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Hast Du, Arnal, heut nacht gegen elf Uhr nichts im Korridor vor Deiner Tür gehört? Ich stand davor, entschlossen, mit Dir zu reden: es mußte unbedingt sein. Licht kam aus Deinem Zimmer unter der Tür vor. In der Stille hörte ich das Kratzen Deines Federhalters auf dem Papier; Du schriebst, wie ich Dich oft bei Tag gesehen, in Dein ewiges weißes Heft. Dein Sessel krachte von Zeit zu Zeit. Ich glaubte, Deinen Atem zu hören.
Weshalb trat ich nicht bei Dir ein? Ich hab' mich einfach nicht getraut. Wie schon alle die Tage über, so sehr es mich dazu drängte, mit Dir über Dinge zu sprechen, die mich peinigen. Unmöglich, Nal, daß Du dieses Bedürfnis nicht verstanden und gemerkt hast. Es war also nicht edel von Dir, daß Du mir dazu nicht Mut machtest. Oft fühle ich, wie Du mir fernstehst. Und dabei liebst Du mich doch, weniger gewiß, als ich Dich liebe, aber Du hast mich doch gern. Was hab' ich Dir getan, daß Du Dich von mir fernhältst? Als Du für dauernd nach La Gatère zurückkamst, verband ich damit so viel Hoffnung; es kam mir vor, als würde von nun ab mein Leben sich ändern, besser werden, neu werden. Und jetzt ist's, als ob ein ganz anderer Arnal sich bei uns niedergelassen hätte. Und Du willst so sein! Du zwingst Dich dazu, ich weiß es bestimmt; denn es gibt Augenblicke, da wirst Du wieder ganz gegen Deinen Willen mein Gefährte, mein »lieber Nal« wie damals, als wir Kinder waren. Aber gleich bist Du wieder anders, und ich komme mir verlassen vor.
Darum hatte ich es mir gestern in den Kopf gesetzt, Dich aufzusuchen und Dir viel zu erzählen, mich mit Dir auszusprechen. Aber ich war nicht ruhig, wie ich es jetzt bin, und alles in allem war es besser, daß ich gestern nicht zu Dir ins Zimmer kam. Besser, ich schreibe Dir. Du hast ja auch verwirrtes Reden und heftige Gebärden nicht gern. Jetzt werd' ich bis zum Schluß meine Ruhe behalten. Gestern war ich so außer mir, daß ich minutenlang wie eine Bettlerin an die Wand gedrückt blieb und mich nicht entschließen konnte, zu klopfen. Du hättest mich aber doch wohl nicht weggeschickt, nicht wahr? Vielleicht hätte ich mich dann doch zusammengenommen und angeklopft. Da kam aber etwas dazwischen, was ich nicht vorausgesehen hatte; ich werde es Dir gleich erzählen. Ich muß aber mit meiner Erzählung weit ausholen, damit Du alles verstehst. Kurz, ich mußte den Korridor verlassen und wieder hinuntergehen ... Laß mich die Erzählung, wie diese Nacht endete, auch noch ein bißchen aufschieben. Als ich heute morgen in meinem Bett nach einem bleiernen Schlaf aufwachte, war ich gebrochen, als ob man mich geschlagen hätte; aber ich hatte einen ganz klaren Kopf und fühlte mich fest entschlossen. Jetzt, wo ich Dir schreibe, weiß ich, was ich tun will; aber ich brauche Dein Vertrauen, Deinen Rat und Deine Hilfe. Es wäre unnütz zu versuchen, Dir, statt zu schreiben, es ins Gesicht zu sagen, was ich Dir sagen muß. Entweder würde man mich daran hindern, oder ich hätte nicht den Mut, Dir alles zu sagen. Darum schreibe ich. Und beschwöre Dich, lies bis zum Schluß, trotz meines schlechten Stils und meiner orthographischen Fehler. Ich mache noch immer Fehler wie damals, als Du Dich darüber lustig machtest, in den Zeiten des alten Ricquier; trotzdem hast Du mir so manches Mal geholfen, damit ich keine schlechte Note bekomme. Du sagtest: »drei oder vier muß man stehen lassen, damit man auch glaubt, daß die Arbeit von dir ist«. Ja, das waren glückliche Zeiten! ... Lies bis zum Schluß, Arnal, ich bitte Dich darum, und lies mit ein bißchen Freundschaft und verachte mich nicht. Ich bin sehr elend, glaube es mir!
Ich will Dir beichten, Arnal. Wie eine Katholikin ihrem Priester. Das fiel mir heute morgen ein, als ich aufwachte. Vielleicht erinnerst Du Dich an ein Gespräch, das wir vor langen Jahren hatten, vielleicht hast Du es, da Du ja alles in Deine weißen Hefte schreibst, darin aufgeschrieben und findest es da. Es war vor der Zeit, als man davon sprach, daß Du nach Deutschland gehen müßtest. Ich sehe alles vor mir, wie wenn's gestern gewesen wäre. Es war an einem Samstag so gegen vier Uhr, am Tage nach Himmelfahrt, auf dem Platz in Boursès, wo die katholische Kirche zum Heiligen Glauben steht ... Wir waren hingeradelt, um Besorgungen fürs Schloß zu machen. Ich sollte Blumenkohl kaufen und auch eine Kirschtorte für den Sonntag. Du hattest Dein Uhrglas zerbrochen und wolltest die Uhr zum Uhrmacher bringen. Es war sehr heiß. Wir verschnauften uns ein bißchen im Hausschatten und beguckten die Kirche vor uns. Leute gingen in die Kirche oder kamen aus ihr heraus, nachdem sie gebeichtet hatten, meist Frauen, aber auch Männer, und jeden Alters. Erinnerst Du Dich noch? Nein, Du erinnerst Dich nicht. Mir schien, als ob die Büßermiene vieler nicht natürlich wäre. Mir kam es vor, als übertrieben sie die Demut in ihrer Haltung, und ich sagte auch etwas Ähnliches zu Dir und machte diese gar so fromm tuenden Leute nach. Aber Du wolltest nicht mit mir lachen und sagtest:
»Richte nicht deinen Nächsten, Sidonie. Diese Menschen haben es gut, und ich beneide sie.«
»Warum?«
»Hast du nicht gehört, was dazu der Pastor Obliau bei einer Feier im vergangenen Jahr sagte, ich meine über das Gewissen von uns Protestanten?«
»Nein!«
»Du hörtest ja auch nie zu. Er zog einen Vergleich zwischen dem Gewissen des Katholiken und dem des Protestanten. Er führte aus, daß dem Gewissen des Protestanten eine schwierigere, aber auch schönere Rolle zufalle.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Du mußt versuchen, es zu verstehen ... Sieh diese Menschen an, die in die schöne, kühle, weihrauchduftende Kirche treten. Was wollen sie drin tun? Sie werfen sich vor einen Beichtstuhl mit einem vergitterten Fensterchen auf die Kniee und beichten ihre Sünden, kleine Vergehen oder große Verbrechen oder vielleicht nur Gewissensskrupel, beichten das einem, dessen Amt es ist, sie anzuhören ... Sie brauchen sich nicht einmal vor dem Gesehenwerden zu genieren. Sie sehen den Priester nicht, er sieht sie nicht, kennt sie meist gar nicht ... Und der Priester legt ihnen eine Buße auf, nicht viel schwieriger als die Aufgaben unseres guten Ricquier. Er spricht die gleichen lateinischen Worte für die großen wie für die kleinen Sünden. Die Bußen sind so gering, daß sie sie meist schon gleich in der Kirche erledigen. Dann verlassen sie die Kirche und stehen wieder auf dem Platz. Haben keine Gewissensbisse mehr; sie sind sicher, daß ihnen vergeben wurde, und daß sie nun unschuldig sind. Versuche, das zu verstehen, Sidonie! Unschuldig! So als ob sie nicht gesündigt hätten!«
Ich mußte lachen und sagte:
»Ja, unter der Bedingung, daß sie daran glauben.«
Aber Du fuhrst mich an:
»Wie dumm, Sidonie! Sei nicht pharisäerhaft! Pastor Obliau empfahl uns das in derselben Predigt. Glaubst du denn, alle diese Leute sind Heuchler und Lügner? Das sind sie gar nicht. Die allermeisten von ihnen haben den Glauben ... In jedem Fall ist es sehr tröstend zu glauben, daß man geheilt werden kann, zu glauben, daß man geheilt wird.«
Du kannst Dir nicht vorstellen, Nal, wie tief mich damals Deine Worte ins Herz trafen. Du siehst, wie genau ich sie behalten habe. Und wie oft habe ich sie mir in schmerzlichen Augenblicken meines Lebens, wenn das Gewissen mich drückte, wiederholt! Besonders die, die Du zum Schlusse wie zu Dir selber sagtest, nämlich:
»Sie sind glücklich dran. Wir Hugenotten haben jeden Tag das Gefühl, daß wir heute sündiger sind, als wir gestern waren. Aber diese dicke Frau da schau sie dir an oder dieser lange, magere Kerl mit den Schatten um die Augen, die haben wenigstens vierundzwanzig Stunden inneren Frieden vor sich ... Gehen wir weiter, ich will sie nicht mehr sehen!«
Ich wußte Dir nichts zu antworten. Wir erledigten unsere Besorgungen. Dann radelten wir nach La Gatère zurück, ich mit meinem Blumenkohl, den ich in eine Zeitung gewickelt an die Lenkstange gebunden hatte. Was Du da gesagt hattest, ging mir im Kopf herum und quälte mich. Nachdenken liebte ich damals nicht sehr, und wenn ich eine Sorge hatte, lag mir daran, sie los zu werden und sie zu vergessen.
»Wenn mich etwas drückt,« so sagte ich mir, »dann sag' ich es eben Arnal, alles, alles ... Er wird mir eine Buße auferlegen, und ich werde es los wie die dicke Frau oder der magere Bursch.«
Und ich tat es lange so, nicht, Nal? Hatte ich gelogen oder einen Kuchen stibitzt, dann lief ich zu Dir beichten, und Du sagtest: »Ernster Fall.« Oder auch: »Bedeutet nichts! Tu das oder das Gute, und alles ist wieder in Ordnung.« Ich gehorchte Dir immer, ich fühlte mich erleichtert genau wie meine katholischen Freundinnen nach der Beichte ... So ging es immer weiter. Unglücklicherweise fuhrst Du dann weg. Und ich hatte zehn Monate lang keinen Beichtvater, und als er zurückkam, da konnte ich nicht mehr ... nein, da konnte und wollte ich Dir nicht mehr beichten.
Heute, Nal, nach so vielen Jahren, muß ich wieder zu Dir kommen, als ob wir Seite an Seite lebten ... Ich kann das Gewicht meines vergangenen Lebens nicht mehr allein tragen ... Du wirst mich nicht lossprechen, aber ich werde einen Richter haben. Hör' mir zu! Es wird nicht lange dauern. Ich erzähle Dir alles, wie es vor sich gegangen ist, ohne die geringste Entschuldigung dafür zu suchen. Selbst wenn Du mich nachher hart behandelst, wird es mir weniger schmerzhaft sein, als wenn ich, wie Du sagtest, allein mit meinem Gewissen wäre.
Zuerst sollst Du wissen, was ich Dir nie gesagt habe, und wovon Du keine Ahnung hast trotz Deiner Klugheit: Du bist nicht das einzige Wesen, das ich geliebt habe, nur habe ich niemanden in der gleichen Weise geliebt, wie ich Dich liebe. Ich mochte meine Tante Angelika sehr gern, weil sie sanft und leidend war, aber ich empfand kein rechtes Glück in ihrer Gegenwart; ich strengte mich an, sie zu trösten und zu erheitern; ich wußte, daß ich mich dabei anstrengen mußte. Was Onkel Hervé betrifft, werde ich gleich versuchen, Dir meine Gefühle ihm gegenüber zu erklären: sie waren sehr wechselnd je nach den Zeiten, nie gleichmäßig, nie ganz ruhig und, wie soll ich sagen? ... so ähnlich wie die Träume, die ich von dem Äther hatte, damals als man mir den Blinddarm operierte. Es war ein ständiger Wechsel von glücklichen Träumen und Alpdrücken. Was Dich betrifft, Nal, hatte ich immer den heimlichen Glauben, daß Du das Ziel meines Lebens seiest, daß ich für Dich geschaffen sei, und daß ich Dir folgen würde, wohin Du willst daß ich Dir gehöre. Bitte, nimm nicht Dein gleichgültiges, zweiflerisches Wesen an, das mir so weh tut! ... Ja, ja, es ist wahr, ich übertreibe nichts! Wenn wir als Kinder spielten und ich Dich überwältigte, weil ich augenblicks gerade die Stärkere war, und selbst als ich mit meiner ganzen Kraft Deine Schultern auf die Erde drückte und meine Augen in die Deinen bohrte, hast Du da nicht gemerkt, daß ich Dir durchaus ergeben war und Du nur ein Wort hättest sagen brauchen, auf daß ich mich hätte von Dir zu Boden werfen und schlagen lassen, und daß mir das Vergnügen gemacht hätte? Wie oft war ich auf dem Sprung, das von Dir zu verlangen! Aber ich traute mich nicht. Du hast mir immer ein bißchen Angst gemacht.
