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Drittes Buch:
Der Richter

19. September 1927

Ich fand auf meinem Tisch gestern abend einen Brief, den Sidonie während meiner Abwesenheit hier niedergelegt hat.

Mehr als ein Brief: ein richtiges Memorandum, ein Bekenntnis von fünfzig Schreibseiten, in dem alles durcheinander steht. Schlimmes und Besseres, zarte Empfindung mit einem Anflug von Verderbtheit, Offenheit mit einem Körnchen List, gerade jene List und Verderbtheit, die für ihr Geschlecht so charakteristisch sind.

Es war sehr rührend für mich, trotz allem, was mich darin ärgert und zurückstößt. Denn ich spiele in diesem Bekenntnis die Rolle des Angeklagten. Mit unbestimmten Anspielungen und halben Behauptungen beschuldigt mich Sidonie, die Ursache ihres zerstörten Lebens und ihrer gegenwärtigen Kümmernisse zu sein. Aber welche Frau wäre imstande, offen und ehrlich und ohne Streit zuzugeben, daß sie schuldig und dafür verantwortlich ist?

Macht nichts. Sie ruft mich zu Hilfe, und ich werde folgen. Sie ist es, trotz allem, wenn auch noch so gedemütigt und beschmutzt durch das Schicksal! Wie einstmals die kleine Gefährtin meiner, unserer Kindertage verlangt sie weiter nichts, als sich auf mich stützen zu dürfen. Also möge sie sich heute auf mich stützen! Ich glaube übrigens nicht an eine augenblickliche Gefahr. Zuerst einmal als neue Tatsache, seitdem Sidonie dieses Schriftstück auf meinen Tisch gelegt hat: sie hat heute vormittag meinen Vater wiedergesehen. Mein Vater, wieder ganz im Besitz seiner Ruhe, erklärte sich bereit, der Abreise nach Aubiac kein Hindernis entgegenzustellen, unter der Bedingung, daß diese Abreise nicht überstürzt stattfände und wie ein gemeinsam gefaßter Entschluß aussähe. Mein Vater ist nicht fähig, sein Wort zu brechen oder zurückzunehmen. Zweitens: nichts was er tut, wird Aufsehen erregen; eine andere seiner wesentlichen Eigenschaften ist sein Gefühl für die Familienehre, das ihn nie verläßt, selbst nicht in Stunden, in denen ihn die Leidenschaft beherrscht. Er hat den Beweis dafür damit erbracht, daß ihm dieses Unerhörte gelang: dreizehn Jahre lang den geheimen Makel des Hauses zu verbergen. Er wachte darüber unermüdlich.

Während ich Sidonies Ruf las, verspürte ich diesen nie täuschenden geheimnisvollen Widerstand, diesen inneren Mahnruf, der einen einmal ängstigt, dann wieder beruhigt und oft in offenem Widerspruch mit dem Gefühl der schreibenden Person steht. Sidonie fürchtete offensichtlich eine unmittelbar bevorstehende Krise, eine Art Katastrophe; ich hatte aus ihrem Briefe den Eindruck, daß die Krise zwar schwer ist, aber keine Katastrophe befürchten läßt. Ein Eindruck, den mir das Mittagessen bestätigte. Mein Vater versteht es vorzüglich, sich zu beherrschen, seine Launen zu kontrollieren; selten war er mehr Herr seiner selbst. Man spürte den Menschen, der nach einem wilden innern Kampf seinen Entschluß gefaßt hat, mindestens seinen vorläufigen.

Ich werde Sidonie helfen, soweit es mir möglich ist, die Ehre des Hauses zu schützen. Aber zunächst folge ich einer Vorschrift, die nur für mich Sinn hat, die ich niemandem anvertraue und die ich oft wiederhole: Ich halte Rat mit mir selber. Hugenotte, der ich bin, brauche ich keinen andern Beichtvater. Ich fahre da fort, wo ich damals als Kind zu Sidonie vor der Kirche zum Heiligen Glauben beim Anblick der herausströmenden Gläubigen sagte: »Die da mit ihrer Beichte haben für alle Fälle eine Hoffnung. Wir andern aber, die wir nur mit unserm Gewissen belastet sind, wir haben die Qual.« Ich hatte die Szene vergessen; jetzt erinnere ich mich. Sie ist das belebte Symbol, naiv wie eine kindliche Malerei, meines ganzen Lebens. Trotz des Spottes meines Vaters, Sidonies und des alten Ricquier, ja selbst meiner wundervollen, wahrhaft evangelischen Mutter, habe ich immer an der Gewohnheit festgehalten, mich selbst zu befragen, in der Stille und angesichts dieser »lächerlichen« weißen Hefte mir selber Antwort zu geben und mich zu richten. Narrheit? Schrulle? Sei es. Ich danke dieser Gewohnheit, daß ich in den schwierigsten Situationen meines Mannesdaseins mich sauber, gesund und anerkennenswert erhalten habe. Ich werde heute nicht mit dieser Gewohnheit brechen. Sein Nachdenken und Überlegen mit der Spitze des Federstieles zu leiten, ist das richtige.

Aber bei dieser Prüfung mit der Feder in der Hand gibt es dieses Mal etwas Neues. Heute bin ich nicht ein Sünder, sondern ein Angeklagter. Verantwortlich gemacht für ein verfehltes Leben! Verantwortlich für eine mögliche Katastrophe! Zumindest glaubt und sagt Sidonie es. Für eine Frau gibt es ja keine objektive Wahrheit. Sidonie ist immer ganz ernst und echt ehrlich, wenn sie verkündet: »Ich hab' nichts Schlechtes getan. Man veranlaßte mich, Schlechtes zu tun.« Ich bin das völlige Gegenteil, bin darin ganz Protestant, mit Eifer in mir selber zu forschen und mit einer Art feindlicher Haltung die geringsten Spuren meiner Verantwortlichkeit festzustellen.

Grundlage der Anklage:

»Hättest Du mich auch nur ein einziges Mal geküßt, wie andere Jungen andere Mädchen küssen. Du hättest mich gerettet!«

Das heißt bei Gott, dem Kusse, den ein Junge einem Mädchen gibt, viel Wert beimessen! Aber bis auf weitere Prüfung angenommen, ist es denn wahr, daß ein anderer Junge an meiner Stelle diese seltsame Rettung vollbracht hätte?

Mit andern Worten: war ich ein so anderer Junge als die andern?

Ich könnte meiner Anklägerin antworten, daß man für sein Temperament nicht verantwortlich sei, und daß, wenn ich auch von einem Vater höchst verliebten Temperaments gezeugt bin, es doch unter meinen Voreltern einen Hervé gibt, der eine Art calvinistischen Mönches war, und den Konvertiten Gontran de Brune, der auf die Werke des heiligen Justin eine Lobeshymne verfaßte, die die Geschwisterehe empfahl ... Aber ich meine, diese mutmaßlichen Vererbungen beweisen nichts. In einer zahlreichen, jahrhundertealten Familie findet man Vertreter vieler Gestalten, Haarfarben, Schönheiten, Häßlichkeiten, physischen und moralischen. Jeder späte Erbe kann sich da aussuchen, was ihm gerade paßt. Aber damit ist gar nichts bewiesen.

Einer Sache aber bin ich sicher: ich bin zwischen zehn und vierzehn Jahren nie so etwas wie ein Ungeheuer an Tugend oder Kälte gewesen. Ich war wie die meisten andern Jungen. Ich war nur   ein Einsamer. Mein Vater liebte mich nicht, kümmerte sich nicht um mich, gab mir keine Anleitung, kurz beschäftigte sich nicht mit mir. Meine Mutter war unfähig dazu, und, wie ich noch sagen muß, von einer solchen Unschuld, daß sie auf mich keinerlei erzieherischen Einfluß ausüben konnte. Ich hatte keine Jungen zu Kameraden. Ich war allein mit einem Mädchen meines Alters.

Als ich in Deutschland und in England Kameraden hatte, habe ich beobachtet, daß ganz junge Knaben, die nur ihren Instinkten folgen, nicht von Mädchen angezogen werden. Es mißfällt ihnen, sie bei ihren Spielen dabei zu haben; sie sind ihnen eher feindlich als freundlich gesinnt; sie haben ein gemischtes Gefühl ihnen gegenüber: Verachtung für ihre körperliche Schwäche und Angst vor ihrer Ironie. Wenn Jungen untereinander in der Unterhaltung schmutzige Worte gebrauchen, so nie über Mädchen ihres Alters, sondern über Frauen, insbesondere reifere Frauen. Und sie beschäftigen sich mit diesen Frauen nicht aus einem sinnlichen Impuls, sondern aus dem Bedürfnis heraus, größer, erwachsener zu erscheinen als sie sind, um damit jungen Leuten oder fertigen Männern zu gleichen. Und das Ganze beschränkt sich gewöhnlich auf Gespräch und Lektüre. Kommt zufällig einer bis zur Erfahrung, so kommt er daraus immer (ich habe nie ein gegenteiliges Bekenntnis gehört) schrecklich enttäuscht, zuweilen auch direkt angeekelt zurück. Das ist die Wahrheit, wie sie auch erwachsene Männer zuweilen bestätigen. Die Jungen denken oder begehren die Liebe, wie sie an das Rauchen denken: um die Erwachsenen nachzuäffen.

Anders ist's, wenn man nicht sehen will oder sich nicht zu reden traut: hierin sind die Mädchen den gleichaltrigen Jungen voraus. Kaum aus den Windeln, beschäftigt sie die Koketterie; sie machen sich schön, begucken sich im Spiegel, sie wollen gefallen. Die Natur bearbeitet, quält und formt sie viel rascher. Mit dreizehn und oft früher schon kann ein Mädchen voll entwickelt sein; ein Junge des gleichen Alters ist eine menschliche Larve. So unschuldig es auch sein mag, kann sich ein weiblich vollendetes Mädchen dem Zwang der Natur nicht mehr entziehen. Ist es sich dessen selber nicht bewußt, so sind es die fertigen Männer, die sich nicht genieren, das Mädchen darauf aufmerksam zu machen, oft durch nichts als den Blick, wie Sidonie es erzählt. Ein Junge von vierzehn dagegen geht seines Weges, mager, linkisch, unentwickelt: welche normale Frau würde auf ihn einen verlangenden Blick werfen? Und würde der Junge einen solchen Blick herausfordern, er würde ausgelacht werden, und auch die Mädchen gleichen Alters machten sich über ihn lustig. Ich habe das alles in meiner frühen Jugend mit Sidonie gefühlt, die doch unwissend war und nicht kokett und nicht verdorben, und die mich liebte. Es ist möglich, daß ihre körperliche Entwicklung mich gegen sie aufbrachte. Wenn ich in den oft naiven, zuweilen aber erstaunlich überlegten Blättern meiner »weißen Hefte« aus dieser Zeit blättere (ich begann sie mit neun Jahren, sie zeigen in dem Gestammel dieser ersten Bekenntnisse bereits den Hang zur Selbstprüfung und zum Geheimnis), so finde ich da und dort Zeichen meiner ungerechten Laune Sidonie und Personen ihres Geschlechtes gegenüber. So schrieb ich kurz vor meinem elften Jahr jenen sonderbaren Ausspruch in das Heft:

»Ich weiß nicht, weshalb ich traurig bin. Ich möchte gern heiter sein wie Sidonie. Sie weint oft, ich kaum. Aber Sidonie ist im Grunde fröhlich, selbst wenn sie weint. Ihre grundlose Fröhlichkeit ärgert mich, und oft lasse ich sie für meinen Ärger büßen. Ich bin nicht gut zu Sidonie. Ich bin nicht sicher, ob ich sie lieb habe. Ich bin auch nicht sicher, ob ich meinen Vater liebe; aber er liebt mich bestimmt nicht. Mein großes Glück ist meine Mutter, die so krank ist. Wie gern küsse ich ihre Hände, berühre ich ihr Haar! Sie ist so groß in ihrem Bett. Sie ist voll Ruhe. Und blaß. Ich glaube, ich liebe sie um ihrer Krankheit willen, und doch gäbe ich alles dafür, damit sie gesund würde und in der Sonne spazieren gehen könnte. Ich hasse die Lebhaftigkeit der andern Frauen. Alicia ist unerträglich. Hört nicht auf zu schwätzen. Dabei ist sie ohne Verstand, versteht gar nichts. Und alle Weiber auf dem Schloß und den Höfen sind so. Sie schwätzen, drehen sich um sich selber, halten plötzlich in dem inne, was sie tun, und vergessen es. Sie tun nichts mit Ausdauer. Außer der alten Odette, die taub ist, und die sich mit der Wäsche beschäftigt, ohne zu rasten und ohne etwas zu reden. Sidonie für sich allein macht mehr Lärm und Bewegung als alle anderen Frauenzimmer zusammen; aber sie hat Angst vor mir, wenn ihre Kleider und Haare in wilder Unordnung sind. Wenn sie zuhört während ich ihr etwas sage, mag ich sie ganz gern, auch wenn wir Wettlaufen oder ringen. Sie war lange Zeit stärker als ich, aber jetzt besiege ich sie.«

Ein wenig später:

»Ich betrachte Sidonie, die allein auf einer Bank sitzt. Sie weiß nicht, daß ich sie sehe. Zu drei Vierteln kann ich sie sehen. Wie sie sich fortwährend bewegt. Nicht zehn Sekunden kann sie still sitzen. Sie fährt sich in den Haaren herum. Zieht ihren linken Schuh aus, schüttelt den Sand aus, der drin ist. Sie untersucht mit ernstem Gesicht ihr Bein, indem sie den Rock bis über die Strümpfe hinaus hochzieht, beguckt neugierig die Haut ihrer Schenkel, die rötlich ist und gar nichts Schönes an sich hat. Sie niest. Sie sucht ihr Taschentuch in ihren Taschen, in ihrer Bluse; sie findet es nicht; es liegt auf der Erde unter der Bank. Sie weiß nicht, soll sie aufstehen oder sitzenbleiben. Sie gähnt. Und plötzlich rührt sie sich nicht mehr, bleibt wie erstarrt, wie wenn sie im Sitzen eingeschlafen wäre. Sie wacht auf, steht auf, schaut nach rechts, nach links, nach rückwärts, mit lebhaften Kopfbewegungen wie ein Vogel. Das macht sie sehr graziös. Da hat sie mich erblickt. Instinktiv richtet sie sich die Haare, streift ihren Rock herunter, hebt ihr Taschentuch auf und kommt zu mir gelaufen. Gibt mir lachend einen Kuß. Ich muß auch lachen. Sie ist besser als ich.«

Im selben Jahr:

»Sidonie hat mich gefragt: ›Macht's dir Spaß, wenn ich dich küsse, oder wenn du mich küßt?‹ Ich war nicht gut aufgelegt. Ich antwortete ihr: nein. Dann fragte sie mich, ob ich es wohl gern hätte, nie einen Kuß zu bekommen. Ich zögerte mit einer Antwort. Ich sage nicht gern, so wie sie es tut, die Dinge, wie sie einem gerade einfallen. Während ich überlegte, glaubte ich, bei mir feststellen zu können, daß mir diese Küsse ein gewisses Vergnügen bereiteten, ähnlich (aber nur ganz entfernt ähnlich) wie bei Mama. Ich sagte das Sidonie. Sie wurde ganz rot und bedeckte mir Gesicht und Hals mit ihren Küssen und ärgerte mich damit so, daß ich ihr sagte, sie solle zum Teufel gehen.«

Nach dem zwölften Jahr:

»Sidonie ist mir oft lästig. Aber ich mag sie doch immer lieber. Sicher hab' ich sie nach meiner Mutter am liebsten. Sie behält nichts für sich allein; alle möchte sie beschenken. Sie ist nicht dumm. Ich war in diesem Punkt lange ungerecht gegen sie. Sie beginnt, sich geistig ganz gut zu entwickeln. Sie hört mir zu, hört Papa zu, der wundervoll unterrichtet, wenn er will. Sie macht orthographische Fehler, aber was sie schreibt, ist nicht dumm. Sie rechnet besser als ich.

Nur eines entfernt mich ein bißchen von ihr, obwohl ich mich jetzt bemühe, ihr gerecht zu werden und ihr nichts vorzuwerfen, wofür sie nichts kann. Sie ist ein wenig »Tier«. Sie hat zuviel Gesundheit, zuviel Schlaf, zuviel Appetit und zuviel Lebhaftigkeit beim Spielen; und alles das ist dann wieder wie abgeschnitten von einer Art Mattigkeit; und das ist auch »Tier«. Sie ist wie eine fünfmonatige bretonische Färse, die man zu einer Milchkuh großzieht. Ich sagte ihr das. Sie war nicht beleidigt. Wenn man sich nur mit ihr beschäftigt, ist sie schon zufrieden. Sie hat gelacht ...«

Indem ich in diesen seit zwanzig Jahren nicht mehr angesehenen Seiten blättere, finde ich nichts mehr, das charakteristisch wäre. Aber ich sehe mich wieder in dem Augenblick, als ich diese Zeilen schrieb, hinter der verschlossenen Tür meines Zimmers, um sofort, falls man klopfte oder mich rief, das Heft im vorbereiteten Versteck zu verbergen. Ich habe immer einen etwas krankhaften Geschmack an Geheimtuerei gehabt ... Dieser Geschmack untersagte mir, das, was ich empfand oder was ich wußte, in vollem Umfange niederzuschreiben. So ist in den Heften fast nie von meinem Vater die Rede, dessen geringe Aufmerksamkeit mich doch so leiden ließ. Und in ganz gleicher Weise hielt ich es nach meinem zwölften Jahr mit Sidonie: ich hatte bereits genug gehört, gelesen und nachgedacht, um zu wissen, was in ihr vorging. Aber ich wollte das nicht ins Heft schreiben.

Über andere Frauen als Sidonie lese ich einiges hier, das bezeichnend ist, und das ich mit zehn Jahren geschrieben habe:

»Ich möchte schon in dem Alter sein, wo die Damen, welche Mama besuchen, nicht mehr ein Recht zu haben glauben, mich auf ihren Schoß zu ziehen, mir ihren Atem ins Gesicht zu hauchen, mich abzutätscheln, zu küssen und zu verlangen, daß ich sie küsse.

Keine ist so schön wie Mama. Mama sieht wie ein Engel aus in ihrem Bett. Ihre Haut ist so durchsichtig wie manche Visitenkarte, man sieht die Adern hindurch und ein wenig von der natürlichen Farbe ihrer Wangen. Die andern Damen haben Fett im Gesicht und falsches Rot ungeschickt rechts und links aufgepatzt. Fast alle haben gefärbte Haare. Sehr wenige sind ganz sauber. Ich erkenne sofort die falschen Zähne bei denen, die welche haben.«

Ich habe mich gezwungen, diese Fragmente aus meiner Kinderzeit des langen und breiten wiederzugeben, um den Zustand meines Geistes in diesem Alter zu schildern ...

Und tatsächlich scheint mir, während ich diese Fragmente aus den Heften kopiere, daß ich mich ziemlich genau im Gedächtnis habe, wie ich das letzte Jahr in La Gatère war, bevor man mich nach Deutschland schickte. Der Vater hatte sich uns genähert, mischte sich diskret in unsere Arbeit, zuweilen in unsere Spiele; ich verstand den Grund davon nicht ganz, aber ich zweifelte nicht, daß es mehr Sidonie galt als mir. Das erweckte in mir eine vage Eifersucht; man nahm mir da etwas weg, wofür ich törichterweise oft Verachtung zu haben vorgab, aber woran ich trotz alledem hing. Diese Eifersucht ließ mich überlegen: Liebe ich also Sidonie? ... So schlich sich die Möglichkeit der Liebe, fast die Versuchung zu lieben in mich Fünfzehnjährigen ein und auf einem Wege frei von allem sinnlichen Unkraut. Der gewöhnliche Schüler mag sich noch so sehr aufspielen, er mag von Frauen wie ein alter Haudegen und von seinen brutalen Begierden wie ein ausgepichter Fachmann sprechen,   die erste Gelegenheit, die sich ihm bietet, zeigt ihn fast immer als den romantischen Schwärmer, der er ist. Viel romantischer als das gleichaltrige klügere Mädchen hütet er seine Gefühlsschätze und hält sie in Reserve. Während dieser seltsamen Zeit, in der mich die Frühreife Sidonies abstieß, dieses »zu viel Frau«, das ihr Blick, ihre Bewegungen, sogar ihr Geruch offenbarten,   damals hätte ein bißchen Sentimentalität von ihrer Seite mich ihr zu Füßen geworfen.

Die Sidonie von heute sagt mir in ihrem schrecklichen Brief:

»Hättest Du mich geküßt, wie ein gewöhnlicher Junge ein Mädchen küßt, ich wäre gerettet gewesen ...« Ich könnte ihr antworten: »Hättest Du auch nur etwas vergeistigtere Liebe ausgestrahlt, so wäre ich das geworden, was Du einen gewöhnlichen Jungen nennst« ... Aus dieser vergeblichen Erwartung eines gesteigerten Gefühles, dem sich eine naiv körperliche Neigung entgegensetzte, ergab sich für mich eine instinktive Entfernung von allem Materiellen der Liebe. Ganz deutlich zeigt sich das in einer Aufzeichnung, die ich einige Monate vor meiner Reise nach Deutschland mit fünfzehn Jahren schrieb, und die mich jetzt noch, nach zwanzig Jahren, beim Wiederlesen vor Ekel schaudern läßt:

»Ich habe heute etwas Schreckliches gesehen. Die dreizehnjährige Irene, die Tochter der Alicia, und Boudinots Diener, der als Soldat auf Urlaub ist, sah ich, wie sie lange einander küßten mit aufeinandergepreßten Lippen, zusammengeklebt wie die Schnecken, die man am Wege findet. Das Mädchen bemerkte, daß ich sie sah, und löste sich rasch los. Der Bursch war geniert und dann sagte er ganz laut, damit ich es höre: »Man wird sich doch wohl noch küssen dürfen ...!« Er nennt das Küssen! ... Er hat, ich hab' es gesehen, Furunkel am Halse. Und die Irene hat, so jung sie ist, Zähne wie ein altes Weib.«

*

Nachdem ich diese Zeilen niedergeschrieben habe, muß ich innehalten und meinen Federhalter hinzulegen. Die notwendige Aufmerksamkeit bei der Abfassung dieser Abschrift, die gleichen Bewegungen zur Erzeugung der gleichen Buchstaben für die gleichen Worte, läßt in mir das Kind von damals aufleben, das in demselben Zimmer über einem ähnlichen Heft saß und seine Gedanken in diese Worte, diese Buchstaben faßte.

... Ein Junge von fünfzehn Jahren! Dünne schlenkrige Glieder mit Muskeln, die vom Wachstum schmerzten. Die Geniertheit einer unüberwindlichen Ungeschicklichkeit; halbe Bewegungen, die aus Scheu abgebrochen werden, eine Stimme, die oft aus einer andern Kehle als der eignen zu kommen scheint; Tyrannei des Blutes, das einmal das Gesicht überflutet, dann wieder schwer ins Herz zurückfließt. Die dauernde Empfindung, von allem, was einen umgibt, eingeengt zu werden   daß keine Initiative möglich ist, so daß sich das Geschick über einen weg erfüllt, ohne daß man auch nur zu flüstern das Recht hätte: ich möchte ... ich möchte lieber ... Und die Überraschung, sowie man überlegt, daß man doch da ist, ein Mensch ist, denkt ... Der arme kleine fünfzehnjährige Arnal! Welche schwierige Verwicklung macht ihn nur so beklommen! Er weiß nicht mehr, ob ihm die Gefährtin seines augenblicklichen Lebens lieb oder lästig ist; ihm scheint, als liebe er in ihr ein Wesen, das sie sein könnte, aber das sie niemals sein wird! Diese Art mystischer Leidenschaft, die ihn für die Kranke im blauen Zimmer erhitzt, hat als schmerzliches Gegengewicht das Gefühl, nicht von dem Abgott dieses Hauses geliebt zu werden, dessen sittliche Kraft, Autorität, Klugheit das Kind dennoch verehrt ... Und zu dem allen schwebt über dem Hause etwas Undeutliches und Beunruhigendes, etwas, das er nicht begreift, aber instinktiv fühlt, und worin der feindliche Vater und die kleine Gefährtin vereinigt sind ... Das einzige Deutliche und Sichtbare ist, daß Sidonie die Aufmerksamkeit und die Freundschaft dieses Vaters gewonnen hat, der ihn mit Gleichgültigkeit behandelt, eine Bevorzugung, über die sie sich freut und die sie gern erwidert. So verrät ihn alles! Alles ist ihm entzogen, gestohlen! Es bleibt ihm nichts als die Kranke im blauen Zimmer; aber auch da wird sein Bedürfnis nach Liebe nur halb befriedigt. Die zärtliche Angelika zieht ihren Gatten ihrem Sohn vor. »Sollte einer von uns beiden sterben müssen, und sie könnte wählen, dann behielte Mama den Papa! Niemand liebt mich!« murmelt der kleine, einsame Tagebuchschreiber. Und schreit hinaus: »Ich will nicht mehr hier bleiben, ich will fort von La Gatère!«

Dieser Wunsch, den der Knabe nie auszudrücken gewagt hätte, sollte sich ihm nicht ohne Schmerzen erfüllen. Sowie mein Vater meine Abfahrt nach Behrenstein entschieden hatte, kam meine ganze unbewußte Liebe für den Ort, wo ich geboren war, den ich noch nie verlassen hatte, und wo die Mutter und Sidonie weiter leben würden, über mich und preßte mir das Herz ab. Wie vorauszusehen, taten auch die andern das ihre, mir es noch schwerer zu machen. Meine Mutter wurde noch rührender und drückte mich weinend an ihre zarte Brust. Sidonie wurde wieder sie selber und »zog mich sichtlich vor«; die Leute vom Schloß und den Höfen bedauerten mich, denn ich wurde für sie durch meine baldige Abreise neu und interessant. Selbst mein Vater machte eine sichtbare Anstrengung, gerecht und väterlich zu mir zu sein. Ich fühlte ehrlich (und auch buchstäblich, hatte ich doch schon viel gelesen) die so oft beschriebene Trauer eines Abschiedes vom väterlichen Hause. Und dennoch schien etwas in mir das versteckte Drama zu ahnen, das über diesem Hause brütete, so daß ich mich nach der Abreise wie nach einer Befreiung sehnte. Als ich dann fortfuhr, liebte ich Sidonie; das Trennungsleid hatte ihr für einige Zeit ihre »Tierhaftigkeit« genommen, der Kummer, mich zu verlieren, hatte ihr fast etwas Romantisches verliehen.

