren ganzes Dasein, Denken und Vorleben nebst allen Männern, die sie besessen haben mochte, mir äußerst gleichgültig war – ich hätte ihr nur aus Höflichkeit zugehört und nicht acht gegeben, wenn sie mir davon erzählt hätte – dieser Frau also war Saint-Loups Unruhe, Qual und Liebe zugewandt, und aus dem, was für mich ein mechanisches Spielzeug war, machte er einen Gegenstand unendlicher Leiden, ja den Preis des Daseins. Angesichts dieses Widerspruchs (ich hatte »Rahel wenn von des Herrn« in einem Bordell kennen gelernt) begriff ich, daß viele Frauen, für die Männer leben, leiden und sich töten, an sich oder für andere sein mögen, was Rahel für mich war. Höchst erstaunlich war mir der Gedanke, man könne auf ihr Leben unter Schmerzen neugierig sein. Ich hätte Robert mancherlei Bettgeschichten von ihr mitteilen können, die mir das Gleichgültigste auf der Welt schienen. Und wie hätte ihn das gepeinigt! Was hatte er nicht darum gegeben, um von solchen Dingen etwas zu erfahren, und es war ihm nicht gelungen. Mir wurde deutlich, was alles menschliche Phantasie hinter ein Stückchen Gesicht wie das dieser Frau tun kann, wenn zuerst eben nur die Phantasie sie kennen gelernt hat und, umgekehrt, in welch elende materielle, alles Wertes und Preises beraubte Elemente sich dies Ziel so vieler Träumereien auflösen kann, wenn die Bekanntschaft auf ganz banale Art gemacht worden ist. Ich begriff: was mir nicht zwanzig Franken wert geschienen war, als es mir im Bordell für zwanzig Franken angeboten wurde, wo es für mich nur eine Frau war, die gern zwanzig Franken verdienen wollte, kann mehr wert sein als eine Million, als die Familie, als alle begehrenswerten Lebensstellungen, wenn man darunter sich zunächst ein unbekanntes Wesen vorgestellt hat, das interessant, kennen zu lernen, schwer zu erringen, schwer zu behalten ist. Gewiß sahn wir beide in dasselbe Antlitz, Robert und ich. Aber wir waren auf zwei entgegengesetzten Wegen, die nie zusammentreffen werden, zu ihm gekommen, und so würden wir nie dasselbe Äußere von ihm zu sehn bekommen. Dies Gesicht mit seinen Blicken, seinem Lächeln und den Bewegungen des Mundes hatte ich von außen als das irgendeines Geschöpfes kennen gelernt, das für zwanzig Franken tun würde, was ich wollte. So waren mir denn die Blicke, das Lächeln, die Mundbewegungen nur als Merkmale allgemeiner Tätigkeiten und ohne alles Eigentümliche erschienen, und ohne sie wäre ich nicht begierig gewesen, nach einer Person zu suchen. Aber was mir gewissermaßen bei der Abreise angeboten wurde, dies bereitwillige Gesicht, es war für Robert eine Stätte der Ankunft gewesen, ein Ziel, dem er durch unendlich viel Hoffnung, Zweifel, Verdacht und Traum zustrebte. Er gab mehr als eine Million, um das, was mir und jedem für zwanzig Franken angeboten wurde, zu haben und zu hindern, daß es einem andern angeboten werde. Aus welchem Grunde er es nicht auch zu unserm Preise bekam, kann vom Zufall eines Augenblicks abgehangen haben, eines Augenblicks, während dessen sie, die bereit schien, sich zu geben, auswich, vielleicht weil sie eine Verabredung hatte oder sonst einen Grund, der sie gerade an diesem Tage schwieriger machte. Hat sie es in einem solchen Fall mit einem Schwärmer zu tun, so beginnt, auch wenn sie das nicht bemerkt, vor allem aber, wenn sie es bemerkt, ein schreckliches Spiel. Unfähig, seine Enttäuschung zu überwinden und sich dieser Frau zu entschlagen, stellt er ihr nach, sie flieht ihn, und dann wird schon ein Lächeln, das er nicht zu erhoffen wagte, tausendmal so teuer bezahlt als die letzte Gunst bezahlt worden wäre. Wer in solcher Lage naiv urteilt und zugleich feige Angst vor Schmerzen hat, kann toll genug werden, aus der Dirne ein unerreichbares Idol zu machen, und dann wird er die letzte Gunst, ja vielleicht sogar die des ersten Kusses niemals erfahren, wird nicht einmal wagen, darum zu bitten, um nicht die Beteuerungen seiner platonischen Liebe Lügen zu strafen. Dann ist es ein großer Schmerz, das Leben verlassen zu müssen, ohne je erfahren zu haben, wie der Kuß der Frau sein könnte, die man am meisten geliebt hat. Rahels Gunst hatte Saint-Loup allerdings zum Glück vollständig gehabt. Hätte er jetzt erfahren, daß diese Gunst aller Welt für ein Goldstück angeboten worden war, er hätte sicherlich schrecklich gelitten, aber nichtsdestoweniger eine Million darum gegeben, sich diese Gunst zu erhalten, denn was er auch erfahren hätte, es konnte ihn nicht – das geht nämlich über Menschenkraft und kann nur gegen den menschlichen Willen durch die Wirksamkeit eines großen Naturgesetzes geschehn – von dem Wege abbringen; er konnte nunmehr dies Gesicht nur durch die Schleier der Träume sehn, die sich in ihm geformt hatten; Blick, Lächeln und Mundbewegung blieben für ihn die einzige Enthüllung der Person, deren wahre Natur er hätte kennen lernen, deren Begierden er allein hätte besitzen wollen. Die Unbewegtheit des kleinen Gesichtes war wie die eines Blattes Papier, das dem ungeheuern Druck zweier Atmosphären ausgesetzt wird, sie schien mir im Gleichgewicht gehalten durch zwei Unendliche, die auf sie zustrebten, ohne sich zu begegnen, denn sie trennte sie. Indem wir beide sie ansahen, Robert und ich, sahen wir sie nicht von derselben Seite des Geheimnisses.

»Rahel wenn von des Herrn« nahm ich nicht weiter wichtig, aber die Macht der menschlichen Phantasie, den Wahn, auf dem die Schmerzen der Liebe beruhen, fand ich groß. Robert bemerkte meine Erregung. Ich wandte meine Augen zu den Birn- und Kirschbäumen im Garten gegenüber: er sollte glauben, was mich so bewege, sei ihre Schönheit. Und sie bewegte mich in ein wenig verwandter Art, auch sie bot mir Dinge dar, die wir nicht nur mit unsern Augen sehn, sondern im Herzen fühlen. Als ich die blühenden Bäume im Garten für fremde Götter hielt, hatte ich mich da nicht getäuscht wie Magdalena, als sie an einem Tage des Jahres, der nun bald wiederkehren sollte, in einem andern Garten eine menschliche Gestalt sah und »glaubte, es sei der Gärtner«? Diese Bäume hüteten das Gedächtnis des goldenen Zeitalters, sie bürgten für die Verheißung; die Wirklichkeit ist nicht, was man glaubt, Leuchten der Poesie, wunderbarer Glanz der Unschuld kann in ihr spiegeln und der Lohn werden, den zu verdienen wir uns mühen; und waren so die großen weißen Geschöpfe, die sich neigten, um dem Ruhen, Fischen, Lesen Schatten zu spenden, nicht vielmehr Engel? Ich wechselte ein paar Worte mit der Geliebten von Saint-Loup. Wir durchquerten das Dorf. Die Häuser waren schmutzig. Aber neben den elendesten, denen, die aussahn, wie von einem Salpeterregen versengt, erhob sich, für einen Tag in der Luft verweilend, ein geheimnisvoller Reisender; aufrecht stand er, ein strahlender Engel, und breitete weithin über sie den blendenden Schutz, die unschuldige Blüte seiner Flügel: ein Birnbaum. Saint-Loup ging ein paar Schritte mit mir voraus:

»Gern hätte ich mit dir zusammen gewartet, ja sogar lieber allein mit dir gefrühstückt, und wir wären dann allein zusammengeblieben, bis wir zu meiner Tante gehn. Aber meinem armen Mädel macht das soviel Vergnügen, und sie ist so lieb zu mir, weißt du, ich konnte es ihr nicht abschlagen. Übrigens wird sie dir gefallen, sie kennt die Literatur gut, ist eine Enthusiastin, und dann ist es so nett, mit ihr im Restaurant zu frühstücken, sie ist so angenehm, so einfach und immer mit allem zufrieden.«