Du machtest mir immer ein bißchen Angst, und meine Lippen schlossen sich fest, während ich Dir ach so gern so vieles anvertraut hätte! Mir kam vor, als gefiele ich Dir nicht ganz; das demütigte mich und machte mich furchtsam. Zuweilen sahst Du mich mit einer so scharfen Aufmerksamkeit an, fast übelwollend, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Ich dachte dann: »Ich habe ihm doch nichts Böses getan!« Nach und nach begriff ich, was Dich an mir so aufbrachte: ich wandelte mich unter Deinen Augen, ich wurde Frau, zu früh und zu rasch ...
Das war nicht meine Schuld. Trotz all meiner Vorsicht, Dich nichts merken zu lassen nicht mal, wenn ich Migräne hatte, traute ich mich, Dir etwas zu sagen, oder wenn mir sogar zum Umfallen war. Meine bloße Anwesenheit verursachte Dir ein unangenehmes Gefühl, dessen Grund Du Dir selber nicht erklären konntest; denn Du fuhrst mich oft erbarmungslos an oder machtest Dich über das, was Du meine »Zustände« nanntest, lustig. Nur wenn Du merktest, daß ich gleich in Tränen ausbrechen würde, wurdest Du wieder gut, nahmst mich in die Arme und küßtest mich.
Siehst Du, Nal, von unsern ersten Jahren an und dann in allen unsern schönsten Zeiten, jenen, die Deiner Abreise nach Deutschland vorausgingen, gab es zwischen uns ein Mißverständnis, und mehr als das: einen ständigen Grund, einander nicht völlig zu vertrauen. Du zürntest mir damals, weil ich Weib wurde, bevor Du Mann warst. Und später wieder hast du mich gehaßt, weil ich, zur Frau erwachsen, die Dinge nicht mehr so ansah und empfand wie ein Kind; denn ich war eine Frau wie eben fast alle Frauen. Ich war nicht wie Du nur reine Intelligenz, sondern ein Wesen, allen Eindrücken der Augen, der Ohren, des Gesichts und überhaupt aller Sinne zugänglich; es war mir nicht wie Dir gegeben, zu vergessen, daß ich Sinne habe. Nun wohl, das war nicht recht und ist nicht recht! Aber ich bin nicht schuld daran, daß ich keine Ausnahme unter den Frauen bin. Ein höchst natürliches Los, ähnlich dem meiner oder Deiner Mutter, hätte mein Los sein können, wenn ich mich früh genug mit einem Mann verheiratet hätte, der mir nicht mißfallen hätte. Du siehst, ich war nicht sehr anspruchsvoll! Hätte ich mich mit Dir verheiratet, oh, mein Glück wäre vollkommen gewesen, und ich versichere Dir, keinerlei Versuchung hätte mich von meiner Treue abgebracht. Ach, ich fühle, wie Dir das, was ich Dir sage, mißfällt! Aber ich muß es Dir sagen, denn Du kennst mich nicht, und wenn Du mich nicht kennst, kannst Du mir nur ganz nutzlose Ratschläge geben. Darum will ich, daß Du weißt, wie ich wirklich bin. Dann steht es bei Dir, ob Du mich verwerfen oder erretten willst.
Ich habe mich jetzt gezwungen, recht rasch den Namen von Onkel Hervé zu schreiben. Ich habe zuvor ein paar Minuten gezaudert und dann mit geschlossenen Augen den Namen geschrieben. (Du wirst mich recht töricht finden.) Nun will ich mich aber zusammennehmen und Dir gleich von ihm und mir sprechen; ohne das ginge ich endlos im Kreise um meinen Gegenstand herum und käme nicht weiter.
Mir war Onkel Hervé niemals gleichgültig. Schon als ganz kleines Kind, als ich nach Fräulein von Anglésis' Tod in Euer Haus kam, hat er auf mich am meisten Eindruck gemacht, mehr als Tante Angelika. Mehr als Du. Du hast Dich ja auch damals nicht viel um mich gekümmert. Tante war immer lieb und freundlich zu mir. Aber und nun beginne ich meine Beichte schon in dem Alter, mit acht Jahren, interessierten mich die Frauen weniger als die Männer. Mach' nicht Dein verächtliches Gesicht: die meisten kleinen Mädchen, sehr unschuldige und gesunde, sind so.
Ich liebte meinen Vater leidenschaftlich und Fräulein von Anglésis mit einer Kälte, die ich mir schon selber vorwarf. Ich litt unter der eisigen Berührung ihrer Hände und ihres Mundes; wenn sie mich auf den Schoß nahm, preßte ich die Zähne zusammen; ich konnte zu ihr nur sprechen, wenn sie mich nicht berührte.
Am Tage, als ich nach La Gatère kam, blickte mich Onkel Hervé für einen Moment mit großer Aufmerksamkeit an. Er nahm mich nicht in die Arme, gab mir keinen Kuß. Er sagte nur: »Die Kleine steht auf ein bißchen zu kurzen Pfoten. Muß sich in die Länge strecken, dann wird sie eine.« Und dann kümmerte er sich nicht mehr weiter um meine Person. Ich war Luft für ihn.
Ich habe ihm das schrecklich übel genommen, daß er so rücksichtslos und grob von mir gesprochen hatte. Des Nachts im Bette weinte ich vor Wut. Ich haßte ihn richtig und dachte: »O wie ich ihn hasse, wie ich ihn hasse, ich will nicht hier bei ihm bleiben!«
Ich verstand nicht, was er damit meinte: »... dann wird sie eine!« Aber das Beleidigende der »kurzen Pfoten« begriff ich. Seitdem hab' ich mich immer vorm Spiegel auf diese kurzen Pfoten hin kontrolliert. Ich behielt sie leider in der Tat bis zu meinem zwölften Jahr, da erst ging ich in die Länge. Aber Du hast nichts davon gemerkt!
Dich fand ich hübsch, aber ein bißchen mädchenhaft hübsch. Verblüfft war ich über Deine Eleganz. Ich schämte mich vor Dir über mein blaues Tuchkleid, das aus einem Mantel von Fräulein von Anglésis geschnitten und ziemlich abgetragen war, denn ich hielt die Sachen schlecht. Aber man widersteht nicht der Wirkung Deiner Persönlichkeit, dem Einfluß Deines Geistes, Nal; und Deinem frühreifen Selbstbewußtsein entzieht man sich nicht, selbst wenn man ein kleines dummes Landmädel ist, wie ich es damals war. Du brauchtest nicht lange, um mich zu beherrschen, obwohl Du körperlich lange Zeit weniger kräftig warst als ich. Und Du besaßest mich bald ganz, unendlich viel mehr als Tante Angelika. Was Deinen Vater betrifft, so hatte ich mir aus Trotz vorgenommen, ihn nie wieder zu beachten; ich hielt Wort, und gerade das zwang mich, an ihn zu denken.
Ja, Du hast mich ganz gefangen genommen; alles, was damals meinen Kindergeist erfüllte, kam von Dir. Trotz Deiner Klugheit hast Du weder meine naive Bewunderung für Dich noch meine Unterwürfigkeit gemerkt. Hättest Du mir gesagt: »Komm, wir verlassen miteinander das Haus« ich wäre Dir gefolgt, ohne jemandem Lebewohl zu sagen. Sehr rasch hatte ich meinen ersten Eindruck überwunden und verglich Dich nicht mehr mit einem Mädchen, trotz Deiner weichen Haut, deiner blonden Haare und zarten Glieder. Ich wußte, daß Du schwächer warst als ich, aber entschlossener: Du gabst nur nach, wenn es nicht mehr anders ging. Aber Deine Kraft wuchs von Monat zu Monat; und ich hatte bald Mühe, Dich im Lauf zu überholen oder Dich im Ringen unterzukriegen. Ah! wie das meine Freude vergrößerte! ... Erinnerst Du Dich an einen schönen sonnigen Morgen Ende Januar? Das Wetter war hell und fast lau. Unten in der Cayrouschlucht war es. Wir hatten gerungen wie sonst, und ich war zuerst überlegen; aber ich konnte Dich nicht mit beiden Schultern auf den Boden kriegen, immer wieder entschlüpfte mir eine Schulter. Und nach und nach merkte ich, daß ich's nicht würde schaffen können, daß Deine Arme stärker waren als die meinen. Ich rollte neben Dich auf den Boden, dann unter Dich. Ich war wütend. Aber doch durchdrang mich eine Art neuer Freude, gleich der, die mir der Glanz des Sommers, der Duft des Holunders oder ein Lied in den Feldern gibt, oder auch dem Wohlgefühl ähnlich, das ich hatte, wenn ich mir bei Frost in der Küche die Beine wärmte. Nur viel stärker war das Gefühl. Zugleich fühlte ich, wie ich immer weniger vermochte, Dir zu widerstehen, bis ich atemlos auf dem Rücken lag und Deine Hände mir beide Schultern auf den Boden drückten. Ich war wütend und ich versuchte Dich zu beißen, meine Zähne drangen in Deinen Daumen ...
Dann habe ich mich lange Zeit nicht bewegt. Mir war, als wäre ich zerflossen: in die Erde, in die Luft, in die Bäume, in den Himmel, in den Schatten, in die Sonne ... und war so glücklich. So wäre ich dort eine Stunde und länger liegen geblieben, wenn Du nicht plötzlich von mir gelassen und Dich ein paar Schritte weiter auf einen Felsblock gesetzt hättest. Da sprang ich auf und setzte mich neben Dich. Wir sprachen kein Wort von unserm Kampf. Ich hätte es für nichts in der Welt gewagt. Dir zu sagen: Es hat mir so wohl getan, von Dir besiegt zu werden.
Noch vieles andere traute ich mich nicht Dir zu sagen. Manches verheimlichte ich Dir wie einen Leibesschaden. Es gab wohl kein kleines Mädel, das weniger als ich von den Dingen wußte, die man den kleinen Mädchen zu verheimlichen pflegt. Ich bin sicher. Du warst von uns beiden der besser Unterrichtete. Ich habe einen etwas trägen Geist; Du sagtest es mir oft genug. Ich bin weder im Guten noch im Schlimmen neugierig. Als Kind lebte ich, mehr noch als jetzt wo ich eine Frau bin, mir selbst, auf eine vielleicht nicht sehr kluge, aber auch nicht untätige Art. Es genügte mir, mich in mein eigenes Sein hineinzudenken.
Stell' Dir eine Pflanze vor, die ihr eigenes Wachsen fühlt, und der dieses Gefühl sowohl dauerndes Unbehagen schafft wie auch zeitweiliges Vergnügen, oh, oft ein großes Vergnügen ... ja, so etwa war es. Und siehst Du, von diesem eigentümlichen, tätigen und doch gleichsam betäubten Zustand Dir zu erzählen, hätte ich nie die Kühnheit aufgebracht. Denn meine körperliche Frühreife reizte Dich. Gewiß, Du hast mir keine Vorwürfe gemacht, dazu dachtest Du zu rechtlich. Du tatest, was Du konntest. Aber eines Tages wandtest Du Dich brüsk von mir ab, als die Bruno, unsere Wäscherin, die uns begegnete, mir zurief: »He, Fräulein Sidonie, unsere Luft bekommt Ihnen. Bald werden Sie eine Brust haben wie ich! Und was für Waden! ...« Du gingst von mir weg, als ob ich etwas Schlechtes angestellt hätte. Siehst Du, Nal, mit dieser Art hast Du mir viel Unrecht getan. Wenn Du mich unter Deinen Schutz genommen mich mit Nachsicht befragt hättest, und besonders wenn ich gemerkt hätte, daß Du in meiner Gesellschaft ein bißchen körperliches Vergnügen gefunden, ein Vergnügen, mich zu küssen, in die Arme zu drücken, auf die unschuldigste Weise natürlich dann hätte ich Dir immer alles erzählt, und es wäre mir eine große Erleichterung gewesen. Statt dessen fühlte ich, daß ich Dir nur für zwei Sachen gut war: mit Dir zu spielen, als ob ich ein Junge wäre (innerlich grolltest Du mir, daß ich ein Mädchen war), und mit Dir zu schwätzen, das heißt, vor allem Dir zuzuhören und Dich zuweilen zu ärgern, weil Du mich beschränkt fandest. Aber, was willst Du? Zum guten Teile hatte ich, und nicht ohne Leid und Unruhe, ein Dir verborgenes Leben führen müssen; Gedanken kamen und besaßen mich, die ich ganz allein durcharbeiten mußte. Einer vor allen. Und zum erstenmal in meinem Leben, nach fünfzehn Jahren Schweigens, will ich Dir ihn enthüllen.