In solchem Zustand des Herzens und Geistes kam ich in Behrenstein an, einer ausschließlich protestantischen Anstalt; es gab da Engländer, Schweizer, Schweden, Norweger; aber die Deutschen waren in der Mehrzahl; außer mir kein französischer Schüler.

Die große Neuheit der Umgebung war ein vortreffliches Mittel gegen meine Melancholie. Ich wurde wieder zum Kinde, das die Sprache seiner Umgebung nicht sprechen konnte. Ehrgeizig und arbeitsam wollte ich mich auszeichnen. Bei meinem gemeinsamen Leben mit Knaben in den Entwicklungsjahren stürmte das sexuelle Problem von allen Seiten auf mich ein. Besser als ich es damals konnte, will ich jetzt vor mir selber klären, was in diesen wichtigen Stunden meines Werdens dazu beitrug, das aus mir zu machen, was mir Sidonie heute vorwirft: einen von der großen Menge verschiedenen Jüngling.

Ein Jahr vor dem großen Kriege kannten nur einige literarisch Gebildete und ein paar Neugierige in Frankreich den Namen Freud. In Deutschland hatte seine bereits populär gewordene Lehre die Universitäten erobert, von wo sie in die Schulen zu Knaben und Mädchen durchsickerte. Die Mehrzahl der Lehrer bekämpfte sie und bedauerte die Verwüstungen, die sie anrichtete; manche aber waren ihre heimlichen Anhänger und gewannen sich Schüler und Proselyten selbst unter uns Jungen. So fand die physiologische Unruhe ihres Alters unter meinen Mitschülern ein neues Nahrungsmittel: der eingeborne Geschmack der Deutschen für Theorien (der Literatur, der Soziologie, des Krieges) machte sie von vornherein einer Theorie gefügig, in der sich das sittliche und leibliche Leben auf der sexuellen Grundlage aufbaut. Auf diese Weise wurde ich nun in die Wirklichkeiten der Liebe eingeweiht; denn wenn mich Fünfzehnjährigen auch Überlegung und Beobachtung ländlichen Geschehens das System der Fortpflanzung gelehrt hatten, so hatte mir doch nie jemand gesagt: »So ist dies und so ist das.«

In seinen Jugenderinnerungen sagt Gratry, als er von seiner eigenen Einweihung in diese Dinge spricht (auch ihm wurde sie auf der Schule), diese mir schrecklichen und großartigen Worte: »Das, was ich damals erfuhr, schien mir dasselbe zu sein wie der Tod.« Ich hätte dasselbe sagen können und Schlimmeres noch. Bis zu dem Augenblick, da mir diese brutale Erkenntnis wurde, war mir die körperliche Seite der Liebe gleichsam eingehüllt in ein Gefühl erschienen. (Ich spreche hier wie von einem unangenehmen Heilmittel.) Mein Herz, noch wund vom Abschiedsschmerz, war ganz erfüllt von meiner Mutter, mehr Engel als Frau, und von einer dichterisch verklärten Sidonie. Der gleichzeitig naive, plumpe und pedantische Freudismus meiner Mitschüler gab mir ein Gefühl des Todes, aber noch verstärkt von ich weiß nicht was Irrsinnigem und Düsterem. Auf viele dieser jungen Köpfe hatte das schreckliche Gift gewirkt wie ein aufpeitschendes Anregungsmittel; auf andere (und zwar die Mehrzahl) wie ein geistiger Zerstörer. Als der »Oedipuskomplex« auf meinen Kult für die Kranke im blauen Zimmer fiel, packte mich ein eisiges Grauen; und der Stoß war so heftig, traf so intensiv einen sich eben bildenden Organismus, daß er ihn für immer veränderte. Ich litt körperlich bei der leisesten unsauberen Anspielung im Gespräch meiner Kameraden. Aber ich muß den deutschen Knaben die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie mir das nicht weiter übelnahmen. Ich war ein vorzüglicher Schüler und ich war Franzose: zwei Gründe, die mir Rücksicht verschafften. Zudem stritt ich niemals über diese Ideen; auch stießen mich theoretische Streitigkeiten als zwecklos ab. Was Frauen und Vergnügungen betraf, sonderte ich mich von meinen Kameraden ab; mehr und mehr flüchtete ich mich in eine Art idealer Kapelle, in der zwei Bildwerke strahlten: meine kleine Gefährtin aus der Kindheit und meine leidende Mutter.

Ein solches moralisches Abschließen und eine solche Abneigung gegen die Wirklichkeiten der Liebe haben natürlich mich so gemacht, wie ich in den Ferien nach La Gatère zurückkam: ich litt an einer Überempfindlichkeit des Gefühls.

Nichts hatte sich im Hause geändert, und für das bis zur Zerbrechlichkeit empfindliche Herz, das ich mitbrachte, war die Heimkehr köstliche Erholung. Ich küßte in meiner Stube die Wände vor hingebendem Glück. Ich weinte vor Glück in die blutleeren Hände meiner geliebten Kranken. Der Empfang durch meinen Vater kühlte mich nicht ab, wie ich befürchtet hatte. Ich weiß nicht, ob meine Ankunft ihn freute, aber er suchte mir sichtlich (und mir kaum glaublich) den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Ich schrieb das meinen Erfolgen als Schüler zu; er war empfänglich dafür. Und Sidonie,   sie entzückte mich. Sie war ein bißchen größer geworden, und ihre früher wenigstens für mich etwas zu ausladenden Formen hatten sich gut ausgeglichen.

Eine Änderung verriet sich besonders im Schwung des Körpers und im Ausdruck des Gesichts. Zum ersten Male sah ich eine Sidonie, deren Gesicht, Haltung und Stimme ein inneres Leben ausdrückten. Und wenn sie auch noch manchmal einem ausbrechenden Anfall von körperlichem Kraftüberschuß nachgab, dem Bedürfnis nach Lärm und Bewegung, so dauerte das nur ganz kurz, und schon war sie wieder ruhig, schweigsam, fast melancholisch. Wie mir meine Mutter erzählte, war Sidonie, als man ihr meine Rückkunft mitteilte, in einen Zustand geraten, der zwischen fiebriger Aufgeregtheit und müder Gleichgültigkeit wechselte. Als sie mich erblickte, wurde sie fast ohnmächtig, und als ich sie in die Arme schloß, da war es wie das Wiedersehen Renés und Amélies nach der Trennung. Mir fallen die Worte ein, die Chauteaubriand René da sagen läßt: »Ich umfing Amélie in einer Art Ekstase des Herzens.« Vielleicht   und ich denke jetzt gerade daran, wenn ich meine Erinnerungen mit den letzten Äußerungen Sidonies vergleiche   vielleicht habe ich die Rückkehr und die Wochen, die ihr folgten, mit dem sentimentalischen Glanze geschmückt, den ich als ein aus dem Exil Heimgekehrter in mir trug ... Es mag wohl so sein, daß die verführerische Verwirrung, die von Sidonie ausging, damals eine Mischung der verschiedensten erregenden Gefühle auslöste, die man nicht alle gestehen konnte.

Aber sollte ich mich darin nicht täuschen? Ich hatte ein kleines frühreifes Mädchen verlassen, das von Scham noch keine Ahnung hatte und in aller Unschuld vor mir Stellungen einnahm, die man als aufreizend hätte bezeichnen können; dessen Körper nur vom Instinkt geleitet schien, und dessen ahnungslose passive Zärtlichkeit von vornherein zu einem Entgegenkommen bereit war, dessen Bedeutung sie nicht kannte. Nun sah ich dieses selbe Wesen wieder, aber nachdenklich, unruhig und in ein Geheimnis gehüllt, das ich gar nicht erst zu lösen suchte, weil es mich entzückte; auch voller Zurückhaltung war sie und in einer Form, daß die brüderlichsten Zärtlichkeitsbeweise bei ihr ein ganz unwillkürliches Zurückziehen hervorriefen, dem doch gleich wieder eine ganz freiwillige Hingabe folgte: aber sie bebte in meinem Arm wie ein gefangener Vogel in der Hand.

Das alles machte sie mir um vieles köstlicher und lieber; ich hätte sie mir nicht anders wünschen mögen, denn so, gerade so hatte ich mir sie in Behrenstein gedacht, wenn über dem Sophokles oder dem Algebrabuch ihr Bild vor mir auftauchte. Wie naiv, wie unklug bin ich doch gewesen! Mit einem unbedingten Glauben hielt ich mich für Ursache und Anlaß dieses Schmachtens und dieser Scham!

Diese unruhige und leidenschaftliche Sidonie begann mich allmählich zu erobern, und die Trostlosigkeit, der ich in Behrenstein erlegen war, löste sich allmählich. Ohne Zweifel hätte eine Fortsetzung dieser Beziehungen schließlich den Widerwillen, der mich in Deutschland gegen alles Körperliche erfaßt hatte, besiegt. Ja, ich glaube ... ich bin sogar ehrlich davon überzeugt, daß ich aus dieser unsinnlichen und ganz zarten Liebe nach und nach, wenn auch nicht bis zur Begierde, so doch in die Hinnahme einer völligen Vereinigung geglitten wäre.

Diese Überzeugung drängt sich mir so stark auf und wird so Herr über mich, daß ich fast in Sidonies Zimmer gehen möchte oder sie in meines rufen, um ihr zu sagen:

»Du beschuldigst mich, dich nicht so geliebt zu haben, wie ein Junge ein Mädchen liebt. Bist du dir über dein Teil Verantwortung an dieser Zurückhaltung klar geworden, die du für anormal erklärst? Während zweier Monate hatte ich mich moralisch einem weiblichen Wesen hingegeben, und das warst du. Ohne etwas zurückzuhalten, gab ich dir alle Gedanken meines Herzens; du konntest dich nicht irren, weder über das Gefühl, das ich für dich hatte, noch über mein Vertrauen, daß dieses Gefühl von dir erwidert würde. Nicht ein einziges Mal hat dir dein Gewissen die Lippen geöffnet. Nicht ein einziges Mal hast du, die Gefährtin meiner Kindheit, gesagt: ›Ich will dich nicht länger im Irrtum lassen. Ich gefalle dir, weil ich nicht mehr der Sidonie gleiche, die du gekannt hast. Aber diese Änderung vollzog sich nicht für, sondern gegen dich. Verlange keine weiteren Erklärungen. Verzichte. Verlaß mich und verlaß dieses Haus für immer ...‹ Statt dessen ließest du dich von mir liebkosen. Du hast mir nichts gestattet, das ist wahr; du hast mir nicht die Lippen gewährt, die sich über deinem Geheimnis schlossen. So nütztest du meine unendliche Achtung vor dir und meine Keuschheit aus ... Aber du ließest dich von mir lieben, ohne Gewissensbisse zu fühlen und ohne dich mit einem Worte zu widersetzen. Und mehr noch: in deiner ehrlichen Beichte von heute finde ich nicht eine Spur davon, daß du dich noch nachträglich schämtest. Du erklärst, daß es gut und recht so war, und daß du   Frauen entschuldigen sich immer so   es nicht anders hättest machen können. Versuch' wenigstens jetzt, da du die Wunden kennst, die das Leben schlägt, zu erkennen, was du mir angetan hast. Mein ganzes Leben lang seit einem Ereignis, das du nicht kennst, das ich Dir auch niemals erzählen werde, und das mir die Augen geöffnet hat, mein ganzes Leben lang weiß ich und durch deine Schuld, daß es möglich ist, daß eine kaum entwickelte Frau, deren Herz nicht verdorben ist, und die mehr taugt als die meisten, den Genossen ihrer Kinderzeit betrügen kann, dem sie Hunderte von Malen gesagt hat, daß sie ihn liebe, und der ihre Liebe erwiderte. Ich habe es erfahren, daß meine ersten Liebesworte sich in die Lüge, die Doppelzüngigkeit und den Verrat verloren. O ich errate deine Verteidigung: ›Auch ich war ehrlich und aufrichtig ...!‹ Nein, Sidonie. Du warst bereits die Frau, Gefangene dessen, der sie hält, eingebettet in die Gefangenschaft, in die Partei des Siegers eingereiht; und doch bereit, wenn es nötig wäre, ihn mit einem andern zu betrügen, vorausgesetzt, der wahre Herr erfährt nichts davon. Du sagst, daß du mir nicht angehört hättest? Das ist nicht wahr, und aus diesem Irrtum erfolgt dein Vorwurf: ›Wenn Du mich geküßt hättest, wie Jungen Mädchen küssen ...‹ Hätte ich nach meiner Rückkehr von Behrenstein dich geküßt, wie Jungen Mädchen küssen, du hättest dich mir mit dem sinnlichen Schicksalsglauben der Frauen gegeben, für die die Hingabe alles ist und die, wenn sie schon denken, was hierbei selten ist, sich sagen: ›Also ... nachher wird man sehen ...‹!«

Aber ich werde Sidonie diese Rede nicht halten. Es liegt mir wenig daran, ob ich mich nun schon vor ihr verteidige oder nicht. Ich rechtfertige mich vor mir selber. Die Tatsache jedoch, auf die es ankommt, ist nicht zu leugnen: nicht weniger als der Schlag in Behrenstein hat die Täuschung dieser zwei Ferienmonate mir das Bild der Liebe beschmutzt und verdorben. Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß unter allen glücklichen Gefangenen und allen diesen unbewußten Betrügerinnen Sidonie noch die am wenigsten verächtliche ist.

*

Wie der Schleier der Lüge vor meinen Augen zerriß, wie ich mit einem Schlag aus zärtlichstem Liebesvertrauen in ein weibliches Wesen zu Widerwillen und Ekel kam, zu Furcht und Verabscheuung alles »Weiblichen«   bis auf die Ausnahme der unschuldigen Kranken  , davon findet sich keine Spur in den weißen Heften dieser Zeit verzeichnet. Es ist da eine leere Seite, die nie ausgefüllt wurde. Zunächst weil ich das einfach nicht niederschreiben konnte, obwohl mein Denken ganz davon besessen war. Ich hätte damals die Worte nicht gewagt. Und dann: ein Junge von sechzehn Jahren, der die Gewohnheit angenommen hat, sein Leben aufzuschreiben, und deswegen von seiner Umgebung ausgelacht wird, der fühlt seine niedergeschriebenen Geheimnisse nicht in Sicherheit, da sie ihm im Namen der väterlichen Autorität entrissen werden können, ohne daß es für ihn Schutz und Hilfe gäbe. Das entscheidendste Ereignis meines Lebens, das mich zu einem Charakter gemacht hat, der gewissen Menschen anormal und verdächtig erscheint, dieses Ereignis ist in kein Heft eingeschrieben. Anspielungen werden oft genug gemacht, aber auch diese sind nichts als ein Datum: 21. September ... Dieses Datum bedarf in der Geschichte meines Lebens keiner Jahreszahl, so wenig als der 9. Thermidor in der Geschichte meines Landes oder der 24. August in der Geschichte meiner Religion.

Heute nun will ich versuchen, diese Lücke in meinen armseligen Aufzeichnungen auszufüllen. Da ich es hingenommen habe, vor mir selbst als Angeklagter zu stehen, werde ich nicht meinen stärksten Beweis mit Schweigen übergehen: das Ereignis, das meinen plötzlichen Bruch mit meiner Vergangenheit entschied, mich aus dem Hause jagte, in dem ich geboren war, und mich zwang, ja zwang, gerade die sich mit ihrem Schicksal zurechtfinden zu lassen, die mir heute vorwirft, ich hätte sie preisgegeben. Doch niemals war mir mein Recht, mich zurückzuziehen und fortzugehen, von dem ich damals Gebrauch machte, anfechtbar erschienen. Aber fechten wir es an, weil es mir von meinem angeblichen Opfer bestritten wird.

Der 21. September ist ein für unsere ganze Gegend charakteristischer Tag, eröffnet er doch die Zeit der Weinlese. Die Lese selber hat noch nicht begonnen, aber die besondere Morgenfarbe dieses Tages verkündet, daß sie bevorsteht: der graue Himmel, das von leichtem Reif bepuderte Gras, die verziehenden Nebel an den steilen Abhängen des Cayrou,   ein Ortsfremder würde glauben, ein düsterer, trüber Novembertag bräche an. Wir aber wissen, in diesem verdrießlichen Aussehen liegt das Versprechen eines warmen Nachmittags und eines goldenen Sonnenunterganges.

Es ist mir im Lauf meines Lebens zuweilen passiert, daß ich ein Ereignis vorausfühlte; ich will damit sagen, daß ich nach dem eingetroffenen Ereignis die Empfindung oder die Einbildung habe, als hätte das Bild dieses Ereignisses mein Denken schon mehr oder weniger lange beschäftigt. An diesem 21. September habe ich nichts geahnt. Ich war aufgestanden, froh und vergnügt, da zu sein, wo ich war, in La Gatère; ein bißchen traurig über den bevorstehenden Abschied, aber voll Tatkraft und Vertrauen zum Leben. Um halb acht wollte ich mich aufs Rad werfen, denn ich hatte abends zuvor einen wichtigen Auftrag übernommen. Eine ungeschickte Magd hatte ein Medikament, das meine Mutter morgens und abends gegen ihre Herzschwäche einnahm, fallen lassen, und das Fläschchen war zerbrochen. Der Ersatz war nicht schwierig zu beschaffen: vor kurzem hatte sich in einer Ortschaft fünf Kilometer entfernt von La Gatère ein Apotheker niedergelassen, aber wir blieben unserm alten Varnot treu, dem Apotheker von Tonneins; unser Haus versorgte sich in dieser Apotheke schon seit ungefähr einem Jahrhundert, und in all diesen Jahren wurde die Apotheke von den Varnots geführt, einer protestantischen Apothekerfamilie. Nur war Tonneins achtzehn Kilometer weit von La Gatère, und das graue Auto hatte eine Panne gehabt, die erst an diesem Morgen in Ordnung gebracht werden konnte. Ich hatte mich mit Freuden für die dringende Besorgung angeboten. Als ich nun nach meinem Fahrrad in die Garage ging, traf ich meinen Vater, der zu der frühen Stunde allein heruntergekommen und dabei war, die Panne zu reparieren. Er drückte mir die Hand; einen Kuß gab er mir nie; er schätzte mit mir die Zeit ab, die ich für meine Besorgung brauchen würde.

»Fünfviertelstunden hin, ebensoviel zurück, eine halbe Stunde bei Varnot, der zwischen jedem Abwiegen eine Rede von zwei Minuten hält. Insgesamt also drei gute Stunden. Vor elf Uhr kannst du wieder zurück sein. Deine Mutter wird nicht zu ungeduldig werden ... Man hat dir doch das Rezept gegeben?«

»Ich hab's in meiner Brieftasche.«

Ich fuhr zehn Kilometer in einem ziemlichen Tempo. Und als ich mir gerade sagte, daß ich schon spätestens gegen halb elf wieder zurück sein würde oder noch früher, spürte ich, daß meine Pedale leer liefen: die Kette meiner Maschine war gerissen. Ich hatte einen Anfall gelinder Verzweiflung, daß meine geliebte Kranke nun durch meine Schuld würde auf das Medikament warten und vielleicht leiden müssen. Aber was war zu tun? Verlassen lag zu dieser frühen Stunde die Straße vor mir. Keine Aussicht, daß mich   die Autos waren damals noch selten   ein Fuhrwerk nach Tonneins bringen würde. Da kam mir ein kühner Gedanke   wahrhaft kühn, denn die Tradition der Treue zu den Lieferanten der Familie war bei uns tyrannisch. Ich erblickte in dem Tal, etwa zwei Kilometer weit zu meiner Rechten, den Kirchturm des Ortes, wo sich der neue Apotheker niedergelassen hatte (der katholische). In einer halben Stunde höchstens konnte ich, mein Rad schiebend, den Ort erreichen. Und außer der Apotheke wußte ich da einen Mechaniker, der, wenn er schon das Rad nicht in Ordnung bringen, mir wenigstens ein anderes leihen konnte; schlimmsten Falles würde ich La Gatère zu Fuß zur ausgemachten Zeit erreichen.

Die Geschichte ordnete sich noch viel einfacher. Wenn das Geschick eine Absicht verfolgt, kennt es keine Hindernisse. Der katholische Apotheker war ein junger Schüler der Fakultät von Bordeaux und viel geschickter als mein alter Religionsgenosse in Tonneins. Er verlangte nur zwanzig Minuten, um das Rezept zu machen. Tatsächlich, als ich dreiviertel Stunden später mit meinem reparierten Rad in seinen Laden trat, erwartete mich die Flasche schön verpackt und verschnürt. Ich war dadurch eine Stunde früher in La Gatère, als wir angenommen hatten.

Zu Hause begab ich mich in die Vorratsräume, um Alicia die Flasche zu geben, und da ich in Schweiß war, kam mir der Einfall, mich abzuduschen. Ich hatte mir das seit Behrenstein angewöhnt, wo es unter den Schülern Brauch war.

In diesem Hause, in dem sich so wenig geändert hat, ist aber nichts übriggeblieben von der alten Badestube im Mittelgeschoß, die jetzt, höchster Komfort für diese Zeit und diese Gegend, nicht nur mit einem Duscheapparat, sondern auch mit laufendem warmen Wasser (aus der benachbarten Küche) ausgestattet worden war. Der mit rötlichen und gelblichen Sandsteinfliesen gepflasterte Raum wurde durch ein nur zur Hälfte abgeblendetes Fenster erhellt und ging auf einen recht dunklen Korridor, der sich gerade da in einer Krümmung um einen Grundpfeiler des Gebäudes biegt. Kurz vor dieser Krümmung geht eine Tür in eine Dunkelkammer, wo mein Vater seine photographischen Aufnahmen entwickelt. Wer immer ein Bad nehmen wollte, mußte die Treppe heruntersteigen, eine Treppe für meinen Vater und Sidonie, zwei Treppen für mich. Aber damals war man in der Gaskogne nicht empfindlich gegen Kälte. Im Winter nahm man seinen dicken Bademantel um und beeilte sich eben.

Wie ich auf dem Weg vom Vorratsraum zur Badestube um jene Ecke biege, geht die Tür der Stube auf, und ich sehe Sidonie in ihren Bademantel gehüllt heraustreten.

Sidonie konnte mich in dem dunklen Gangwinkel, wo ich zögernd stehengeblieben war, nicht bemerken. Aber ich sah sie dank des bißchen Lichts, das aus der offengelassenen Tür auf sie fiel. Mein jungenhaftes Schamgefühl war so stark, daß ich mich geschämt hätte, ihren Weg zu kreuzen und sie zu streifen, die nur mit einem Bademantel bekleidet war. Sidonie hätte es wahrscheinlich gar nicht geniert.

Ich wollte weitergehn, als sich eine andere Tür öffnete, die schon vorher bloß angelehnt sein mußte, denn die Klinke gab keinerlei Geräusch, also wurde sie nicht gebraucht. Mein Vater glitt aus seiner Dunkelkammer und versperrte Sidonie den Korridor. Warum bin ich nicht davongelaufen? Weshalb blieb ich stehen wie in eine Statue verwandelt? Sidonie trat erst einen kleinen Schritt zurück, dann blieb sie stehen. Mein Vater kam auf sie zu; sie versuchte, sich an die Wand zu drücken. »Nein ... nicht ... nicht hier ...« Und sie zog den Bademantel fest an den Leib. Aber mein Vater nahm sie bei den Schultern, gab ihr eine halbe Drehung, zog sie an sich, so daß ich, ganz versteinert, mich nicht zu rühren wagte. Nun sah ich nichts mehr als den Rücken des weißen Mantels, überragt von der hohen Gestalt des »Herrn«, umschlungen von seinem dunklen Arm, über den das aufgelöste, schwere schwarze Haar fiel. Ich unterschied Vaters Gesicht nicht, denn die beiden Gesichter deckten sich nun ganz wie bei den Verliebten, die ich einmal in der Nachbarschaft des Hauses überrascht hatte. Sie hafteten aneinander und trennten sich nicht. Der schwarze linke Arm lag umgürtend auf dem weißen Bademantel; den rechten Arm sah ich nicht. Aber plötzlich bemerkte ich, wie auf der rechten Seite der untere Teil des weißen Linnens frei und ungehindert in seiner Bewegung flatterte, und ich glaubte mit leibhaften Augen zu sehen, was sich ihrem Liebhaber jetzt bot.

Sie beeilten sich nicht: ich hatte Zeit, mein Bewußtsein wiederzufinden und lautlos mich davonzumachen. Ich ging auf mein Zimmer, schloß mich ein und warf mich aufstöhnend aufs Bett. Das Gesicht in die Kissen vergraben, mit brennenden Schläfen und einem Herzen, das bald wie tot lag, bald rasend aufzuckte, schluchzte ich fassungslos.