Gleichwohl glaube ich, daß Robert gerade an diesem Vormittag – und wahrscheinlich nur dies eine Mal – für einen Augenblick sich freimachte von dem Bilde der Frau, das er mit immer neuer Zärtlichkeit langsam aufgebaut hatte, und plötzlich ein Stückchen davon entfernt eine andere Rahel wahrnahm, eine Doppelgängerin seiner Rahel, von ganz anderer Art, und die trat auf als einfache kleine Hure. Als wir den schönen Baumgarten verlassen hatten und zu dem Zuge uns begaben, der uns nach Paris zurückbringen sollte, ging am Bahnhof Rahel ein paar Schritte von uns entfernt; da wurde sie erkannt und angerufen von gewöhnlichen »Nutten«, wie sie selbst eine gewesen war; die glaubten erst, sie sei allein, und riefen ihr zu: »Rahel, steig doch mit uns ein, Lucienne und Germaine sind im Wagen, es ist gerade noch ein Platz, komm, wir gehen zusammen zum Skating«, und sie waren schon im Begriff, ihre zwei Ladenschwengel, ihre Liebhaber und Begleiter, vorzustellen, da bemerkten sie, daß Rahel etwas verlegen dreinsah, hoben neugierig die Augen, sahen etwas weiter uns beide, entschuldigten sich und sagten ihr Auf Wiedersehn, was sie ein wenig verwirrt, aber freundschaftlich erwiderte. Es waren zwei arme kleine Nutten mit Kragen aus falschem Otterfell, sie sahen ungefähr so aus wie Rahel, als Saint-Loup sie zum erstenmal getroffen hatte. Er kannte sie nicht, wußte nicht ihre Namen, und als er nun sah, daß seine Freundin ihnen sehr nahestand, kam ihm der Gedanke, sie habe vielleicht deren Situation gehabt und habe sie vielleicht noch in einem Leben, von dem er nichts ahnte; es war sehr verschieden von dem, welches er mit ihr führte, und in diesem Leben bekam man die Frauen für ein Goldstück, während er der Rahel mehr als hunderttausend Franken im Jahre gab. Er tat nur einen flüchtigen Blick in dies Leben, aber mitten darin sah er eine ganz andere Rahel als die, welche er kannte, eine Rahel, die den beiden kleinen Kokotten ähnlich war, eine Rahel zu zwanzig Franken. Rahel hatte für einen Augenblick sich ihm in zwei Wesen geteilt, und er sah in einiger Entfernung von seiner Rahel die kleine Kokotte Rahel, die wirkliche Rahel (vorausgesetzt, daß die Kokotte Rahel wirklicher war als die andere). Am Ende kam ihm da der Gedanke, er hätte vielleicht bequem sich losreißen können aus der Hölle, in der er lebte – immer mit der Aussicht, unbedingt eine reiche Heirat schließen und seinen Namen verkaufen zu müssen, um weiter der Rahel hunderttausend Franken im Jahre geben zu können – und hätte die Gunst seiner Geliebten wie jene Ladenschwengel die ihrer Huren billig haben können. Aber wie war das anzustellen? Sie hatte sich nichts gegen ihn zu schulden kommen lassen. Hätte er sie weniger mit Geschenken überhäuft, sie wäre nicht so liebenswürdig, würde ihm nicht mehr all das Reizende sagen und schreiben, das ihn so sehr rührte, das er ein wenig prahlerisch seinen Kameraden bruchstückweise vorlas. Dabei hob er gern hervor, wie nett es von ihr sei, ließ aber weg, daß er sie verschwenderisch aushielt, ihr schenkte, was sie wollte, und daß diese Widmungszeilen auf einer Photographie oder diese hübschen Schlußsätze einer Depesche die auf die kürzeste Form gebrachte und wertvollste Transmutation von hunderttausend Franken waren. Es war nicht Eigenliebe oder Eitelkeit von ihm, daß er es vermied zu gestehn, er müsse für die seltenen Liebenswürdigkeiten Rahels zahlen – wie man es doch ziemlich einfältig von allen Liebhabern, die ausgenutzt werden, und von soviel Ehemännern behauptet. Saint-Loup war klug genug, um sich darüber klar zu sein, daß er mit seinem großen Namen und seinem hübschen Gesicht in der Gesellschaft alle Genüsse der Eitelkeit bequem und unentgeltlich hätte haben können; gerade sein Verhältnis zu Rahel hatte ihn, er wußte es wohl, etwas aus der Gesellschaft entfernt und bewirkt, daß er weniger hoch eingeschätzt wurde. Nein, den Anschein erwecken zu wollen, man bekäme die sichtlichen Beweise der Vorliebe von der, die man liebt, unentgeltlich, ist einfach ein Nebenerzeugnis der Liebe, man will vor sich und den andern als Geliebter des so sehr geliebten Wesens dastehn. Rahel kam wieder zu uns und ließ die beiden Nutten in ihr Abteil steigen; aber außer dem falschen Otterfell dieser Mädchen und dem geschniegelten Aussehn der Ladenschwengel nährten die Namen Lucienne und Germaine noch eine Weile Roberts Gedanken an die neue Rahel. Einen Augenblick stellte er sich ein Leben auf der Place Pigalle vor mit unbekannten Freunden und schmutzigen Abenteuern, harmlosen Nachmittagsvergnügungen, Spazierfahrten und Lustpartien; und der Sonnenschein über diesem Paris, das vom Boulevard de Clichy ausgeht, schien ihm etwas ganz anderes als die Sonnenhelle, in der er sich mit der Geliebten erging, Liebe und Leid, das zur Liebe gehört, machen wie die Trunkenheit uns alle Dinge anders. Das Paris seiner Liebe war eine unbekannte Stadt mitten in dem vermutlich wirklichen Paris. Seine Liebschaft war wie eine Entdeckungsfahrt in ein fremdartiges Leben. Mit ihm zusammen war Rahel ein wenig wie er selbst, und doch war es ein Teil ihres wirklichen Lebens, was Rahel mit ihm lebte, und wegen der tollen Summen, die er ihr gab, sogar der kostbarste Teil, um den ihre Freundinnen sie sehr beneideten; dieser Teil ihres Lebens würde ihr die Möglichkeit verschaffen, sich eines Tages aufs Land zurückzuziehen oder große Theaterkarriere zu machen, nachdem sie sich ein Sümmchen gesammelt hatte. Gern hätte Robert seine Freundin gefragt, wer Lucienne und Germaine seien, was sie ihr gesagt hätten, wenn sie zu ihnen in den Wagen gestiegen wäre, und wie sie mit ihren Kameradinnen den Tag verbracht hätte; der wäre vielleicht nach den Freuden des Skating in der Taverne der Olympia – letzte Höhe der Vergnügungen – zu Ende gegangen, wenn Robert und ich nicht zugegen gewesen wären. Einen Augenblick erregten die Eingangshallen der Olympia, die ihm bisher höchst unleidlich gewesen, seine schmerzliche Neugier, und die Sonne dieses Frühlingstages mußte er sich auf der rue Caumartin vorstellen, wohin Rahel, wenn sie ihn nicht gekannt hätte, vielleicht gegangen wäre, ein Goldstück zu verdienen; dies Bild machte ihm eine unbestimmte Sehnsucht. Aber wozu Rahel Fragen stellen? Er wußte im voraus, ihre Antwort würde ein einfaches Schweigen oder eine Lüge oder sehr peinlich für ihn sein und ihm nichts beschreiben. Die Schaffner schlossen die Wagentüren, wir stiegen schnell in ein Abteil erster Klasse ein, Rahels wunderbare Perlen überzeugten Robert aufs neue, daß sie eine sehr teure Frau war, er streichelte sie und ließ sie wieder in sein Herz ein, wo er sie wie bisher – mit Ausnahme der kurzen Minute, in der er sie auf einer von Impressionisten gemalten Place Pigalle sah – mit zentralster Andacht betrachten konnte, und der Zug ging ab.

Übrigens war sie wirklich eine »Schöngeistige«. Die ganze Zeit unterhielt sie mich über Bücher, moderne Kunst, Tolstoismus und unterbrach sich nur, um Saint-Loup Vorwürfe zu machen, daß er zuviel Wein trinke.

»Ach, wenn du ein Jahr lang mit mir leben könntest, man würde schon sehn, bei mir würdest du Wasser trinken und viel gesünder sein.«

»Einverstanden! Laß uns verreisen.«

»Aber du weißt doch, daß ich viel zu arbeiten habe!« (Sie nahm die dramatische Kunst ernst.) »Und dann, was würde deine Familie sagen?«

Und sie begann mir über seine Familie zu klagen, und ihre Vorwürfe schienen mir sehr gerechtfertigt. Saint-Loup, der ihr im Punkte Champagner nicht gehorchte, stimmte ihr vollkommen bei. Ich hatte den Wein ja immer gefährlich für Saint-Loup gefunden und fühlte den guten Einfluß seiner Geliebten, ich war nahe daran, ihm zu raten, er solle seine Familie zum Teufel wünschen. Als ich dann die Unvorsichtigkeit hatte, von Dreyfus zu sprechen, stiegen der jungen Frau Tränen in die Augen.