Du warst nicht der einzige, der meine Wandlung und Entwicklung merkte. Onkel Hervé ging nicht mehr an mir vorüber, ohne mich zu beschauen, wie damals als ich ins Haus kam. Als er das erstemal so seinen Blick auf mich heftete (es war im Hof vor den Kellern, und man zog die Weinpressen heraus, um sie mit Wasser zu füllen, damit das Holz schwelle), war ich so verwirrt, daß ich davonrannte in den Stall, der ganz leer war, und da blieb ich auf einer Haferkiste sitzen. Mein Herz klopfte stürmisch. Ich war wütend auf Deinen Vater. Es nützte nichts, daß ich mir sagte: er darf dich doch anschauen! Die Erinnerung an den Blick erniedrigte mich, verletzte mich. Es war nur ein ganz kurzer Blick, aber so voller Erwartung, so einschneidend (kann man wohl so sagen?), voller Neugierde und Ironie, nicht nur aufs Gesicht gerichtet, sondern auf die Figur von oben bis unten; es war wie eine heiße Welle, die einen vom Kopf bis zu den Füßen in weniger als einer Sekunde durchläuft. Ich war gedemütigt, und die Tränen stiegen mir in die Augen.
Ich haßte ihn wie am Tage meiner Ankunft, als er die Bemerkung von meinen »kurzen Pfoten« gemacht hatte. Endlich trocknete ich meine Augen. Nach einer ganzen Weile trat ich aus meinem Versteck und suchte Dich, fand Dich. Oh, hätte ich es doch gewagt, mich Dir anzuvertrauen. Ich machte mich ganz klein neben Dir, um nicht hart angelassen zu werden, wie Du's oft tatest, wenn ich mich zu nahe an Dich drängte.
Ich will Dir alles bekennen, Nal. Hör' mir zu und versuche es, gerecht zu sein. Du warst es nicht immer mir gegenüber. Mein Zorn auf Onkel Hervé hörte nicht sofort auf. Aber am selben Abend, als ich in meinem Bett lag und das Licht ausgelöscht war, da mischte sich in diesen Zorn eine wunderliche Befriedigung. Mir wurde mit einem Schlag klar, daß diese Art mich anzuschauen die Genugtuung war für jenen andern Blick, damals bei meiner Ankunft, das mit den »kurzen Pfoten ...« Ganz leise stieg ich aus dem Bett und zündete zwei Kerzen an. Ich stellte mich vor den großen Spiegelschrank. Ganz keusch, ich versichere es Dir, zog ich mein langes Nachthemd hoch bis über die Knie. »Ja,« dachte ich, »ich gehe in die Länge«, wie er sagte. Wieder im Bett, dachte ich weiter an meine Beine: sie mißfielen mir nicht. Aber gleich fiel mir ein, daß sie anscheinend Dir nicht gefielen; nie hattest Du mich angeblickt wie Dein Vater an diesem Morgen. Wenn Du mich schon einmal eines Blickes würdigtest, dann war Unzufriedenheit darin. Da packte mich ein großer Kummer und über ihm zerging mir die ganze Freude daran, daß ich in die Länge ging. Ich schluchzte: »Er liebt mich nicht, er wird mich nie lieben. Er findet mich häßlich. Und es ist nicht wahr, ich bin nicht häßlich!«
An der Verwirrung, die sich meiner damals zwischen meinem zwölften und dreizehnten Jahr bemächtigte, trugt ihr beide Schuld, Hervé und Du. Du durch Deinen Widerwillen und Groll gegen die Tatsache, daß ich ein Mädchen war (als ob ich etwas dazu hätte tun können), Hervé, indem er mir zu sehr ins Bewußtsein brachte, daß ich eins war. O, ich hatte auch Schuld: der Blick, der mich erniedrigt und verletzt hatte, bald empfand ich Sehnsucht nach ihm, suchte ihn! Ich strich um die Wege des Onkels, entschlossen, seine Augen auf mich zu lenken. Wenn er sich mir dann näherte, verbarg ich mich oder floh. Aber wenn er mich einmal unvorhergesehen traf und meine Augen durch seinen Blick gefesselt wurden, konnte ich nicht davonlaufen; dann war ich wie mit Nägeln an den Boden geheftet. Das muß ihm wohl Vergnügen gemacht haben, denn diese Überraschungen wiederholten sich häufig. Mit meinem Kleinmädelverstand begriff ich, daß ich ihn interessiere. Aber versteh mich recht: für mich war keine Rede davon, daß ich verliebt in ihn gewesen wäre, wie viele meiner kleinen Freundinnen, die von Männern über fünfzig begeistert waren, weil die sie schön fanden. Auch bildete ich mir gar nicht ein, daß Dein Vater mich liebe. Aber ich habe die Dienstleute im Haus davon untereinander reden hören und kannte den Ruf Deines Vaters als Frauenliebhaber. Ich sagte mir ganz naiv: »Er kennt sich darin aus, und ich gefalle ihm.« Weißt Du, mit wem ich einmal von der Freude sprach, eine Frau zu werden, die gefallen würde? Mit Dir, Arnal!
Alle meine kleinen Freuden der Koketterie bestanden in dem Verlangen, von Dir bemerkt, von Dir geschätzt zu werden. Unglücklicherweise zerbrach mein Eifer an der Kälte, die Du meinem Zärtlichkeitsbedürfnis und jeder Liebkosung entgegensetztest.
Auf die Gefahr hin, Dich zu verletzen, muß ich Dir gestehen, daß ich von meinem zwölften Jahr ab, ja ich glaube schon früher, in mir nicht das Verlangen, wohl aber die Unruhe der Sinne lebendig werden spürte. Kann ich dafür? Hab' ich mein Blut, meine Nerven, meine Haut gemacht? Gegen das, was ich an Perversitäten bei meinen kleinen Altersgenossinnen sah, hatte ich einen instinktiven Widerwillen; ich wollte davon nichts kennen, nichts sehen und hören, ich hielt mir die Ohren zu und schloß die Augen. Aber wenn ich allein war in der Einsamkeit und dem Schweigen, das mich umgab, erlitt ich, ohne äußere Ursache, Zustände von Aufgeregtheit und Niedergedrücktsein, die aus der Tiefe meines Wesens kamen ... Ach, daß Du mich doch richtig verstehen könntest! Wirst Du dies alles auch lesen? Überschlag keine Zeilen, die Dir nicht gefallen, Nal, lies sie und stell' Dich nicht feindlich zu mir ein. Erinnere Dich an Dein letztes Jahr auf La Gatère vor Deutschland. Du warst nahezu fünfzehn, ich vierzehn alt. Du warst gut, diensteifrig, ritterlich zu mir, aber ohne Zärtlichkeit; ich liebte Dich, wie Du warst; ich war Deine Sache. Wärst Du unzüchtig gewesen, ich wäre es mit Dir gewesen. Da Du genau das Gegenteil warst, unterdrückte ich, solange Deine Gegenwart mich schützte, jede verdächtige Regung in mir ... Aber der Abend kam; kurz nach dem Abendessen trennten wir uns. Nachdem wir sanfte Küsse mit Deiner Mutter getauscht, begab sich jeder auf sein Zimmer. Ich betete, zog mich aus, legte mich nieder. Gern hätte ich meine Lampe brennen lassen, um den Tag so lang als möglich fortzusetzen, aber mein Fenster wurde wie das Deine beobachtet, und am andern Morgen hätte man Rechenschaft von mir gefordert. Also löschte ich das Licht. War's eine mondhelle Nacht, so daß man noch die Form aller Gegenstände im Zimmer unterschied, schlief ich sofort ein. Aber viele Nächte waren ganz dunkel und meine Augen sahen nichts, weder mein Bett, noch meine Hände, noch die Form meines Körpers unter der Decke ... Diese Dunkelheit ängstigte mich. Es war nicht Angst vor Dieben oder Gespenstern, es war die Angst wie soll ich sagen? , mir selber ohne Verteidigung ausgeliefert zu sein. Wenn ich da nicht gleich einschlief, war es schrecklich. Ich kämpfte eine Zeitlang im Dunkeln gegen jedes Denken; sagte Gebete auf, Gedichte. Und mitten in einem Gebet, einem Gedicht wurde ich auf einmal in eine ganz andere Welt verpflanzt; alle meine Glieder lebten ein unabhängiges, eigenes Leben; meine Füße krümmten sich unter der Decke, meine Hände suchten, ich weiß nicht was, in der Dunkelheit, meine Haut war wie elektrisiert. Es war mir, als ob irgendein Unsichtbarer mir das Haar löste, und oft fand ich es aufgelöst mir auf der Schulter liegen, und das gab ein köstliches Gefühl. Mein Busen dehnte sich und tat mir weh. Meine Zunge wurde trocken; ich zerbiß mir die Lippen. Mein Herz jagte in der Brust, als ob ich mit aller Kraft gelaufen wäre, und manchmal setzte es aus: ich hatte kein Herz mehr. Etwas, das sich in meinem Innersten vollzog, hielt mich und spannte mich in Erwartung, ich wußte nicht: von Schmerz oder Glück; das eine wie das andere war mir in gleicher Weise unheimlich. Um dem zu entgehen, dachte ich an Dich, Nal, bildete mir ein, Du lägest neben mir, nicht so abweisend oder unbeweglich wie immer dann, wenn ich Dir einen Kuß geben wollte, sondern zärtlich, liebevoll, wie ich es mir wünschte. Das schaffte mir ein so unaussprechliches Wohlgefühl, daß mir gleich Gewissensbisse kamen: »Wenn er's wüßte, er würde mir zürnen!« Dann stand ich auf und steckte Kopf und Hände ins kalte Wasser, setzte mich im Hemd auf meinen Lehnstuhl und versuchte, an nichts zu denken ... In solchen Momenten kam es vor, daß ein anderes Bild an die Stelle des Deinen glitt, als ob es den Augenblick benutzen wollte, in dem ich das Deine verjagt hatte. Ich dachte an Onkel Hervé, an die Art, wie er mich mit einem Blick wahrhaft überströmte, von oben bis unten, wenn er mich traf, und an eine gewisse Weichheit seiner Stimme, wenn er mit mir sprach. Und seltsamerweise beruhigte mich dieser Gedanke eher, als daß er mich erregte, so unfähig war ich damals, mir eine Liebe zwischen mir und Hervé vorzustellen. Meine Zufriedenheit war eine kindliche Koketterie, die nach und nach das Unbehagen von mir nahm. Weniger aufgeregt legte ich mich wieder zu Bett. Ich dachte darüber nach, mir das Haar kleidsamer zu stecken, wie die oder jene meiner Freundinnen; ich dachte an ein neues Kleid, einen neuen Hut, an elegante Strümpfe. Onkel Hervé bemerkte alle Veränderungen meiner Toilette, die Du nicht sehen wolltest. Er sagte mir: »Die Farbe steht dir gut,« oder: »die Locke fällt dir zu weit in die Stirn ...« Und wenn ich mitten drin war in diesen koketten Träumereien, schlief ich ohne Übergang ein.