 

Ich verbrachte die beiden folgenden Tage im Zustand eines grauenvollen Fiebers, das zu verbergen oder zu leugnen ich den spartanischen Mut besaß. Ich habe von diesen gefährlichen Stunden keine andere Erinnerung als eine wütende Hitze in den Ohren und eine Art phantastischen Filmes, der vor meinen geschlossenen Augen ablief. Aber wohlgemerkt: der Film hatte keinerlei Beziehung zu der wirklichen Tatsache. Die Tatsache, das wahre Bild, versuchte erst wiederzukommen, als das Fieber nachließ. Ich strengte alle Kraft an, es zu verscheuchen, wegzudrängen, denn meine Entkräftung war über alles Maß, und jeder bestimmte Gedanke warf mich nieder.

Als mir allmählich die Kräfte wiederkamen, zwang ich mich, zu sagen: »Was ich gesehen habe, war nicht. Ich will, daß es nicht war.« Ich wußte es ja anders, aber die Angst, durch die Erinnerung wieder einen Schlag zu bekommen, trieb mich dazu, meinem Gedanken eine andere Richtung zu geben. Ich verbrachte diese kurzen Stunden am Bett meiner Mutter. Dieser blasse Engel, an dem nichts Weibliches mehr war, das ich verabscheute, zog nun meine ganze Liebesfähigkeit an sich. Und doch war ich entschlossen, sie so rasch als möglich zu verlassen; der Wunsch, meine Abreise nach England zu beschleunigen, beherrschte mich. In Sidonie und meinem Vater sah ich nur mehr Schatten; ich wollte mein Denken nicht mehr der Tatsache zuwenden, daß sie eine wirkliche, mit mir verbundene Existenz hätten. Ich weiß nicht, ob mein Vater die Veränderung merkte: er kümmerte sich ja so wenig um mich. Sidonie stellte mir einige Fragen, so das leere und nichtssagende »Was hast du denn?« der Frauen;   banale Frage, die eine banale Antwort befriedigt. »...« Weder der Vater noch Sidonie ahnten etwas, weder sie noch er werden es je wissen. In Sidoniens Brief steht: »Je näher der Tag Deiner Abreise kam, um so mehr entferntest Du Dich von mir, anstatt mich zu trösten, mich, die ich Dich doch so nötig hatte. Vielleicht hätte ich mich Dir anvertraut, wenn Du mir geholfen hättest ... Aber Du ließest mich allein und verzweifelt in mein Elend sinken ...«

Das ist die ganze Frau! Nie kommt aus ihrem Munde das Bekenntnis einer erkannten Verantwortung. Immer ist es der Fehler des andern. Sidonie, die zu den ehrlichsten gehört, schreibt ein paar Zeilen weiter: »Ich entschuldige mich nicht, ich verteidige mich nicht.«

Aber ich verteidige mich, der ich gleichzeitig Angeklagter, Verteidiger und Zeuge bin.

Ich verteidige mich vor dem höchsten Richterstuhl, vor dem ein Hugenott wie ich sich verteidigen kann: vor meinem Gewissen.

Meine Zeugenaussage über das Ereignis des 21. September genügt und macht alle sonstigen und früheren Mitteilungen und Beweise überflüssig. Des ersten Klagepunktes erachte ich mich für freigesprochen: für meine kleine Kindheitsgefährtin nicht das gewesen zu sein, was sie von einem »normalen« Gefährten zu erwarten berechtigt war.      

 

Bleibt der zweite Punkt der Klage: nach meiner Abreise nach England mutmaßt sie, daß ich »in das Geheimnis ihres Lebens eingedrungen« sei. Sie wirft mir vor, sie von da ab als »nicht mehr vorhanden« betrachtet zu haben. Ohne damit deutlich auszudrücken, daß ich mein Wort nicht gehalten   denn ich hatte mich ja in keiner Weise verpflichtet  , will sie sagen, daß ich mich nicht um sie gekümmert habe, ihr nicht zu Hilfe kam, nicht das Bedürfnis sie zu retten empfand.

Dies ist wahr und berührt mich deshalb auch mehr als die erste Beschuldigung. Ein vollkommener Mensch hätte nicht darauf verzichtet, etwas für eine vom Wege Abgekommene zu tun. Wenn man nicht mehr nach Vollkommenheit strebt, läuft man Gefahr, schuldig zu werden, mindestens durch Unterlassung. Untersuchen wir diese neue Klage aufs genaueste. Und betrachten wir dazu die Ereignisse nach dem 21. September.

Solange ich lebe, werde ich England verpflichtet bleiben. Ich kam dort in einem schrecklichen Zustand moralischer Erschütterung an; England hat mich beruhigt und dann geheilt.

Wie?

Durch seine Disziplin, die nicht aufgezwängt, sondern freiwillig angenommen wird, durch seine überlieferte, so anziehende Tradition, durch die beinahe kindliche Schlichtheit des Durchschnittsengländers, die mit der Geradheit des Charakters und seinem unerschütterlichen Selbstvertrauen zusammenhängt. Ein Franzose, der lange genug mit dem englischen Leben verbunden war, findet die Vormachtstellung dieses Volkes in der Geschichte nur gerecht und erklärlich.

Das College von Buxton in Devonshire, wo ich zwei der fruchtbarsten Jahre meines Lebens verbrachte, hat mich, glaube ich, gerettet; richtiger, es hat meine Rettung begonnen, die dann der Krieg vollendete. Hätte man noch ein zweites Jahr Deutschland über mich verhängt, wovon die Rede war, wäre ich verloren gewesen. Die mich umgebende Überspanntheit hätte das zermürbte arme Geschöpf, das dieser 21. September aus mir gemacht hatte und das der Gedanke an Selbstmord beschäftigte, unweigerlich in Hysterie und Wahnsinn getrieben. Die gesunde Hygiene meiner englischen Mitschüler stellte nach und nach meine Gesundheit wieder her! Welcher Abgrund zwischen ihnen und denen von Behrenstein! Gewiß: hier in England gab es weit weniger intellektuelle Schärfe, geringere Lust an der Arbeit, weit weniger Geschmack und Liebe für die Welt der Ideen, weniger Begier nach dem Neuen. Aber dafür welch gutes moralisches Gleichgewicht! welch gesunder Widerstand normalen Denkens gegen die Lockpfeife naiv umstürzlerischer Ideen! Und insbesondere   und gerade das war so heilbringend für mich   welch ruhige und endgültige Lösung des sexuellen Problems!

In einem gewöhnlichen jungen Engländer vereinigt sich eine robuste Männlichkeit mit einer ziemlichen Gleichgültigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Im Laufe seines Lebens wird die Frau für ihn: entweder eine unter Sport, Reisen, Poker, Männertrinken gestellte Zerstreuung, der man sich mit Verachtung zuweilen hingibt, was bei Sport, Reisen, Poker und Whisky nie der Fall ist; oder sie wird Gegenstand einer ernsthaften ehelichen Verbindung ganz praktischen Charakters, vom ökonomischen und sozialen Standpunkt gesehen, einer Verbindung, von welcher der Engländer keinerlei Vergnügen erwartet, es seien denn im Anfang einige Ideale des bürgerlichen, gewissenhaft anerkannten Überkommens. Daher die Kälte aller Schilderungen ehelicher Liebe in der allgemeinen englischen Literatur.

Die großartige moralische Gesundheit des erwachsenen Engländers kommt sicher daher, daß er es für unsauber, für unschicklich hält, einer Frau moralisch versklavt zu sein. Er gestattet ihr außerhalb ihrer ehelichen Rolle nur ein vorübergehendes körperliches Anziehungsvermögen.

Ja, ich kenne den Einwand wohl: es gibt Oscar Wilde. Aber gibt es die Anhänger Wildes nicht auch in Ländern, wo die weibische Galanterie blüht.

Ich, der ein Jahr lang unter jungen Deutschen, dann zwei Jahre unter britischen Jünglingen gelebt habe und den schließlich das militärische Leben während des Krieges und nach ihm mit Männern aller europäischen und außereuropäischen Länder zusammengeführt hat, werde vielleicht für sehr naiv gehalten werden, wenn ich hier eine Meinung äußere, die nur für mich selbst Geltung hat und daher ganz ehrlich gemeint ist: ich habe immer wieder festgestellt, daß die Beziehungen junger Engländer zueinander ganz platonisch waren, wie die Gefühle des Sokrates für Alkibiades, also eine Art zärtlicher Freundschaft, die man bei jungen Mädchen ganz natürlich findet. Notwendigerweise sind solche Beziehungen verdächtig; ich hörte welche verdächtigen, die ich für über jeden Verdacht erhaben hielt, und solche, von denen ich genau wußte, daß der Verdacht sinnlos war und zu Unrecht bestand. Ich bin der Meinung, wie der Apostel Paulus, daß die Enthaltung gegenüber dem Weibe der beste Schutz gegen alle Ausschweifungen, und daß der Verkehr mit der Frau, als einem Werkzeug der Lust, die beste Vorbereitung zu unnormalem, lasterhaftem Leben ist.

Zwei Jahre dieser Disziplin und dieser Umgebung hatten aus mir einen jungen Menschen gemacht, der es nach der moralischen Katastrophe, die mich niedergeschlagen hatte, mit dem Leben wieder aufnehmen konnte. Zwei Jahre waren nötig, um mich zu überzeugen, daß ein Leben auf La Gatère für mich ganz unmöglich war, zwei Jahre aber auch hatte ich es entbehren müssen, die gebrechlichen Schultern meiner armen Mutter in die Arme zu schließen. Ich entschloß mich endlich zur Abreise, da mir der Krieg eine Gelegenheit bot, nach Frankreich zurückzukehren, ohne mich doch zu einem längeren Aufenthalt in dem befleckten Hause zu zwingen. Dann gab es Stunden, in denen das große allgemeine Leid des Krieges die Schmerzen des einzelnen in den Hintergrund drängte. Für die großen Schmerzen der Seele ward das Leben im Kriege eine Wohltat.

So sah ich sie also wieder. Meine Mutter zuerst, um neben ihr den Mut zu schöpfen, einige notwendig gewordene Tage in diesem beschmutzten Hause zu verbringen.

Und dann sie, die Schuldigen.

Meine Mutter fand ich zu meiner Freude, wie ich sie verlassen hatte: ihr Leiden hatte sich nicht verschlimmert. Aber die beiden andern hatten diese zwei Jahre stark verändert. Mein Vater zeigte ja sein stattliches Aussehn wie immer; man hätte nicht sagen können, daß er älter geworden. Immer noch sagte die Dienerschaft von ihm: »Der Herr Graf ist ein sehr schöner Mann.« Etwas Siegesbewußtes im Blick, in der Geste, dem Ton seiner Stimme ließen ihn noch jünger aussehen. Ich habe immer diese Wirkung einer augenblicklichen Verjüngung bei Männern verliebten Charakters beobachtet, wenn sie eine neue Eroberung gemacht haben. Aber bei diesem war neben der Verjüngung eine merkwürdige Nervosität, die mit tiefen Depressionen wechselte.

Ich war erstaunt, wie dieser Mann, ehemals so durchaus Herr über sich selbst, sich gegen die Dienerschaft benahm. Oft wegen nichts. Auch entfernte er sich plötzlich und ohne äußern Anlaß aus unserer Gesellschaft und fiel in ein trübes Sinnen. Seine prachtvollen Augen bekamen dann immer etwas Verschleiertes, wie ich das später auf Jagden in Asien im Blick wilder Tiere wiedersah, wenn sie sich umzingelt fühlten und stillstanden, wie vom Geschick betäubt.

Bei meinem ersten Blick auf Sidonie fiel mir auf: sie war schön geworden, die bei meiner Abreise nur anmutig gewesen war. In ihrer Beichte erzählt sie, daß meine Rückkunft sie tief bewegt habe, aber daß sie aus einer Art Scham sich nicht zu mir erheben konnte.

»Meine Demut«, sagt sie, »warf mich stärker als je dem zu, für den ich alles war.«

Wieder die unbewußte Doppelzüngigkeit der Frauen! Sidonie hat diese Worte vor einigen Stunden in einer moralischen Krise geschrieben, die jede Heuchelei ausschließt. Und doch drücken ihre Worte nicht die Wahrheit aus oder nur zur Hälfte, so daß sie eben nicht mehr die Wahrheit sind. Die Wahrheit aber ist diese: Nach zwei Jahren Abwesenheit fürchtete ich, eine erbarmungswürdige, elende, reuige Sidonie wiederzufinden: dann hätte ich die Versuchung spüren müssen, etwas für sie zu tun, und ich fühlte meine Unfähigkeit dazu.

Eitle Sorge! Sie schien durchaus nicht von ihrer Schuld verzehrt. Sie trug vielmehr diese Sünde mit einer naiven Frechheit. Ich spürte in der Art, wie sie mir gegenübertrat, ihren Groll; aber ich sah auch diese Gloriole der Sünde, mit der die Frau vor ihren eigenen Augen ihre Niederlage maskiert, besonders dann, wenn die Sünde auf der Höhe der Befriedigung steht, die von ihr ausgeht. Unter der Herrschaft der Sinne vergehen Nachdenken und Gewissensbisse; es ist die behagliche Ruhe eines guten Magens nach einem köstlichen Essen.

Das ist es, was Sidonie aus der Ferne für Demut hält. Alles, was sie gleich darauf erzählt (es dringt da die Schamlosigkeit selbst der bereuenden Frau durch, wenn sie sich des Glückes ihrer Liebe erinnert), bestätigt meine Auslegung.

 

So war also der Stand der Dinge: von beiden Schuldigen hatte jeder in seiner Art sich mit seiner Schuld abgefunden, und jeder war auf seine Weise bereit, sie zu verteidigen. Ich kann mir denken, was ein Romanschriftsteller alles aus dem Eintreffen eines schwachen Richters von achtzehn Jahren in einem beschmutzten Hause herausholen könnte: Recht an Stelle des Unrechts setzen, die Atmosphäre säubern, die Ordnung wiederherstellen. Ein schönes Sujet! Es ist Kinderspiel, einer ausgedachten Persönlichkeit den Sieg zu verleihen, aber im Leben macht sich nicht alles wie im Roman.

Heute bin ich von der Wunde meiner Jünglingszeit geheilt, aber wie ein Verwundeter in seinem Leib den Granatsplitter bewahrt, der ihm das Herz gestreift hat, so urteile ich heute mit gerechtem Gleichmut über mein damaliges Benehmen. Achtzehn Jahre war ich alt: das Leid hatte mich gereift, und die folgenden Jahre konnten zu meiner Entwicklung nicht mehr viel hinzufügen. Aber im Namen welcher Macht und mit welchem Rechte versehen sollte ich an das Werk der Reinigung gehen? Vergebens hätte ich einen Skandal entfesselt, Schmutz aufgewühlt und den Mut gehabt, meiner Mutter einen tödlichen Schlag zu versetzen. Darüber läßt sich überhaupt nicht streiten! Ich hätte mich allein an Sidonie wenden können ... Konnte ich auf sie wieder meinen alten Einfluß gewinnen, ihr predigen? Nach meiner Überzeugung: nein. Hätte ich es versucht, ich wäre sicher gescheitert, und Sidonie gibt das indirekt zu (wie immer), wenn sie diesen Zustand träger Liebesgefangenschaft mit rückschauender Lust beschreibt. Aber ich konnte es auch deshalb nicht versuchen, weil über meine Lippen nicht diese Worte kommen konnten: »Ich kenne deine Sünde, Sidonie, ich habe sie gesehen!« Diese Worte, glaube ich, hätte ich nicht über die Lippen gebracht. Und wäre es mir gelungen, hätte ich sie gesprochen, so wären sie auf Ableugnung, auf Ausflüchte, auf Lügen gestoßen. Ihre Beichte von gestern ist im großen und ganzen wahrhaft, weil sie, satt einer Liebe, die auf ihr zu lasten beginnt, sich jetzt von ihr befreien will. In der Hitze ihrer wollüstigen Niederlage hätte sie gelogen und mich dann ihrem Herrn verraten. Aber wagen wir selbst die unwahrscheinlichste Annahme: sie hätte sich erweichen lassen, hätte frei gesprochen, was sie nun geschrieben hat,   welcher Sohn von achtzehn Jahren kann ein solches Bekenntnis, das seinen Vater betrifft, anhören? Jetzt bin ich ein Mann und habe trotzdem beim Lesen des Abenteuers gezittert, habe zweimal dieses Schriftstück wegwerfen müssen. Und habe geweint. Ja, geweint wie damals, als ich sie mit fünfzehn Jahren überraschte.

Vor mir selber und wissend, was ich damals nicht wußte, fälle ich das Urteil sicher und ruhig. Nur eines war damals möglich: schweigen und verschwinden. Und das tat ich.

*

Ich gebe zu, daß Sidonies Beichte oder vielmehr ihre Verteidigung mich in ihrem ganzen letzten Teil mehr als das übrige ergriffen hat: dort wo sie ihr Leben während der Nachkriegsjahre erzählt. Sie hat da einen bezwingenden, ganz echten und unmittelbaren Ausdruck für ihr erwachendes Gewissen und für sein Wachsen und Werden, und wie sie Trost im Gebet sucht. Als ich diese Seiten heute Nacht zum erstenmal las, haben sie mich verwirrt, und ich fühlte ein tiefes Mitleid. Ich lese sie jetzt wieder, etwas kälteren Blutes. Ergreifend und leidvoll, gewiß! Auch durchaus ehrlich! Aber von einer Art Ehrlichkeit, die nur dem weiblichen Geschlecht eigentümlich ist. Ich fordere einen Moralkritiker auf, nach dem Texte eine andere Ursache für ihre Gewissensbisse zu suchen als eben das Übermaß der erotischen Sensation. Sidonie hat die Größe ihrer Schuld ermessen, als diese Schuld sie mit Lust bis ins Innerste erschütterte. Zuvor war sie in einer Art sinnlichen Wohlbehagens halb unbewußt hingedämmert; als sie aufwachte, gab es jene starke schmerzhafte Glut, die ich, mit ein wenig Mitleid und viel Widerwillen, bei andern Frauen schon beobachtet habe, wenn sie, sich ihres Falles bewußt, in eine dumpfe Feindschaft gegen den Mann hinübergleiten, der sie zu Fall gebracht. Aber sie geben ihm immer wieder nach und erleiden immer wieder die ekstatischen Genüsse der Lust, die ihre Wünsche befriedigt und ihr Gewissen in Aufruhr bringt.

Diese ganzen letzten Seiten in Sidonies Beichte bis zum Abbruch der körperlichen Beziehungen haben mich tief bewegt. Da ist bestimmt nichts Zurechtgemachtes. Das Gefühl der Schande, die Verzweiflung, sich verworfen zu wissen, der Wunsch, die Bande des Vergangenen zu zerschneiden, der Mut, diesen Wunsch auszuführen und alles dabei zu wagen: in alldem zeigt sich eine Stärke der Seele, wunderbar vereint mit christlicher demütiger Reue. Alles das ist wahr, wahr, wahr ... Keine Tatsache ist verborgen, kein Gefühl gefälscht. Sidonie drückt aus, was sie empfindet, und gibt für das, was sie empfindet, die von ihr für richtig gehaltene Erklärung.

Sie täuscht sich aber in dieser Erklärung ihrer Gefühle.

Die meisten Frauen hätten sich hier wie sie getäuscht, denn es gibt für das weibliche Gewissen in Liebessachen eine unumgängliche Einstellung. Die Frauen leugnen nicht die physische Anziehungskraft des Mannes; sie wollen auch mit seltenen Ausnahmen nicht, daß man ihnen das Temperament abspreche: aber sie werden nie zugeben, daß ihr Fall oder ihre Erhebung zutiefst im Sinnlichen begründet sei. Dies aber ist gewöhnlich der Fall, und die Natur hat es offenbar so gewollt.

Der Fall Sidonie hat also nichts weiter Entehrendes: sie gehorchte dem Gesetz ihres Geschlechtes. Solange der Herr und Meister im Vollbesitz seiner Kräfte steht, ist sie Gefangene, mit mehr oder weniger Gewissensbissen, je nachdem die Sinne mehr oder weniger trunken sind. Eines Tages ist der Herr krank ans Bett gefesselt; die Gefangene stellt ihre Entzauberung fest; sie untersucht neugierig die Ausgänge aus ihrem Gefängnis. Der Kranke steht auf; die Gefangenschaft beginnt wieder; aber der Herr ist getroffen, sowohl in seinem Aussehen wie in seiner Lebenskraft; er besitzt nicht mehr seine unwiderstehliche Macht; er ist reizbar und fordert ungeschickt die Unterwerfung. Die Gefangene gehorcht wie immer, aber bereits ohne innere Zustimmung. Die Sinne verlangen ihre Unabhängigkeit. Sie setzt diese neue Tatsache auf Rechnung eines sittlichen Fortschritts, auf das Erwachen ihres Gewissens, auf die Wiedererlangung ihrer sittlichen Würde. Es ist noch nicht die völlige Befreiung, aber deren Morgenröte, obwohl die Gefangenschaft fortdauert. »Die Dinge nahmen«, schreibt Sidonie, »fast wieder ihren alten Lauf.« In diesem »fast« liegt die ganze Hinfälligkeit weiblicher Folgerungen.

Aber die Stunde sollte für die gefangene Sidonie schlagen, wo es sich nicht mehr um ein »fast« handelte. Ich war aus Afrika zurückgekommen und hatte meinen Entschluß bekanntgegeben, das Haus nicht mehr zu verlassen, bis meine sterbende Mutter ihren letzten Seufzer getan hätte. Es war zweifellos, daß dieser Entschluß die Schuldigen aufs äußerste erregte, wie Sidonie schreibt. Aber was sie nicht sagt, und was doch augenscheinlich auf Wirklichkeit beruht, ist dieses: daß der Zwang, den meine Gegenwart auferlegte, dem Herrn verhaßt, aber der Gefangenen eine Erleichterung war. Was lag näher, um sich einen unerwünschten Liebhaber fernzuhalten, als die Abwehr: »Nein ... nicht ... man belauert uns.« Ich belauerte gar nichts, denn ich hatte keine Lust, den 21. September nochmals zu erleben. Aber ich war da, ging frei im Hause herum, hatte über mein Kommen und Gehen niemandem Rechenschaft zu geben, hätte also zufällig und ohne Absicht das Paar bei der Tat überraschen können. Der unruhig gewordene Herr ist gezwungen nachzugeben. Man bemerke noch die naive Formel, durch welche Sidonie die Freude über ihre Freilassung ausdrückt und dämpft: »Eine verhältnismäßige Ruhe kam dadurch über mich.« Sie hätte sagen müssen: »Endlich waren alle Ketten gefallen, und es blieb mir nichts mehr zu tun, als einen Ausweg zu finden, um zu fliehen.« Von da ab denkt sie nur mehr an Flucht. Sie ist großjährig, Herrin ihres kleinen Vermögens und braucht nur die Schwelle ihres Gefängnisses zu überschreiten; sie weiß, mein Vater hat viel zu großen Respekt vor der Ehre der Familie, um durch eine Verfolgung einen Skandal zu verursachen. Aber sie sieht diese Lösung nicht, die mir auch heute noch als die vernünftigste vorkommt. Sie plant nichts weiter, als das Haus zu verlassen und sich, nur siebzehn Kilometer entfernt von La Gatère, an einen Ort zu begeben, der für sie voll von verhaßten Erinnerungen ist.

Wozu diese halbe Lösung, die sie zum Wiedersehn mit dem »Herrn« zwingt und nichts beendet? Ist Sidonie in Aubiac geschützt vor einem neuen Angriff? Sie weiß gut, daß dies nicht der Fall ist. Warum also nicht die endgültige Flucht von heute auf morgen, ohne Ankündigung und weit weg?

Weil ihr Verlangen den Gegenstand gewechselt hat; weil sie wohl das alte Objekt ihres Verlangens verlassen hat, aber nicht das neue verlieren will. Ohne sich darüber klar zu sein, daß ihr ganzer Plan von dieser beträchtlichen Tatsache seinen Ausgang nimmt, leugnet sie sogar diese Tatsache nicht; sondern sie verkündet sie sogar mit Gefallen daran, mit Stolz, wie dies weibliche Art ist. Allerdings auch, indem sie, und ganz aufrichtig, von dieser ihrer neuen Liebe alles Sinnliche ausschließt. Sie gibt da ihrem Bedürfnis nach Sauberkeit (einem wirklichen nach so viel Abirrung) einen Ausdruck, der nicht ohne Adel ist: »Nichts kann mich daran hindern. Dich zu lieben. Wenn Du mir befählest, Dich nicht zu lieben, könnte ich Dir nicht gehorchen. Ich weiß, Du wirst mich nicht lieben. Du kannst mich nicht lieben. Du liebst keine Frau, und wenn Du eine lieben solltest, wäre ich die letzte, an die Du denken würdest ...« Nicht die Spur einer bewußten Lüge in all dem. Aber ihr eigenes Gewissen belügt sie.