»Der arme Märtyrer,« sagte sie, »sie werden ihn noch umkommen lassen da unten.«

»Beruhige dich, Zézette, er wird zurückkehren, er wird freigesprochen werden; man wird den Irrtum eingestehn.«

»Vorher aber wird er tot sein! Nun, wenigstens werden seine Kinder einen makellosen Namen tragen. Aber zu denken, was er leiden muß, das tötet mich! Und wollen Sie wohl glauben, daß Roberts Mutter, eine fromme Frau, sagt, er müßte auf der Teufelsinsel bleiben, selbst wenn er unschuldig sei, ist das nicht entsetzlich?«

»Ja, sie sagt die reine Wahrheit«, bestätigte Robert. »So spricht meine Mutter, ich kann es nicht leugnen; aber sie hat eben auch nicht Zézettes Feinfühligkeit.« In Wirklichkeit verliefen die angeblich so reizenden Essen mit Rahel meist sehr unangenehm. Sobald sich nämlich Saint-Loup mit seiner Geliebten in der Öffentlichkeit zeigte, redete er sich ein, sie sehe alle anwesenden Männer an, er wurde düster, sie bemerkte seine schlechte Laune, und es machte; ihr dann vielleicht Freude, das Feuer noch zu schüren, oder aber – das ist wahrscheinlicher – sie fühlte sich durch seinen Ton in ihrer dummen Eigenliebe: gekränkt und wollte durchaus nicht den Anschein erwecken, als suche sie seinen Groll zu entwaffnen; sie tat, als könne sie die Augen nicht losreißen von dem oder jenem Mann, und das war übrigens nicht immer ein bloßes Spiel. Hatte ein zufälliger Nachbar im Theater oder Café oder ganz einfach der Kutscher, der sie fuhr, irgend etwas Anziehendes, so fiel es Robert noch vor seiner Geliebten auf, seine Eifersucht warnte ihn; sofort sah er in dem Betreffenden eines dieser unsauberen Wesen, von denen er mir in Balbec gesprochen, einen der Männer, welche; die Frauen zu ihrem Vergnügen verderben und entehren. Er bat seine Geliebte inständig, ihre Blicke von dem Menschen wegzuwenden, und gerade dadurch machte er sie auf ihn aufmerksam. Manchmal fand sie, Robert bewiese mit seinem Verdacht einen recht guten Geschmack, und, damit er sich beruhige und darauf einginge, fortzugehn, um eine Besorgung zu machen, hörte sie auf ihn zu necken, um so Zeit zu gewinnen, mit dem Unbekannten ein Gespräch anzuknüpfen; oft verabredete sie bei dieser Gelegenheit ein Stelldichein, manchmal machte sie gleich einen kleinen Seitensprung. Kaum waren wir im Restaurant, so fiel mir Roberts besorgte Miene auf. Sofort hatte er etwas bemerkt, was uns in Balbec entgangen war: von Aimé ging mitten unter seinen gewöhnlichen Kameraden, ohne daß er es beabsichtigte, gedämpft durch Bescheidenheit, der romantische Glanz aus, den bis zu einem gewissen Alter weiches Haar und eine griechische Nase verleihen. Das unterschied ihn von der Schar der andern bedienenden Kellner. Die waren fast alle ziemlich alt und hatten die außerordentlich häßlichen und ausgeprägten Typen heuchlerischer Pfaffen und schwatzhafter Beichtväter, und öfter noch die alter Komiker mit Zuckerhutstirnen, wie man sie nur noch in der Porträtsammlung des schlicht historischen Foyers aus der Mode gekommener kleiner Theater findet (dort sind sie in den Rollen von Kammerdienern oder Prälaten dargestellt); von diesem feierlichen Typus schien das Restaurant auf Grund von Ersatz durch Zuchtwahl und vielleicht mittels erblicher Ernennung eine Art Augurenkollegium zu konservieren. Zum Unglück hatte Aimé uns erkannt, und während der Zug der Operettenpriester sich zu den andern Tischen ergoß, kam er, unsere Bestellung entgegenzunehmen. Er erkundigte sich nach der Gesundheit meiner Großmutter, ich fragte, wie es seiner Frau und seinen Kindern gehe. Gerührt gab er mir Bescheid, er hing sehr an seiner Familie. In seiner Miene lag Klugheit und Tatkraft, aber auch Achtung. Roberts Geliebte begann, ihn mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Aber Aimés Gesicht blieb unbewegt, und seinen tiefliegenden Augen, die durch leichte Kurzsichtigkeit etwas trügerisch Unergründliches bekamen, war nichts anzumerken. Bevor er nach Balbec kam, hatte er jahrelang in einem Provinzhotel gedient, und jahrelang hatte man die hübschen Umrisse seines jetzt etwas gelb und matt gewordenen Gesichtes immer am selben Platz im Hintergrund des meist leeren Speisesaals gesehn, wie etwa einen Stich, der den Prinzen Eugen darstellt, und da mochten sie wohl keine sehr neugierigen Blicke angelockt haben. So hatte er lange Zeit, aus Mangel an Kennern, von dem künstlerischen Wert seines Gesichtes nichts gewußt; bei seinem kühlen Temperament war er im übrigen durchaus aufgelegt, diesen Wert zur Geltung zu bringen. In jener Kleinstadt hatte höchstens gelegentlich eine durchreisende Pariserin die Augen zu ihm erhoben, ihn vielleicht gebeten, ihr, bevor ihr Zug abging, in ihrem Zimmer aufzutragen, und in dies Dasein eines guten Gatten und Provinzbedienten das Geheimnis einer Eintagslaune vergraben, wovon nie jemand eine Spur entdecken würde. Immerhin mußte es Aimé auffallen, wie eindringlich die Augen der jungen Künstlerin an ihm hafteten. Jedenfalls entging das Robert nicht, und ich sah, wie sein Gesicht sich rötete; es war nicht die lebendige Röte, die ihn mit Purpur übergoß, wenn er eine plötzliche Erregung fühlte, sondern ein schwaches, bröckliges Rot.

»Dieser Oberkellner ist wohl sehr interessant, Zézette?« fragte er seine Geliebte, nachdem er Aimé ziemlich kurz abgefertigt hatte. »Man sollte meinen, du willst eine Studie nach ihm machen.«

»Jetzt gehts los, ich wußte es ja!«

»Was geht los, mein Kind? Wenn ich unrecht gehabt habe, will ich selbstverständlich nichts gesagt haben. Aber ich habe doch wohl das Recht, dich zu warnen vor diesem Lakaien, den ich aus Balbec kenne (sonst würde ich mich den Teufel um ihn kümmern), er ist einer der größten Lumpen, den die Erde je getragen hat.«

Sie schien Robert gehorchen zu wollen und begann mit mir eine literarische Unterhaltung, in die Robert sich mischte. Es langweilte mich nicht, mit ihr zu plaudern, sie kannte die Werke gut, die ich bewunderte, und unser Urteil stimmte annähernd überein; da ich aber von Frau von Villeparisis gehört hatte, sie habe kein Talent, nahm ich ihre Bildung nicht sehr wichtig. Sie wußte fein über tausenderlei zu scherzen und hätte wirklich Wohlgefallen erwecken können, hätte sie nicht eine aufreizende Vorliebe für die Ausdrucksweise der Cliquen und der Ateliers gehabt. Die wandte sie auf alles an, und da sie die Gewohnheit angenommen hatte, von einem Bild, wenn es impressionistisch, von einer Oper, wenn sie wagnerianisch war, zu sagen »ach, das hat Stil«, sagte sie auch eines Tages zu einem jungen Mann, der sie aufs Ohr geküßt und, betroffen von ihrem vorgetäuschten Schauer, den Bescheidenen gespielt hatte: »Doch, doch, als Sensation, finde ich, hat es Stil.« Vor allem aber wunderte es mich, daß sie Roberts eigentümliche Ausdrücke (vielleicht hatte er sie übrigens von den Literaten, die er durch sie kennengelernt) vor ihm anwandte, und er ebenfalls vor ihr, als müßte dergleichen unbedingt so gesagt werden, ohne Gefühl für das Nichtige solch einer Allerweltsursprünglichkeit.

Beim Essen gebrauchte sie ihre Hände äußert ungeschickt: man konnte danach vermuten, daß sie auf der Bühne beim Spielen sehr linkisch sein mochte. Nur in der Liebe bekam sie eine natürliche Gewandtheit, sie hatte die rührende, ahnungsvolle Sicherheit der Frauen, die den Körper des Mannes sehr lieben: dadurch erraten sie sofort, was diesem Körper, der doch von dem ihren sehr verschieden ist, das größte Vergnügen bereiten kann.