Verstehst Du nun, lieber Arnal, weshalb ich Dir einen Teil der Verantwortung für die Entgleisung meines Lebens auferlege? Das Schicksal schien Dich mir zum Ratgeber und natürlichen Vertrauten bestimmt zu haben; ich verlangte nichts sonst, als mich Dir in allem zu fügen und Dir zu gehorchen. Du hattest, wenn auch um so wenig älter als ich, alle Klugheit, alle Kenntnis, alle nötige Autorität, mich anzuhören und zu leiten: nie wieder habe ich einen Jungen Deines Alters gesehen, wie Du einer warst. Du hast mich geformt und geführt in vielen Dingen: Ordnung, gute Haltung, Abscheu vor der Lüge, Gefälligkeit, Kampf gegen meine geistige Trägheit, fast in allen Dingen, außer in dem Wichtigsten: in meinem Übergang vom Kind zum jungen Mädchen. Sag' nicht, das sei nicht Deine Aufgabe gewesen. Wessen Aufgabe denn? Der alten Alicia vielleicht, die mir Petersilie auf die Brüste legte, um sie am Runden zu hindern? Und mir beibrachte, das Hemd so zu wechseln, daß ich das alte zwischen den Zähnen festhielt, während ich das frische überzog? Oder Tante Angelika, die, verängstigter als ich, hundertmal verwirrte Erklärungen anfing, deren Gegenstand war, mich über das aufzuklären, was in mir vorging, und plötzlich zu reden aufhörte und mich viel bestürzter und viel verwirrter damit machte, als wenn sie gar nicht geredet hätte?
Nein, der einzig mögliche Vertraute bist Du gewesen. Neben Dir sitzend, den Kopf an Deiner Schulter verborgen, ohne Dich anzusehen, hätte ich alles sagen können. Meine Nervosität, meine Gespenster, meine Nöte, meine Hoffnungen und meine Verzweiflungen, alles, alles das würde ich in Dich hineingegossen und Dir gesagt haben: »Erkläre mir. Sag's mir, wenn ich ein häßliches Mädel bin, ein kleines Ungeheuer, oder ob ich verantwortlicher bin für das, was mein Alter mir zu tun auferlegt, als dafür, daß ich im Sommer Schweiß auf den Gliedern oder im Winter erfrorene Finger habe.«
In meinen schlaflosen Nächten stellte ich mir dieses Beichten oft so lebhaft vor, daß es mir fast wie wirklich und geschehen vorkam. Und ich fragte mich: »Was wird er mir tun, wenn ich fertig bin?« Und im Innersten hoffte ich, Du würdest mich zu Boden werfen, platt auf den Bauch, und mich mit den Fäusten prügeln und mit den Füßen treten.
Aber nur einer nahm sich die Mühe, über mich nachzudenken und mich während dieser Krise zu beobachten: mein Onkel Hervé.
Ich habe sie übrigens ganz allein bemerkt: jene heißen Blicke im Vorübergehen; einige Worte, im Grunde genommen ganz natürliche Worte für einen Onkel, wenn er ein kleines Mädchen, das sein Mündel ist, trifft Worte, die an und für sich gar nichts Besonderes sind. Aber hast Du einmal aufmerksam auf die Stimme Deines Vaters gehört, wenn er zu einer Frau spricht? Ich, doch eigentlich ein sehr einfaches Kind, war manchmal ganz benommen von Hervés Stimme, die mir noch in den Ohren tönte, wenn er selbst schon lange wieder fort war. Versteh mich recht: ich war nicht verwirrt davon im Sinne einer Überreiztheit, sondern angenehm erschlafft und ein bißchen dankbar.
Du hast davon nichts bemerkt und konntest nichts davon bemerken, weil das nur zufällig und ganz verstohlen geschah. Aber sicher ist es Dir aufgefallen, daß von einem gewissen Zeitpunkt ab Dein Vater sich uns näherte. Er schien sich für unser Leben zu interessieren, für Deines sowohl als für meines. Er nahm Teil an unsern Spielen und an unserm Unterricht.
Das war für mich eine sehr gute Zeit.
Nicht nur weil ich mich besser unterhielt, sondern weil ich nach und nach in diesem Zusammensein zu dritt die innere Ruhe wiederfand. Der mit uns so familiäre und herzliche Hervé beunruhigte mich nicht mehr; ich hatte nicht mehr das unbehagliche Gefühl und Gewissensbisse darüber, daß ich Dir etwas verbarg, zum Beispiel diese Blicke, die mir die Ruhe nahmen. Alles, was ich an Beziehungen zu meinem Onkel hatte, vollzog sich vor Dir; und fand ich mich zufällig einmal allein mit ihm, dann betrug er sich zu mir nicht anders als in Deiner Gegenwart. Unbekümmert um den tieferen Grund empfand ich großes Vergnügen dabei, Dich vor Hervé zu küssen. Dir zu sagen, daß ich, groß geworden, Deine Frau sein würde, Hand in Hand mit Dir zu spazieren! Zuweilen ergriff Hervé meine andere Hand, aber es war die Deine, bei deren Berührung mir war, als trete mein Empfinden aus mir heraus und in Dich hinein. Das war eine glückliche Zeit! Welcher Frohsinn am Tage! Und wie gut ich des Nachts schlief! Ich hätte naiv oder ganz dumm sein müssen, um nicht zu merken, wie nach und nach Hervé Einfluß auf mich gewann, auf mein Vertrauen, meine Gelehrigkeit und, ja, auch auf meine Neigung. Aber alles das war zu Dir hin gerichtet. Dich liebte ich immer tiefer, so kam's mir vor, und auf die Weise, die Du von mir wünschtest. Aber diese freudvolle innere Ruhe war zu beglückend, als daß sie hätte dauern können. An einem gewissen, schon ziemlich trüben, aber noch heißen Septembernachmittag saßen wir unter der alten Holzbrücke über dem Cayrou Seite an Seite. Ein kleiner Regenguß hatte uns dahin gejagt; nun war er vorüber, aber wir blieben sitzen und plauderten. Da nahmst Du plötzlich meine beiden Hände und schautest mir in die Augen ... Gott, wie liebte ich Deine Augen und Dein ganzes hübsches Gesicht! Ich hatte Lust, mich vor Dir auf die Knie zu werfen und Dir zu sagen: »Wie bin ich dir dankbar, daß du mich ansiehst! Immer sollst du mich so ansehen!« Und Du sagtest, Deinen Blick in dem meinen:
»Sidonie, ich glaube nicht, daß wir dieses Jahr gemeinsam beschließen werden.«
Als ich da ganz blaß wurde, zogst Du mich an Dich und sagtest ganz leise: »Papa schickt mich auf eine Schule außerhalb Frankreichs, nach Deutschland oder England, um die Sprache zu lernen. Mama macht es viel Kummer.«
Was lag mir am Kummer von Tante Angelika! Nur mein Kummer hatte für mich Bedeutung. Dich fand ich nicht traurig, nicht empört genug; ich machte mich von Dir los und sagte etwas gekränkt: »Und du? Ist es dir gleichgültig?«
»Nein,« sagtest Du. »Ich weiß, es ist so der Brauch in La Gatère für den ältesten Sohn. Aber es macht mir deinetwegen Kummer.«
Dieses Wort: deinetwegen! Noch heute, wenn ich daran denke, gleitet mir sein Klang wohlig ins Ohr. Wie wohl mir das Wort tat! Ich deutete den Sinn des Wortes damals so: »Er empfindet wirklich Kummer, weil er mich verlassen muß, und er sagt es mir! Also ist er glücklich, wenn er mit mir zusammen ist ... Also liebt er mich und nur mich! Welch ein Glück!« Dank diesem Balsam tat die Ankündigung Deiner Abreise weniger weh.
Heute (und oft seit langer Zeit) habe ich über dieses »Deinetwegen« nachgedacht und die Überzeugung gewonnen, daß ich es falsch verstanden habe. Du wolltest sagen: »Ich mag dich gern, aber ich würde dich ohne sonderlichen Schmerz verlassen, weil es eben sein muß, wenn ich nicht Angst um dich hätte für die Zeit meiner Abwesenheit.« Nicht wahr, das wolltest Du sagen?
Jetzt beginnt meine Beichte peinlich zu werden. Lies sie mit etwas Erbarmen.
Als man Dich mir entriß, hatte ich mein vierzehntes Jahr noch nicht vollendet und meine einzige sittliche Regel war: Versuche, möglichst so zu sein, wie Nal dich haben will. Die frommen Reden von Tante Angelika, die Bibelerklärungen von Pastor Obliau gingen an meinen Ohren ebenso vorbei wie Alicias abergläubischer Unsinn und Prüderie. Wirkliche moralische Grundsätze besaß ich gar keine. Es gab sicher niemals ein weniger moralisches Mädchen ohne den geringsten Schatten von Verderbtheit.
Als Du weg warst, verfiel ich zunächst in eine Art Dumpfheit. Bei aller Mühe, die ich mir gab, verstand ich nichts vom Unterricht und konnte auf die einfachsten Fragen keine Antwort geben.
Eines Abends hörte ich Ricquier zu Tante sagen: »Die Kleine wird von Tag zu Tag dümmer.« Kein Buch, kein Spiel machte mir mehr Spaß. Nur mit Dir hatte ich lesen und spielen gelernt. Meine Nächte wurden wieder unruhig. Fiel ich nicht gleich in schweren Schlaf, begann wieder dieses unheimliche Gären in mir, von dem ich mich befreit geglaubt, und ich hatte keinen Grund mehr, mich darin unglücklich zu fühlen, denn Du warst ja nicht mehr da! Ich wandte mein Denken nicht von Dir, ich wollte an Dich denken, sprach zu Dir, rief Dich. Aber ich empfand, daß Du mir keine Antwort gabst. Es kam mir vor, als ob Du Dich immer mehr von mir entferntest ... Wie nach dem Tode von Fräulein von Anglésis löschte die Zeit alle Eindrücke in meinem Gedächtnis aus. Ach, bin ich ein armseliges Wesen. Und ich zeige es Dir ganz offen. Eine Zeitlang erregten mich für einen Moment Deine Briefe heftig; die Erinnerungen wurden wieder lebendig; ich war bei Dir, aber nicht durch das, was in Deinen Briefen stand, sondern durch so Materielles wie das Papier, das Deine Hand berührt hatte, die Zeilen, die Dein Federhalter geschrieben ... Ich stellte mir vor, wie Du ihn über den Bogen führtest. Ich bin nicht einmal ganz sicher, ob ich Deine Briefe ganz verstanden habe. Dann enthielten sie auch nie das, was ich erwartete, ersehnte. Ich wollte in zehn Zeilen lesen, daß Du unglücklich ohne mich seiest, daß Du Eile hättest, zu mir zurückzukommen, mich zu fassen, zu umarmen. Davon stand nie ein Wort in Deinen Briefen. Aber dafür eine Menge Einzelheiten über Deine Schule, Deine Kameraden, und wie die Straßen in Deutschland angelegt und die Häuser gebaut sind. Wie konntest Du denken, daß mich das interessiere! Ich hatte einen Abscheu vor Deutschland, Deinen Lehrern, Deinen Kameraden, weil mir undeutlich vorkam, das alles gefalle Dir, und daß ich Dir nicht fehle. Ich hatte einigen Groll auf Dich und Wut, so glaubte ich, auf Deinen Vater, weil er uns getrennt hatte.
Ich zeigte ihm das auf recht kindische Weise, so mit Schmollen und Gesichtverziehen. Er stellte sich, als merke er es nicht. Er tat weder väterlich noch sonst zärtlich zu mir; aber er blieb freundlich und geduldig, nannte mich nie dumm und warf mir meine Dummheiten nie vor. Er las meine Arbeiten und korrigierte sie ein bißchen, wie Du es früher getan hattest; es war, als ob er es mir ersparen wollte, gescholten und gedemütigt zu werden. Und ich war ein so schwaches, wankelmütiges Ding, daß mir bald sogar die Kraft, ihm feindlich gesinnt zu sein, schwand. Da Du weg warst, war es der Onkel Hervé, den ich mir am nächsten fühlte; nach und nach nistete er sich wieder in meine Gewohnheiten und Gedanken ein. Ich glaubte, noch mächtigen Groll gegen ihn zu haben, als dieser Groll nur mehr darin bestand, daß ich ihn anschaute, an ihn dachte und mir, ohne dabei recht an was zu denken, sagte: Das war recht schlecht, mir Arnal wegzunehmen.
Alicia, meine einzige wirkliche Gefährtin, trug dazu bei, mich zu Hervé hinzustoßen. Unter dem Vorwand, ich sei nun ein junges Mädchen (in der Tat war ich's dem Körper, aber so wenig dem Geiste nach!), fing die ewig schwatzende Alicia an, mir die Liebesgeschichten der Gegend zu erzählen, ein bißchen die, die jetzt im Gange waren, meist aber die aus der Zeit ihrer eigenen Jugend. Sie erinnerte sich wunderbar der Zeiten, wo ihr jetziger Herr noch Junggeselle war; und obgleich sie sechzehn Jahre älter war als er, wußte sie genau Bescheid über die Abenteuer, die man ihm damals nachsagte ...