 

Ich schreibe das hier für mich allein nieder. Ich will mich nicht hinter kindischer Bescheidenheit verkriechen, die sich einstellte, wenn ich für einen andern schriebe. Ich bin überzeugt, Sidonie liebt mich wirklich. Ganz kurze Zeit nach meiner Rückkehr kam diese Liebe wieder über sie. Erschöpft von einer Kette, die seit ihrem fünfzehnten Jahre sie reibt, müde eines Herrn, der nicht mehr der gebieterische, willensstarke Verführer von ehedem ist, steht sie bereit, den Gefährten ihrer Kindheit zu lieben, den der Zauber eines Lebens in der Fremde und eine Legende der Seltsamkeit umgibt. Es spielt hier keine Rolle, was dieser Mann körperlich Anziehendes haben könnte; übrigens bin ich, ohne Hippolyt zu sein, genug Phädren jedes Alters begegnet und stellte dabei kalten Blutes fest, daß es niemals gegenseitig war, wenn die Frauen nach mir Verlangen trugen. Ich brauchte Sidonies Geständnis nicht, um zu wissen, daß sie mich liebt. Und ich weiß besser als sie, wie sie mich liebt. Sie liebt mich wie eine Frau nahe den Dreißig, die voll Gesundheit die sinnliche Liebe in all ihren Stimmungen und Nuancen kennen gelernt hat und nun einen Mann von Dreißig liebt, der ihr immer gefiel. Sie liebt ihn, treu ihren Erinnerungen, mit einem zärtlichen Herzen; liebt ihn mit einem Verlangen nach neuem Leben, wie man etwa nach einem langen Aufenthalt in den Tropen nach einem gleichmäßigen Klima Verlangen hat; sie gibt sich das selber zu und ist stolz darauf. Aber was sie sich nicht selber zugibt, und was sie nicht glaubt, aber was trotzdem wahr ist: sie liebt ihn auch mit den Sinnen und möchte mit ihm als Herrn einen neuen Vertrag auf Gefangenschaft eingehen.

Und das ist es, was mir die von ihr vorgeschlagene Aufgabe, sie von dem andern zu befreien, so schwierig macht. Ich sehe wohl das Mittel zu dieser Befreiung und nannte es schon: die nicht erst angekündigte Flucht, von mir überwacht, geordnet und vor allen gefährlichen Folgen bewahrt und geschützt. Aber das ist durchaus nicht das, was sie will; sonst wäre es ihr selber eingefallen und sie hätte die Ausführung versucht. Sie will mir gehören und will, daß ich sie liebe.

 

Und gerade das will ich nicht. Ich will es nicht »in dem vorliegenden Fall«, wie die Rechtsgelehrten sagen. Und welche Frau immer mir ähnliches vorschlüge, ich will es nicht.

Wie ich das Leben ansehe, oder vielmehr mein Leben, so ist meine Ablehnung keineswegs die Wirkung einer Unfähigkeit oder eines Keuschheitsgelübdes. Die Erlebnisse meiner Jugend sind daran schuld, und die ruhige Betrachtung der Dinge im Verlauf meines Daseins haben meinen Entschluß bestätigt. Und jetzt, wo mir mein Gewissen diese Frage stellt: »Kannst du im Namen deiner persönlichen Anschauung die Liebe eines Geschöpfes zurückweisen, das durch deine Liebe gerettet würde?« antworte ich entschlossen: »Niemand hat das Recht, einem andern seine Liebe aufzuzwingen. Ich bin nicht der erste, der das Anerbieten zurückweist, das eine Frau ihm mit ihrer Person macht. Und es ist nicht das erstemal, daß ich ein solches Angebot zurückweise. Das hat mir Haß, Rachsucht, schmähliche Verdächtigungen und Hohn eingetragen, am häufigsten Erstaunen; zuweilen auch eine Art stummer Bewunderung, und fast immer Überlegenheit.

*

Ist es übrigens nicht sonderbar, daß die zivilisierte Menschheit immer und nicht nur als natürlich und legitim, sondern als ehrenwert und vortrefflich der Frau das Recht zugebilligt hat, sich dem männlichen Geschlecht zu weigern, und daß das Umgekehrte als eine Art Anomalie erscheint? Ich habe viel darüber nachgedacht und glaube, darin eine Spur primitiver Barbarei zu sehen, wo die Frau des Mannes Sklavin ist und weder ein Recht auf Weigerung noch ein Recht auf Wahl besitzt. Der primitive Mann fordert von der Frau die Liebe in derselben Art, wie er ihr eine Last auf den Rücken bürdet. Die Enthaltsamkeit ist also für sie keine Beraubung, sondern eine Befreiung. Als die Sitten sich verfeinerten, behielt die von der Frau gewünschte Enthaltsamkeit diesen Charakter der Befreiung gegenüber dem Mann und verlieh ihr das Zeichen des Besonderen. Aber das alte barbarische Dogma weigert sich, mit dem gleichen Zeichen die Enthaltsamkeit des Mannes zu adeln. Trotzdem erringt sie bleibendes Recht in der Geschichte und in der Dichtung: Hippolyt, Scipio Africanus, der Athlet bei Horaz, der sich gleichzeitig Venus und Bacchus entzieht ... Aber es bedurfte der Ankunft Christi, um diese alte barbarische Formel zu Boden zu werfen.

Es hat mich immer gewundert, daß in den Worten Christi, wie sie das Evangelium berichtet, in außerordentlich bestimmten und scharfen Ausdrücken von der Enthaltsamkeit des Mannes die Rede ist, aber nie von der der Frau. Nachdem hervorgehoben war, daß gewisse Männer sich ewige Keuschheit auferlegt haben »um des Himmelreichs willen«, fügt Christus hinzu: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« ... möglicherweise eine Anspielung auf den geläufigen Irrtum, die männliche Keuschheit sei anormal.

Der Apostel Paulus ging bald viel weiter und, über den Sinn der Enthaltsamkeit bei Männern und Frauen befragt, beginnt er mit den Männern und er sagt ganz schonungslos: »Es ist gut, wenn der Mann die Frau nicht berührt.« Darauf beschäftigt er sich in drei Zeilen mit der Enthaltsamkeit der Frau, die er vom väterlichen Willen abhängig erklärt, und empfiehlt in einem ziemlich uninteressierten Ton: »Wer seine Tochter verheiratet, tut recht; wer sie nicht verheiratet, tut besser.« Und schließlich rät er den Ehepaaren, so zu leben, als ob sie nicht verheiratet wären, indem er beide Arten der Enthaltsamkeit miteinander verbindet, aber dem Manne die Initiative läßt.

Die späteren Kommentatoren haben den klaren apostolischen Text nur verdunkelt; wie es eben die Art von Leuten ist, die berufsmäßig denken und weise, abgemessene Vorschriften bis ins Absurde treiben. Immerhin verdient eine Beobachtung des Montanisten Tertullian Erwähnung, der zu einer Zeit, wo das Asketentum in hohen Ehren stand, die Jungfräulichkeit predigte. In den asketischen Zentren scheint die Zahl der enthaltsamen Frauen weit größer gewesen zu sein als die der Männer. Tertullian warnt vor dieser Auffassung. Er stellt fest, daß in den Gemeinden die Frauen sich dazu drängen, ihr freiwilliges Zölibat eintragen zu lassen, und in der Kirche eine gewissermaßen offizielle, anerkannte und privilegierte Gruppe bilden, während dasselbe Opfer, ebenso häufig von Männern gebracht, so gut wie unbekannt ist. Die jungfräulichen Männer bleiben trotzdem im Range einfacher Gläubiger, denn »ihre Lage verlangt nicht eine gleiche bischöfliche Sorgfalt wie die der Frauen, die von Natur aus schwach und den Gefahren des Lebens weit stärker ausgesetzt sind«.

Also waren in diesen heroischen Zeiten die enthaltsamen Männer ebenso zahlreich wie die Frauen, und ihr Zustand wurde höher geschätzt, weil er der Vollendung näher kam. Der Glaube ließ nach; die Welt wurde christlich, aber der weltliche Geist durchdrang das Christentum; das Zölibat blieb den Priestern vorbehalten. Die männliche Enthaltsamkeit flüchtete in die Klöster. Und in ihnen gibt es zu Tausenden noch heute enthaltsame Männer. Wie könnte man sie der Anormalität bezichtigen?

Aber die alte barbarische Idee über die Ungleichheit der Geschlechter in Sachen des Zölibats besteht weiter. Man verteidigt nicht die Enthaltsamkeit der alten Mädchen: man bedauert sie, man macht Witze über sie. Und der enthaltsame Junggeselle hat den Ruf, als wäre er eine Art Ungeheuer.

Mein persönlicher Fall geht nur mich selber an. Nur vor mir selber und vor keinem andern beschwöre ich jenen 21. September und sein Geschehnis herauf, das in jenes hellsichtige und entscheidende Alter fiel, wo sich Leib, Geist und Empfindung im Körperlichen wie im Seelischen auf dem Punkte ihrer Entwicklung befinden. Ohne Zweifel habe ich damals den Schlag erhalten, von dem die Chirurgen sprechen, den Schlag, dessen Wirkung lebenslang dauert. Ich habe übrigens meine Enthaltsamkeit mit keinerlei Mystik umgeben, und auch jetzt noch beanspruche ich nicht, ein unmenschlicher Hippolyt zu sein, der Diana eine ewige Keuschheit gelobt. Wenn ich je einmal aufhöre, der Mann zu sein, qui mulierem non tangit, dann breche ich damit kein Gelöbnis und mein Gewissen wird mich nicht quälen.

Aber, um aufrichtig zu sein: ich glaube nicht an diesen Fall.

Ich bin über dreißig: ich habe während der tragischen Freiheit des Krieges und dann während der hysterischen Überfreiheit der Nachkriegszeit zu viel von jenen Beziehungen zwischen Männern und Frauen gesehen, die mit Liebe bezeichnet werden. Der Anblick hat den Ekel, den ich mit fünfzehn Jahren fühlte, nicht wesentlich geändert oder gemildert. Männer wie Frauen erschienen mir im Zustand der Liebe des Menschentums unwürdig. Man möchte glauben, die Natur rächt sich für die brutalen Freuden, die sie schenkt, dadurch, daß sie den Menschen ein Übermaß von Tierhaftigkeit aufzwängt. Und wenn ich die gesättigten Partner fragte, bekannten sie mir immer, daß sie etwas Bitteres würge.

Andererseits: ich hatte Freundinnen. Die Schönheit eines Gesichts, die Eleganz einer Haltung und Gestalt, der Scharm und die Gesellschaft einer Frau zogen mich an. Aber selbst gegen meinen Willen blieb auch bei denen, die mir am besten gefielen, eine Neugierde nach ihrem wahren Wesen, nach ihrer Moral in mir lebendig: und immer kam überraschend der Augenblick, wo »das nicht ganz sichere Herz des Gefährten« sich verriet, »das kranke Kind«, wie es in dem Gedichte von Alfred de Vigny heißt. Ob Vigny sich über die Tiefe seiner Verse Rechenschaft abgelegt hat? Er wurde vom Genius gestreift, als er sie niederschrieb. Für diese beiden Verse gebe ich das ganze Tamtam ihrer Zeit, Hugo und Lamartine einbegriffen. Die Unsicherheit der Frau und ihr Mangel an Aufrichtigkeit, diese Unfähigkeit, die Anweisungen und Befehle des Gewissens wahrzunehmen, diese heimtückische Furcht vor der Verantwortung   wahrscheinlich die Folge ihrer schwachen Muskeln und das Erbe einer Jahrtausend alten Knechtschaft   haben mich immer gehindert, aus einer Frau »einen Kameraden« zu machen.

Im Augenblick, wo die Zeit das kranke »Kind« heilt, bekommt der weibliche Charakter mehr Beständigkeit. Aber dann findet sie sich damit ab, außerhalb der Liebe zu stehen, oder es ist schlimmer als zuvor ... Fuchs machte mir eines Tages die Einwendung: »Ich sage nicht, daß du unrecht hast. Ich sage nur, daß ein Mann wie ich und wie wir alle der Wirkung eines innern Anstoßes erliegt, dem man nicht widerstehen kann. Da du widerstehen kannst, bist du körperlich anders als wir.«

Ich stand mit Fuchs so intim, daß ich mich nicht zu zieren brauchte. Ich antwortete ihm lachend, denn ich habe in diesen Dingen nie eine feierlich-ernste Haltung eingenommen:

»Ich bin genau wie du und ihr alle. Bildest du dir etwa ein, daß die ihrem Gelübde treu bleibenden katholischen Priester aufhören, Männer zu sein? Zwischen einem katholischen abstinenten Priester und dir besteht nur der Unterschied, daß er nicht so wie du einen gewissen körperlichen Trieb mit dem Verlangen nach dem Weibe identifiziert.«

*

Habe ich mir nicht selber etwas gefallen in diesem Bericht über mich selbst, meine Haltung in der Vergangenheit, meine Gründe künftigen Handelns?

Möglich!

Eine solche Neigung erfaßt mich zuweilen. Ja, ich liebe es, mir das Zeugnis auszustellen, mein Leben so geführt zu haben, wie ich es sollte. Vielleicht auf einem ungewöhnlichen Weg. Aber ich hatte keine Wahl. Nach jenem 21. September boten sich mir zwei Lösungen: allen Glauben an die menschliche sittliche Kraft aufzugeben, in moralische Abgründe zu fallen und mir zu sagen: »Es gibt eben nur Tierhaftigkeit. Also seien wir Tiere wie die andern!« Oder die Flucht in das echte Zölibat. Jede Liebesbewegung zu einer Frau hin wird mich immer an meinen Vater am 21. September erinnern. Jede Hingabe einer Frau wird mich immer an die unbekümmerte Schamlosigkeit Sidonies am 21. September erinnern.

Ich werde also für Sidonie heute nicht das sein, was ich nach ihrem Wunsche sein sollte. Ich werde der Mann keiner Frau werden und der Sidonies weniger als irgendeiner andern. Da ich sie also in ihren Wünschen nicht zufriedenstellen kann, werde ich alles tun, um sie desto vollkommener zu befreien. Immer mehr bin ich für eine nicht erst angekündigte, im Geheimen aber vorbereitete Abreise. Und ich werde hierbleiben, um sie vor einer Verfolgung oder einem Angriff zu schützen, und auch um über das Los des Kerkermeisters zu wachen, der um seine Gefangene gebracht wird.

Derselbe Tag. Am Abend.

Es war gegen fünf Uhr, als ich die letzten oben stehenden Worte geschrieben hatte. Ich holte mir dann, wohl durch die niedergeschriebenen Gedanken angeregt, aus dem Bücherschrank in meinem Zimmer den »Hippolyt« des Euripides. Ein mittelmäßiges, aber kurioses Stück. Euripides faßt die männliche Enthaltung recht eng. Hippolyt ist keusch, weil er Sport treibt. Diana widersetzt sich der Venus. Das ist ein armseliges Ideal! Und Racine erniedrigt es noch mehr. Wie konnte der Dichter der Phädra so etwas Sinnloses erfinden wie den verliebten Hippolyt! Das beweist, daß er nicht imstande war, eine in sich selbst ruhende männliche Enthaltsamkeit zu erfassen; ein Mann sollte nur deshalb kein Verlangen nach einer bestimmten Frau tragen, weil er noch eine andere begehrt! Der Racine der Athalie hätte dieses Problem eher gelöst.

Da klopfte es an meine Tür. Es war Sidonie; sie hatte einen Ausdruck belebter Zufriedenheit, das Wesen einer verliebten Frau, deren Liebessache »gut steht«.

»Verzeih, daß ich bei dir eindringe, Nal, mein Onkel schickt mich.«

Wie natürlich, wie leicht sie dieses »mein Onkel« aussprach!

Ich bat sie Platz zu nehmen. Und sie erzählte mir das Folgende. Nach dem Frühstück hatte sie mein Vater unter den Arm genommen, war mit ihr hinter dem Schloß auf und ab gegangen und hatte ihr im Wesentlichen dies gesagt:

»Ich habe zu dem, was wir gestern besprachen, noch einiges hinzuzufügen. Ich wiederhole dir, daß dein Verlangen, in Aubiac zu wohnen, vollkommen berechtigt ist und daß ich kein Recht habe, mich dem zu widersetzen. Wir müssen nur noch die richtige Form suchen. Darüber sind wir ja einig, das heißt: du mit mir. Das nächste, was zu tun ist: du mußt mit Arnal sprechen. Tu es heute nachmittag.«

Darauf fuhr er im Auto mit dem Gärtner weg, um Lorbeerbäume zu kaufen; es ist da im Park etwas zu erneuern. Sidonie war wieder auf ihr Zimmer gegangen und war da bis fünf Uhr geblieben. Sie hatte sich, wie sie mir sagte, nicht getraut, gleich zu mir zu kommen: sie fürchtete die Wirkung ihrer Beichte auf mich. (Ich glaube gern, daß sie einige Verlegenheit verspürte; aber die war völlig aus ihrem Herzen geschwunden, als sie mit mir sprach; diese Verlegenheit lag nur in ihren Worten. Was in ihr vorherrschte, war die Befriedigung darüber, mich endlich von sich unterhalten zu können.) Als sie mich nicht herunterkommen sah und besorgte, der Vater würde vor unserer stattgehabten Besprechung zurückkehren, entschloß sie sich, zu mir heraufzukommen.

»Ist es nicht erstaunlich,« schloß sie, »daß alles sich so leicht erledigt?« Ich selber fand die Abmachung so unglaublich, daß ich eifrig suchte, was sich in Wirklichkeit dahinter verbarg. So plötzliche und bestimmte Entscheidungen lagen in der Art meines Vaters; vielleicht war es auch die Sorge, die Nachbarn könnten Einblick in die Verhältnisse seines Hauses gewinnen.

Aber daß dieser Herr kampflos auf seine Gefangene verzichtete: nein, das war nicht wahr. Die fieberhafte Leidenschaft, die ihn an sie band, konnte nicht vor so schwächlichen Zufälligkeiten den Platz räumen und verzichten.

Ich wollte Sidonie nicht entmutigen. Ich warnte sie zwar vor einem allzu großen Optimismus, empfahl ihr aber, den Vater sprechen zu lassen und insbesondere ihm gegenüber jede Anspielung auf meine Person möglichst zu vermeiden.

»Aber,« fragte sie da plötzlich (denn im Grunde dachte sie nur an die Liebe, an die, die sie fürchtete, und an die, die sie verlangte)   »aber wenn er noch will ...?«

Ich antwortete ziemlich schroff:

»Sei ganz beruhigt. In diesem Augenblick will er nichts.«

Und ich fühlte, wie sie auf ihre Beichte kommen wollte, um den Eindruck zu erfahren, den sie mir gemacht habe, unsere Intimität zu erneuern durch das gemeinsame Bereden dieser ganzen Schande, deren sie sich kaum mehr schuldig glaubte, da alles vorbei war.

Ich sprach ihr nicht einmal von meinem Plan, auf den ich noch nicht verzichte, weil er mir als die beste Lösung scheint; ich bin durchaus nicht sicher, ob sie dann nicht mit dem andern davon sprechen wird. Vor ihr selber muß ich sie schützen, da ihr Herz ganz schutzlos war!

»Ich muß jetzt hinunter«, sagte sie schließlich. »Es wäre mir unangenehm, wenn er mich mit dir träfe.«

Unsere Hände haben sich nicht berührt. Aber daß sie sich mir ganz schenkte, brach aus dem Blick ihrer Augen, als sie mir sagte: »Dann auf Wiedersehn ...«

Bedauernswerte Gefangene! Kaum der Fesseln ledig, lebt sie in keiner andern Hoffnung, als sich anderwärts in Fesseln zu legen!

23. September.

Was ich nicht für möglich gehalten hätte, fängt an, Wahrheit zu werden. Was ich noch vor ein paar Tagen als leeres Gerede ansah, als mir Sidonie sagte, daß er sie freigebe, sich der Abreise seiner Gefangenen nicht widersetze, nimmt Gestalt an, ist auf dem Wege, sich zu erfüllen.

Wäre ich der Erfüllung völlig und ganz sicher,   welche Beruhigung! Aber selbst mit solchen Zweifeln beobachte ich die beiden Personen des Dramas mit leidenschaftlichem Interesse!

Nicht die leiseste Unsicherheit über den Ausgang berührt Sidonie; mit der Leichtigkeit ihres Geschlechtes glaubt sie (weil sie es eben glauben will) fest daran, daß der Tyrann von gestern gezähmt ist und verzichtet hat. Für den Augenblick sieht sie nicht darüber hinaus. Ihr Ziel   nur mit Grauen würde sie sich es eingestehen   ist: den einen durch den andern zu ersetzen, von einem befreit zu sein, um dem andern zu gehören, wenn er nur wolle; sie würde sich ihm ergeben, sofort und bedingungslos, wenn er es wollte. Sie hat, um neues Vertrauen zu sich zu gewinnen, ihre Seele vor der Schändung wiedergefunden. Wenn das, was sie unbewußt sucht, Wirklichkeit wird, dann wird sie sich für gereinigt und wiedergeboren halten. Diese naiv-egoistische Auffassung der Moral, dieser Glaube an den Wert der Hingabe ihrer selbst, hat mich und wird mich immer hindern, von dem berührt und verwirrt zu sein, was die Frauen ihre Liebe nennen.

Was den Vater betrifft, so sah ich zum ersten Male die außerordentliche Kompliziertheit seines Charakters und seiner Veranlagung. Das soll nicht heißen, daß ich ihn nun kenne oder verstehe. Nur das geschah, was zwischen uns nie möglich gewesen war: wir sprachen frei und, wie es schien, offen miteinander über den Mittelpunkt seines Lebens: Sidonie. Die unerläßliche Forderung zwischen uns war diese: daß ich nichts von der ganzen schuldigen Vergangenheit weiß. Ohne das hätten wir nicht drei Sätze wechseln können. Ich nahm diese Forderung schweigend hin und war an der ganzen Unterhaltung über die Zukunft der Gefangenen nur als Dritter beteiligt. Es war selbstverständlich eine rein geschäftliche Unterredung: wie man die junge Schloßherrin von Aubiac installieren wird, wer ihr dabei hilft, wer zu ihrer Dienerschaft gehören wird. Sidonies Vermögen ist bescheiden, aber in unserer glücklichen Gegend kann man, selbst heute noch, vom Erträgnis des Bodens leben und seinen Rang unter seinesgleichen behaupten, von denen nur sehr wenige wirklich reich sind. Ihm schien diese Unterhaltung über ländliche und häusliche Wirtschaft Vergnügen zu machen. Man konnte zuweilen den Eindruck haben, ein Vater verheirate seine Tochter und nehme tätigen Anteil an der Gründung eines neuen Herdes.

Mindestens jeden dritten Tag fährt das Paar, Sidonie am Steuer, im Auto nach Aubiac. Es gibt Besprechungen mit Bauleuten in der Nachbarstadt. Man erzählt mir davon und verlangt, meine Meinung zu wissen, die ich gebe.

Wen will man täuschen? Sidonie? Oder sie und mich? Oder täuscht sich mein Vater selber und läßt er, den Gedanken einer endgültigen Trennung nicht ertragend, die Dinge laufen und sagt sich, daß er die Entschlüpfte schon wieder heut oder morgen einfangen würde, wenn ich nicht mehr da sein werde?

Diese Annahme scheint mir im Augenblick die wahrscheinlichste. Hauptgrund: ich halte meinen Vater für zu scharfsichtig, um sich jetzt über die heimlichen Wünsche Sidonies etwas einreden zu können. Als ein Mann der Liebe hat er von den Frauen, insbesondere von dieser, eine Anschauung, die gleichzeitig zärtlich, tyrannisch und verächtlich ist, eine Anschauung, die sich fast mit der der freiwillig Enthaltsamen deckt. Ein für allemal ist er sich über das Wesen der Frau klar geworden. Sobald eine Frau ihr sehnliches Verlangen auf einen Mann eingestellt hat, beherrscht dieser Mann sie restlos. Mein Vater weiß das. Aber er fühlt auch, daß er nicht mehr das bevorzugte Wesen ist. Er kennt schließlich auch dieses absolute Gesetz: nie entscheidet sich eine Frau, eine alte und lustvolle Verbindung zu lösen, wenn nicht ein anderer Mann Ziel ihrer Sehnsucht geworden ist.

Was Sidonie betrifft, so gab es außer ihm nur mich als Möglichkeit. Sidonies Wille zum Bruch traf zusammen mit meiner Rückkehr und meinem Bleiben in La Gatère. Mein Vater hat verstanden.

Beim ersten Zusammenstoß (in der Nacht ihrer Unterredung) hat er sich gewehrt, gedroht und sie schließlich um einen Aufschub gebeten. Aber als er mit sich allein die Sache überlegte, wurde ihm klar, daß ihm Sidonies Plan die einzige Chance einer Rettung bot. Aubiac, das bedeutete Trennung von ihm, aber auch Trennung von mir.

Wenn sie von mir getrennt in einem anderen Hause lebte, würde ich sie sicher nicht verfolgen; mit der Witterung des Verführers fühlt er ganz gut, daß ich wohl ein Ratgeber, nicht aber ein Verbündeter Sidonies sein könne. Wohnt Sidonie nicht mehr unter demselben Dach, dann würde mein Einfluß auf sie aufhören. Es blieb nichts weiter übrig, als mich aus dem Lande zu entfernen; er sah richtig, daß mich außer meiner Mutter hier nichts hielt.

Diese ganze Annahme stand auf gesunden Füßen und entsprach der logischen, abwartenden und unbeugsamen Art meines Vaters.

Es fiel mir aber noch eine andere Möglichkeit ein: vielleicht hatte er sich einen Rückzugsplan zurecht gemacht, im Falle der erste Plan keinen Erfolg haben sollte. In jener Nacht der Auseinandersetzung ging mein Vater so weit, Sidonie zu sagen: »Wenn du einverstanden bist, heirate ich dich.« Sidonie wies ihn ab, und diese Abweisung machte meinem Vater wohl deutlich, daß sich Sidonie völlig befreit hatte. In diesem Augenblick muß die Gewalttätigkeit in ihm aufgeschäumt sein, und ich bin selber erstaunt, daß er sich beherrschen konnte. Lebt Sidonie erst einmal in Aubiac und ist er mit mir allein auf La Gatère, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß er sich zu mir wendet und mir die Wahrheit enthüllt. Kurz, er riskiert nichts, denn er ahnt, daß ich ihn erraten habe. Die kleine Erniedrigung der Beichte wird er mit dem Ruhm des Verführers zu decken wissen. Wie viele andere Verführer habe ich nicht schon mit vor Befriedigung leuchtender Miene mir erzählen hören, wenn sie mir einen Verrat gegen einen Freund gestanden: »Ja, ich war ein Elender ...« Und wenn er mir erklärt: »Ich bin bereit, Sidonie zu heiraten, ich bitte dich, übe deinen Einfluß auf sie aus, daß sie zustimmt,«   mit welcher Begründung könnte ich ihn von diesem Plan abbringen oder ihm meine Unterstützung weigern?