Als man vom Theater sprach, beteiligte ich mich nicht mehr an der Unterhaltung, über diesen Gegenstand redete Rahel allzu böswillig. Allerdings verteidigte sie in mitleidigem Ton die Berma gegen Saint-Loup, was nur bewies, daß sie sie sonst oft vor ihm angriff. »O nein, es ist eine bemerkenswerte Frau. Gewiß ergreift uns ihre Art nicht mehr, sie entspricht nicht mehr ganz dem, was wir suchen, man muß sie an den Zeitpunkt stellen, an dem sie erschienen ist, man verdankt ihr viel. Sie hat Stil gehabt, mußt du wissen. Und dann ist es eine so rechtschaffene Frau, so hochherzig; natürlich liebt sie nicht das, was uns interessiert, aber sie hat mit einem recht ergreifenden Gesichtsausdruck hübsche Geistesfähigkeiten verbunden.« (Nicht alle ästhetischen Urteile werden von denselben Fingerbewegungen begleitet. Handelt sichs um Bilder, und will man ein schön pastoses Stück Malerei andeuten, begnügt man sich damit, den Daumen vorspringen zu lassen. Aber »hübsche Geistesfähigkeiten« verlangen mehr. Da sind zwei Finger erforderlich oder vielmehr zwei Nägel, als gelte es, etwas Staub zu entfernen.) Aber – bis auf diesen einen Fall – sprach Saint-Loups Geliebte von den bekanntesten Künstlern sehr spöttisch und von oben herab, und das ärgerte mich, weil ich – irrtümlicherweise – meinte, sie stehe nicht auf der Höhe dieser Künstler. Sie merkte deutlich, daß ich sie für eine mittelmäßige Künstlerin halten und die, welche sie verachtete, sehr hoch schätzen mochte. Aber das verletzte sie nicht: das große, noch nicht anerkannte Talent – wie sie es besaß – hat, so sicher es seiner selbst sein mag, eine gewisse Demut; auch bemessen wir die Achtung, die wir verlangen, nicht nach unsern verborgenen Gaben, sondern nach der Stellung, die wir errungen haben. (Eine Stunde später im Theater sollte ich sehn, wie Saint-Loups Geliebte gegen dieselben Künstler, über die sie eben erst so hart geurteilt hatte, sich sehr ehrerbietig benahm.) Obwohl sie also über den Sinn meines Schweigens nicht im Zweifel sein konnte, bestand sie doch darauf, wir sollten am Abend zusammen speisen, und versicherte, sie habe sich noch mit niemand so gut unterhalten wie mit mir. Wir sollten zwar erst nach dem Essen ins Theater gehn, aber schon hier waren wir wie in einem Foyer, das die Bildnisse früherer Mitglieder der Truppe schmücken. Die Oberkellner hatten Gesichter, wie sie mit einem ganzen veralteten Künstlergeschlecht vom Palais-Royal ausgestorben schienen; auch von Akademiemitgliedern hatten sie etwas; einer, der die Birnen auf einer Anrichte prüfend betrachtete, hatte im Ausdruck die uneigennützige Wißbegier des Herrn von Jussieu. Andere neben ihm warfen in den Saal die kalt neugierigen Blicke, mit denen ans Ziel gelangte Mitglieder des Instituts das Publikum betrachten – sie wechseln dabei Worte, die man nicht versteht. Sie hatten die berühmten, allbekannten Gesichter. Man zeigte sich einen neuen mit kupfriger Nase und plappernder Lippe, der kirchlich aussah und zum erstenmal bediente; jeder beobachtete mit Interesse den Neugewählten. Bald aber – vermutlich, um Robert zu entfernen und mit Aimé allein zu bleiben – warf Rahel einem jungen Börsianer Blicke zu, der an einer benachbarten Tafel mit einem Freunde speiste.

»Zézette, ich möchte dich bitten, diesen jungen Mann nicht so anzusehn«, sagte Saint-Loup; auf seinem Gesicht waren die einzelnen zögernden Flecken zu einer blutroten Masse zusammengeflossen, welche die entspannten Züge meines Freundes dehnte und verdunkelte, »wenn du uns hier zur Schau stellen willst, eß ich lieber für mich allein und erwarte dich dann im Theater.«

In diesem Augenblick wurde Aimé gemeldet, ein Herr, der ihn zu sprechen wünsche, bitte ihn, an seinen Wagenschlag zu kommen. Saint-Loup, der die ganze Zeit unruhig war, fürchtete, es handle sich um eine Liebesbotschaft an seine Freundin; er sah durchs Fenster und bemerkte in seinem Wagen, die Hände in weißen, schwarz gestreiften Handschuhen und eine Blume im Knopfloch, Herrn von Charlus.

»Siehst du,« sagte er leise zu mir, »bis hierher stellt mir meine Familie nach. Ich bitte dich – ich selber kann es nicht – du kennst doch den Oberkellner gut –, er wird uns sicher verkaufen; sag ihm, er soll nicht an den Wagen gehn. Wenn einer hin muß, dann soll es ein Kellner sein, der mich nicht kennt. Sagt man meinem Onkel, man kenne mich nicht, so wird er nicht hier nachsehn kommen, ich weiß, wie er ist, er haßt solche Stätten. Aber ist es nicht ekelhaft, daß so ein alter Mädchenjäger wie er, der noch immer nicht ausspannen will, mir beständig Lehren gibt und mich auskundschaftet!«

Auf meine Weisung hin schickte Aimé einen seiner Hilfskellner, um sagen zu lassen, er könne nicht abkommen und, wenn man nach dem Marquis von Saint-Loup frage, zu bestellen, man kenne ihn nicht. Bald darauf fuhr der Wagen ab. Aber Saint-Loups Geliebte, die nicht verstanden hatte, was wir flüsterten, und meinte, es handle sich um den jungen Menschen, mit dem sie, wie Robert ihr vorwarf, Blicke gewechselt haben solle, fing zu schelten an:

»Das wird ja immer besser! Jetzt ist es wohl der junge Mann da drüben? Gut, daß du mich warnst. Das ist ja ein reizendes Essen! Kümmern Sie sich nicht um das, was er sagt,« wandte sie sich dann an mich, »er redet so, weil er denkt, das macht sich elegant, das sieht nach großem Herrn aus, wenn man eifersüchtig tut.«

Ihre Hände und Füße zuckten nervös.

»Aber, Zézette, für mich ist das doch unangenehm. Du machst uns lächerlich in den Augen dieses Herrn, er wird überzeugt sein, du machst ihm Avancen, und er sieht mir höchst widerlich aus.«

»Mir dagegen gefällt er sehr gut; erstens hat er entzückende Augen und eine Art, die Frauen anzusehn, man merkt, er muß sie lieben.«

»Schweig wenigstens, bis ich fort bin, wenn du schon toll bist«, schrie Robert. »Kellner, meine Sachen.« Ich wußte nicht, ob ich ihm folgen sollte.

»Nein, ich muß allein sein«, sagte er in demselben Ton, in dem er mit seiner Geliebten gesprochen hatte, als ob er auch auf mich böse sei; sein Zorn war wie eine musikalische Phrase, die in einer Oper auf mehrere Repliken gesungen wird, die unter einander im Textbuch an Sinn und Charakter ganz verschieden sind; aber musikalisch verbindet sie dieselbe Stimmung. Als Robert fort war, rief seine Geliebte Aimé und bat ihn um verschiedene Auskünfte. Dann wollte sie wissen, wie ich ihn fände.

»Er hat etwas Amüsantes im Blick, nicht wahr? Sie verstehn: es würde mir Spaß machen zu wissen, was er sich denken mag, oder oft von ihm bedient zu werden, ihn mit auf die Reise zu nehmen. Aber nicht mehr. Wenn man gezwungen wäre, alle Leute zu lieben, die einem gefallen, das wäre im Grunde ziemlich schrecklich. Robert hat unrecht, sich Gedanken zu machen. Das existiert ja alles nur in meinem Kopf. Robert sollte ganz ruhig sein.« Dabei sah sie immer noch Aimé an. »Sehn Sie doch, was für schwarze Augen er hat. Ich möchte wissen, was dahinter steckt.«

Bald wurde ihr gemeldet, Robert lasse sie in ein Nebenzimmer bitten; dahin war er, ohne noch einmal durch das Restaurant zu müssen, durch einen andern Eingang gekommen und hatte dort weiter gegessen. So blieb ich allein, dann ließ Robert auch mich rufen. Ich fand seine Geliebte auf ein Sofa ausgestreckt, sie lachte unter seinen Küssen und Liebkosungen. Sie tranken Champagner. »Guten Tag, du!« sagte sie zu ihm. Erst kürzlich hatte sie diese Formel gelernt, die ihr der äußerste Schick in Liebe und Geist schien. Ich hatte schlecht gegessen, ich fühlte mich unbehaglich, und ohne daß die Worte Legrandins hineinspielten, tat es mir doch leid, den ersten Frühlingsnachmittag im Nebenzimmer eines Restaurants zu beginnen, um ihn dann in Theaterkulissen zu beenden. Rahel sah nach der Uhr, ob sie sich nicht verspäten würde, dann bot sie mir Champagner an, reichte mir eine ihrer orientalischen Zigaretten und löste für mich eine Rose von ihrem Gürtel.