»Alle Mädels der Gegend und alle Weiber waren ganz närrisch auf ihn, sowohl die von den Pachthöfen wie die von den Schlössern. Ah, der pfiff auf die Tugend! Er war aber auch ein schöner Mann! ... Ich hab' wahrhaftig nie einen schöneren gesehn! Der war dir gebaut, man glaubte, man sehe seinen Körper durch die Kleider hindurch! Darum hab' ich selbst mich auch nie getraut, ihn anzuschaun. Die Haare fielen ihm so natürlich gewellt in die Stirn, wie es sich jetzt die Frauen vom Friseur machen lassen. Und was für einen Mund er hatte! Und die Augen, das reine Feuer, sag' ich dir. Wenn er einen anschaute, glaubte man sich von einem Sonnenstrahl getroffen. Zu was für Sünden der mit seinen Augen verführte!«
Hatte sie so geredet, bekam sie es mit der Angst, ich könnte den Onkel nicht genug respektieren. Und so fügte sie gleich hinzu:
»Aber ich muß schon sagen, er wurde ein ganz Braver, nachdem er sich mit der Frau Gräfin verheiratet hat. Aber er ist noch immer ein schöner Mann. Und nicht wenige schlagen das Rad, wenn sie ihm begegnen.«
Immer wieder und in allen Variationen erzählte sie mir diese Geschichten, mit genauen Namen und Daten, und machte mich so nach und nach vertraut mit Hervés Liebeslegende. So unwissend ich war, umgaben diese Geschichten mein Denken und meine Sinne mit einer recht aufregenden Atmosphäre. Aber sie führten meine Gedanken immer zu Dir hin, Arnal. Es konnte geschehen, daß ich Alicia widersprach:
»Mein Onkel war trotzdem nicht schöner als Arnal. Ich finde, Arnal ist schöner als alle.«
Darauf die Alte: »Herr Arnal wird sicher ein recht hübscher Herr werden wie sein Vater ... aber mit weniger Großartigkeit, weißt du ... Sieht Gesicht und Gang des Herrn Grafen, wenn er wo eintritt, nicht aus, als ob er sagen wollte: ›Das alles gehört mir, ihr Weiber so gut wie alles andere‹; Und man macht sich mit Vergnügen ganz klein, damit er nur zufrieden ist. Herr Arnal dagegen ... der ist so zurückhaltend, so verschlossen. O gewiß, ein reizender Junge, und sehr lieb, und alle haben ihn gern ... Aber wie ist er ernst für sein Alter, mein Gott! Und dann, weißt du, ich glaub' nicht, daß er sich einmal viel aus Frauen macht. Schade, daß er nicht eine andere Religion hat. Er hätte einen guten Pfarrer abgegeben!«
Du kannst Dir nicht vorstellen, Nal, wie dieser Blödsinn mir durch den Kopf ging. Ich war ärgerlich auf Alicia, daß sie ihn erzählte und erdachte, am meisten aber, daß sie Dich mit hineinzog. Aber wenn ich mich unserer gemeinsamen Erziehung erinnere, finde ich trotz meiner Parteilichkeit eine Bestätigung in Alicias Worten: »Der wird sich nie viel aus Frauen machen.« Du behandeltest mich, als ob ich ein Junge wäre, nur mit dem Unterschied, daß es Dir zuweilen mißfiel, daß ich kein Junge war. Ich sagte einmal zu Alicia:
»Vielleicht wird Arnal, wenn er groß ist, mit den Frauen umgehen wie sein Vater.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Der? Niemals ... Bei Männern, die für die Frauen sind, fängt das schon zu einer Zeit an, wo sie noch gar keine Männer sind. Ich spreche zwar von etwas, das ich nicht weiß, denn ich war damals noch nicht auf dem Schloß in Dienst. Aber ich möchte die Hand da ins Feuer legen (und sie streckte ihre verrunzelte alte Hand aus), daß im Alter von Herrn Arnal sein Vater schon gewußt hat ...«
Sie beendigte den Satz nicht, und ich verlangte keine Erklärung. Aber ich brütete lange über dem, was sie gesagt hatte. Besonders hatte mir Eindruck gemacht: »Es gibt Jungen in Arnals Alter, die sich für Frauen interessieren. Für mich interessiert sich Arnal nicht ...« War ich unfähig, die Jungen zu interessieren, oder warst Du unfähig, Dich für Mädchen zu interessieren?
Ich begann, den Eindruck zu beobachten, den ich auf Jungen machte, wenn ich an ihnen vorbeiging, auf dem Lande, in den Straßen der Stadt, Sonntags in den Gottesdiensten, und auch bei den sehr seltenen Kränzchen, bei denen Mädchen und Jungen zusammenkamen. Ich bemerkte ein verschämt oder ungeschliffen geäußertes Interesse, eine gewisse Bewunderung, ein Bedürfnis, mir zu gefallen. Inzwischen schoß ich sehr rasch auf, und man gab mir sechzehn Jahre, wo ich noch nicht fünfzehn war. Ich hörte in meiner Nähe sagen (denn jetzt paßte ich auf): »Hübsche Kleine ...« oder »Sie ist famos gewachsen ... Ich war zufrieden. Aus diesen Huldigungen machte ich Huldigungen für Dich. Ich bildete mir ein, Du müßtest bei Deiner Rückkunft in die Ferien auch sehen, was die andern sahen, was alle Welt sah. Ich bekam wieder Vertrauen zu mir; und mein Onkel verstärkte es, indem er mich von Zeit zu Zeit auf die väterlichste Weise merken ließ, daß ich nicht häßlich war.
Ich glaube, eine Frau ist nur dann im Gleichgewicht mit sich selber, wenn sie weiß, daß sie gefällt. Da ich in dieser Hinsicht Sicherheit erlangt hatte, verschwand meine Dumpfheit, und auch meine Denkweise wurde lebendiger. Ich lebte auf. Meine Verstimmung gegen Deinen Vater war vergessen. Er hatte mich von dem guten Ricquier befreit und unterrichtete mich selbst mit nie nachlassender Geduld. Nach dem Unterricht nahm er mich fast jeden Tag mit sich auf die Meierhöfe, in dem kleinen grauen Auto, und vertraute mir zuweilen das Steuer an. Dabei unterrichtete er mich in der Landwirtschaft, und ich war begeistert davon. So vergingen rasch meine Tage. Meine Nächte waren nicht mehr unruhig. Ich war zufrieden, daß ich gegen Deinen Vater nichts mehr hatte. Ich kann nicht Menschen hassen.
Um die Wahrheit zu sagen: warum hätte ich ihn auch hassen sollen? Ich dachte nicht daran, ihn zu lieben, aber ich sagte mir: »Niemand außer der alten Alicia und ihm kümmert sich um mich.« Und er tat es immer mehr. Ach, er verstand es so gut, mein Vertrauen zu gewinnen!
Bald war nur er es, den ich in das Wirrsal meines Jammers schauen ließ! Er besaß eine unglaubliche Geschicklichkeit, mir, ohne mich aufzuscheuchen, das zu sagen, was mir die Frauen im Hause nicht sagen wollten oder konnten, und er schuf damit für uns ich möchte sagen einen Winkel der Vertraulichkeit, in den niemand sonst herein durfte. Hervé ersetzte die Mutter und den Arzt. Folgte er damit seinem Naturell, seinem Mitleid mit mir, oder führte er einen überlegten Plan aus? Viel später hab' ich mich das gefragt. War es wirklich Geschicklichkeit und List, dann war er bei Gott sehr zäh und klug. Aber nein. Er folgte nur ganz instinktiv seiner Natur und die ist, die Frau in den Zustand einer freiwilligen Unterwerfung unter seine Herrschaft zu bringen. Darin ist er unfehlbar und unwiderstehlich.
Hervé wurde mein Gefährte. Die Leute auf den Meierhöfen sagten, in allen Ehren natürlich, oft scherzend: »Der Herr Graf hat eine neue kleine Wirtschafterin gefunden. Sie ist ja ein bißchen jung, dafür wird aber auch der Herr Graf nie alt.« Kurz: wir trennten uns kaum mehr. Die Geschichts- und Rechenbücher, die Wörterbücher und Multiplikationstafeln wurden beiseite geworfen. Unter dem Vorwand, ich brauche Ruhe und Leben in der frischen Luft (was übrigens nicht falsch war), überwachte ich zusammen mit dem Herrn die landwirtschaftlichen Arbeiten. Ich hatte fürs Lernen aus den Büchern immer einen so schlechten Kopf, aber auf dem praktischen Wege lernte ich vorzüglich, sogar das Kopfrechnen. Orthographie und Syntax spielten in diesen Sachen keine Rolle; doch da ich eine schöne Handschrift habe, konnte ich dem Onkel als Sekretärin nützlich sein. Das Auto zu lenken hatte ich schnell gelernt, und bald war ich ein ebenso guter Chauffeur wie Hervé, vielleicht sogar weniger nervös. Endlich lebte ich dank ihm ein Leben, wie ich es liebte: keine Schulstunden mehr, frische Luft, weite Ausflüge, die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Landwirtschaft, das Säen, der Kampf um die Ernte gegen die Unbilden der Witterung, die Ernte selbst, die das Gefühl des Überflusses spendet! Und mit welcher Sorge, mit welcher Zuvorkommenheit umgab mich mein Führer in diesem neuen Leben! Eine taktvolle Bewunderung, die nie nachließ, offenbarte mich mir selber, gab mir das Verlangen und die Hoffnung zu gefallen, und er hatte Aufmerksamkeiten für mich, die mich jedesmal überraschten und entzückten. Ich fand es köstlich, in meinem Alter ernst genommen zu werden und Gegenstand der Sorge einer erwachsenen Person zu sein. Und daß diese Person sich mit einem nicht langweilt, einen vielmehr jeder andern Gesellschaft vorzieht! Später traf ich manchmal solche Paare in den Familien der Nachbarschaft: den Vater und seine große Lieblingstochter. Es bestand für mich keinerlei Unterschied zwischen den Gefühlen einer solchen großen Tochter und denen, die ich für Hervé empfand: eine zärtliche Freundschaft, der gewiß nicht das fehlt, was Mütter und Söhne, Väter und Töchter einander nahebringt, aber doch in nichts von elterlichem oder kindlichem Gefühl abbiegt. Ich habe immer gesehen, wie dieses Verhältnis zwischen Vater und Tochter ganz plötzlich aufhörte, wenn sich die Tochter in einen jungen Mann verliebte. Wärest Du damals zurückgekommen, nicht zurückhaltend und gleichgültig, sondern zärtlich und mit dem Verlangen, mich an Dich zu nehmen, ich hätte Hervé ohne weiteres, ohne Gewissensbisse, verlassen, genau wie alle andern verliebten Mädchen es mit ihrem Vater tun, und ohne im geringsten daran zu denken, daß ich ihm damit weh tun könnte. Und ich hätte ihm damit weh getan! Aber Du warst nicht da!