Etwas macht mich dieser zweiten Annahme geneigt: weit davon, uns noch mehr einander zu entfremden, haben die letzten Ereignisse meinen Vater und mich einander näher gebracht. Ich habe nichts dazu getan, aber ich habe weder Kälte noch Abneigung gezeigt, um Sidonie besser nützen zu können. Es ist deutlich, mein Vater will mich für seine Sache gewinnen. Er tut das geschickt und taktvoll. Seine Lage ist nichts weniger als bequem, und ich muß seine Selbstbeherrschung, seine Seelenstärke unter feindlichsten Umständen bewundern. Welche Karriere hätte dieser begabte, mit so seltenen Eigenschaften ausgerüstete Mann machen können ohne diesen heimlichen Makel, der ihm die Waffe aus der Hand schlug und ihn unbeweglich machte! Eine Frau, nur eine Frau wie alle andern, die er nicht gewählt, sondern nur genommen hat, weil sie in einer kritischen Stunde gerade in der Nähe war, eine Frau, die jede andere Frau hätte ersetzen können! Ein Augenblick lustvollen Verlangens: und ein ganzes zerstörtes, vernichtetes Leben ... Brauchte ich noch einen Beweis für die Richtigkeit meiner Enthaltsamkeit, hier hätte ich ihn, und welch einen Beweis!

 

Ich bewundere den Mann, dessen Lebensweise ich hasse. Und er, der für mein Leben nichts als spöttische Bemerkungen hat, er nähert sich mir gerade wegen meines freiwilligen Zölibates. Er zittert bei dem Gedanken, Sidonie hätte sich in einen anderen als mich verlieben können, der nicht solche Sicherheit böte. Er ahnt in mir einen sicheren Vertrauten, bei dem sein Geheimnis keine Gefahr läuft ... Ich fühle es, wie er zögert, bereit ist, mir zu beichten, mich um meinen Beistand zu bitten. Und ich gestehe, daß ich in solchen Augenblicken in ihm ein leichtes Zucken seines väterlichen Gefühles errate, und ich stelle in mir überrascht ein gleiches kindliches Beben fest, ein Sohnesgefühl.

Aber das ist nur ein Waffenstillstand; die Zukunft ist dunkel ...

3. Oktober.

Harter Tag für mich.

Gegen elf Uhr vormittags klopft Sidonie bei mir und tritt ein. Seit ihrer Beichte verkehrt sie mit mir ganz ungeniert. Sie hat in ihrer Niederschrift ihre ganze Schande ausgeschüttet; sie hält sich für freigesprochen. Übrigens sprechen sich die Katholiken nicht selber frei; das denn doch nicht!

»Ich muß dich um eine Gefälligkeit bitten, Nal, versprich mir, daß du es für mich tust.«

Ich hasse diese Formel, mit der uns die Frauen mißbrauchen, wenn sie auf unsere männliche Gutmütigkeit rechnen.

»Nein,« antwortete ich, »ich verspreche dir nichts, es sei denn etwas, womit ich dir nützen kann.«

Sie tat, als merkte sie nichts. Sie ist schon zufrieden, wenn ich mit ihr spreche und besonders über das, was sie und ihren Wunsch nach Befreiung betrifft.

»Es handelt sich darum: Mein Onkel und ich, wir haben uns mit den Handwerksmeistern für den Nachmittag in Aubiac verabredet. Mir war so, als ob es meinem Onkel sehr lieb wäre, wenn du mitkämest.«

Das durfte wahr sein, öfters schon hatte mein Vater darauf angespielt, daß ich mit meinen Kenntnissen über Baumaterialien und was damit zusammenhängt, mich in Aubiac nützlich machen könnte. Es handelte sich im Grunde darum, öffentlich das Einverständnis des Sohnes mit der Niederlassung Sidonies zu zeigen. Die Unantastbarkeit der Familie, das ist ja die Religion dieses Verächters von Gesetz und Sitten ... Ich überlegte.

»Du schweigst? Hast du etwas dagegen?« fragte Sidonie. Und sie entfaltete ohne besondere Absicht, nur aus ihrem Instinkt der Verführung heraus, den ganzen Reiz ihres Wesens in Haltung und Blick. Nichts stößt mich mehr ab. Sie muß es bemerkt haben, denn sie fügte rasch hinzu:

»Nein, nein, wenn es dich langweilt ... verzeih.«

»Wozu soll das denn dienen?« sagte ich.

»Mein Gott, ich möchte eben gern, daß mein Haus dir nicht mißfällt! Und dein Vater hätte es wirklich gern, wenn du mitkämst.«

Nach einigem Schweigen, mit gesenkten Augen:

»Und dann, weißt du, allein mit ihm dort, ich versichere dir, es gibt Augenblicke, wo ich Angst habe. Er wird da plötzlich wie abwesend und ganz benommen. Wenn Du nun dabei wärst ... Wenn du bloß im Hause wärst ...«

Das klang durchaus aufrichtig; sie war blaß geworden   zweifellos überwältigte sie eine Erinnerung   kein gewollter Ausdruck zeigte sich in ihrem Gesicht.

Ganz leise setzte sie noch hinzu:

»Ich möchte, daß du uns nicht verläßt.«

»Ich werde mitkommen.«

Sie machte eine Gebärde, als ob sie mich küssen wollte, traute sich aber nicht und streckte mir nur die Hände hin.

»Du bist gut. Ich danke dir. Laß mich nicht im Stich.«

Als sie weg war, kamen mir wieder Zweifel. Ist das wahr mit der Angst? Oder verlangt man meine Gegenwart, um sich in ihr zu gefallen? Ich bin doch nichts weniger als liebenswürdig.

Bei Tisch konnte ich feststellen, daß Sidonie nicht gelogen noch sich etwas eingeredet hatte. Mein Vater sagte:

»Wir brauchen deine Weisheit, Arnal. Du bist ein bißchen Ingenieur und ein bißchen Architekt.«

»Wie eben fast alle Offiziere im Orient habe ich unter andern militärischen Metiers auch das eines Baumeisters ausgeübt, eines ganz mittelmäßigen, wie ihr euch denken könnt. Verfügt über mich.«

Was für einen bohrenden, tiefen Blick er mir gibt, und wie er mir zuhört! Wie er meine geheimen Gedanken erforscht, ob ich nicht doch vielleicht ein möglicher Feind bin! Nein! Ich bin es nicht. Wie Sidonie habe ich, gegen meine Absicht, und wenn er sich nicht beobachtet glaubte, die Beklemmung seines ganzen Wesens bemerkt, wie sie sich einmal in stummer Erstarrung, dann wieder in unnatürlich lebhafter Rede zeigte; heimlich weinte er sicher, ohne Tränen und ohne Stimme. Nein, ich bin nicht der Feind dieses Unglücklichen und werde es nicht sein. Seine Heilung, im ganzen menschlichen Sinn dieses Wortes, beschäftigt mich ebenso wie die Sidonies.

Gelingt es mir, Sidonie wirklich zur Flucht zu bringen, wird es meine Aufgabe sein, über den alten verlassenen Geliebten zu wachen, ihn an einem Akt der Verzweiflung zu hindern, ihn nach und nach zum Verzicht und zum moralischen Frieden zu bringen. In Anbetracht seiner seelischen Eigenschaften ist das durchaus kein Hirngespinst. Und ... dann werd' ich ihn vielleicht wirklich lieben. Schon jetzt fühl' ich mich ihm viel näher. Wie sehr unterscheidet er sich doch durch seinen grenzenlosen Schmerz, der von seinem unbeugsamen Entschluß beherrscht und mit soviel Würde verhüllt wird, von seiner einstigen Geliebten, die bereit ist, ihn zum Opfer zu bringen, um ein neues Glück zu erlangen.

*

Ich fuhr also mit ihnen nach Aubiac, Sidonie saß am Steuer wie immer. Ganz formell wurde mir von meinem Vater der Platz an ihrer Seite zugewiesen, er selber setzte sich in den Fond des Wagens. War ich nicht der »Eingeladene«?

Ich habe nichts gegen die Bücherromantik; aber seit dem finsteren Zusammenbruch meiner Romantik auf der Schule ist mir die Romantik im praktischen Leben höchst zuwider. Ich werde grob, wo ich auf so etwas treffe. Vor der Abfahrt von La Gatère hatte ich mich also in die Schule genommen. Vorsicht vor traditioneller poetischer Gerührtheit! Vorsicht vor den Gemeinplätzen der Empfindelei: Landschaften der Kinderzeit, Kontrast zwischen der unwandelbaren Dekoration und dem Wandelbaren und Vergänglichen der menschlichen Bestimmung usw. Ich war gegen all das gerüstet. Aber warum hatte ich nicht geahnt, daß das Aubiac von heute mich gerade durch Erinnerungen an Dinge verletzen würde, von denen ich gar nicht Zeuge gewesen war und von denen ich beinahe bis gestern nichts gewußt hatte? Die Niederschrift Sidonies enthielt von dieser Vergangenheit eine fragmentarische, unvollkommene und unzusammenhängende Darstellung, die aber doch eindringlich wurde durch die Liebesgefühle, die sie da, ohne es zu wollen, einfließen ließ. In meiner eigenen Erinnerung und in meiner Phantasie nahm das, je mehr wir uns dem Ziele näherten, eine merkwürdige Wirklichkeit an ... Dieser selbe kleine Wagen umschloß sie; die beiden Leute im Hause waren weggeschickt worden, so daß es leer war ... Da ist der Hof ... Das Auto wird besorgt, wie Sidonie es erzählt hat ... Das Vestibül ... Der große Salon im Erdgeschoß ... Schon wird mir das Atmen schwer; schon ist es mir unmöglich, meinen Blick auf die beiden Schuldigen zu richten. Kostbare Ablenkung: die bestellten Handwerksmeister kommen, der Schreiner für das Dach   es gibt keine Dachdecker in unserer Gegend   der Ofensetzer für die Öfen und Kamine, der Installateur für die Wasserleitungen. Man beratschlagt; und unter dem Einfluß der nüchternen Wirklichkeit und der Handwerker und ihrer mir immer so sympathischen Schlichtheit gewinne ich meine Fassung zurück. Wie hat diese Leute doch ihr Leben, das ganz in geraden, nützlichen Linien verläuft, auf natürlichste Weise vor dem bewahrt, was zu verjagen mir so viel Mühe macht! Was bedeutet für sie die Frau? Was die Liebe? Wie leicht ertragen sie das Schicksal, das sie mit irgendeiner von dem andern Geschlecht verbunden hat! Wie wenig verlangen sie von der Liebe, wie wenig von der Ehe ...! Die Vorschläge der Leute sind besprochen. Der Bleigießer entwickelt seine Ansichten, wie die Zimmer am besten vor dem Eindringen des Regens zu schützen seien. Er schlägt die Erneuerung einer Dachtraufe vor. Angenommen! Gehen wir ins Innere des Hauses. Die Treppe ... Die Doppeltür des Zimmers von Fräulein von Anglésis ... Mein Vater ist verschwunden; ich höre ihn im Korridor mit dem Zimmermann reden. Sidonie, etwas bewegt, aber doch sichtlich zufrieden, ist mit mir und dem Installateur die Treppe hinaufgegangen. Wird man das Zimmer betreten? Glücklicherweise nicht. Sidonie öffnet eine Tür auf demselben Flur, geht hinein, vom Arbeiter gefolgt. Es ist ein ganz kleines Zimmer. Von der Schwelle aus höre ich sie erklären, mit der hohen Kopfstimme, die sie im Gespräch mit den Leuten und den Handwerkern annimmt, und die mich etwas nervös macht:

»Das wird das Badezimmer.«

Ich entferne mich schleunigst, laufe die Treppe hinunter und stoße da auf meinen Vater, der zu mir sagt:

»Was sagst du zum Badezimmer?«

Ich gab Antwort mit einer vagen Kopfbewegung. Ich kam aus den Hof, von da in den kleinen verlassenen Park, wo ich mir eine Zigarette anzündete.

Es kostete mich einige Anstrengung und einige Minuten, mich zu beruhigen und wieder ins Haus zu gehen.

Wir fuhren zu dritt wieder ab. Sidonie beschleunigte die Fahrt, wir sprachen kaum ein Wort. Augenscheinlich waren beide etwas beunruhigt und hielten mich für absonderlich. Wie hätten sie auch verstehen sollen? Ich selber machte mir innerlich Vorwürfe. Diese Anfälle von Schwäche verkleinern mich in meinen Augen. Sie erschweren mir das Werk der Heilung, das allein ich vollbringen kann. Ich schwur mir feierlich in die Hand, künftig mehr Festigkeit zu zeigen. Ich werde als erster wieder mit Sidonie über das geplante Badezimmer sprechen und ihr dabei helfen.

8. Oktober.

Die Tage gehen vorüber. Ein unveränderlicher blauer Himmel verlängert hier wie immer in dieser Zeit den verschwundenen Sommer. Ich habe etwas Angst vor dem ersten starken Regen, dem ersten schwarzen Himmel ... so als ob der augenblickliche Friede der Düsterkeit dann erliegen müßte.

Inzwischen gehen die Dinge ohne Hast ihren Gang weiter, entwickeln sich unter dem gemeinsamen Bemühen von Sidonie, meinem Vater und mir selber. Ein jeder der drei in diesem Bund verfolgt ein anderes Ziel, das er den andern verbirgt. Es ist seltsam: was die arme menschliche Kreatur Liebe nennt, kann nur leben und gedeihen in der Lüge; und die Lüge vergiftet alles, was sich in die Liebe mengt.

10. Oktober.

Zum erstenmal wagte sich das Gespräch zwischen meinem Vater und mir vorsichtig über das Geschäftliche, Familieninteressen und Wohnungseinrichtungen hinaus.

Von seinem unerbittlichen Gram gemartert wagte er, mir zu sagen:

»Man spricht viel von uns dreien in der Umgebung von La Gatère. Ich bekomme es zu hören, obwohl uns die Trauer isoliert.«

»Was sagt man denn?«

»Vor allem, ob du wohl dein Nomadenleben wieder aufnehmen, oder ob du die Tradition von La Gatère aufrechterhalten willst, der Sohn nach dem Vater, im alten Hause.«

»Glücklicherweise, Vater, ist das Haus zur Zeit in recht festen und jungen Händen, man braucht sich da keine Sorgen zu machen.«

»Man weiß nie, Arnal.«

Nichts bewegte sich in seinem Gesicht, nicht ein Schatten ging darüber, während er sprach. Ich weiß wohl, das Gespräch war von ihm zuvor überlegt, und er hatte sich daher in der Gewalt. Aber ich empfand doch eine Erleichterung. »Dieser Mann«, dachte ich, »flüchtet sich nicht in den Selbstmord eines enttäuschten Schülers ...« Das war es, was ich zuweilen befürchtet hatte.

»Ich brauche dir nicht zu sagen,« nahm er mit einer Art Scherz das Gespräch wieder auf, »daß du der Zielpunkt aller heiratsfähigen Töchter der Umgebung und ihrer Mütter bist. Einziger Sohn ... Eskadronchef ... im Krieg ausgezeichnet, Vermögen und Namen ... gutes Aussehn ... es gibt bei uns nicht viele Partien, die verlockender wären. Man hat mir sogar schon von einem jungen Mädchen gesprochen, die in der Tat in jeder Beziehung vollkommen ist ... Ein einziges Hindernis ... Würdest du eine Katholikin heiraten?«

»Weder eine Katholikin noch eine Hugenottin, Vater. Ich blieb Junggeselle bis zu meinem zweiunddreißigsten Jahr und hab' mich dabei immer wohlbefunden. Ich habe die feste Absicht, darin keine Änderung eintreten zu lassen.«

»Ah?«

Und Schweigen. Wir schritten in der Allee, die den Park umgibt, ganz nah' beim Hause, in gleichem Schritt. Da bleibt mein Vater stehn und schaut mir ins Gesicht. Wie famos sieht er aus, wie verführerisch trotz Zeichen des Alters! Man begreift die Hinneigung der Frauen zu einem solchen Mann. Aber die Maske dieses Gesichtes ist undurchdringlich, selbst für mich, der ich die tiefe Gleichgültigkeit dieses Mannes gegenüber allem kenne, was mich betrifft, außer in meiner Beziehung zu Sidonie. Er sagt:

»Darf ich dich was fragen ... ganz unter uns?«

Hier scheint mir Vorsicht geboten.

»Du kannst mich fragen, was du willst, Vater ... um so mehr, als ich errate, was du willst. Die einzigen Fragen, die dich interessieren, betreffen nicht die Vergangenheit, nicht wahr? Sie können nur die Gegenwart und die Zukunft betreffen. Und darauf antworte ich dir im voraus und mit einem Wort: Es kommt augenblicklich für mein Leben keine Frau in Betracht, sei es für die Ehe oder sonst. Und alles läßt mich darauf schließen, daß es auch niemals sein wird ...«

Nichts verriet an ihm die Wirkung meiner Erklärung. Er überlegte, ich bin sicher, er war beruhigter.

»Du nimmst mir hoffentlich meine Neugier nicht übel?« sagte er endlich.

»Nicht im geringsten, Vater.«

»Ich weiß jetzt also, was ich den Plänemachern zu antworten habe.«

»Sag' ihnen schlankweg: Nein.«

Sidonie kam auf uns zu, ohne zu ahnen, daß sie uns ungelegen kam. So blieb das Gespräch da stehen. Ich glaube nicht, daß ihn, was ich sagte, überrascht hat. Aber was muß es seinem Stolz gekostet haben, sich so weit herbeizulassen, mich über meine Pläne auszuhorchen. Jetzt denkt er über meine Antwort nach. Er sagt sich: Arnal legt keinen Wert darauf, hierzubleiben. Er macht sich nichts aus Sidonie. Er will weder ihr Liebhaber noch ihr Gatte sein; und aus dieser doppelten Sicherheit wird ihm Erleichterung.

Das ganze Ziel seines Lebens gipfelt darin: Sidonies Geliebter zu bleiben oder ihr Gatte zu werden. Wenn nun Sidonie sich hartnäckig sowohl gegen das eine wie das andere sträubt, wäre es ihm bei seiner Art und seinem Vermögen trotz seines Alters leicht, eine viel schönere und jüngere Frau als Sidonie zu finden, und eine, die ihn liebt! Warum also seine Hartnäckigkeit? Warum?

Ich machte einmal Fuchs gegenüber eine ähnliche Bemerkung, und der sagte:

»Davon verstehst du nichts, mein guter Arnal. Du glaubst, daß eine Frau, die einer andern weder an Schönheit, noch Geist, noch irgendwie nachsteht, ihr an Wert gleichkommen müsse. Keineswegs. Das Problem der Liebe liegt in der Wahl, und diese ist fast immer unerklärbar.«

Fuchs konnte mich nicht belehren. Im Laufe meines Jünglings- und Mannesalters hat sich mir immer wieder mit grausamer Klarheit enthüllt, daß die Frauen sich sehr wenig unterscheiden und daß das, was sie unterscheidet, nur die Wirkung auf die verschiedenen Männer ist. Und meine Unfähigkeit zur Wahl, meine Gleichgültigkeit kam daher, daß ich in der Frühe meines Lebens eine Frau gewählt hatte, und daß ich, ob ich wollte oder nicht, feststellen mußte, daß sie wie alle andern war.

12. Oktober.

Mechanisch überlese ich den letztgeschriebenen Satz. Ja, Sidonie ist eine Frau wie alle andern, weder schlimmer noch besser. Für sie wie für die andern haben die Worte Versprechen, Wahrheit keinen absoluten Sinn. Wie soll man auch mit Sicherheit versprechen, etwas zu halten, wie soll man nicht lügen, wenn man doch niemals das gleiche Wesen ist? Keine Frau hat Beständigkeit. Man verläßt sie in einem gewissen Zustand des Gleichgewichts; eine Viertelstunde später trifft man nicht mehr dieselbe Frau. Ihr Gleichgewicht schwankt, oder sie ist überhaupt aus dem Gleichgewicht ... Ein vernommenes Wort, der Anblick eines Gegenstands, eine auftauchende Erinnerung: der Stoß hat, da er ihr Wesen traf, genügt, um sie zu ändern. Wenn sie sagte: »Ich schwöre, ich werde das tun«, war sie ganz überzeugt davon. Und wenn sie das Gegenteil tut, übt sie keineswegs Verrat, denn sie ist nicht mehr dieselbe Person, die geschworen hat. Du hörst sie mit dem Brustton der Überzeugung sagen: »Das habe ich nicht getan, ich schwöre, daß ich es nicht war ...!« obgleich sie es getan hat. Sie lügt nicht in dem Sinne, in dem ein Mann lügt. Tatsächlich ist die Schuldige, welche leugnet, nicht sie selbst. Es ist eine ihrer früheren und jetzt verworfenen Formen, und die Frau, die jetzt spricht, täte niemals das, was die Verschwundene getan hat.

Solche Wechsel der Persönlichkeit sind besonders dann zu beobachten, wenn die Frau in der Liebe wechselt; denn die Liebe vertieft ihr Wesen, übersteigert ihre Natur. Da treibt sie ihre Fähigkeit zu lügen auf das äußerste: Aber gleichzeitig entreißt ihr zuweilen auch die Leidenschaft Aufschreie echter Aufrichtigkeit, die sie plötzlich entschleiern. Nachher bedauert sie das und beeilt sich, wieder zu ihren gewöhnlichen Mitteln zu greifen, um die Wirkung auszulöschen.

Ich hatte heute morgen ein schönes Beispiel für eine solche seltene absolute weibliche Ehrlichkeit. Eine unwillkürliche, grandiose Aufrichtigkeit, und zwar bei folgender Gelegenheit.

Mein Plan bleibt nämlich unverändert: der einmal in Aubiac eingerichteten Sidonie zu einer peinlichst vorbereiteten Flucht zu raten, während ich den Vater nicht verlasse, um ihn von einer unwürdigen Verfolgung abzuhalten oder vor der Verzweiflung zu schützen.

Aber ein Skrupel quälte mich. Mein Vater hat Sidonie die Ehe angeboten. Und er ist immer noch dazu bereit. Nähme sie an, so wäre das die vornehmste und anständigste Lösung. Nach einigen Ausflüchten fühlte ich, wie der unerbittliche Richter meines Tuns, dieses tyrannische hugenottische Gewissen, das mich beherrscht, von mir verlangt, mit Sidonie darüber zu sprechen.

Ich benützte einen dieser Augenblicke, in denen ich sie völlig, geistig und körperlich, als die meine empfand: die Reize der Frauen werden in solchen Augenblicken greifbar, ihre Verachtung für Ruf, Sitte, Geld, Gesundheit, Gefahren für sich und andere wird da absolut. Hätte ich in einem solchen Moment von Sidonie ihr Leben verlangt, ihr gesagt: »Du wirst mein sein, und nachher wirst du dich töten«, sie wäre mit Freuden auf den Handel eingegangen.

Ich dachte, in einem solchen Zustand würde sie meinem vernünftigen Rat zugänglicher sein. Ein schwerer Irrtum, den mein Vater sicher nicht begangen hätte. Ich brachte es fertig, ihr im Augenblick, als sie sich dem Gefühl ihrer Liebe ganz überließ, gegen diese Liebe zu sprechen.

Ich sagte ihr alles, so gut ich konnte, stützte mich dabei auf die Meinung der Familie, Gründe der Schicklichkeit und auf die Gefahr eines verzweifelten Entschlusses meines Vaters, etwas durchaus Mögliches, allerdings nur unter dem Gesichtspunkt, daß jeglicher Skandal vermieden wird. Aber gleich ward mir die Unklugheit meines Vorgehens deutlich. Ich sah in Sidonie, ja, wahrhaftig, ich sah das Phantom einer andern Frau in Sidonie erscheinen: eine feindliche, drohende, eine, die nicht die geringste Rücksicht nimmt, und deren entfesselte Zunge gegen ihren Willen Wahrheiten ausspeit, die keinen andern Sinn haben, als den andern am allerempfindlichsten zu verletzen.