Nun sagte ich mir: es braucht mir um einen Tag nicht allzu leid zu tun; diese bei einer jungen Frau verbrachten Stunden sind nicht verloren für mich, es ist doch reizend und unbezahlbar, daß ich von ihr eine Rose, eine parfümierte Zigarette und ein Glas Champagner bekommen habe. Damit schienen mir diese etwas langweiligen Stunden einen ästhetischen Charakter zu bekommen, gerechtfertigt und gerettet zu sein. Vielleicht hätte ich bedenken sollen, schon mein Bedürfnis, zum Trost für meinen Verdruß einen Grund zu finden, bewies hinreichend, ich fühlte nichts Ästhetisches. Robert und seine Geliebte schienen sich gar nicht mehr an den Streit, den sie eben erst gehabt hatten, zu erinnern, auch nicht daran, daß ich dabei gewesen war. Sie machten keine Anspielung darauf, suchten nach keiner Entschuldigung, auch nicht dafür, daß sie sich jetzt im Gegensatz zu vorhin ganz anders benahmen. Ich trank Champagner mit ihnen und spürte dabei etwas von der Trunkenheit, die ich in Rivebelle erlebt hatte, aber es war wohl doch nicht ganz dieselbe. Es gibt ja nicht nur verschiedene Arten von Trunkenheit: vom Sonnenrausch und Reiserausch bis zu dem, der von Ermüdung oder vom Weintrinken kommt, sondern auch Grade, und jeder Grad müßte besonders »notiert« werden, eine Maßbezeichnung tragen wie die verschiedenen Tiefen des Meeres, er enthüllt in uns mit seinem jeweiligen Tiefengrad einen besondern Menschen. Das Kabinett, das Saint-Loup gewählt hatte, war klein, aber der einzige Spiegel, der es schmückte, hing so, daß er etwa dreißig weitere Kabinette unendlicher Fernschau widerzuspiegeln schien; und die Glühbirne oben an seinem Rahmen mochte abends, wenn sie angesteckt war, mit ihrem Gefolge von dreißig gleichen spiegelnden Birnen selbst dem einsamen Trinker die Vorstellung geben, der Raum um ihn her vervielfältige sich zugleich mit seinen von Trunkenheit gesteigerten Empfindungen; einsam in diesen Schlupfwinkel eingeschlossen, herrsche er doch über ein in unendlicher Kurve weiter schweifendes Lichtgebiet als es eine Allee des »Jardin de Paris« ist. In diesem Augenblick war ich mit einemmal selbst solch ein Trinker geworden, ich suchte ihn im Spiegel und fand einen häßlichen Unbekannten, der mich ansah. Die Freude des Rausches war stärker als der Ekel; aus Übermut oder Trotz lächelte ich ihm zu und zugleich lächelte er mir zu. Ich fühlte mich ganz in der einmaligen Macht der Minute, in der so starke Gefühle herrschen; ich glaube, mein einziger Kummer war, daß das häßliche Ich im Spiegel jetzt vielleicht seinen letzten Tag erlebe, daß ich diesen Fremden nie wieder treffen werde im Lauf meines Lebens.

Robert war nur über eins verdrossen: daß ich in den Augen seiner Geliebten nicht mehr glänzen wollte.

»Du, das mit dem Herrn, den du heute früh getroffen hast, dem, der Snobismus und Astronomie durcheinandermengt, erzähls ihr doch, ich kann mich nicht mehr genau erinnern«, und er zwinkerte mir zu.

»Ach, mein Junge, da gibts ja weiter nichts zu erzählen, als was du eben gesagt hast.«

»Du bist abscheulich. Also erzähle die Sachen mit Françoise in den Champs-Elysées, das wird ihr gefallen.«

»Ach ja! Bobbey hat mir so viel von Françoise: erzählt.« Und sie faßte Saint-Loup am Kinn, zog dies Kinn ins Licht und sagte aus Mangel an neuen Einfällen: »Guten Tag, du!«

 

Seit die Schauspieler für mich nicht mehr ausschließlich Wesen waren, die in ihrem Vortrag und ihrem Spiel eine künstlerische Wahrheit aufbewahrten, interessierten sie mich als Menschen, ich glaubte Personen eines alten komischen Romans vor mir zu haben und ergötzte mich, wenn die Naive in das neu auftauchende Gesicht eines jungen vornehmen Herrn, der eben den Saal betreten hatte, sah, während sie zerstreut der Erklärung zuhörte, die ihr im Stück der erste Liebhaber machte, während dieser mitten im Feuer seiner verliebten Tirade einen flammenden Blick auf eine alte Dame in der Nachbarloge warf, deren prächtige Perlen es ihm angetan hatten; Saint-Loup wußte mir auch mancherlei von dem Privatleben der Schauspieler zu berichten, und so sah ich ein zweites stummes und ausdrucksvolles Stück unter dem gesprochenen sich abspielen; aber auch dies, obwohl mittelmäßig, interessierte mich, ich spürte, wie aus den beiden aufeinandergepappten Gesichtern des Schauspielers, seinem wirklichen und dem andern aus Schminke und Pappe, auf seiner eigenen Seele Worte einer Rolle für eine Stunde im Rampenlicht keimten und sich entfalteten.

Ephemer lebendige Individualitäten sind die Personen eines Stückes, das reizvoll wird wie sie; man liebt, bewundert, beklagt sie, man möchte sie noch einmal erleben, wenn man das Theater verlassen hat, aber dann haben sie sich schon zersetzt in einen Komödianten, der ein anderes Schicksal hat als im Stück, in einen Text, in dem das Gesicht des Komödianten nicht mehr ist, und in etwas farbigen Puder, das ein Taschentuch abwischt; sie sind mit einem Wort in Elemente zurückgekehrt, die nichts mehr von ihnen enthalten, mit dem Schluß des Schauspiels vollzieht sich unmittelbar ihre Auflösung; und so erregen diese Individualitäten wie die eines geliebten Wesens Zweifel an der Wirklichkeit des eigenen Ichs und Gedanken über das Geheimnis des Todes.

Eine Nummer des Programms war mir äußerst peinlich: Eine junge Frau, die Rahel und mehrere ihrer Freundinnen nicht leiden konnten, sollte mit alten Chansons zum erstenmal auftreten; auf dieses Debüt hatte sie alle Zukunftshoffnungen für sich und die ihren gesetzt. Die junge Frau hatte eine zu stark ausladende Rückenpartie, die fast lächerlich wirkte, und eine hübsche, aber sehr kleine Stimme, die noch schwächer wurde durch ihre Aufregung und mit ihrer gewaltigen Muskulatur im Widerstreit lag. Rahel hatte eine Anzahl Freunde und Freundinnen im Saal verteilt, welche die Anfängerin – man wußte, sie war schüchtern – mit Spott und Hohn aus der Fassung bringen sollten, bis sie den Kopf verlor und ganz durchfiel; dann würde der Direktor sie nicht anstellen. Gleich nach den ersten Noten ihres Liedes zeigten einige dafür angeworbene Zuschauer einander lachend den Rücken der Unglücklichen, einige Frauen, die mit im Einvernehmen waren, lachten ganz laut, mit jeder ängstlich gezirpten Note wurde die absichtliche Heiterkeit größer und schwoll zum Skandal an. Die Unglückliche schwitzte vor Qual unter ihrer Schminke; einen Augenblick versuchte sie dagegen anzukämpfen, dann warf sie rings auf die Menge verzweifelte, empörte Blicke, aber das verdoppelte nur das Hohngelächter. Aus Nachahmungstrieb und um sich gescheit und tapfer zu zeigen, machten nun auch einige hübsche Schauspielerinnen, die nicht in den Anschlag eingeweiht waren, mit, warfen den andern Blicke bösen Einverständnisses zu und wanden sich vor Lachen. Die Ausbrüche der Heiterkeit wurden so heftig, daß nach dem zweiten Lied, obwohl im ganzen fünf im Programm vorgesehn waren, der Regisseur den Vorhang fallen ließ. Ich gab mir Mühe, nicht an den Zwischenfall zu denken, wie ich ehemals zu vermeiden suchte, an den Schmerz meiner Großmutter zu denken, wenn mein Großonkel, um sie zu necken, meinen Großvater zum Kognaktrinken ermunterte. Die Vorstellung der Bosheit hatte immer etwas allzu Quälendes für mich. Allein wie vielleicht Mitleid mit dem Unglück etwas Ungenaues ist – denn unsere Phantasie schafft eine Fülle von Schmerzen, denen der Unglückliche, der gegen sie ankämpfen muß, nicht nachgibt –, so ist auch die Bosheit in der Seele des Boshaften vermutlich keine so rein wollüstige Grausamkeit, wie wir es uns unter Qualen vorstellen. Ihm flößt der Haß, ihm gibt der Zorn einen Eifer, eine Betriebsamkeit ein, die nichts sehr Vergnügliches an sich hat; er müßte Sadist sein, um daraus Lust zu gewinnen; der Böse glaubt, einen Bösen leiden zu machen. Gewiß stellte Rahel sich die Schauspielerin, der sie Leid zufügte, als höchst uninteressantes Wesen vor, und wenn sie sie verhöhnen ließ, glaubte sie jedenfalls, den guten Geschmack zu rächen, indem sie das Lächerliche verspottete und einer schlechten Kollegin eine Lehre gab. Gleichwohl vermied ich es, von dem Vorfall zu sprechen, ich hatte ja weder Mut noch Macht gehabt, ihn zu verhindern, und es wäre mir sehr peinlich gewesen, Gutes über das Opfer zu sagen und dadurch die Gefühle, welche die Peiniger der Debütantin beseelten, den Befriedigungen der Grausamkeit gleichzumachen.