Er setzte seine Bemühungen, mir näherzukommen, fort. Denn er hatte sein Ziel: Das Geschehene hat es bewiesen, und er selber hat es mir seitdem zugegeben. Dieser einzigartige Mann, er ist wirklich ein Mann, in dessen Seele nichts Niedriges Raum hat, und dessen Herz heiß ist zeigte darin eine Geduld und eine Ausdauer, die ich nicht nein, das gewiß nicht auf die Rechnung bloßer Lasterhaftigkeit setzen kann. Hervé liebte mich. Was mich betrifft, will ich Dir die volle Wahrheit sagen: Von einem gewissen Augenblick an fühlte ich, daß mich der Gedanke an Dich nicht mehr beschützte. Ich ließ mich blindlings den Weg führen, auf den Hervé mich drängte. Die häufigeren Besuche von Aubiac, das gesäuberte, sonst im alten Zustand belassene Zimmer des Fräuleins von Anglésis, die gemeinsamen guten Mahlzeiten zu zweien, die Siesta im großen Salon an heißen Nachmittagen, ich habe das alles zuerst ohne jeden Hintergedanken genossen und mit der ausgelassenen Freude eines kleinen Mädchens über ihre Ferien. Aber ich würde lügen, wenn ich sagte, daß ich völlig unbewußt gewesen sei und mich in dieser ein wenig trunken machenden Atmosphäre nicht wohl gefühlt hätte, wo gewisse Gelüste Gestalt annahmen, die mich zuvor in gegenstandslosen Träumen beunruhigt und gequält hatten. Ich empfand Furcht, und meine Furcht gefiel mir, reizte mich. Eine unklare Freude, deren wahrer Ursache ich nicht allzusehr nachforschen will, flößte mir das wechselnde Gefühl der Vernichtung und des Aufblühens ein. Es wurde mir deutlich, daß ich bereits Gefangene war und mein Wille keine Kraft mehr zur Befreiung besaß. Aber ich nahm die Kette an, folgte, wohin sie mich zog, nicht ohne Besorgnis, aber ohne Bedauern und ohne Skrupel. Ich ahne, Nal, das stößt Dich ab. Du sagst Dir: »Sicher war ihre Natur frühzeitig verdorben ... Sie ist ein Ausnahmefall.« Aber darin irrst Du Dich. Das Gegenteil ist die Ausnahme. Aber man ist übereingekommen, es nicht zu sagen, ja so zu tun, als merke man es nicht. Ich sehe darin klarer als Du, der Du die Frauen nicht kennst, weil sie Dir mißfallen und Du sie meidest. Von einem gewissen Alter ab hatte ich Gefährtinnen; und später haben junge Mädchen und Frauen mit mir über ihre Kindheit und ihre Entwicklung gesprochen. Hervé hat ganz recht, wenn er die als Narren betrachtet, welche glauben (und die als Lügner, welche es zu glauben vorgeben), daß die Natur, als sie die Entwicklung des Körpers schuf, gleichzeitig die Moral ins Leben rief. Ich habe ihn damals wohl empfunden, den Zusammenhang meiner Glieder, meines Blutes und meiner Nerven mit dem weniger Körperlichen, das sich deshalb so schwer definieren läßt, weil es eben nicht körperlich ist: das Bedürfnis, beschützt zu werden, und das Bedürfnis, Glück zu spenden.
Das Besondere und Ergreifende meines Falles liegt darin, daß, obwohl ich bewußt auf ein Ziel losging, mir dieses doch völlig unbekannt war. Ja, Nal, im Gegensatz zu den meisten Mädchen meines Alters war ich in diesem Punkt völlig unschuldig. Hervé hatte niemals in seinen Beziehungen zu mir die Freiheit jener Liebkosungen überschritten, die sich die ehrbarsten Väter mit ihren Töchtern erlauben. Und was mich in einem Zustand von Überreizung und Angst leben ließ, das war keine unerlaubte Vertraulichkeit, es war die Fortsetzung der Zuvorkommenheit, taktvoller Belobungen, Worte, die ich zwar nicht immer verstand, die mich aber angenehm berührten. So lebte ich ständig in einem Zustand der Erwartung, aber ohne Furcht. Vielleicht hätte mich eine unüberlegte Bewegung, ein zu lang dauernder Kuß aufgeschreckt. Ich versuche es Dir, so gut es geht, mit einem Beispiel klar zu machen: Wenn eine Frucht nicht ganz reif ist, widersteht sie der Hand, die sie brechen will. Ist sie aber reif, dann löst sie sich im Augenblick, wo die Hand sie berührt, und man fragt sich, ob es nicht die Frucht war, die gepflückt sein wollte.
Ich stelle bloß fest, Arnal, ich verteidige mich nicht. Es war an einem Märztag, daß ich mit Hervé das Haus in Aubiac betrat, nicht mehr oder weniger vergnügt als sonst, nicht mehr oder weniger unwissend als sonst. Wir frühstückten wie immer mit gutem Appetit und vergnügt in dem großen marmoriert tapezierten Speisesaal, wo es immer so angenehm kühl ist. Ich trank Wein gern; mein Onkel schenkte mir nicht ein Glas mehr ein als sonst. Vielleicht saßen wir länger als sonst bei Tisch, aber ich erinnere mich, daß ich es war, die nicht hinaufgehen wollte, um sich auszuruhen. Ich war ermüdet von den langen Wegen des Morgens (wir hatten drei Pachthöfe besucht) und etwas benommen von der trügerischen ersten Wärme des März. Ich wollte Trictrac spielen, und Hervé, höflich wie immer, war gleich dabei. Aber nach den ersten Würfen entfiel mir der Becher; ich war doch müde und ich schlief ein. Da nahm mich Hervé (es war nicht das erstemal) in seine Arme und stieg mit mir hinauf in das Zimmer von Fräulein von Anglésis. Ich erinnere mich, daß ich, während er mich so trug, den Kopf in das Rund seiner Schulter drückte, um weiterzuschlafen.
Nun weißt Du's. Es war an diesem Tage ... ohne Herausforderung meinerseits, ohne Gewalt seinerseits. Ein Reifsein. Der Unterschied zwischen uns war, daß er wußte, wohin wir gehen würden, und ich nicht. Ich habe nicht die Erinnerung an ein großes Glück. Ich habe nicht die Erinnerung an einen Schmerz oder eine Verzweiflung, noch selbst an eine körperliche oder geistige Erschütterung. Als alles vorüber war, fühlte ich eher so etwas wie eine matte Ruhe, den Leib in einer wohltuenden Schlaffheit, das Denken angenehm ausgeschaltet. Das alles verflog allmählich, während ich das Auto nach La Gatère zurücklenkte, mein Onkel neben mir. Wir sprachen kaum; ich bemerkte, daß er blasser war als sonst. Ich war nicht böse auf ihn und empfand weder Gewissensbisse noch Scham: beides sollte erst später kommen. Mein einziges neues Gefühl war das einer gemeinsamen Schuld, eines Geheimnisses, das wir nicht bekennen durften; aber das brachte mich Hervé eher näher, als daß es mich von ihm entfernte. Du, Arnal, warst damals nicht in meinen Gedanken; aber als wir über die Brücke des Cayrou fuhren, da fiel mir plötzlich unser Gespräch vom letzten September ein. Doch stieß ich diese Erinnerung gleich von mir; denn in diesem Augenblick fühlte ich einen Groll auf Dich.
An diesem Abend und an den drei folgenden Tagen nahm das gemeinsame Leben wieder seinen Lauf ohne Zwischenfälle, und ohne daß einer von uns auf das Vorgefallene eine Anspielung gemacht hätte. Am vierten Tage sagte Hervé, als er ins Auto stieg ich saß schon am Steuer ohne die geringste Erregung in der Stimme: »Wir fahren nach Aubiac.«
Und ich fuhr los, ohne zu zögern, wie ich vier Tage zuvor ins Unbekannte losgefahren war. Aber diesmal: wußte ich ...
*
Ich habe Dir zu Anfang gesagt: »Solange ich neben Dir lebte, bestand meine ganze Moral darin, das zu tun, was Dir gefiel.« Als Du mich im Stich gelassen hattest (ja, in Wirklichkeit hast Du mich im Stich gelassen, Nal), verlor ich natürlich alles, was ich an Moral besaß, und das hat zur Katastrophe geführt. Aber heute, Nal, heute versichere ich Dir, ich bin nicht mehr ein Geschöpf ohne Moral. Du wirst bald den Beweis dafür bekommen. Mein sittliches Gefühl entwickelte sich zögernd und sehr langsam in mir. Es ist noch nicht lange her, daß es in mir so weit zur Reife gediehen ist, daß ich nun weiß, was ich zu tun habe.
Zunächst gehörte ich einfach und ohne Vorbehalt dem, der mich genommen hatte: ein Zustand der Versklavung, wie ich ihn seitdem bei einigen jungen Frauen wahrgenommen habe, besonders bei solchen, die sehr jung einen schon reifen und erfahrenen Mann geheiratet hatten. Das stieß mich zunächst immer etwas ab. Dann dachte ich an mich selber und sagte mir: »Ich war auch so ... und schlimmer.«
Je näher die Ferien kamen, um so mehr wurde ich aus meiner Ruhe aufgestört. Tante Angelika hatte kein anderes Gesprächsthema als Deine Rückkehr; sie markierte die Tage in ihrem Taschenkalender. Ich strengte mich an, nicht daran zu denken, aber von Zeit zu Zeit schüttelte mich die Angst: »In drei Monaten ... in zwei Monaten ... in vierzehn Tagen!« Ich bildete mir ein, ich würde Dich nicht anschauen können; und käme es dazu, würden Deine Augen sofort in meinen lesen können, was ich vor aller Welt verbarg, und eine Frage von Dir würde mir mein Geheimnis entreißen. Diese Angst vor Dir stieß und zerrte mich zu ihm, der allein mich verteidigen konnte, und der sich auch darauf verstand, denn er war geschickt und stark ... Das ist der Grund, Arnal, weshalb Du mich so auf meiner Hut fandest, so wenig mitteilsam und so gedrückt, als Du aus Behrenstein zurückkamst.
Ich spürte solche Freude, als ich Dich wiedersah, als ich Dich wieder sprechen hörte. Aber das Grauen davor, erraten zu werden, lähmte mich, und die Augenblicke, wo wir miteinander allein waren, besonders anfangs, waren mir fast unerträglich; das ließ nur nach, wenn ich ein paar Momente mit Hervé allein war; da beruhigte er mich mit einem Wort, einer Zärtlichkeit. Aber ich war doch noch sehr Kind, und so beruhigte ich mich rascher, als ich zuerst gedacht hatte, als ich sah, daß nichts Schlimmes passierte und Du, weit entfernt, mich zu meiden, mich hart zu behandeln oder auszufragen, viel liebevoller zu mir warst als vor Behrenstein. Mir war das ganz unverständlich. Ich verstehe es auch heute noch nicht. Ich vermutete ohne den geringsten Stolz, glaub' mir! , daß Du mich wie alle Welt weniger linkisch fandest, mehr schon junges Mädchen und hübscher. Die zehn Monate unter Hervés Einfluß und dann das Ereignis, das Du nicht kanntest, hatten mich ja sehr zu meinem Vorteil verändert. Warst Du Dir eigentlich bewußt, daß Du damals manchmal fast zärtlich zu mir warst? Wärest Du ein Jahr zuvor, bevor Du nach Deutschland gingst, so zu mir gewesen, nichts hätte mich während Deiner Abwesenheit von Dir getrennt, und Du hättest mich nach Deiner Rückkehr nach Deinem Belieben erobern können. Nun war es leider zu spät. Du fandest eine neue Sidonie, die Dir vielleicht mehr gefiel; aber ich war gefangen.
Der Fehltritt hatte mir die Kenntnis einer starken Mannesleidenschaft gegeben, die in ihrer Heftigkeit wissend und ihrer sicher war; meine Erfahrung vermochte schon Deine Unerfahrenheit zu beurteilen; irgend etwas Kraftloses, Unvollkommenes ärgerte mich an Dir, und ich konnte es nicht hindern, daß mir Alicias Worte einfielen.
Außerdem fühlte ich, wenn auch verworren, so doch ganz stark, da ich nun einmal getan hatte, was ich tat, lag die einzig mögliche Moral in meiner Sünde selbst. Obgleich ich seither Frauen kennen lernte, die fähig waren, zwei aufrichtige Leidenschaften auf einmal zu nähren, bin ich doch sicher, daß mein Herz dessen nicht fähig ist. Das habe ich damals in Deiner Gegenwart empfunden. Du schienst mir wie durch eine unsichtbare und unüberwindbare Scheidewand von mir getrennt. Und so blieb es während all der Jahre meiner freiwilligen Gefangenschaft. Ich stelle das auch in diesem Augenblick, mehr als je, fest.
Aufmerksam und rasch erfassend, wie Du bist, hast Du sicher trotz aller Unerfahrenheit und einer gewissen Unbeholfenheit in Dingen des Empfindens gemerkt, daß es ein neues Hindernis zwischen uns gab, denn die Zeichen Deiner zärtlichen Freundschaft für mich begannen allmählich seltener zu werden. Und gegen das Ende der Ferien kam ein Tag, da fand ich Dich von mir ganz fern und verschlossen. Hast Du etwas Verdächtiges gemerkt? Weder Dein Vater noch ich waren uns je darüber klar ... Aber Dein Entschluß, La Gatère für ein ganzes Jahr zu verlassen, wo es nur von Dir abhing, Deine Studien in keiner größeren Entfernung als hundert Kilometer weit zu beenden, war so fest und unumstößlich, daß ein Unbehagen auf dem ganzen Hause lastete und Deine Abreise nach England mir eine unaussprechliche Erleichterung schaffte. Ich muß Dir selbst dies gestehen: Hätte ich vorausgesehen, daß der Krieg Deine Abwesenheit noch verlängern und daß mehr als zwei Jahre vergehen würden, bis Du wieder nach La Gatère zurückkehrtest, ich hätte mit dem schrecklichen Egoismus einer in ihrer Liebe bedrohten Frau den Krieg herbeigewünscht.