Zuerst mit stockender Stimme und ziemlich leise, dann mit immer größerer Geläufigkeit und anwachsender Heftigkeit rief sie:

»Also das hast du gefunden? Sicher gemeinsam mit ihm ... Denn du verstehst, ich bemerkte euer Zusammenstecken seit einiger Zeit sehr wohl ... Also, damit du es nur gleich weißt ... und berichte ihm das auch, da du ihm doch alles berichtest, sag' es ihm, nie, nie, nie werde ich auch nur irgend etwas für ihn sein! Weder seine Frau noch sonst etwas! Lieber ließe ich mich in Stücke hacken. Der bloße Gedanke daran ... grauenvoll! Ich sollte ihm das Recht, das offizielle Recht ...«

(Und jetzt zeigte sich der wahre Grund ihres Wutanfalles. Sie fuhr fort:) »Und daß du ... du mir diese Schweinerei vorschlägst! Aber es ist ja ganz natürlich. Für dich ist ja eine Frau nichts. Ist wie ein Tier, wie eine Kuh, eine Hündin ... Man befiehlt ihr: ›Geh mit dem!‹ und sie geht ... Und du hältst dich für einen großen Helden, weil du über die Frauen diese Meinung hast, und weil du für dich die Frauen entbehren kannst! Aber das ist nichts, um darauf stolz zu sein, weißt du ...«

Von da ab hatte sie alle Fassung verloren; kaum waren ihre Lippen und ihre Zunge imstande, die Silben zu artikulieren:

»Darauf brauchst du dir bei Gott nichts einzubilden! ... Dein Ruf ist nicht sehr schön ... Wenn du die Vermutungen kennen würdest ... Aber das geht schließlich nur dich an. Nur dräng' mir nicht deine Ideen auf! Du weißt nicht, was das ist, eine Frau ... Wie solltest du auch ... Du kannst nicht ... du bist kein ...«

Sie stotterte, und sie hatte etwas Traurigkomisches, diese ihre Unfähigkeit, das beleidigende Wort zu finden, das sie gegen mich schleudern wollte.

»Du kannst das Herz einer Frau nicht kennen ... ihre Empfindung, ihre Würde. Ja, ja, ihre Würde! Halt' dich doch nicht für einen Gott, weil du niemals ein Weib berührt hast! Wer das, mein armer Arnal, das ist kein Leben, dein Leben ...! So lebt ein Stein. Da ist mir das meine lieber, wie es auch war. Ja, ich wurde unwürdig genommen. Ich bin widerrechtlich genommen worden, das weißt du wohl. Aber schließlich war ich keine Gefühllose, keine Egoistin ... Ich habe mich hingegeben. Ich habe jemand Glück gegeben. Ich habe sein Leben ausgefüllt. Alles besser als dein Egoismus. Selbst dein Vater ist besser, ja, ja! Er ist mehr wert als du. Er hat Rasse und ist wirklich ein Mann. Wenn ich an den Freund, den Beschützer denke, der er für mich war, verzeih' ich ihm alles. Und sein Leben, wie er es führt; in einem bestimmten Sinn finde ich es herrlich und großartig ... Er ist gut, in der Tiefe seines Herzens ist er wirklich gut und tapfer, tapfer ... Er ließe sich nicht solche Dinge ins Gesicht sagen, ohne sich zu rühren!«

Und da ich tatsächlich mich weder rührte noch antwortete, brach sie in Tränen aus und lief fort. Ich machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Ich stand auf und wanderte langsam im Parke auf und ab und dachte über das nach, was sie mir eben gesagt hatte.

Sie vermutete mich wohl im Hause; denn ganz plötzlich, als ich in eine Allee bog, stand sie vor mir. Eine ganz andere Sidonie, ruhig und bescheiden, ganz blaß und niedergeschlagen. Sie kam auf mich zu, nahm schüchtern meinen Arm und sagte:

»Ich war vorhin verrückt. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber es war nicht ich, die gesprochen hat. Ich fühlte mich, ich war eine andere. Du verstehst, ich bin augenblicklich sehr nervös ... Bist du mir böse? Sag'! Drück' mich ein bißchen an dich!«

Ich gehorchte, aber sie sagte doch nicht das, worauf es mir allein ankam:

»Ich will deinen Vater heiraten.«

Ihr echter Zornausbruch bewies mir, daß sie nichts dazu bringen würde, weder jetzt noch je, was auch immer geschehen möchte.

Also weiter und ohne Zaudern den einfachen Plan verfolgen!

15. Oktober.

Nach drei Tagen Pause nehme ich meine Betrachtung über die unerwartete Szene wieder auf. Ich weiß wohl, als Sidonie mich beleidigte, gehorchte sie einem innern Dämon, der vorübergehend Besitz von ihr ergriffen und den sie gleich darauf vertrieben hatte.

Was sie sagte, zählt nicht, außer daß sie nie meinen Vater heiraten würde, da seine bloße Erwähnung sie schon so außer sich gebracht hatte.

Überdies sind die Worte, die sie aussprach, gar nicht Ausdruck ihrer Gedanken; sie nahm in ihrer Wut, was sie fand, fertige alberne Wendungen wie »Lieber ließe ich mich in Stücke hacken« oder »Dein Ruf ist nicht sehr schön«. »Du hast niemals eine Frau berührt«. Dann die hübsche Reihenfolge ... »Ich wurde widerrechtlich genommen ... Er ließe sich solche Dinge nicht ins Gesicht sagen« usw. In ihrem Zorn läßt sich auch die besterzogene Frau gehn. Ich nehme ihr alles das, was sie mir entgegen geschleudert hat, nicht übel. Das meiste will ich nicht einmal behalten.

Von all dem Bösen, was über ihre Lippen brach, will ich nur zweierlei bewahren und erwägen, weil es mein Gewissen ein wenig beunruhigt. Sie hat mich ganz aufrichtig des Egoismus beschuldigt. Ganz ehrlich hat sie auch mein Leben als ein minderwertiges (als das eines Steines) angesehen und nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das des Mannes, der sie genommen hat, höher als das meine an Menschenliebe, also an Würde gewertet. Und: sie denkt das wirklich. Sie sagt es nicht nur. Auch wenn sie es jetzt leugnete: sie denkt noch jetzt so.

Ist das gerecht? Hab' ich wirklich wie ein Stein gelebt? Stimmt das? Bin ich ein Egoist?

Ich liebe diese Auseinandersetzungen mit mir selber. Vielleicht liebe ich sie zu sehr, gefalle ich mir zu sehr darin. Ich weiß übrigens, daß die Selbsterforschung verdächtig ist. Ist man selber sein Verteidiger und Richter, so besteht die Gefahr, daß der Verteidiger beredt und der Richter nachsichtig ist. Bemühen wir uns also, gerecht und aufrichtig zu sein.

Wie ein Stein? Nein, mein inneres Leben mag wie immer gewertet werden, es war viel intensiver als das der meisten Männer der Liebe, die ich kannte. Zwischen Kindheit und Jünglingsalter verbrannte ich viel mehr sentimentales Unkraut, als die meisten Männer ihr Leben lang verbrennen (Das Bild ist nicht hübsch, aber was liegt daran?). Dieses Sittichweibchen Sidonie glaubt, ich schritt durch die Reihen der Frauen eisig, ungerührt! Ich bin der Meinung, daß das Drama meiner Beziehungen zu Frauen eine viel innerlichere Form gehabt hat als die Abenteuer der meisten meiner Kameraden. Wie soll ich es aber dieser Gefangenen   den kleinen Basarmädchen gleicht sie, die mit zehn Jahren an reiche Greise verkauft werden   wie soll ich es ihr begreiflich machen, was mehrere Male in mir vorgegangen ist? Die Schönheit, die Anmut der Frauen,   glaubt sie denn wirklich, mich hätte das alles, was mir eine Frau schamhaft oder leidenschaftlich bot, ganz gleichgültig gelassen? Gewiß, sehr oft fühlte ich zuerst den Widerstand, das Nichtwollen in mir, aber ich habe nicht mit Gleichgültigkeit oder Verachtung vergolten, wie das Brauch bei den Frauen in ähnlichen Fällen ist. Ich bemühte mich, die Kranke zu heilen, ohne ihr weh zu tun. Nur wenige wandelten sich in Feindinnen. Ich behielt zärtliche, treue Freundinnen unter diesen Liebenden (zum Beispiel Luise G ..., Mathilde S. S ..., I. von L ...). In andern Fällen war ich der erste, der der Anziehung einer Frau unterlag. Nie setzte ich dem ein absichtliches Nichtwollen entgegen. Ich habe nicht den Hippolyt gespielt. Ich ließ in mir die süße Freundschaft, die verliebte Freundschaft mit einer Art wohlwollender Neugier wachsen, zuweilen amüsiert, zuweilen beunruhigt. Ich war bereit, meine Männerrolle wie alle andern durchzuhalten, im Gefühl, daß ich sie durchhalten konnte, wenn ich wollte. Ist's mein Fehler, daß in dem Maße, als die entscheidende Stunde herankam, mich eine besondere Hellsicht, mit der mich der Schöpfer begnadete, den zunehmenden Wandel der verliebten Frau in ein leeres Gefäß für Liebkosungen entdecken ließ, in dem allmählich die Tierhaftigkeit jede Persönlichkeit auslöscht? Ich leugne nicht, daß hierin im Vergleich mit andern Männern eine Minderwertigkeit liegt, vielleicht aber auch eine Überlegenheit. Was konnte ich tun? Mich blind in die Probe stürzen,   ich zitterte vor Ekel. Ich muß ewig dafür leiden, daß mein erstes Verlangen mit einer häßlichen Enthüllung endigte, die jede Wiederholung unmöglich machte. Ich bin dafür nicht verantwortlich. Meine Gefühle sind nicht die aller andern. Aber mich gefühllos zu nennen, ist unrecht. Von der Enthaltsamkeit auf Gefühllosigkeit zu schließen, heißt nie darüber nachgedacht haben, was das eine und was das andere bedeutet.

Unempfindlich also, wie ein Stein, das bin ich nicht.

Egoist?

Das ist eine scharfsinnigere Anklage. Trotzdem bin ich sicher, sie beruht auf einer falschen Annahme: nämlich daß ein Mann, der eine Frau durch die sinnliche Liebe glücklich macht, eine altruistische Tat vollführt.

Nichts ist falscher. Das Gegenteil ist wahr.

Nie habe ich einen Mann gesehen, der im Besitz einer Frau das Glück dieser Frau suchte (auch nicht das Umgekehrte übrigens!). Die sinnliche Liebe ist ihrer Natur nach wilder, grausamer Egoismus. Das Tier und der unzivilisierte Mann genießen das Weibchen wie einen Trunk oder ein Nahrungsmittel. Die Zivilisation verhüllt diese ursprüngliche Grausamkeit, aber sie zeigt sich wieder in den Übergangszeiten. Das Verbrechen aus Leidenschaft ist nichts anderes als der öffentliche, schändliche Ausbruch eines Gefühls, wie es allen Liebenden eigentümlich ist: »Du sollst mir gehören und mich lieben, denn meine Sinne begehren dich«,   das ist allerdings ein höchst seltsamer Altruismus! Das Leben meines Vaters liefert die Erläuterung dazu. Er hat das ihm vom Gesetz anvertraute Kind vergewaltigt und unterworfen. Er hat sein Vergnügen darin gefunden. Er gestattet nicht, daß der andere Teil sich von ihm entferne: sie soll ihre Kette so lange lieben, als es ihm gefällt, sie ihr aufzulegen. Und sie handelt nicht anders. Von dem Tage ab, wo ihr die Sklaverei keine Wollust mehr verschafft, liegt ihr nichts daran, ob der Herr darunter leidet oder daran stirbt! Jeder ist sich selbst der Nächste!

Die körperliche Liebe ist die brutalste Form menschlicher Eigensucht. Ist Rückkehr zur anfänglichen Wildheit des homo animal.

Am selben Tag abends.

Seitdem sie mir meinen Egoismus und meine Unempfindlichkeit vorgeworfen hat, ist Sidonies Haltung mir gegenüber die Unterwerfung einer Sklavin. Arme, schwache Seele, für die Knechtschaft gemacht: sie muß einen Herrn haben. Mir standgehalten, mich beleidigt zu haben, davon ist sie noch verliebter geworden. Gefährlicher Fortschritt. Jede verliebte Frau empfindet das zwingende Bedürfnis nach Liebkosung und nach Anwesenheit des Geliebten. Aber es muß bei meinem Vater um jeden Preis die Überzeugung erhalten bleiben, daß Sidonie mir gleichgültig ist. Das ist übrigens nicht die genaue Wahrheit. Gleichgültig ist sie mir durchaus nicht. Ich empfinde für sie ein starkes Mitleid; ich habe mich entschlossen, ihr zu dienen und sie zu retten, ich würde sogar damit einverstanden sein, ihr Leben zu leiten, wie ein Bruder das seiner ins Unglück geratenen Schwester, aber unter der einzigen Bedingung, daß sie die Rolle der Schwester annimmt. Und wenn sie mich dann fragen wird: »Liebst du mich?« dann kann ich ihr aus ganzem Herzen antworten: »Ja, ich liebe dich.«

Wenn sie mich jetzt so fragt   und sie tut es oft, ohne zu wissen, wie weh sie mir damit tut  , weiß ich, was diese Frage bedeutet, und kenne die Antwort, die sie befriedigen könnte. Ihre Frage will sagen: »Begreifst du nicht mein Verlangen?« und die erwartete Antwort soll lauten: »Ja, ich begreife und teile es ...« Werde ich ihr eines Tages sagen müssen, daß der bloße Gedanke, meinen Vater hierin zu beerben mich in meinem Junggesellentum bestärken würde, hätte ich mich nicht schon längst darauf eingestellt.

Um nicht fortwährend der Aufmerksamkeit Sidonies ausgesetzt zu sein, muß ich vor allem wünschen, daß sich die Übersiedlung nach Aubiac so rasch als möglich erledige. Aber weder sie noch mein Vater haben Eile damit und jeder aus anderen Gründen. So ist das Haus hier weiter ganz vergiftet von Lüge, und auch ich habe mein Teil daran, mindestens durch mein zurückhaltendes Schweigen; weder der Vater noch Sidonie kennen meine wahren Absichten. Wenn ich aus dieser üblen Atmosphäre fliehen könnte, welche Erleichterung!

Ich habe meine Ausflüge zu Rad wie ehemals wieder aufgenommen. Ich durcheile aufs neue die Landschaft meiner Kindheit. Damals fuhr Sidonie an meiner Seite, und ich lehrte sie, das Antlitz der Dinge verstehen, Geschmack finden an der bescheidenen Schönheit eines alten Herrensitzes, der sich in einen Meierhof verwandelt hat.

Allein! Jetzt ganz allein! Und allein für den Rest meines Lebens ... Ja.

Aus dieser Einsamkeit entwickelt sich vielleicht eine gewisse Dürre des Herzens. Aber ich habe wenigstens aus meiner Vergangenheit keinerlei erniedrigende Erinnerung. Ich habe niemals unter dem Vorwand, zu »leben« und zu »lieben«, einen Mann verraten oder eine Frau beschmutzt.

20. Oktober.

Zum erstenmal seit ich auf der Welt bin, hat mich heute morgen mein Vater geküßt. Das will sagen, daß ich zum erstenmal durch diese Berührung das Bedürfnis nach einer innigen Vereinigung der Seelen verspürt habe, welche die gegenseitige Umarmung von Männern mit einem so rührenden Ungeschick ausdrückt. Wir hatten gegen elf Uhr im Schloß eine Besprechung mit dem Notar Capot   ohne Sidonie   wegen der Regelung der Erbschaft meiner lieben Mutter. Die paar wichtigen Punkte waren rasch erledigt, aber da hatte der Notar noch zehn völlige Bagatellen, über die er sich mit dem dunklen Wortschwall der Leute vom Gesetz endlos verbreitete. Mein Vater und ich, wir gaben beide unserm Widerwillen gegen das Geschwätz Ausdruck, in dem sich Geldsachen mit Erinnerungen an geliebte Tote widerlich mischten. Das brachte uns näher. Was alles der Notar vorschlug, wurde ohne Diskussion gebilligt, um nur endlich zum Schluß zu kommen, und wir setzten unsere Unterschrift unter die vorbereiteten Papiere.

Ich war bewegt von der tiefen Andacht, mit der Vater von der Toten sprach. Also hatte er sie geliebt in den langen Jahren, in denen sie nur ein Schatten des Lebens war, obgleich er sein Leben einer andern Frau gewidmet hatte und leiblich und geistig dieser anderen gesunden und schönen Frau verbunden gewesen war. Das ist die menschliche Auffassung der Liebe seit Jahrtausenden. Ich ziehe meine Enthaltsamkeit vor.

Als der Notar gegangen war, atmeten wir auf. Die Erinnerung an die Tote hatte uns beide erschüttert. Wir blickten uns an. Wie alt er geworden war und wie traurig, wie schrecklich traurig er aussah! Vielleicht war mir das tiefe Mitleid, das ich für ihn empfand, in die Augen getreten; er schloß mich in seine Arme. Wir sprachen kein Wort. Er löste sich als erster und verließ rasch das Zimmer.

Vom offenen Fenster aus folgte mein Blick seiner hohen Gestalt. Er schritt dahin wie ein Jüngling, und als er sich halb umwandte (zum Zimmer Sidonies hin), stellte ich fest, daß er lächeln wollte. Bei Tisch war er ganz besonders gesprächig und geistreich. Als ob er den Augenblick des Selbstvergessens bedauerte.

25. Oktober.

Ohne Zusammenstoß, ohne Lärm, ohne Zwischenfälle, wie dieser sich entblätternde Herbst, gleitet die kleine menschliche Gruppe unter dem Schutz unseres alten Hauses ihrem Schicksal zu. Sollte der blinde Optimismus Sidonies, dieser törichte und hochmütige Optimismus einer von der Hoffnung auf Liebe besessenen Frau recht behalten gegen meine Furcht vor Schlimmerem? Dem Anschein nach möchte man es glauben. Die modernisierenden Veränderungen in Aubiac sind bald fertig; das Datum des Einzuges der Befreiten ist noch nicht festgesetzt, aber wir sprechen zu dritt davon als nächstem Ereignis.

Aubiac wird also bald bewohnbar sein. Eine Verzögerung verursacht noch die heute etwas schwieriger gewordene Suche nach jenem unentbehrlichen Menschenpaar, das früher in unserer Gegend noch recht verbreitet war: der verheiratete Mann für alles, vom Striegeln der Pferde bis zum Bedienen bei Tisch und seine Frau Köchin, Wäscherin, Kammerfrau und Näherin.

Heute Morgen hat sich ein solches Paar vorgestellt. Sidonie war noch nicht heruntergekommen, so hat Vater die beiden Leute empfangen. Ich war dabei. Er fragte sie eingehend nach allen Einzelheiten, erklärte ihnen, was sie zu tun hätten, las aufmerksam ihre Zeugnisse: er hätte sich nicht mehr Mühe geben können, wenn es sich um eigene Leute gehandelt hätte. Die geringfügigsten Gewohnheiten Sidonies waren ihm gegenwärtig. Ich hörte ihm zu, beobachtete ihn.

»Hat dieser klarsichtige und bestimmte Mensch also sein Los auf sich genommen?« fragte ich mich. »Die Ehre des Hauses ist also stärker gewesen als seine alte Leidenschaft? Wer er rechnet auch mit dem weiblichen Wankelmut, mit meiner Abreise, mit der Zeit ...«

Er fuhr fort:

»Das Fräulein nimmt ihre Kammerjungfer Irene mit, die hier im Hause geboren ist. Sie müssen sich gut mit ihr verhalten, denn meine Nichte wird sich nicht von ihr trennen. Irene hat übrigens einen vortrefflichen Charakter ... Haben Sie schon ein Auto gewaschen, Jean? Ja? Können Sie Pneus aufpumpen, einen Gummireifen wechseln?«

Ich mußte mich fragen, ob diese übertriebene Genauigkeit nicht für mich bestimmt war.

28. Oktober.

Ist es die Wirkung des gedämpften Lebens um mich, eines Lebens, in dem die Angst nicht mehr ununterbrochen droht? Obwohl ich mich instinktiv gegen die sentimentalen Ergüsse wehre, die wir den Dichtern entnehmen   die das, was in uns vorgeht, in unvergeßliche Worte zu kleiden wissen   lasse ich mich von dem Hause, von der Landschaft wieder einfangen. Alles trägt dazu bei, daß mir meine Kinderzeit wieder erwacht, diese unruhige und doch so fruchtbare und beglückte Zeit, die Besseres versprach, als mein späteres Leben hielt. Als ich hierher zurückkam, war mir das väterliche Haus fast verhaßt. Erleichtert fühlte ich mich nur im Krankenzimmer der Mutter. Nun schmelzen allmählich meine schmerzlichen Erinnerungen dahin in einen noch nicht ganz gefestigten Frieden, und ihre Bitterkeit bekommt einen Nachgeschmack, den ich zu genießen beginne, wenn ich sie freiwillig herbeirufe. Ich radle im Land umher. Ich begegne mir als Kind auf einem Dorfplatz, auf einer Fähre, bei einer Wegbiegung. An einem andern Tag, anstatt mich in meine Zimmer zu verschließen, gehe ich im alten Hause auf Entdeckungsreisen, als ob mich meine Kinderneugier riefe. Ich habe es gewagt. Ich zwang mich, den alten dunklen Korridor aufzusuchen, der in eine Obstkammer endigt. Der Geruch kürzlich gepflückter Äpfel umfing mich, und vielleicht war es ihr frischer Zauber, der genügt hat, das Auftauchen des bösen Bildes zu beschwören. Ich sah von dem Winkel des Ganges aus auf jene Türe; sie ist noch da wie damals ... Suche ich unbewußt das Verlangen wieder in mir zu wecken, das einzige meines Lebens, das so früh und für immer im Ekel unterging? Nein. Ich wollte mir vielmehr meine Standhaftigkeit beweisen. Sie hat nicht geschwankt. Ich stand da für ein paar Minuten; das verdrängte Bild tauchte auf; es brachte keine Fiber in mir zum Zittern, bewegte nicht einen Tropfen meines Blutes heftiger. Nur dieses fragte ich mich: ob die armselige Tierheit, welche die Menschen mit Gefühlen umkleiden, auch nur einen Hauch der Verachtung, einen Laut der Entrüstung wert ist.

14. November.

Seit über 14 Tagen nichts geschrieben ...

Wie an der lothringischen Front 1918. Aber damals war es ein Monat Unterbrechung.

Es gibt Momente im Leben, wo man nur gerade so viel Kraft hat, um zu leben. Die Tat ist an den Gedanken gebunden, ohne daß man weiß, ob er ihr folgt oder vorausgeht. Man hätte natürlich schon Zeit, ein paar Zeilen auf eine Seite zu schreiben, um zu sagen: das und das ist passiert. Aber man kann es eben nicht.

Heute, wo ein wenig Licht im Dunkel sich auftut, Hab' ich wieder die Kraft zu ein paar trockenen Notizen. Aber mein Kopf ist so leer, daß ich kaum die Worte finde.

Als ich am 30. Oktober auf dem Rad von einem Ausflug nach La Gatère zurückkam, traf ich auf der Straße Cyrill, den kleinen Diener, der auf mich zulief, kaum daß er mich erblickte. Ich hatte sofort die Gewißheit, daß das Schicksal hereingebrochen war. Atemlos konnte er nur keuchen: »Der Herr Graf ... Fräulein Sidonie! ...« Ich ließ ihn stehen und raste wie ein Wilder auf meinem Rad nach dem Schloß.

Eine Stunde zuvor hatte das Auto des Bäckers die Körper meines Vaters und Sidonies gebracht ... Er war schon tot. Sidonie atmete noch.

Man hatte sie in der Schlucht des Cayrou aufgefunden, fest aneinander geklammert, Sidonie über meinem Vater; sie hielt noch ein Stück vom Steuer in der Hand. Das Auto war in zwei Hälften zerrissen; es war gegen die zermürbte, zerlöcherte Holzbarriere der hohen Brücke gefahren; die Karosserie war in den Abgrund gestürzt, das Chassis hielt sich an einem Pfosten der Barriere.

Mein Vater wurde am 3. November begraben.

Was ich empfand, vermag ich in Worten nicht auszudrücken. Vielleicht habe ich auch gar nichts empfunden. Die furchtbare Ungewißheit von etwas, das ich nicht weiß und vielleicht nie wissen werde, beherrscht alles in mir und lähmt mich. Ich war und bleibe empfindungslos.

Sidonie lag neun Tage in voller Bewußtlosigkeit. Sie hat eine linksseitige Gehirnerschütterung und einen Bruch am Schienbein, der schon auf dem Wege der Heilung ist. Sie wird vielleicht ein bißchen hinken.

Heute kam sie zum erstenmal zum Bewußtsein. Die Augen schienen einen Moment zu sehen und schlossen sich dann wieder. Es kam mir vor, als hätte sie mich erkannt.

Professor Gorget aus Bordeaux, der Arzt, prophezeite mir ihre baldige Wiederherstellung. Die Krankenschwester war weniger optimistisch.

16. November.

Es geht besser.

Sidonie erkannte mich; ihre Finger versuchten, meine Hand zu drücken. Gorget sagt:

»In zwei Tagen wird sie sprechen. Aber fragen Sie sie ja nichts über den Unfall. Das wäre gefährlich und wahrscheinlich auch ganz unnütz. Sie weiß wahrscheinlich weniger als Sie. Das Verlieren des Bewußtseins bei einer Erschütterung des Schädels tritt fast immer vor dem Unfall ein.«

Ich notiere kurz einige gestern vergessene Tatsachen. Der Bäcker hat, als er mit seinem Wägelchen auf die Brücke zufuhr, den Unfall beobachtet; es war gegen fünf Uhr. Er war furchtbar erschrocken über das Bild, das sich ihm bot, und traute sich nicht weiter über die Brücke, die bis auf zwei Meter des Geländers zerstört war. Er kehrte um und fuhr in den Ort, wo er den Gendarmen und drei freiwillige Helfer holte. Es war nicht schwierig, die beiden Körper zu bergen. Gesetzliche Feststellung durch den Doktor Hubiaux. Sidonie ist auf den Körper meines Vaters gefallen, und das hat sie vor dem Tode bewahrt. Das Bein brach sie sich an einem Baumstumpf.