Noch auf andere Art interessierte mich der Anfang dieser Vorstellung. Er machte mir zum Teil begreiflich, welcher Art von Täuschung Robert Rahel gegenüber erlag und warum ein Abgrund die Vorstellungen trennte, die wir beide, er und ich, von seiner Geliebten hatten, als wir sie heute früh unter den blühenden Birnbäumen sahen. Rahels Rolle in dem kleinen Stück war fast nur die einer Statistin. Aber so gesehn war sie eine ganz andere Frau. Sie hatte eines der Gesichter, die in der Entfernung – und durchaus nicht nur in der Bühnenferne, die ganze Welt ist in dieser Beziehung ja nur ein größeres Theater – Umriß bekommen, während sie in der Nähe zerstäuben. Stand man neben ihr, sah man nur einen Nebelfleck, eine Milchstraße von Sommersprossen und ganz kleinen Flecken, sonst nichts. In entsprechender Entfernung war das alles nicht mehr sichtbar. Von den verwischten, aufgesogenen Wangen hob sich wie ein Halbmond eine feine reingeformte Nase ab, und man bekam Lust, von Rahel beachtet zu werden, sie nach Belieben wiederzusehn, sie bei sich zu haben, wenn man sie noch nie anders, noch nie aus der Nähe gesehn hatte. Ich war nicht in diesem Fall, wohl aber Saint-Loup, als er sie zum erstenmal auftreten sah. Wie kommt man ihr nah, wie lernt man sie kennen? hatte er sich da gefragt; eine wunderbare Welt hatte sich in ihm aufgetan: darin lebte sie, von da gingen köstliche Strahlen aus, er aber würde nicht eindringen können. Er verließ das Theater und sagte sich, ihr zu schreiben, wäre Wahnsinn, sie würde ihm nicht antworten. Schon war er bereit, Vermögen und Namen herzugeben für das Geschöpf, welches in ihm in einer die bekannten Wirklichkeiten hoch überragenden Welt lebte, in einer Welt, die Wunsch und Traum verschönten –, als er aus dem Theater, einem kleinen alten Gebäude, das selbst wie eine Kulisse aussah, am Bühnenausgang durch eine Tür die muntere Schar der Künstlerinnen, die gespielt hatten, in hübschen Hüten kommen sah. Junge Leute, die sie kannten, warteten dort auf sie. Die Zahl der menschlichen Steine im Brettspiel des Lebens ist nicht so groß, wie die der Kombinationen, die sie bilden können; in einem Saal, wo man von vornherein niemanden kennt, findet sich leicht ein Wesen, von dem man glaubt, nie werde sich eine Gelegenheit ergeben, es wiederzusehn; das kommt dann wie gerufen, der Zufall spielt Vorsehung. Und doch würde an seine Stelle sicher ein anderer Zufall treten, wären wir an einem andern Ort, wo andere Begierden in uns erwachen würden und wir eine alte Bekannte träfen, die ihnen entgegenkäme. Die goldene Pforte des Traumes hatte sich hinter Rahel geschlossen, bevor Saint-Loup sie aus dem Theater kommen sah; da hatten die Sommersprossen und Flecken nicht viel zu bedeuten. Immerhin mißfielen sie ihm, zumal er nicht mehr allein war und nicht mehr träumen konnte wie im Theater. Aber die geträumte Rahel beherrschte, obwohl er sie nicht mehr sah, weiter sein Tun, wie die Sterne, die uns durch ihre Anziehung lenken selbst in den Stunden, in denen sie unserm Auge nicht sichtbar sind. Das Verlangen nach der Schauspielerin mit den feinen Zügen, die jetzt nicht einmal seinem Gedächtnis gegenwärtig waren, bewirkte, daß Robert sich auf einen alten Kameraden stürzte, der zufällig da war, und sich der Person ohne Züge und mit Sommersprossen vorstellen ließ: es war ja dieselbe, später würde man schon zusehn, herauszubekommen, welche von beiden diese Person in Wirklichkeit war. Sie war in Eile, an diesem Abend richtete sie nicht einmal das Wort an Saint-Loup, und erst Tage später konnte er endlich durchsetzen, daß sie sich von ihren Kolleginnen trennte und er sie begleiten durfte. Er liebte sie bereits. Traumtrieb und Sehnsucht, durch die Erträumte glücklich zu werden, sorgen dafür, daß man wenig Zeit braucht, um der, die noch vor ein paar Tagen eine zufällige, unbekannte, gleichgültige Erscheinung auf den Bühnenbrettern war, alle seine Glücksmöglichkeiten anzuvertrauen.

Der Vorhang fiel. Wir gingen auf die Bühne. Es schüchterte mich ein, auf dieser Fläche mich zu bewegen, deshalb wollte ich mich lebhaft mit Saint-Loup unterhalten; dann würde meine unsichere Haltung an dieser Stätte nicht auffallen, ich würde ganz von unserm Gespräch in Anspruch genommen erscheinen, man würde dementsprechend meine Zerstreutheit auslegen und es ganz natürlich finden, daß ich nicht den Gesichtsausdruck hatte, wie ich ihn hier hätte haben müssen, es würde so aussehn, als wüßte ich, ganz aufgesogen von dem, was ich besprach, gar nicht, wo ich mich befände; in aller Eile ergriff ich das erste Thema, das mir einfiel:

»Weißt du, Robert, am Tage meiner Abreise bin ich noch dagewesen, um mich von dir zu verabschieden; davon haben wir nie Gelegenheit gehabt zu sprechen. Ich habe dich auf der Straße gegrüßt.«

»Sprich nicht davon«, erwiderte er, »es hat mich ganz traurig gemacht. Wir sind uns ganz nahe bei der Kaserne begegnet, aber ich konnte nicht anhalten, weil ich schon verspätet war. Ich versichere dir, es war mir schrecklich.«

Also hatte er mich erkannt! Ich sah wieder den ganz unpersönlichen Gruß, den er an mich richtete, sah, wie er die Hand ans Käppi legte, ohne mit einem Blick zu verraten, er erkenne mich, ohne durch eine Bewegung kundzutun, es tue ihm leid, nicht anhalten zu können. Offenbar hatte die in diesem Augenblick angenommene Vorspiegelung, er erkenne mich nicht, ihm die Umstände sehr vereinfacht. Aber ich war doch starr, daß er sich so schnell darauf einstellen konnte, daß keine Reflexbewegung seinen ersten Eindruck verriet. Etwas war mir schon in Balbec aufgefallen: trotz der ungekünstelten Aufrichtigkeit seines Gesichtes, dessen Haut den jähen Andrang gewisser Erregungen durchschimmern ließ, war sein Körper zu einer Reihe schicklicher Verstellungen durch Erziehung abgerichtet, und wie ein vollkommener Schauspieler konnte er im Dienst und in der Gesellschaft nacheinander verschiedene Rollen spielen. In einer dieser Rollen liebte er mich von Herzen und behandelte mich fast wie einen Bruder; ja, er war mein Bruder gewesen und war es wieder geworden, aber einen Augenblick war er ein anderer Mensch gewesen, der mich nicht kannte: der hob die Zügel, saß da, das Monokel am Auge, ohne einen Blick, ohne ein Lächeln und legte die Hand an das Käppi, um militärisch tadellos meinen Gruß zu erwidern!