Diese zwei Jahre verlebten wir, Hervé und ich, in dem alten Hause wie abgetrennt von der übrigen Welt und fast ohne jede andere Gesellschaft als die der kranken Angelika und der Frauen unserer Leute; die meisten Männer waren im Felde. Ich flüchtete mich ganz in meine Sünde, vergaß alles sonst. Als Du aus England zurückkamst, um Dein Examen zu machen und Dich sofort anwerben zu lassen, und für einige Tage unter uns weiltest, hatte ich eine heftige Gemütserregung Du erinnerst Dich sicher daran , aber sie berührte nicht die Tiefen meines Herzens. Die beiden Jahre in England hatten Dich stark verändert. Du warst viel hübscher geworden, viel männlicher. Im Verkehr mit den Frauen hattest Du eine gewisse Leichtigkeit gewonnen, durch die man so etwas wie Verachtung spürte. Kurz, Du warst nicht mehr mein kleiner Kamerad von ehemals. Ich empfand die große Entfremdung. Warum hättest Du mir auch einen Blick, ein Wort schenken sollen. Du, den alle Frauen bewunderten und herausforderten? In meiner Demütigung hielt ich mich an den, für den ich alles war. »Sei es,« dachte ich, »es ist mein Los!« Ich fügte mich in eine Gefangenschaft, die mich nicht mehr bedrückte, denn trotz aller Geschehnisse war noch viel Kindhaftes in meiner Natur. Ich fand mich damit ab, daß ich mich nie frei machen würde, denn nur zu Dir hin hätte ich mich flüchten wollen, und davon konnte nicht mehr die Rede sein. Außerdem offenbarte die Art, wie Du Dir das Leben einrichten wolltest, ganz deutlich die Absicht, Dich von uns zu trennen.
Während der zehn folgenden Jahre machte ich es mir zur Aufgabe, Dich zu vergessen, wenn Du fort warst, und mich so wenig als möglich um Dich zu kümmern, wenn Du Dich in La Gatère aufhieltest.
Jede Frau, siehst Du, hat Schätze von Willen und Energie zur Verteidigung ihres Glückes, selbst wenn es getrübt und verbrecherisch ist. Was mich betrifft, so war ich fest entschlossen, mich für glücklich zu halten, und um aufrichtig bis zum letzten zu sein: in dem bescheidenen und ungewissen Sinn, den das Wort »Glück« für ein Frauenleben hat, war ich glücklich.
*
Und dennoch auch wenn eine Frau von sich selbst sagt: »Ich war glücklich!«, so bedeutet das während einer so langen Zeitspanne nicht, daß ihr Leben keine Veränderung erlitten, keine Stunde seelischer Not durchgemacht hat. Ich habe mir geschworen. Dir nichts davon zu verbergen.
Ich muß Dir jetzt von einer körperlichen Veränderung berichten, die in meinem neunzehnten Jahre stattfand, als Du am Rhein dientest. Das Geständnis wird Dir mißfallen, aber es ist notwendig. Es war eine Schwäche meines Körpers, die zur Wiedergeburt meines Gewissens führte.
Bis zu meinem neunzehnten Jahre war ich im körperlichen Sinne wenig verliebt gewesen, wenn auch immer bereit, mich hinzugeben. Die Unruhe, die mich beherrscht und verwirrt hatte, bevor ich Frau wurde, war verschwunden; Hervés Zärtlichkeit, seine Bewunderung, sein Geist schafften mir körperlich wie seelisch ein unbeschwertes Wohlgefühl. Aber die sinnliche Raserei, die ihn in der Liebe packte, erstaunte und erschreckte mich; oft wäre es mir lieber gewesen, er hätte dieselbe heitere Ruhe besessen, die ich selber hatte, daß bei ihm das Sinnliche, wie bei mir, nichts weiter gewesen wäre als ein rasch befriedigtes Verlangen.
Ich war zwei Monate über achtzehn, als wir uns eines Nachmittags nach Aubiac begeben hatten und unser Wagen versagte, als wir ihn zur Heimfahrt nach La Gatère ankurbeln wollten. Der Magnet funktionierte nicht. Es war sieben Uhr abends: in der Umgebung ein Gefährt aufzutreiben, wäre unmöglich gewesen. Du weißt ja, wie einsam das Haus liegt. Bloß ein Fahrrad stand zur Verfügung; Hervé konnte es wegen seines schlechten Knies nicht benutzen, und daß ich es nehme, wollte er nicht. Er schickte darauf einen Pächterjungen nach La Gatère, der dort ausrichten sollte, daß wir die Nacht in Aubiac bleiben würden; das war uns schon zweimal passiert, einmal wegen eines mächtigen Gewitters, das andere Mal wegen eines Sonnenstiches, den ich mir auf der Hinfahrt geholt hatte. Diese beiden Male hatte Hervé mir das große Zimmer von Fräulein von Anglésis überlassen, während er sich im Zwischenstock auf einem Diwan in einem kleinen Salon zum Schlafen einrichtete.
Warum packte mich gerade diesmal, als wir uns entschlossen hatten zu bleiben, das Gefühl des Schuldbewußtseins? Weshalb konnte ich diese Nacht, allein in meinem Alkovenbett, den Schlaf nicht finden? Ich wartete ... ich ersehnte ... Und als sich die Tür gegen elf Uhr vor Mitternacht leise öffnete und mein Herr zu mir kam, da hatte ich ihn bereits mit aller Kraft meines ganzen Wesens herbeigewünscht, und zum erstenmal verstand ich, kannte ich diese Liebesraserei, gegen die ich mich früher so oft gesträubt hatte, wenn sie Hervé packte und so anders machte. Vielleicht, Arnal, denkst Du, wenn Du das liest: »Was soll diese Erzählung? Will sie mich versuchen?«
Ach nein! Das arme zermürbte Geschöpf, das ich jetzt bin, ist keine Frau mehr, höre nur weiter! ... Aber diese Nacht in Aubiac ist ein wichtiges Datum in meinem Leben. Sie hat ganz anderes in mir erweckt als die Liebe. Sie hat mein Gewissen lebendig gemacht, und deshalb muß ich Dir davon berichten. Bisher hatte eine Art sittlicher Schwäche, die sich mit meinen nur halb geweckten Sinnen verband, mich mit Vergnügen gehorchen heißen; nichts weiter. Aber von dieser Nacht an liebte ich meine Sünde, doch ich wußte auch, daß es Sünde war. Darum mußte ich Dir so genau berichten; sonst wäre Dir das, was geschah, wie auch das, was bald darauf geschehen sollte, ganz unerklärlich.
Von nun ab wußte ich, was gut und was böse ist. Ja, ich war eine leidenschaftliche, glühende Geliebte, gierig, alles zu kennen, gelehrig und erfinderisch; ich lernte die Begierde kennen, die bis ans Ende der eigenen Kräfte und der des Gegners geht, und das Glücksgefühl der völligen Erschöpfung. Aber ich habe teuer dafür bezahlt ... Mein Gewissen und meine Sinne waren gleichzeitig erwacht, möchte ich sagen. Sicher, Du wirst mich verstehen, lieber Arnal. Trotz Deines frühreifen Verstandes warst Du noch ein Kind, als Du mir erklärtest, wie erbärmlich es mit unserm Gewissen als Protestanten bestellt ist; Du verstehst mich und wirst Mitleid mit mir haben, nicht wahr? Wem sollte ich das Geheimnis anvertrauen, das mich verzehrt? Wen sonst sollte ich fragen, in welchem Maße ich schuldig wurde? Wer könnte mich gleichzeitig von meiner Sinnlichkeit wie von meinem Gewissen heilen? Ja ... da war Hervé ... Das Bekenntnis, das ich Dir heute ablege, ich wäre unfähig, es ihm zu machen. Aber er ist so geschickt im Erraten eines weiblichen Herzens, und er erriet mich. Klug und geduldig mühte er sich, in mir die geläufigen Anschauungen über gut und böse in der Liebe zu zerstören. Er sprach mit solcher Überzeugung und solcher Sachlichkeit, und ich war es so gewöhnt, meine Gedanken aus den seinen zu schöpfen, daß ich mich zuweilen gewonnen fühlte. Er sagte:
»In den Dingen der sinnlichen Liebe und der Lust herrscht für alle sichtbar ein Naturgesetz, die kalte Vernunft hat nichts damit zu tun. Weit davon entfernt, dem Nächsten Böses zu tun, vereinigt dieses Gesetz zwei zum Glücke. Der einzige Vorbehalt, den das Gewissen hier macht, ist, daß dieses wechselseitige Glück einem Dritten nichts Böses tut.«
Er sprach eindringlich und überzeugend; meine armseligen Einwendungen widerlegte er mit einem Wort. Aber mein heimlicher innerster Schmerz, das Gefühl meiner Verderbtheit, die Scham über die vergangene Nacht waren Tatsachen, die beiseitezuschieben die Vernunft kein Recht hatte. »Von den Ahnen Ererbtes!« nannte Hervé das und zuckte die Schultern ... Gereift, frage ich mich heute, ob das nicht der unklare Ausdruck für ein anderes und allen Rassen gemeinsames Naturgesetz ist. Erlaubt das Naturgesetz, sich zu betrinken oder bloß seinen Durst zu löschen?
Weder mein Liebesfieber noch meine moralischen Qualen ließen nach, und ich suchte Zuflucht im Gebet. Da fielen mir die Worte ein, die Du über die dürre Kälte unserer Religion gesprochen hattest. Ich suchte die kleine verlassene, schmucklose Kirche von Boursès auf; die Heiligkeit des Ortes, der Ernst seiner nackten Mauern gefielen mir; sie erinnerten mich an so viele Jahre unschuldsvoller Kindheit. Ich vermißte wirklich nicht die Statuen und die Bilder der katholischen Kirchen. Aber mein Gewissen fand sich da so allein gegenüber dem unsichtbaren Angesicht Gottes. Und heftiger als draußen, wo mich das Leben oft davon ablenkte, stand vor mir das beängstigende Problem. Ich hätte mich ja an den Pastor wenden können, er hätte mir seine Tür nicht verschlossen. Unser Pastor war ein Mann von etlichen dreißig Jahren, Vater einiger Kinder; seine Predigten waren gelehrt und trocken. Ihm sollte ich mein Geheimnis anvertrauen? Nein. Es fehlte mir dafür die Übung der katholischen Frauen, die im Alter von sieben Jahren im Beichtstuhl ihre kleinen Verfehlungen stottern, auf die dann mit den Jahren die richtigen Sünden folgen. Es fehlte mir vor allem das, was den katholischen Sünder anzieht: die Sicherheit, nach der geringen Beschwerde des Bekenntnisses die Absolution zu erhalten und gereinigt, als ob er die Sünde nie begangen hätte, wieder ins Leben zurückzukehren. Ich verließ unsere kleine Kirche voller Verachtung meiner selbst aber mit dem Verlangen, zur Sünde zurückzukehren. Wirst Du glauben, Arnal, daß ich in diesem Zustand meiner Verwirrung an den Übertritt zum katholischen Glauben gedacht habe? Es war da gerade, drei Jahre seit Friedensschluß, in Boursès an der Kirche zum Heiligen Glauben ein Vikar, der bei der katholischen Bevölkerung wegen seines erbaulichen Lebenswandels, seiner Kenntnis der reuigen Herzen und seiner Tätigkeit im Dienste der Sittlichkeit sehr angesehen war. Eine meiner Freundinnen, Louise d'Isaye, die Du als kleines Mädchen gekannt hast, und die sich noch ganz jung mit einem gewissen Doubant, einem reichen, schon etwas älteren bürgerlichen Grundbesitzer verheiratet hat, Louise sprach mir viel und immer wieder von dem Abbé Faurie, der ihr Beichtvater war. Dabei hat Louise zwei Verhältnisse gehabt, und das zweite dauert noch jetzt; sie hat mir das selber anvertraut. Vergeblich versuchte ich mit Ausfragen, den Mechanismus dieser gar nicht heuchlerischen Seele zu verstehen.