In den wenigen Papieren, die mein Vater in größter Ordnung hinterlassen hat, fand ich den Pastor Désartigues von Engelberg als Testamentsvollstrecker genannt, der auch das zwei Jahre zuvor abgefaßte Testament in Verwahrung hat. Ich sollte ihm im Falle des Ablebens telegraphieren. (Diese Verfügungen wurden zu einer Zeit getroffen, als ich noch in Syrien war, also vor jeder inneren Krise.) Ich telegraphierte. Der Pastor traf in kürzester Zeit ein. Nach dem Wunsch meines Vaters hielt er die Leichenrede in der Kapelle von Boursès; er sprach beredt von dem Freunde seiner Kindheit, daß er ein vornehmer Edelmann gewesen, gut, wohltätig und noblen Geistes. Désartigues machte mir den Eindruck eines leuchtenden Geistes, einer herben Seele mit einer Neigung zur Mystik. Wenig zugänglich, hat er mir über meinen Vater nichts gesagt, was zur Aufklärung des Geschehenen etwa beitragen könnte. Er fuhr am Tage der Beerdigung wieder nach dem Elsaß zurück.

Also bewahrt Sidonie allein das Geheimnis der Katastrophe, wenn es ein Geheimnis gibt. Nach und nach beruhigte ich mich etwas. Was ich anfangs zu glauben geneigt war, kann nicht stimmen: es besteht kein Zweifel darüber, daß Sidonie das Steuer hielt, als das Auto gegen die Barriere rannte. Dem Auto war etwa zweihundert Meter vom Cayrou ein benachbarter Radfahrer begegnet und er hatte Sidonie und den Vater begrüßt. Sidonie saß am Steuer, von dem ihr nach dem Sturz ein Stück in der linken Hand blieb.

Am selben Tag.

Welch entnervendes Gefühl, daß die Zukunft über ein so schweres ernstes Geschehnis niemals Gewißheit verschaffen wird.

Ich spreche mir Vernunft zu.

Heutzutage gehören die Autounfälle sicher nicht zu den ungewöhnlichen. Sogar die Provinzzeitungen haben da schon eine stehende Rubrik: ich las heute von zwei Unfällen, davon war der eine tödlich. Weshalb denke ich also, daß der menschliche Wille hier seine Hand im Spiel hatte? Die Stelle war gefährlich; ich fuhr nie mit dem Rad daran vorüber, ohne die Tiefe mit dem Auge zu messen.

Und dann: wenn er es gewollt hat, dann war es schon vorher beschlossen; impulsiv zu handeln lag nicht in seiner Art. Er mußte es also überlegt und die Folgen erwogen haben.

Was konnte er hoffen? Den gemeinsamen Tod? Er war gewiß möglich, aber doch nicht sicher.

Bleibt er der Überlebende, ist das Weiterleben unerträglich. Überlebt sie, wie es nun der Fall ist, so ist sie frei. Entgehen sie beide dem Tode, beginnt das Martyrium seines Lebens von Neuem.

21. November.

Irene, die Krankenschwester und ich, wir lösen uns bei Sidonie ab, die man nicht einen Augenblick allein lassen darf, denn der Schenkelbruch zwingt sie, sich nicht zu rühren. Sie spricht jetzt ein wenig, aber verfällt gleich wieder in Schweigen; ich habe aus ihrem fast unverständlichen Gestammel entnommen, wie ihr jedes Wort in ihrem kranken Kopfe weh tut.

Dieses unausgesetzte Wachen bedeutet für uns, wenn wir uns auch ablösen, eine unglaubliche Anspannung und Erschöpfung der Nerven. Ich verlange übrigens, daß die beiden Frauen mehr ausruhen als ich.

So liegt also meine kleine Gefährtin von ehemals, die ich so sehr geliebt habe, vor mir, durch die Notwendigkeit jeder Scham beraubt, liegt da in dem rührenden Elend ihres gebrochenen armen Leibes. Und dieses trostlose Bild genügte, um jenes andere, das mir der Korridor damals für einen Augenblick enthüllte, auszulöschen, als ob es nie gewesen wäre ...

23. November.

Sie spricht; die Besserung zeigt sich. Sie möchte mich immer bei sich haben. Nicht ein einziges Mal fragt sie nach dem Vater. Über den Unfall selber soll sie zur Krankenschwester gesagt haben: »Ich hab' gar keine Angst gehabt. Ich hatte große Schmerzen ...« Aber die Frau ist schwatzhaft und kann etwas erfunden haben. Sie tut immer so, als ob die Kranke sie ganz besonders brauche und nur zu ihr Vertrauen habe usw.

Alles Leben im Hause ist ausgeschaltet. Meine Manie, alles aufzuzeichnen, führt mich zu dieser nutzlosen Schreiberei. Wozu? Um das Erwarten und das Nichtwissen festzuhalten ...

26. November.

Sie hat gesprochen. Ich meine, sie hat vom Unfall gesprochen. Seit vier Tagen ist die Zunge gelöst und gleichzeitig damit setzt wieder das geordnete Denken ein.

Ich will ohne Aufschub diese für mich so wertvolle Unterredung niederschreiben, die ein Zeuge der Gerechtigkeit sein soll.

Wir waren allein, ich saß am Bettrand. Sie kann sich jetzt schon im Bette bewegen, und sie hatte sich mir zugewandt. Wir sprachen von ihrem Zustand, von Professor Gorget, von der Schwester. Nach einem langen Schweigen sagte sie ganz leise, aber ruhig: »Hervé ist tot, nicht wahr?«

Nie bisher hat sie ihn vor mir bei seinem Vornamen genannt, immer nur »mein Onkel« oder »dein Vater«. Doch war jetzt nicht die Stunde, ihr das vorzuwerfen. Aber es quälte mich doch, und ich nickte nur mit dem Kopf.

Keinerlei sichtbare Bewegung bei ihr; als ob es sich für sie um ein altbekanntes Ereignis handelte. Aber ein langes Schweigen, das ich nicht störte. Dann fing sie wieder an: »Ich habe so bruchstückweise wieder angefangen, an alles das zu denken, aber ich weiß nicht wann. Die Zeit, du wirst verstehen, was ich meine, Nal,   die Folge in der sich die Dinge abspielten, verschwindet mir noch für Augenblicke. Aber ich fühle, daß ich gesund werde. Ich werde wieder wie früher werden.«

Als ich sah, daß sie klar war und scheinbar gern sprechen wollte, wagte ich eine Frage, wie mir Gorget das an diesem Vormittage gestattet hatte:

»Erinnerst du dich an etwas, was passiert ist, ehe man dich hierher brachte?«

»O ja, an vieles ... nur ... es wird mir so schwer, die Dinge unterzubringen, ihre Ordnung macht mir solche Mühe ...«

Ich sah ihr die Anstrengung an. Sie bekam zwei Längsfalten auf der Stirn über der Nase wie damals, als sie ein Kind war.

»Ich erinnere mich genau, wie wir von hier abfuhren, nach Aubiac ... das Wetter war sehr schön. Ich erinnere mich auch genau an das, was in Aubiac zwischen Onkel und mir geschah. Aber es wäre für heute zu lang, es zu erzählen und würde mich ermüden. Ich erinnere mich, wie wir in dem kleinen Auto von Aubiac wegfuhren, die Straße dahin dreiviertel Stunden lang, die Kreuzung der Hauptstraße ... den Straßenwärter, der aus seiner Flasche trank ... Ich habe ununterbrochen den Wagen gelenkt. Der Onkel sprach kaum ein Wort; aber das wunderte mich nicht nach dem, was sich in Aubiac zugetragen hatte, und was ich dir später erzählen werde. Von da ab erinnere ich mich an nichts mehr   bis zur Brücke am Cayrou. Und auch an die Brücke erinnere ich mich erst seit vorgestern wieder! Ich hielt immer das Steuer ohne die geringste Besorgnis. Das Auto kam auf die Brücke. Und da ist wieder eine Lücke ... Mir kommt vor, aber ich bin dessen nicht sicher, daß ich Hervés Gesicht ganz nah vor meinen Augen sah ... Aber war das vor oder nach dem Unfall? Der Wagen fuhr plötzlich scharf nach links. Das weiß ich ganz sicher. Und dann nichts mehr ... Nein, nichts.«

Ich ergriff ihre Hände.

»Versuch' dich nicht zu erinnern. Streng' dich nicht an. Das kommt ganz von allein.«

Gorget hatte recht, als er mir sagte: »Die Gehirnerschütterungen, die durch einen Stoß verursacht werden, haben fast immer eine unheilbare Gedächtnisschwäche für die Ereignisse, die sich unmittelbar vor und nach der Erschütterung abgespielt haben, zur Folge.« Im Fall Sidonies begann die Gedächtnisschwäche einen Kilometer vor der Brücke. Ein Aufblitzen der Erinnerung über den Moment, wo der Wagen seine Richtung verlor. Und dann wieder Dunkelheit.

Das Bemerkenswerteste und für mich Wichtigste ist, daß scheinbar nichts in Sidonie den Gedanken aufkommen läßt, daß hier mein Vater eingegriffen haben könnte. Sie wiederholt, daß sie nicht aufgehört habe, den Wagen zu steuern. Sie weiß allerdings noch nicht, daß die Hand meines Vaters noch an ihren Arm geklammert war. Aber was beweist das schließlich? Es ist eine überaus natürliche Bewegung eines, der zu fahren versteht und der neben dem Fahrer sitzt, daß er sich möglichst einer Gefahr zu widersetzen sucht.

28. November.

Als ich ihr diese Nacht, es war gegen drei Uhr, zu trinken gab, ergriff sie meine beiden Hände und küßte sie. Ich versuchte, mich sanft loszumachen. Aber sie sagte: »Laß mich. Laß mich. Es tut mir gut.« Ich fühlte ihre Tränen warm auf den Fingern. Und bevor sie noch meine Hände losgelassen hatte, hob sie den Blick zu mir, der noch etwas fiebrig ist, und bat:

»Nal, verlaß mich nicht ... Auch nicht, wenn ich geheilt sein werde!«

Ich erriet die Worte, die sie nicht gewagt hatte, über ihre Lippen schlüpfen zu lassen; es ist die ewige Bitte der Frau an den Mann, worauf sie die Antwort »Immer!« erwartet, und dieses »Immer!« soll seine Gültigkeit haben, während ihr »Immer!« die Unbeständigkeit der Seifenblase hat.

30. November.

Endlich weiß ich, was sich in Aubiac an dem Tage des Unfalls zugetragen hat. Sidonie hat es mir ausführlich erzählt, ohne daß ich sie fragte. Damit ich nur ja bei ihr bleibe, kommt ihr die ganze List ihres Geschlechtes zu Hilfe, ganz von selbst und ohne daß sie sie suchte. Da werden »Elendsein« und »Nervosität« vorgeschoben, was »nur durch meine Gegenwart vertrieben werden kann«. Oder sie versucht es, mich bei der Neugierde zu fassen mit: »Da fällt mir etwas ein, was ich dir noch nicht erzählt habe ...«

Sie ist also in voller Rekonvaleszenz, wird von Minute zu Minute mehr »sie selber« mit ihrem Charakter von ehemals. Nur die körperliche Eva schlummert noch.

Also dies trug sich etwa um zwei Uhr nachmittags im Zimmer von Fräulein von Anglésis zwischen Sidonie und meinem Vater zu. Sidonie erzählte mir die Geschichte mit dem Ton der Wahrheit, aber auch mit einer rückschauenden Unempfindlichkeit, die fast beängstigend für mich war. Man könnte beinahe sagen, die Vergangenheit sei mit den beiden Mitspielenden des Dramas in den Cayrou gestürzt und mit dem einen versunken, der dabei den Tod fand.

Sie erzählte mir:

»Nichts Ungewöhnliches während der Fahrt nach Aubiac. Mein Onkel war wie die Tage zuvor, abwechselnd schweigsam, jedoch ohne Feindseligkeit und Groll, und dann wieder von zarter Zuvorkommenheit. Ich hatte aber doch den Eindruck, daß er sich zusammennahm.

In Aubiac angekommen, doppelte Überraschung: die frisch gemalten Wände waren trocken und das Badezimmer fertig. Der Installateur erwartete uns, sehr stolz auf sein Werk, und erwartete unser Lob. Wir besichtigten das Haus.

Es war alles fertig bis auf die Reinigung des Hauses. Ich verberge dir nichts, Nal: Statt der Freude darüber empfand ich Enttäuschung und Unbehagen. Der Augenblick war gekommen, La Gatère zu verlassen, wie ich es selber entschieden hatte und wie du es wolltest ... Allein leben ... dich verlassen! Und das Leben neben dir war, seitdem ich wieder meine Freiheit hatte, so süß gewesen ... Aber wie hätte ich dagestanden, wenn ich das deinem Vater gestanden hätte?« (Sehr wahr, ganz Frau ist das!)

»Ich glaube, meine Eigenliebe ließ mich genau das Gegenteil von dem, was ich fühlte, sagen, nämlich:

›Nichts hindert mich also mehr, heute nacht hier zu schlafen!‹

Das war natürlich ganz sinnlos geredet, denn ich hatte in Aubiac weder Leute noch Kleider; es sollte auch weiter nichts sein als ein Scherz. Ich bedauerte ihn sofort, denn ich sah etwas, was ich bisher niemals gesehen hatte, auch nicht einmal in der Nacht unserer schrecklichen Auseinandersetzung: Hervé verlor alle Fassung und mußte sich setzen; er war so blaß geworden, daß ich erschreckt auf ihn zulief, mich auf den Boden kniete und ihn in meine Arme nahm, aus Angst, er würde ohnmächtig vom Stuhl fallen. Es dauerte nur einen Moment, und er gewann wieder die Herrschaft über sich, stand auf und ging zum Kamin, an den er sich lehnte. Er zwang sich zu einem Lächeln:

›Es ist nichts ... ängstige dich nicht ... Du hast nur das nur so unerwartet gesagt ...‹

›Es war nur ein Scherz.‹

›Gewiß, natürlich. Es braucht noch fünf, sechs Tage, bis man hier wohnen kann. Aber im Scherz hast du gesagt, was du denkst. Du bist also fest entschlossen, Arnal und mich zu verlassen?‹

Er blickte mir in die Augen, als er ›Arnal und mich‹ sagte. Und seine Art, mich so anzuschauen, hat mich immer etwas aus der Fassung gebracht. Ich stotterte: ›Mein Gott, wir sind doch, nicht wahr, alle einig darüber? Du hast doch selbst gesagt ...‹

›Ja, schon gut. Du bist frei. Nur ... es wäre lächerlich, dir den Schmerz zu verbergen, den mir das bereitet. Ich will keine großen Worte machen ... ich würde ja doch das größte von allen nicht sagen ... ich habe den Eindruck, daß es dich in diesem Augenblick verletzen und kränken würde. Aber schließlich ... es sind so viele Jahre, daß ich dich bei mir hatte ... daß du alles für mich warst ... O ich weiß, was du mir vorwerfen kannst, was du bedauern kannst ... und daß du mich beschuldigst (zu Unrecht, glaub' ich) ... dich beraubt zu haben. Immerhin ... wir haben Stunden des Glückes gehabt ... sehr großen Glückes, für dich auch, sag' nicht nein! Eine Zeit herrlichsten, ... fast übermenschlichen Glückes ...!‹

Er schwieg eine Weile, und ich merkte seine Anstrengung, nicht traurig zu werden und auch seine Stimme nicht stärker werden zu lassen und nicht leidenschaftliche Worte zu sagen, die mich verletzen könnten. Aber tatsächlich betrübte er mich so viel mehr. Ganz leise sprach er wieder:

›Erinnere dich, Sidonie, was dein Leben in La Gatère gewesen ist und was es weiter bliebe, wenn du nicht fortgingest. Und du willst dieses Leben aufgeben?‹ Er sagte nichts weiter. Aber ich verstand, daß er so vieles unausgesprochen in sich verschlossen hielt! Ich muß zugeben, ich habe in diesem Augenblick gezaudert. Gewiß nicht, sicher nicht, um wieder anzuknüpfen ... Aber ich sah mich ganz allein in diesem tristen Aubiac, fern von dir. Und es kam mir vor, als würde ich am nächsten Morgen wieder zu dir zurückkehren. Und dann fiel mir ein, daß du mir zürnen würdest, wenn ich nachgäbe, dich vielleicht gar nicht mehr um mich kümmern würdest. Ich antwortete:

›Wir haben das doch gemeinsam entschieden und beschlossen.‹ (Ja, sicher hat sie diese Worte gebraucht, die der Verantwortung ausweichen und keine unmittelbar persönliche Verpflichtung aussprechen, sondern die Erwähnung eines Hindernisses: ›Wir‹ haben es entschieden.)

Er ließ nicht den Blick von mir, er beobachtete mein Unbehagen, dann trat er vom Kamin weg und setzte sich neben mich, nahm meine Hand in die seinen, gar nicht ärgerlich; ich erriet, daß er sicher dieses Gespräch vorausgesehen und im voraus sich gegen jeden Anfall von Zorn oder Schwäche gewappnet hatte ... Er war so wie in den Augenblicken, wo ich ihn immer am liebsten hatte, aufmerksam, zärtlich und ohne die Drohung des Verlangens in seinem Gesicht, die ihn mir manchmal so schrecklich gemacht hat.

›Hör' mich an, Sidonie; ich will kein Urteil über dich fällen, will nicht mit dir streiten. Aber bevor du deinen Entschluß wahrmachst ... wenn ich dich nicht deiner Zukunft ins Gesicht blicken ließe, wäre das fast etwas wie ein Verbrechen. Deine Entscheidung ist schließlich nichts weiter als eine Zwischenstufe zu einem Ziel ... zu einer Hoffnung hin. Aber ich sage dir, du gehst der grausamsten Enttäuschung entgegen, einem Elend, das dein Leben zu einem Martyrium machen wird. Es ist deinetwegen, versteh mich recht, einzig deinetwegen, daß ich dich anflehe, das nicht zu erhoffen, was sich nie erfüllen kann. Wie kannst du denn nur nicht sehen, daß deine Wünsche keine Erwiderung finden und du immer alleinstehen wirst.‹

Nur du, Arnal, kannst mir erklären, warum diese mit größter Freundlichkeit gesprochenen Worte Hervés mich erstarren ließen. Aber als er sie sprach, schwand der letzte Rest Mitleid, den ich noch für ihn empfand. Ich wußte ja, daß er mit dem, was er sagte, recht hatte, aber ich verabscheute ihn dafür, daß er versuchte, mich gegen dich einzunehmen. Ich fühlte, wie ich innerlich hart und eisern wurde. Ich dachte: Arnal wird tun, was ihm gefällt; und wozu er ein Recht hat. Leide ich durch ihn, werde ich ihm das nicht vorwerfen. Lieber das, als ihm gar nichts bedeuten, wie früher ... Jedenfalls ist es nicht Sache Hervés, der an allem schuld ist, mir damit zu drohen.

Während mir das alles durch den Kopf ging, zog ich, ohne zu antworten, meine Hand aus seinen Händen.

›Verstehst du, was ich meine?‹ fragte er.

Ich nickte: Ja.

›Du willst nicht antworten ...? Ich sehe, es ist unnütz. Du bist von deinem Wahn besessen.‹

Nach dem letzten Wort schwieg er, wie wenn es an ein Hindernis gestoßen wäre. Und so etwas wie ein rauher Ton stieg ihm aus der Kehle ... Ein Wort, das er zurückhielt? Ein Aufschluchzen, das er nicht laut werden ließ? Es war mir gleich. Das war vielleicht schlecht von mir, aber ich sagte dir schon: nichts, was er äußerte, rührte mich mehr. Er trat ans Fenster; die Sonne war im Untergehen.

›Es ist Zeit heimzufahren‹, sagte er ganz ruhig, während er wieder zu mir trat. ›Die Tage sind kurz, und mir ist's lieber, wenn du ohne Scheinwerfer fahren kannst.‹

Wir wurden noch von dem Pächter aufgehalten, der uns eine endlose Geschichte von einer unfruchtbaren Kuh erzählte. Es war halb vier, als ich den Wagen anwarf. Er stand neben mir. Du weißt, das Auto macht mit seinem Blech einen großen Spektakel; man kann kaum ein Wort verstehen. Wir wechselten trotzdem während der Fahrt ein paar Worte, kaum weniger als sonst. Das weitere weißt du. Jetzt habe ich dir alles erzählt, was ich weiß.«

Dies war Sidonies Erzählung: weniger zusammenhängend, weniger folgerichtig, als ich sie hier aus der Erinnerung wiedergebe. Der Wiedererzähler drückt ja immer ein wenig seine Art dem Erzählten auf, und dann ... man spricht nicht, wie man schreibt. Aber ich habe gewiß nichts Bedeutungsvolles ausgelassen.

Was ich dabei noch besonders erwähnen will, Sidonie erzählte leicht und natürlich und mit einer auffallenden Unpersönlichkeit. Nur einmal wurde sie bewegter: als sie von der Möglichkeit sprach, ich könnte sie verlassen ... Da nahm sie meine Hände und behielt sie in den ihren, die noch heiß von Fieber sind. Aber ich war viel bewegter als sie. Als sie geendigt hatte, fragte ich:

»Erinnerst du dich, ob du während der Fahrt, zum Beispiel als du die Staatsstraße kreuztest, in deiner gewöhnlichen Verfassung warst? Ich meine, hattest du alle deine Gedanken ruhig beisammen?«

»Ich war ein wenig nervös.«

»Und es wurde dunkel?«

»Aber nein! Es war noch ziemlich hell. Es kam uns gar nicht der Gedanke, die Lampen einzuschalten.«

»Du warst ein wenig nervös, sagst du. Hast du nicht, zerstreut oder vielleicht in Gedanken an das eben stattgehabte Gespräch, dem Steuer einen unglücklichen Druck gegeben?«

»Das ist möglich. Aber wie soll ich das wissen? Ihr sagt doch alle, das Chassis war demoliert, der Wagen in zwei Stücke. Wie kann man wissen, ob die Ursache des plötzlichen Sprunges nach links von einem Druck aufs Steuer ausging? Nie ist mir was Ähnliches passiert in den fünfzehn Jahren, in denen ich fahre.«

Offenbar!

Offenbar gibt auch Sidonie nur dem die Schuld, was die Leute in ihrer Einfalt den Zufall nennen. Das Verhängnis. Das Erstaunliche dabei ist, daß dieses Rätsel, ob es nur Ungeschicklichkeit von ihr war, oder ob irgendeine andere Ursache den Unfall verursacht hat, sie gar nicht beschäftigt oder gar aufregt. Ich kann hier ja niederschreiben, was ich denke. Keine Rede, daß sie das Unglück vorausgesehen oder gewünscht hat. Aber da es nun geschehen ist, zerbricht sie sich nicht den Kopf, um festzustellen, wer die Verantwortung dafür trägt. Sie würde sie eventuell auf sich nehmen. Denn es beschäftigt sie nur ein Gedanke: ob sie hinken wird. Wäre sie sicher, daß sie nicht hinken wird ... mein Gott!

Aber nein. Ich schreibe hier nicht hin, was ich mich kaum zu denken traue.

3. Dezember.

Im ganzen hat mich Sidonies Erzählung etwas erleichtert.

Ich versuche nicht zu erklären. Ich stelle nur fest und schreibe auf. Ich lasse die letzten Erinnerungen vorüberziehen.

Nichts mehr über die Stunden nach der Katastrophe. Aber nach den ersten schrecklichen Tagen, als ich mich nach all den Besprechungen mit Amtspersonen, Arzt, Schwester, Kondolenzbesuchern allein im Schlosse wiederfand, mit der Schwester und der Verletzten, besonders des Nachts am Bett der bewegungslosen Sidonie und als der einzige Wachende unter dem Dache,   da versuchte ich, bei mir die Wirkung festzustellen, die der Tod meines Vaters auf mich hatte.

Ich fand nichts als eine Art kalten Schauders, die mit der Trauer eines Sohnes nichts zu tun hatte.

Aber wenn ich auch die lärmende Art, seinen Schmerz kundzutun, hasse, so hatte ich doch erst unlängst erfahren, daß der Tod eines nahestehenden Wesens mein Leben und meine Gesundheit umzuwerfen imstande ist!

Meine Unempfindlichkeit jetzt bedrückte mich in einer Weise, daß ich in meinem Mißvergnügen sie festzustellen den Gedanken an Vaters Tod und die Erinnerung an sein Leben floh.

Sidonies Erzählung hatte mich etwas erleichtert.

O, ich sehe die Einwände ... fast die Unwahrscheinlichkeiten! Aber die Lösung, die ich fürchtete, ist weder sicher noch notwendig.

Ohne daß sich mein Herz zusammenzieht, kann ich an den denken, der vor mir hier der Herr war. Großes Format, trotz allem, was mir gerade bei einem Mann so mißfällt. Jetzt ist es zu spät, aber ich habe ein bitteres Bedauern, mich niemals mit ihm Mann zu Mann ausgesprochen zu haben, wie ich es mit Freunden meines Alters oder mit Älteren getan hatte.

Je mehr die Zeit seinen Tod in den Hintergrund drängt, vergrößert sich in meiner Erinnerung sein moralischer Umriß; noch immer hasse ich, was er tat, aber er erscheint mir trotz allem als Vertreter einer geheimnisvollen Macht, die ein Geschlecht zu dem andern sowohl in Liebe wie in Haß hintreibt. Man hat das Wort »verhängnisvolle Frau«, das nur mehr einen romantischen Sinn hat, mißbraucht und aller Wahrheit entkleidet. Aber für diesen Typ, zu dem Geschichte wie Leben trotz allem Beispiele liefern, scheint mir mein Vater so etwas wie das männliche Gegenstück darzustellen. Er ist eine kaum zur Verantwortung zu ziehende Kraft. Und da er so ein außergewöhnliches Werkzeug einer menschlichen Leidenschaft bedeutet, gibt ihm das in meinen Augen und trotz meiner persönlichen Einstellung eine Art Größe, die durch das Verhängnis seines Todes noch gesteigert wird.