Ich ging an den noch aufgestellten Kulissen entlang; aus der Nähe gesehn, waren sie alles dessen beraubt, was Entfernung und Beleuchtung, mit denen der große Künstler, der sie gemalt hatte, rechnete, ihnen gaben, und sahen erbärmlich aus; und als ich mich ihr näherte, erlag Rahel einer nicht minder heftigen Verheerung. Die Flügel ihrer reizenden Nase waren noch in der zwischen Zuschauerraum und Bühne bestehenden Perspektive geblieben, ganz wie das Relief der Kulissen. Das war nicht mehr sie, ich konnte sie nur an ihren Augen erkennen, in die ihre Identität sich geflüchtet hatte. Form und Glanz des jungen Sterns, der eben erst so hell gestrahlt hatte, waren verschwunden. Dafür sah ich – als käme ich dem eben noch rosig goldenen Mond nah – auf Rahels Gesicht nichts als Protuberanzen, Flecken, Schluchten. Aber trotz der Inkoherenz, welcher, aus der Nähe gesehn, sowohl das weibliche Gesicht wie die bemalte Leinwand verfielen, fühlte ich mich glücklich hier zu sein, ich war froh, mich zwischen den Kulissen zu ergehn; früher hätte ich aus Liebe zur Natur diesen Rahmen öde und künstlich gefunden; aber seine Beschreibung in Goethes Wilhelm Meister hatte ihm eine gewisse Schönheit für mich gegeben; schon im voraus entzückt, bemerkte ich mitten unter Journalisten und Herren der Gesellschaft, Freunden der Schauspielerinnen, die wie draußen in der Stadt grüßten, plauderten und rauchten, einen jungen Mann in schwarzem Samtbarett und hortensienfarbenem Trikot; seine Backen waren rot pastelliert wie die eines Pagen in einem Album von Watteau; mit lächelndem Mund und zum Himmel erhobenen Augen entwarf er zierliche Bewegungen mit den Handtellern und hüpfte ein wenig dazu; er schien von ganz anderer Art als die vernünftigen Leute in Jacken und Gehröcken, zwischen denen er wie ein Irrer seinem verzückten Traum nachging, fremd war er ihren Beschäftigungen und Sorgen, aus ferner Vorzeit gegenüber ihren gebildeten Gewohnheiten, frei von den Naturgesetzen; beruhigend und erfrischend wie der Anblick eines Schmetterlings, der sich in eine Menschenmenge verirrt hat, war es, zwischen den Bühnenwänden die natürlichen Arabesken zu verfolgen, die sein beflügeltes, launisches, geschminktes Tänzeln zeichnete. Aber mit einmal meinte Saint-Loup, seine Geliebte beachte diesen Tänzer, der gerade zum letztenmal eine Figur des Zwischenspiels, in dem er auftreten sollte, probte: sein Gesicht verdüsterte sich.

»Kannst du nicht wo anders hinsehn,« sagte er finster zu ihr. »Du weißt doch, diese Tänzer sind den Strick nicht wert, auf den sie steigen sollten, um sich den Hals zu brechen; solche Leute sind imstande, nachher damit zu prahlen, daß du sie beachtest hast. Übrigens hörst du nicht, daß man dich ruft? Du mußt in deine Garderobe, dich anziehn. Du wirst dich wieder verspäten.«

Drei Herren – drei Journalisten – sahen Saint-Loups wütendes Gesicht und kamen belustigt näher, um zu hören, was gesprochen wurde. Und da man auf der andern Seite gerade eine Kulisse aufbaute, wurden wir gegen sie gedrängt.

»Aber das ist doch mein Freund, ich erkenne ihn wieder«, rief Saint-Loups Geliebte und sah den Tänzer an. »Das macht er hübsch. Seht doch nur die kleinen Hände, sie tanzen wie sein ganzer Körper.«

Der Tänzer wandte ihr den Kopf zu, und unter dem Sylphen, den er darstellte, erschien seine menschliche Person, das kompakte, graue Gelee seiner Augen bebte und leuchtete zwischen den starren gemalten Wimpern, ein Lächeln verlängerte nach beiden Seiten seinen Mund mitten in dem rot pastellierten Gesicht; dann machte er, um die junge Frau zu ergötzen, – wie eine Sängerin, die uns das Lied, für das wir unsere Bewunderung ausgesprochen haben, aus Gefälligkeit trällert – mit den Händen noch einmal die Bewegung: mit dem Raffinement eines Imitators und kindlicher Gutmütigkeit kopierte er sich selbst.

»Oh, zu nett, wie er sich selbst nachmacht!« rief sie und klatschte in die Hände.

»Ich bitte dich inständig, liebes Kind,« sagte Saint-Loup mit Verzweiflung in der Stimme,« stell dich nicht so zur Schau, du bringst mich um, ich schwöre dir, wenn du noch ein Wort sagst, komm ich nicht mit in deine Garderobe, ich gehe fort. Spiel doch nicht den Trotzkopf.«

»Und du,« wandte er sich dann an mich mit der Fürsorge, die er mir seit Balbec erwies, »bleib nicht hier in dem Zigarrenrauch, das wird dir schlecht bekommen.«

»Mich solls freuen, wenn du gehst!«

»Ich sags dir im voraus, ich komme nicht wieder.«

»Das wag ich nicht zu hoffen.«

»Du weißt, ich habe dir das Halsband versprochen, wenn du nett bist; aber wenn du mich so behandelst ...«

»Ah! Das sieht dir ähnlich. Du hast mir was versprochen, ich hätte mir denken sollen, daß du es nicht hältst. Man solls hören, daß du Geld hast. Ich bin nicht so egoistisch wie du. Ich pfeif auf dein Halsband. Ich habe schon einen, der mirs geben wird.«

»Kein anderer kanns dir geben; ich habe es mir bei Boucheron zurücklegen lassen und habe sein Wort, daß er es nur mir verkaufen wird.«

»Recht so! Du drohst mit Erpressung, hast im voraus deine Maßregeln getroffen. Das ist echt »Marsantes«: Mater Semita, das schmeckt nach der Rasse.«

Rahel wiederholte eine Wortableitung, die auf einem groben Widersinn beruhte: Semita bedeutet Pfad, nicht Semitin, aber die Nationalisten wandten diese Ableitung auf Saint-Loup wegen seiner dreyfusfreundlichen Gesinnung an, die er wiederum nur der Schauspielerin verdankte. Diese war am allerwenigsten berufen, Frau von Marsantes als Jüdin anzusehn; die Salonethnographen konnten an dieser Dame beim besten Willen nichts Jüdisches entdecken außer ihrer Verwandtschaft mit den Levy-Mirepoix.

»Aber noch ist nicht aller Tage Abend, darauf kannst du dich verlassen. Unter solchen Bedingungen gegeben, hat ein Wort keine Geltung. Du hast heimtückisch gegen mich gehandelt. Boucheron wird es erfahren, und man wird ihm für sein Halsband das Doppelte geben. Du wirst bald von mir hören, beruhige dich.«

Robert hatte hundertmal recht. Aber die Umstände sind immer so verworren, wer hundertmal recht hat, kann einmal unrecht gehabt haben. Und ich konnte nicht umhin, an ein unangenehmes und doch recht unschuldiges Wort zu denken, das er in Balbec gesagt hatte: »Auf die Art hab ich sie in der Hand.«

»Du hast falsch verstanden, was ich dir über das Halsband gesagt habe! Ich hatte es dir nicht ausdrücklich versprochen. Mit dem Augenblick, wo du alles tust, damit ich dich verlasse, ist es doch wohl nur natürlich, daß ich es dir nicht gebe, ich verstehe nicht, wie du darin etwas Heimtückisches erblicken kannst und inwiefern ich egoistisch sein soll. Man kann nicht behaupten, daß ich mit meinem Geld prahle, ich habe dir immer gesagt, daß ich ein armer Schlucker bin und keinen Heller habe. Du tust unrecht, das so aufzufassen, liebes Rind. Inwiefern bin ich habsüchtig? Du bist das einzige, was ich haben will.«

»Ja, ja, du kannst noch lange reden«, sagte sie ironisch und deutete die Gebärde des Einseifens an. Dann wandte sie sich zu dem Tänzer:

»Wahrhaftig, das mit den Händen macht er großartig. Ich als Frau könnte das nicht so machen, wie er es macht.« Sie kam ihm näher und zeigte auf Roberts verzerrte Züge: »Sieh doch, wie er leidet.« Sie sagte es in einem Augenblicksanfall von sadistischer Grausamkeit, die übrigens in gar keinem Zusammenhang mit ihren wahren Gefühlen für Saint-Loup stand.

»Also jetzt zum letztenmal, ich schwöre dir, nachher kannst du anstellen, was du willst, in acht Tagen mag es dir noch so leid tun, ich komme nicht wieder, das Maß ist voll, gib acht, es ist unwiderruflich, eines Tages wirst du es bedauern, dann ist es zu spät.«

Vielleicht war er aufrichtig, und es schien ihm weniger qualvoll, seine Geliebte zu verlassen als unter gewissen Bedingungen bei ihr zu bleiben.

»Aber, lieber Junge, bleib nicht da stehn, sag ich dir, du wirst Husten bekommen.«

Ich zeigte auf die Kulisse, die mir im Weg war. Er faßte an seinen Hut und sagte zu dem Journalisten: »Mein Herr, würden Sie, bitte, Ihre Zigarre wegwerfen, der Rauch bekommt meinem Freunde schlecht.«

Ohne auf ihn zu warten, begab sich seine Geliebte zu ihrer Garderobe.