4. Dezember.

Der rasche Fortschritt von Sidonies Gesundung überrascht mich. Professor Gorget, der übermorgen kommt, wird seine Patientin gar nicht wiedererkennen. Das Fieber ist verschwunden. Der Appetit zurückgekehrt.

Sidonie rührt und quält mich gleichzeitig. Sie bezeigt mir eine Dankbarkeit, eine Zärtlichkeit, die   lügen wir uns nicht an   um mich eine Atmosphäre der Entspannung schaffen, wie sie mir sehr not tat. Und der freiere, befreitere Ton, den sie mir gegenüber anschlägt, zeigt sie auch geistig viel lebhafter, als ich dachte. Eine heimliche Kraft, die sie mächtig belebt, wohnt in ihr ... Aber wie sehr ist sie Frau! Seit zwei, drei Tagen fragt sie mich ein ums andere Mal: »Glaubst du, daß ich hinken werde ...? Was sagt Gorget? Ich weiß bestimmt, du verbirgst mir die Wahrheit!«

Die Wahrheit ist, daß möglicherweise eine kaum wahrnehmbare Spur ihres Bruches in ihrem Gange sichtbar bleiben wird. Eines Abends verlor ich die Geduld, und ich hab' sie ein bißchen angefahren.

Seitdem spricht sie kein Wort mehr von ihrem Bein zu mir. Aber denkt ohne Zweifel fortwährend daran, denn sie scheint zerstreut.

Oberflächlichkeit der Frau, wie entzückt sie die meisten Männer! Mein Vater, der doch einen starken Geist besaß, war trotzdem davon eingenommen.

10. Dezember.

Wenn Gorget Sidonie untersucht, behorcht und ausfragt, veranlaßt mich mein Schamgefühl, das ich durchaus nicht für lächerlich halte, das Zimmer zu verlassen. Zwar habe ich diesen zerbrochenen, hilflosen Körper in den Tagen seines Jammers gepflegt! Aber jetzt ist Sidonie wieder Frau geworden, allzusehr Frau! Und es würde mich genieren, mich geradezu unangenehm berühren. Ich hab' da nichts zu suchen. Ich gehe hinaus und warte im Nachbarzimmer, das Vaters Zimmer war. Die Pflegerin, Frau Brulat, wird mich rufen, wenn die Visite vorbei ist.

Morgen kommt Gorget.

11. Dezember.

Diesen Morgen wartete ich im Raum nebenan, bis mich Gorget wie gewöhnlich rufen lassen würde. Diesmal kam er selber.

»Nun?« fragte ich, seiner Antwort sicher.

»Was die Frage der Gesundheit im allgemeinen betrifft, kann's nicht besser gehen.«

Ich lächelte.

»Das ist eine Prognose, die Sie ohne Bedenken auch vor der Patientin stellen können, Herr Professor. Also macht Ihnen etwas anderes Sorge.«

»Das ist's ... ich bin nur ein bißchen verlegen, wie ...«

Und nach kurzem Nachdenken:

»Wissen Sie, es kommen in unserem Beruf ganz besonders delikate Fälle vor. Sie müssen doch über alles, was unsere Kranke betrifft, vollkommen unterrichtet werden, da Sie ja augenblicklich ihr einziger moralischer Halt sind. Nun hat sie mich aber über einen wichtigen Punkt zu schweigen gebeten.«

Er schien wirklich sehr verlegen. Der Schatten eines Gedankens flog durch mein Hirn, ließ aber in der Erinnerung keinerlei Spur. Im selben Augenblick klopfte es an die Tür. Ich rief »Herein!« Es war die Pflegerin. Berufspflegerin, achtundvierzig Jahre alt, Schülerin von Gorget, der sie hergebracht hatte. Er fragte: »Was gibt's, Frau Brulat?«

»Herr Professor, ich komme auf Wunsch von Fräulein von Lagueyse.«

»Und was will sie?«

Frau Brulat ließ sich nicht aus ihrer Ruhe bringen.

»Das Fräulein hat überlegt. Sie läßt Herrn Professor sagen ... also er könne es dem Herrn Grafen von La Gatère sagen ... wenn er es für richtig halte.«

»Das vereinfacht die Sache«, sagte Gorget. »Danke, Frau Brulat. Gehen Sie zu Ihrer Kranken zurück und sagen Sie ihr, sie möge sich nicht beunruhigen, alles werde sich aufs beste ordnen.«

Während dieses Dialogs kam jener flüchtige Gedanke wieder, wurde deutlicher. Ich mußte mich setzen.

»Also«, begann Gorget, immer noch verlegen und beschaute seine rechte Hand, die auf einem Leuchtertischchen Klavier spielte. »Also unsere Rekonvaleszentin ist ... sie ist auf dem Wege, Mutter zu werden.«

Nachdem er das gesagt hatte, schwieg er einen Moment, wie um der Neuigkeit zu erlauben, sich in meinem Kopf niederzulassen, und meinem Kopf, diese Neuigkeit aufzunehmen.

Wie kann man uns doch aus der Fassung bringen, auch wenn wir ein Leben lang die eigene Person beobachtet und kontrolliert haben! Die Mitteilung, vor einem Augenblick für einen Moment geahnt, jetzt aber volle Wirklichkeit geworden, verwirrte mich mehr als die Katastrophe auf der Brücke. Meine ganze Kaltblütigkeit war weg; ich hatte den Eindruck, es würde dunkel um mich. Einer der Zustände, die einen Menschen ohne jede Überlegung zum Selbstmord treiben können. Ich stotterte die blödsinnigen Worte:

»Ist das möglich?«

»Es ist sicher«, sagte Gorget und kam auf mich zu. »Und es ist ja allerdings recht wunderbar. Der schreckliche Unfall, den diese junge Dame erlitten, hätte genügen müssen, alle Hoffnung zu zerstören ... auf ...«

Er suchte nach einem Wort und fand kein anderes als das von vorhin:

»... jede Mutterschaft ... Aber wahrscheinlich fand die Empfängnis erst vor ganz kurzer Zeit statt, und das hat das Kind gerettet. Und dann, wenn ein Kind zur Welt kommen will ... Ich habe da die merkwürdigsten Fälle erlebt. Da war z. B. eine Kunstreiterin von einem Wanderzirkus in Bordeaux, vor zwei Jahren, die stürzte vom Trapez sechs Meter tief ...«

Und er fuhr fort, Geschichten von ungewöhnlichen Schwangerschaften zu erzählen. Ich hörte nicht hin. Ich begann zu überlegen:

»Schließlich geht mich das ja direkt gar nichts an. Ich kann da nichts dazu. Ja, ich könnte verhindern, daß dieses peinliche Geheimnis bekannt wird. Weder die Pflegerin noch auch der Arzt werden es unter die Leute bringen. Noch ich. Eine Mutterschaft, die man nicht bekennen will, kann man verbergen. In spätestens zehn Tagen ist Sidonie reisefähig, sagt Gorget ... Weder in Frankreich noch anderswo fehlt es an Sanatorien, die eigens für solche Fälle eingerichtet sind.«

Die Pflegerin erschien:

»Fräulein von Lagueyse verlangt nach dem Herrn Grafen.«

»Gehen Sie hinein«, sagte Gorget. »Sie ist aufgeregt; man muß sie beruhigen. Ich muß Sie verlassen; ich werde in Villeneuve erwartet. Frau Brulat vertritt mich für jede Möglichkeit vorzüglich. Das ist gerade ihr Fach.«

Er schien es eilig zu haben; ich hielt ihn mit einer Frage zurück:

»Haben Sie es erst heute festgestellt?«

»Unter uns kann ich es Ihnen ja sagen,   Frau Brulat hatte so ihren Verdacht seit einer Woche. Aber in diesen letzten Tagen mehrten sich die Anzeichen ... Außerdem traten Erscheinungen ein, die mit dem Unfall an sich nichts zu tun hatten.«

»Und es ist sicher? Man täuscht sich da zuweilen mit Äußerlichkeiten.«

»Ganz sicher! Die sogenannte mathematische Sicherheit werden wir natürlich erst in drei Monaten haben. Aber schlafen Sie über dieser Hoffnung nicht ein, Frau Brulat hat da einen erstaunlichen Blick. Und schließlich, lieber Herr, ist ein Kind niemals ein Unglück. Auf Samstag also, zur selben Stunde!«

 

Als ich bei der Kranken eintrat, fand ich sie aufgelöst in Tränen, das Gesicht unbeweglich in die Kissen gedrückt. Nichts mehr von der lebhaften, entschiedenen, alles vergessenden Haltung, die mich vor kurzem noch so erstaunte. Da lag eine hilflose Frau! Sidonie wagte nicht, die Augen zu mir aufzuschlagen; sie versuchte, ihren Kopf noch tiefer in das Kiffen zu vergraben. Ich empfand tiefes Mitleid. Ich neigte mich über sie; küßte ihr Haar. Setzte mich an den Bettrand, nahm ihre Hände. Die Worte, die man sagen sollte, laufen einem in solch unerwartetem Fall davon. Ich brachte nur hervor:

»Mut!«

Sie schluchzte:

»Es ist nicht ... es ist nicht meine Schuld, wenn ich dir nichts gesagt habe ... ich wußte es nicht ... Ich hatte keine Ahnung!«

Sie setzte sich auf, tränenübergossen:

»Glaubst du mir? Glaubst du mir?«

»Aber natürlich! Reg' dich nicht auf ... Ich nehm' es auf mich, alles zum besten zu ordnen. Aber jetzt denk' nicht daran. Und dann haben wir, wenn es wahr ist, noch Monate vor uns.«

Ihr Gesicht wurde ruhiger. Sie schwieg. Dann kam sie auf das, was sie wirklich beschäftigte: sich vor mir zu rechtfertigen.

»Weißt du, ich begreife gar nichts ... Aber nichts!«

Ich begriff noch weniger, denn sie hatte doch nach ihrem langen Brief und den ihm folgenden Mitteilungen jede körperliche Beziehung zu ihrem Herrn kurze Zeit nach meiner Rückkehr aufgegeben. Die Befürchtung, daß sie hier gelogen hatte, erfaßte mich mit Widerwillen.

»Wir sprechen darüber später, wenn du willst. Jetzt ruh' dich aus.«

Frau Brulat trat leise ein. Ich verließ das Krankenzimmer und ging auf das meine.

Und nun stehe ich mir gegenüber.

Etwas, dem ich vorhin keine Aufmerksamkeit schenkte, tauchte vor mir auf: die Verlegenheit Gorgets mir gegenüber war stärker als der Anlaß dazu. Sidonie ist achtundzwanzig Jahre alt und vollkommen frei. Über ihre Sitten weiß Gorget, der nicht aus der Gegend ist, soviel wie nichts. Es ist nicht das erstemal, daß eine junge Schloßtochter so einen Unfall hat; außerdem hatte ihn Sidonie ermächtigt, mit mir darüber zu sprechen. Und trotzdem zauderte er, fand die Worte nicht, die er dann so herausstotterte.

Jetzt ist mir der Grund klar. Gorget war überzeugt, daß er mit dem Vater spreche ... Das ist der blitzartige Gedanke, der mir durchs Hirn schoß, und der sich jetzt geformt und vervollständigt hat. Die Pflegerin und der Arzt hatten Sidonies Gefühle für mich festgestellt; sie versteht's nicht, sie zu verbergen, ist stolz darauf, ist im Grunde glücklich, sie erraten zu lassen. Wir lebten seit mehr als einem halben Jahr unter demselben Dach. Sie ist schwanger ...

Ich hätte vermutet wie die beiden.

Nichts Peinlicheres konnte mir passieren. Ich habe für die Frauen in meinem Leben einen sich immer gleich bleibenden, vielleicht übertriebenen Respekt gehabt; ich beurteile sie nach dem, was sie wert sind, und das ist wenig; aber ich habe ihnen nie das Recht gegeben, über mich zu denken: »Er ist nicht mehr wert als wir, weil er es ausnützt, daß wir so wenig wert sind.« Darum bäume ich mich auf gegen dieses ungerechte Schicksal: verantwortlich gemacht zu werden für eine Tat, gegen die ich mich mein ganzes Leben lang stemmte!

Ich werde trotzdem tun, was ich versprochen habe, indem ich aus Mitleid dem Opfer (oder der Schuldigen) jede Erniedrigung erspare. Aber Sidonie wird La Gatère so bald als möglich verlassen. Und ich ... ich ziehe weiter. Ich setze mein Leben fort, ohne große Freuden, ohne ernste Entbehrungen. Bis zu dem Tage, wo mich das Alter hierher zurückbringt. Da wird vielleicht die gleichfalls alt gewordene Sidonie auf Aubiac wohnen. Sie wird, wie es ihr Schicksal ist, verheiratet sein. Sie ist eine jener Frauen, deren Leben nur in Verbindung mit dem eines Mannes Wert erhält.

6. Dezember.

Die zerknirschte Unterwerfung Sidonies entwaffnet mich.

Keines von uns hat sich getraut, an eine doch so nötige Erklärung heranzugehen. Ich will keine Doppelzüngigkeit und keine Lüge.

Am selben Tag.

Ich überlese den letzten Satz. Das ist doch nicht ganz gerecht. Sidonie hat möglicherweise die Wahrheit verkleidet, als sie vorgab, jede Beziehung einer Geliebten zu ihrem Liebhaber gleich nach meiner Ankunft abgebrochen zu haben. Aber das befreit mich doch ihr gegenüber nicht von jeder Verpflichtung. Denn ich konnte ja über die Person des Liebhabers nicht im Zweifel sein. Nun aber stehe ich nach dem Gesetz an seiner Stelle. Ich erbte seinen Besitz, seinen Namen. Das Kind meines Vaters ist für mich kein Fremder. Mein tyrannisches Gewissen kann mir vorläufig noch nicht genau sagen, wo dieses Kindes Rechte auf mich beginnen, und wo sie enden.

9. Dezember.

Die unvermeidliche Aussprache hat stattgefunden. Ich hatte Sidonie gebeten, mir sagen zu lassen, wann sie sich wohl genug dazu fühle. Ich tat das, um ihr Zeit zu geben, die Wahrheit mit ihren Interessen und ihrem Schamgefühl etwas übereinzubringen. Aber ich schmeichle mir, die Wahrheit durch alle Hüllen hindurch zu erkennen.

Sie empfing mich auf ihrem Ruhebett, den Kopf von Kissen gestützt. Und sie hat die höchste Geschicklichkeit gezeigt: sie hat nicht gelogen.

Mehr noch: sie hat sich ganz ausgeliefert. Ein wundervoller Instinkt, ein Vorzug ihres Geschlechtes, hat ihr eingegeben, daß alles für sie verloren sein würde, wenn ich mich für getäuscht hielte. Sie schöpfte aus ihrem Entschluß zur Wahrhaftigkeit eine Ruhe, die sie höchst anziehend und sympathisch machte. Die Wahrheit floß deutlich von ihren Lippen, und weil es die Wahrheit war, löste sie die Einwendungen auf.

»Nal, ich habe einen Monat nach deiner Ankunft jede Beziehung zu Hervé abgebrochen. Ich kann das genaue Datum nennen: am 7. April in Aubiac. Ich habe an diesem Tage von Mitleid überrascht nachgegeben   er schien mir so verzweifelt   auch hatte ich die törichte, sinnlose Angst, er könnte sich an dir rächen wollen: Er hatte mir nämlich zu verstehen gegeben, daß er die Gründe meiner Weigerung errate. Ich habe dann von ihm das Versprechen verlangt, nichts dergleichen mehr von mir zu fordern, solange du bei uns wohnst. Er gab es. Und er hielt es.«

»Also dann?«

Sie lächelte schwach.

»Such' nicht einen andern Verantwortlichen. Ich bin ein elendes Ding, das du verachtest. Und du hast recht. Aber ich habe nie jemand anderem als ihm angehört ... und du weißt doch, als ... als ich einen andern als ihn liebte ... hab' ich mich von ihm ferngehalten.«

»Ich verachte dich durchaus nicht, Sidonie. Du warst vom Schicksal gebunden. Ich glaube dir.«

»Wirklich?«

»Beim Andenken an meine teure Mutter, ich glaube dir. Aber die Tatsache besteht ...?«

»Ja, und es gibt dafür nur eine Erklärung.«

»Nämlich?«

»In der Nacht, wo er mir in deinen Korridor gefolgt war und mich dann in sein Zimmer brachte, wo wir dann stritten, kämpften, stundenlang ...«

»Und?«

»Ich war am Ende so gebrochen, daß ich alles Gefühl verlor. Er mußte mich nehmen und auf mein Bett tragen. Er war es, der mich auszog ... Aber dir graut vor mir!«

»Nein! Nein! Sprich weiter ...«

»Er hat mich zu Bett gebracht wie ein Kind ... Ich war eine leblose Sache ...«

Wir verharrten eine Weile in Schweigen und blickten uns an.

»Und ... du glaubst?«

»Ich bin dessen sicher, denn es gibt keine andere Möglichkeit. Auch das Datum ...«

Ich dachte: Sie scheint ehrlich, aber wie das kontrollieren? Wie soll man den Grad der Bewußtlosigkeit einer Frau ermessen, die sich hingibt?

Sie merkte, daß mein Glaube schwankte.

»Ich schwöre dir, es ist wahr, Nal, bei deinem Kopf!«

Ein Einwand fiel mir ein:

»Habt ihr denn nie in all den Jahren eine gleiche Besorgnis gehabt?«

»Niemals.«

»Trotz ...?«

Lebhaft und ohne einen Schatten von Scham sagte sie:

»Er war nicht der Mann, der sich da überraschen ließ, du verstehst. Was er damals tat, das wollte er

Sie sagte die letzten Worte nicht im selben Ton wie alles andere. Ich bemerkte so etwas wie eine dunkle Huldigung an den einstigen Herrn. Also hatte diese letzte Liebesgeste dieses Meisters einen Sinn, den er vorausgesehen hat: Auch über den Tod hinaus würde die Gefangene nie völlig befreit sein!

Ich wagte sie kaum anzusehen, während sie sprach. O wie ist das alles schmutzig! dachte ich ... und zu wissen, daß fast keine einzige Verbindung von Mann und Frau davor geschützt ist! Welcher Vorzug, daß ich durch meine Jugend unbeschmutzt schreiten konnte! Sidonie sprach nicht mehr. Sie weinte vor sich hin, und ganz für sich und nicht, um mich zu rühren, sagte sie ganz leise:

»Was wird aus mir werden?«

Egoismus der Schwachen! Aber dieser ist entschuldbar.

12. Dezember.

Ich verbrachte zwei Tage fiebrigen Elends, wie ich sie nur in Lothringen nach meiner Verwundung erlebte. Der Wille möchte Widerstand leisten, und dem Geschick standhalten; der Körper gibt nach. Da liege ich nun. Das Fieber ist fühlbar in meine Adern getreten. Es tobt in meinen Gedanken.

Die ganze Zeit über schüttelte es mich in den warmen Decken, und es stand ein Bild vor mir, einmal klar und deutlich, dann wieder ganz formlos, verzerrt, absurd: das Bild, das mir nach Jahren des Vergessens die Niederschrift Sidonies wieder wachgerufen hatte: wir beide als Kinder vor der katholischen Kirche in Boursès. Und jene Worte, die ich damals sagte, brannten vor meinen geschlossenen Augen:

»Wir Hugenotten, wir sind beschränkt auf die Zwiesprache mit unserm Gewissen.«

Das ist wahr ... Wir geben keinem andern Gewissen das Recht, sich an die Stelle des unsern zu setzen. Das käme uns wie eine Abdankung vor und wäre im Grunde eine Feigheit. Denn wer vermag besser als wir selbst unsere Pflicht zu erkennen?

Wenn ein anderer Mann, und stände er noch so hoch, mir sagte: »Folge deinem ersten Impuls. Du bist in keiner Weise verantwortlich für das, was diese Frau erlitt. Deine Pflicht ist nur, ihr zu helfen, eine öffentliche Schande von ihr abzuwehren, aber nur das ist deine Pflicht ...«   und wenn mir ein zweiter Mensch, und sei es der anständigste und intelligenteste, das bestätigte, wie könnte ich, wenn mein inneres Gefühl dagegen protestiert, wie könnte ich beruhigt und ohne Gewissensbisse solchem Rat eines andern folgen?

Was mir Leib und Seele so im tiefsten aufgeregt hat seit meinem letzten Gespräch mit Sidonie, ist, daß dieses Gespräch das ganze zerbrechliche Gebäude zum Zusammenbruch gebracht hat, das ich mir instinktiv errichtet hatte, um mir das Leben nach so viel harten Schlägen erträglicher zu machen. Eine günstige Ungewißheit umgab und umgibt immer noch die Ursache des Unfalls. Das Andenken meines Vaters war mit einer frühen Schuld belastet, die ich schon zu seinen Lebzeiten kannte: nichts weiter. Nun fügt sich dem noch die Verzwiefachung des Mißbrauchs seines wehrlosen Opfers hinzu. Selbst wenn die Teilnahme des Opfers vielleicht halbbewußt war,   es bleibt eine heimliche Vergewaltigung, die er allein gewußt hat ... Manchmal glaube ich, an ihr den Beweis dafür zu erkennen, daß kein weiterer Gewaltakt geplant war: das Hindernis war geschaffen. Dann wieder erscheint mir das Bild der Persönlichkeit viel deutlicher, viel zusammenhängender, wenn sie   als unerbittliches Werkzeug des sexuellen Verhängnisses   das Opfer zunächst mit einem unauslöschlichen Merkmal versieht, das es auf ewig hindert, dem einzigen gefürchteten Rivalen anzugehören, um es dann   in der Erkenntnis, daß es sich ihm von nun an versagt   mit sich in den Tod zu reißen.

Ich bin der Sohn dieses Mannes. Ich stehe in den Augen der Menschen für seinen Namen, für sein Vermögen, für seine sozialen Beziehungen, für die Weiterführung seiner moralischen Verpflichtungen, für die Gutmachung des Bösen, das er angerichtet hat, ein.

Soll das Opfer ewig ein Opfer bleiben, ohne andere Hilfe als mein Mitleid und meinen praktischen Rat, um das Kind zur Welt zu bringen und es aufziehen zu lassen?

Dies bedrückt mein Gewissen. Aber ich spüre, wie allmählich Erleuchtung und Kraft zunimmt.

27. Dezember.

In einem von der Sonne durchgoldeten Nebel machte ich eine Fahrt von dreißig Kilometern auf dem Rad. Dieser wenig erschöpfende Sport ist mir ein Mittel, über meine Gedanken ins reine zu kommen, bevor ich wichtige Entscheidungen treffe. Nach meiner Rückkehr verlangte ich Sidonie zu sprechen. Irene meldete, das Fräulein würde mich in einer Viertelstunde empfangen, denn es sei ihr nicht ganz wohl.

Ich fand sie wirklich müde und abgespannt. Ihr Zustand, der ganz natürlich und gefahrlos ist, macht sie zum Jammern geneigt; er nimmt ihr auch viel von ihrer Schönheit; sie mag sich mir darum nicht gern bei vollem Tageslicht zeigen.

Ich habe einfach und schnell gesprochen.

»Ich habe dir nur ganz wenig zu sagen, Sidonie. Ich bitte dich, mir auf gleiche Weise zu antworten. Was ich dir vorschlagen will, ich weiß, du wirst es annehmen und wirst damit zufrieden sein. Aber ich beschwöre dich, mir nicht dafür zu danken.«

Etwas beunruhigt sagt sie:

»Ich verspreche es dir ... Aber ...«

Ich nahm ihre Hände. Die Zufriedenheit, die größte menschliche Zufriedenheit (die vielleicht ein Selbstbetrug ist), nämlich die: Glück auf seine eigenen Kosten zu schenken, machte mich fast zärtlich zu Sidonie. Aber im Grunde wurde ich um mich selbst traurig.

»Sidonie, als du ganz klein in dieses Haus kamst, stand das Leben dir offen; es hätte glücklich werden können ... Aber weil du hierherkamst, bist du von Kindheit an auf dem falschen Weg gegangen; und jetzt, selbst nach dem Tode dessen, der die Verantwortung für dein Leben trug, ist deine Zukunft verdorben, gebrochen. Das ist ungerecht. Ich muß es gutmachen.«

Ihre Hände bebten in den meinen.

»Hör' mich an. Ich will dir und deinem Kinde den Namen geben, auf den ihr beide ein Recht habt. Ich werde neben dir leben, ich werde für dich die Zuneigung haben, die ich immer für dich fühlte, und die das gemeinsame Leben nur stärker machen wird. Aber für alles darüber hinaus ...«

Sie unterbrach mich.

»Ich verstehe. Sprich es nur nicht aus! ... Ach, neben dir leben wie damals, als wir klein waren! Ja, ja, nichts weiter!«

Sie küßte hingebend meine Hände, als ob es Reliquien wären. Sie sah mich an. Die Freude hatte ihr für einen Augenblick ihre Schönheit wiedergegeben. Wir blickten uns lange an. Ich liebte sie mit der ganzen Kraft meines Opfers. Unser Leben könnte glücklich sein, dachte ich, wenn diese Frau da fähig ist, ihr Wort zu halten ...

Und im gleichen Moment schien mir in ihren Augen etwas zu leuchten, das seit langem verschwunden war,   es war ein Leuchten weniger des Friedens als der Hoffnung.

Die ewige, unbewußte Heuchlerin! Sagte sie sich nicht: »Wer weiß?«

 

Ende.


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