Unterwegs drehte sie sich um und rief aus dem Hintergrund der Bühne mit der künstlich melodiösen und unschuldigen Stimme einer »Naiven« dem Tänzer zu: »Machen die kleinen Hände mit den Frauen auch so? Du siehst selbst aus wie eine Frau, ich glaube, man würde sich mit dir und einer meiner Freundinnen sehr gut verstehn.«

»Meines Wissens ist es hier nicht verboten zu rauchen; wer krank ist, kann ja zu Hause bleiben«, sagte der Journalist.

Der Tänzer lächelte der Künstlerin geheimnisvoll zu. »Oh, sei still, du machst mich toll!« rief sie, »das wird hübsche Partien geben!«

»Auf jeden Fall ist es nicht sehr liebenswürdig von Ihnen, mein Herr«, sagte Saint-Loup, immer noch sanft und höflich zu dem Journalisten, mit feststellender Miene, als beurteile er rückblickend einen abgeschlossenen Vorgang.

Zugleich seh ich ihn seinen Arm senkrecht über den Kopf erheben, als mache er einem mir Unsichtbaren ein Zeichen, oder wie ein Kapellmeister, und ganz ohne Übergang – wie auf eine einfache Bewegung des Taktstocks heftige Rhythmen ein zierliches Andante ablösen – ließ er gleich nach den höflichen Worten, die er gesprochen, seine Hand zu einer schallenden Ohrfeige auf die Backe des Journalisten niedersausen.

Jetzt, da auf die abgemessenen Unterhaltungen der Diplomaten, auf die heiteren Künste des Friedens wütende Wucht des Krieges gefolgt war, wo ein Schlag den anderen hervorruft, hätte es mich nicht sehr gewundert, die Gegner im Blute schwimmen zu sehn. Aber – wie die Leute, die es gegen die Spielregel finden, daß zwischen zwei Ländern ein Krieg ausbricht, wenn es sich doch nur um eine Grenzberichtigung gehandelt hat, oder daß ein Kranker stirbt, bei dem nur eine Leberschwellung festgestellt worden ist – konnte ich nicht verstehn, warum Saint-Loup auf Worte, die eine gewisse Liebenswürdigkeit bekundeten, eine Geste folgen ließ, die gar nicht aus ihnen hervorging, nicht von ihnen angekündigt wurde; sein erhobener Arm sprach nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch der Logik Hohn, seine Geste war eine Urzeugung des Zorns und ex nihilo geschaffen. Zum Glück gab der Journalist, der unter dem heftigen Schlag strauchelte, blaß wurde und einen Augenblick zauderte, den Schlag nicht zurück. Von seinen Freunden hatte der eine den Kopf gleich weggewandt und sah aufmerksam in die Kulissen auf jemanden, der offenbar nicht da war, der zweite tat, als wäre ihm ein Staubkorn ins Auge gekommen, rieb sein Lid und schnitt Schmerzgrimassen, der dritte war davongestürzt mit dem Ruf: »Mein Gott, ich glaube, der Vorhang geht auf, wir bekommen unsere Plätze nicht.«

Ich hätte gerne mit Saint-Loup gesprochen, aber er war so benommen von seiner Entrüstung über den Tänzer, daß die Oberfläche seiner Augäpfel ganz davon überzogen schien; wie eine innere Maschinerie spannte diese Entrüstung seine Wangen, die innere Bewegung verriet sich außen durch eine vollkommene Starrheit, er hatte nicht einmal genug Entspannung, genug Spielraum, um ein Wort von mir aufnehmen oder beantworten zu können. Als die Freunde des Journalisten sahen, daß alles vorbei war, kamen sie, noch zitternd, wieder zu ihm. Sie schämten sich wohl, ihn im Stich gelassen zu haben, und wollten ihn unbedingt glauben machen, sie hätten nichts bemerkt. So verbreiteten sie sich denn, der eine über das Staubkorn in seinem Auge, der andere über einen falschen Schreck, als er gemeint habe, der Vorhang gehe auf, der dritte über die außerordentliche Ähnlichkeit eines Mannes, der vorübergekommen sei, mit seinem Bruder. Und sie wurden sogar etwas gereizt, weil er ihre Erregungen nicht teilen wollte. »Wie! Das ist dir nicht aufgefallen? Du siehst wohl nicht gut?«

»Memmen seid ihr alle miteinander«, brummte der geohrfeigte Journalist.

Da hielten sie sich gar nicht an ihre eigenen Vorspiegelungen, dachten gar nicht daran, sich zu stallen, als verstünden sie nicht, was er sagte, sondern brachten die unter solchen Umständen üblichen Redensarten vor: »Wie kannst du dich so aufregen? Mach dir doch nichts daraus! Wer wird sich denn so hinreißen lassen!«

Am Morgen unter der Birnbaumblüte hatte ich den Wahn begriffen, auf dem Saint-Loups Liebe zu »Rahel wenn von des Herrn« beruhte, und nun wurde mir auch klar, wie wirklich die Schmerzen waren, die aus dieser Liebe entprangen. Nach und nach trat die Qual, die er seit einer Stunde empfand, ohne deshalb aufzuhören, etwas zurück, blieb in seinem Innern, und in seinen Augen bildete sich eine zugängliche geschmeidige Zone. Wir beide verließen das Theater und gingen zunächst ein Stück Weges. An einer Ecke der Avenue Gabriel, von wo ich ehedem öfters Gilberte hatte kommen sehn, blieb ich einen Augenblick zurück. Einige Sekunden lang suchte ich mir die fernen Eindrücke zu vergegenwärtigen, dann schickte ich mich an, Saint-Loup im Laufschritt einzuholen: da sah ich, daß ein ziemlich schlecht gekleideter Herr sich ihm genähert hatte und mit ihm zu sprechen schien. Ich nahm an, es sei ein persönlicher Freund von Robert; indessen kamen sich die beiden noch näher; und plötzlich wie eine nächtliche Himmelserscheinung sah ich eiförmige Körper mit schwindelnder Schnelligkeit alle Stellungen einnehmen, aus denen sich vor Saint-Loup ein schwankes Sternbild formen ließ. Wie mit der Schleuder geschnellt, schienen es mir mindestens sieben zu sein. Es waren aber nur die beiden Fäuste von Saint-Loup, welche die Geschwindigkeit, mit der sie in diesem anscheinend idealen und malerischen Zusammenspiel den Ort wechselten, vervielfältigte. Und das Feuerwerk war nur eine Tracht Prügel, die Saint-Loup verabreichte; daß es sich um etwas Aggressives und nichts Ästhetisches handelte, wurde mir zunächst klar durch den Anblick des mittelmäßig gekleideten Herrn, der zugleich alle Fassung, ein Gebiß und viel Blut zu verlieren schien. Er gab den Personen, die sich fragend näherten, lügenhafte Erklärungen, wandte den Kopf, sah, daß Saint-Loup sich endgültig entfernte, um mich einzuholen, und schaute ihm nach, grollend und niedergeschlagen, aber durchaus nicht wütend. Saint-Loup aber war wütend, obgleich er nichts abbekommen hatte, und seine Augen funkelten noch vor Zorn, als er bei mir anlangte. Der Vorfall stand nicht, wie ich geglaubt hatte, in Zusammenhang mit der Ohrfeige im Theater. Ein Spaziergänger von leidenschaftlichem Temperament, der den schönen Soldaten Saint-Loup gesehn, hatte ihm Anträge gemacht. Mein Freund konnte sich gar nicht beruhigen über die Verwegenheit dieser »Zunft«, die nicht einmal mehr die Schatten der Nacht abwarte, um sich Freiheiten herauszunehmen; er sprach von den Anträgen, die man ihm gemacht hatte, so entrüstet wie die Zeitungen von einem Raubanfall bei hellem Tage mitten in Paris. Gleichwohl war der geprügelte Herr zu entschuldigen: bei einem, der sich auf schiefer Ebene bewegt, kommen Begier und Genuß einander so nahe, daß der bloße Anblick der Schönheit ihm schon wie eine Gewähr erscheint. Und daß Saint-Loup schön war, stand außer Frage. Faustschläge der Art, wie er sie verabreicht hatte, haben ihren Nutzen für die Menschen vom Schlage dessen, der ihn belästigt hatte: sie geben ihnen ernstlich zu denken, allerdings für zu kurze Zeit, um sie zu bessern und vor gerichtlicher Bestrafung zu bewahren, Und derartige Prügel – Saint-Loup hatte seine gegeben, ohne sich viel dabei zu denken – bewirken, selbst wenn sie den Gesetzen zu Hilfe kommen, nicht, daß die Sitten sich ausgleichen.

Nach diesem Vorfall und erst recht nach dem andern, an den er mehr dachte, mochte Robert wünschen, ein wenig allein zu bleiben. Nach einer Weile legte er mir nahe, wir sollten uns trennen, ich sollte allein zu Frau von Villeparisis gehn, er werde nachkommen; es sei ihm lieber, wir erschienen dort nicht zusammen; es solle aussehn, als wäre er gerade erst in Paris angekommen, man solle nicht denken, daß wir schon einen Teil des Nachmittags zusammen verbracht hätten.

 


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