»Wenn dein Beichtvater, um dich zu absolvieren, von dir den festen Entschluß fordert, deinem Liebhaber nicht mehr nachzugeben, wie kannst du ein solches Versprechen geben, wo du doch sicher bist, es nicht zu halten?«
Worauf sie antwortete:
»Dessen sicher bin ich natürlich nicht, aber Gott kann mir jedesmal eine größere Widerstandskraft gewähren!«
»Aber verlangst du auch wirklich ehrlich, daß er sie dir gebe?«
»Es ist sehr schwierig, über sich selbst klar zu sehen. Aber wenn ich diese wachsende Kraft nicht verlangte, was täte ich da im Beichtstuhl des Abbé Faurie? Niemand zwingt mich doch dazu. Mein Mann ist nicht religiös, und ich habe, wie du weißt, nicht den geringsten religiösen Snobismus.«
»Aber was ist der wirkliche Erfolg? Wie lange widerstehst du nach der Absolution?«
»Zuweilen gar nicht ... die erste Gelegenheit bringt mich zu Fall. Zuweilen besonders an den hohen Kirchenfesten zu Ostern und Weihnachten , da gelingt's mir, unter Vorwänden, einmal, zweimal die Zusammenkünfte zu vermeiden.«
Und sie schloß:
»Das ist schon immer ein Gewinn.«
Siehst Du, Arnal, ich frage mich, ob der Katholizismus mit seinen Nuancen, seiner Feinheit und seiner Anpassung an die durchschnittliche Natur des Menschen und mit seiner Nachsicht gegenüber dem Sünder nicht der Haltung Christi, als er noch auf Erden lehrte, näher kommt als unsere Religion. Aber das calvinistische Erbe liegt mir zu stark im Blute. Es kommt mir vor, als ob mir, an Stelle Louisens, die, gestern absolviert, heute aufs neue sündigt, die Feststellung dieser meiner Schwäche und Feigheit viel schmerzlicher wäre als das Verweigern der Absolution ich wäre verzweifelt gewesen! Das also ist mein Los! Ich soll die zwiefache Last der Sünde und der Reue schleppen, bis mich das Alter bricht! Ach, wie mich manchmal nach dieser Befreiung verlangt!
Ein einziges Mal, Nal vielleicht erinnerst Du Dich , ließ ich Dich gegen meinen Willen in dieses Drama meines Herzens blicken. Es war, glaub' ich, im Jahr 1922; Du kamst aus Wiesbaden für zwei Wochen nach La Gatère mit Deinem Freunde Robert Fuchs. Seine natürliche Heiterkeit belebte unsere Unterhaltung; er erzählte lebendig und scheute sich nicht vor Worten. Es war von den vorübergehenden Liebschaften zwischen verheirateten Männern und Frauen die Rede. Seinen Worten nach zeigten sich viele andere Gattinnen ohne Gewissensbisse bereit, ein Liebesabenteuer zu haben, ohne auch dafür das geringste ihrer ehelichen und häuslichen Aufgaben zu opfern. »Sie haben ein Kautschukgewissen«, sagte Fuchs.
Da entschlüpfte mir die törichte und gefährliche Bemerkung:
Glücklicherweise nahm es Fuchs für einen Scherz. Er bemerkte:
»Glauben Sie das nicht, gnädiges Fräulein. Die Männer schätzen Tugenden nicht, die sich mit bürgerlicher Ruhe zum Opfer bringen.«
Aber Du, Nal, hörtest aus meiner Bemerkung noch etwas anderes als den ironischen Ton heraus. Ich spürte Deinen Blick auf mir mit einer Art angeekeltem Mitleid, und er empörte mich. Später war ich Dir dafür dankbar.
*
Alles, was ich Dir geschrieben habe, hat mich viel gekostet. Aber ich bin mit dem Schwierigsten zu Ende. Was mir noch zu sagen bleibt, wird mich nur erleichtern.
Zweieinhalb Jahre vor Deiner Rückkehr aus Syrien gab es nochmals eine Änderung in meinem elenden Leben; sie war so geringfügig, daß ich glaubte, nur ich würde sie merken.
Hervè fiel in eine kurze Erkrankung, ich glaube, die erste in seinem Leben. Eine schmerzhafte und gefährliche Leberreizung fesselte ihn für zwei Wochen ans Bett und zwang ihn weitere zwei Wochen, das Zimmer zu hüten. Als die Krise vorüber war, schien er gealtert, war magerer und sehr reizbar geworden. Alle unsere Leute beklagten sich bei mir, ohne Bitterkeit natürlich, denn sie schrieben seine schlechte Laune seiner Krankheit zu. Ich für meinen Teil brauchte mich nicht zu beklagen; mehr als je suchte er meine Gesellschaft und überschüttete mich mit Aufmerksamkeiten; aber mehr als je war er auch ein fordernder Herr, ein unersättlicher Liebhaber. Man sollte meinen, daß diese unheilverkündende Mahnung (Deine Großmutter ist an dem gleichen Leiden gestorben) ihn nachdenklich gemacht und daß er erschreckt die kurze Zeitspanne gemessen hätte, die ihm das Leben vielleicht für das einzige gewährte, dem er Wert gab. In seinen Liebesbeweisen tauchte von da ab etwas Ängstliches, etwas Krankhaftes auf, das bei mir die sinnliche Spannung zu mindern anfing. Nicht als ob ich unempfindlich geworden wäre. Aber so etwas wie Nachsicht und Gefälligkeit ging meinen Erregungen voraus, und das genügte, ihre Natur zu ändern. Daraufhin wurde Hervés Leidenschaft weniger heftig, und das Leben nahm außer daß ich meine innere Ruhe nicht mehr wiedergewinnen konnte wie zuvor seinen Lauf, bis Du hier eintrafst und Tante Angelikas Bitten Dich veranlaßten, bei uns zu bleiben.
*
Dieser wichtige Entschluß war weder von Hervé noch von mir vorausgesehen worden, traf uns beide so heftig, daß wir uns endlich trauten, frei von Dir zu sprechen; ich will damit sagen: die Wirkung zu besprechen, die Deine Anwesenheit auf unser heimliches Leben haben könnte. Hervé kam mir sehr verstört vor; er verurteilte die Laune seiner Frau, die, wie er sagte, augenblicklich gar nicht in Gefahr war; er erklärte, Herr in seinem Hause zu sein, so daß nichts ihm einen ungelegenen Besuch aufzwingen könne, und daß er ihn vier Wochen, sechs Wochen ertragen würde, aber keineswegs länger. Andererseits merkte ich, daß dieses Hindernis sein Verlangen steigerte, wie es die Gesundung nach seiner Krankheit getan hatte. Seine Blicke, seine Worte, seine Bewegungen quälten mich. Er, der sich immer hatte beherrschen können, verlor die Herrschaft über sich. Ich konnte ihn ja nicht hindern, mich zu lieben und unter einem Versagen meinerseits ungeduldig zu leiden; aber wie konnte dieser Kenner der weiblichen Seele nicht merken, daß das Sinnenleben einer Frau meines Alters unter dem Einfluß der leisesten, geringsten Beunruhigung steht und daß es, um sich zu entfalten, der Sicherheit, der Freiheit bedarf? In seinen Umarmungen starb ich vor Angst, daß er mich da jedem zufälligen Überraschtwerden aussetzte; ich mußte ihn anflehen, mich nicht des Nachts in meinem Zimmer aufzusuchen, das genau über Deinem lag. Endlich begriff er und beherrschte sich. Wir kamen überein, daß wir, solange Du in La Gatère wärest, jede Unklugheit vermeiden wollten. Es blieb uns also nur Aubiac: Ich konnte es ihm zuerst nicht verweigern, daß wir uns von Zeit zu Zeit dahin flüchteten. Aber wir lebten immer in der Angst, daß über unsere Fahrten zu zweit dahin ein Geschwätz entstünde; wir fanden den Ausweg, daß wir uns einzeln dahin begaben. Nicht oft. Denn Aubiac machte mir schließlich Angst. Und wir verzichteten. Es blieb uns nichts als der Wald oder verlassene, einsame Gehöfte. Damit kam einige Ruhe in mich. Es ist mir unerträglich gewesen, mit Dir unter demselben Dach zu wohnen, Dich zu sehen, zu berühren, mit Dir zu sprechen, Deine Blicke auf mir zu fühlen, nachdem ich mich gerade hatte umarmen oder mir Worte sagen lassen, die mir noch in den Ohren brannten.
Vielleicht bist Du Dir bei all Deiner Klugheit gar nicht des merkwürdigen und beunruhigenden Einflusses bewußt, der von einem Manne wie Dir ausgeht. Ich bin schließlich der Mensch, der Dich am besten kennen sollte, wo wir doch so viele Jahre miteinander gelebt hatten und in einer Zeit, in der man einander alles sagt, und doch weiß ich eigentlich nichts von Dir. Auch Deine Mutter wußte nichts von Dir. Ich habe mich ungezwungen mit Deinem Freunde Fuchs unterhalten, der mir von Deiner Art zu arbeiten erzählte, von Deiner Art der Kameradschaft, Deinem Benehmen in der Welt; aber trieb ich ihn weiter, mußte er auch gestehen, daß er eigentlich nichts von Dir wisse. Du sagtest mir unlängst einmal (jetzt, wo wir nach und nach dahin gekommen sind, ziemlich offen miteinander zu sprechen), Du seiest ein Mann wie jeder andere, einer aus dem Dutzend: so sagtest Du. Aber es ist nicht wahr! Du sprichst nur nicht über das, was Dich von der Masse unterscheidet, weigerst Dich zu antworten, wenn man Dich fragt. Seit ich erwachsen bin, also seit gut fünfzehn Jahren, schienen mir die Männer meiner Umgebung entweder von der Geldgier oder von der Sinnlichkeit geleitet, die sympathischeren unter ihnen waren jene, die über der Liebe das Geld vergaßen. Und das waren alles in allem die zahlreichsten. Ja, die zahlreichsten; nur verbergen die meisten ängstlich viel lieber ihre Sinnlichkeit als ihre Geldgier. Du aber, Dich bekümmerte weder das Geld noch die Liebe. Und doch bist Du weder ein Asket noch ein Mystiker. Auch als einen Reformator spielst Du Dich nicht auf. Deine Kameraden sprechen von Dir als einem verträglichen, toleranten, bei Gelegenheit lustigen und gar nicht prüden Genossen ... »Ich bin nicht der einzige«, wirst Du sagen ... Ja, es gibt die katholischen Geistlichen; aber sie leugnen nicht ihre Anfechtungen; und dann handelt es sich bei ihnen um die Kraft eines Gelöbnisses, den Ersatz einer irdischen durch eine überirdische Liebe. Dir aber ist keine Regel auferlegt; Du bist, ich weiß es, der zärtlichsten Hingabe fähig ... und Du verjagst die Liebe aus Deinem Leben! Du leugnest oder du kennst die Versuchung nicht. Durch Deine Natur selber stehst Du abseits. Wenn Du von diesen Dingen sprächest, würdest Du Dich, glaube ich, der gleichen Worte wie der Apostel Paulus bedienen: »Es ist gut für den Mann, daß er nicht am Weibe hanget.«
Machst Du Dir die tiefe Wirkung klar, welche die fortwährende Anwesenheit eines solchen Mannes auf eine Frau in dem Zustand ausübt, in dem Du mich fandest, als Du Dich in La Gatère niederließest? Und dieser Mann war mein Kindheitsgespiele gewesen, der, dem meine erste Zärtlichkeit gegolten und den (ich wage es zu sagen, auf die Gefahr hin, Dir noch mehr zu mißfallen) mein erstes unbewußtes Verlangen gesucht hat. Eine Erfahrung, die mir teuer zu stehen kam, lehrte mich, was diese Unruhe meiner dreizehn Jahre bedeutete! Du erschienst in dem Augenblick, wo mehr als je zuvor der Ekel vor meinem Leben und vor mir selber mich vergiftete, und wo der Genosse meiner Schuld nicht mehr wie früher mein trotz allem unverhärtet gebliebenes Gewissen leitete. Als Du wieder da warst, fühlte ich, wie in mir die Zucht wieder wuchs, die Du mir in den Tagen unserer Kindheit auferlegt hattest. Etwas in mir sehnte sich danach, diese unschuldige Zeit wieder aufzunehmen, wo ich Dich ohne Skrupel liebte. Die Änderung ging langsam vor sich und war von Rückfällen aufgehalten ... Aber immer stärker und nur durch Deinen Einfluß allein bemächtigte sich meiner das Bedürfnis nach Ruhe, nach Beschwichtigung der verlangenden Sinne. Ich habe kein Verdienst daran, die ganze Ehre kommt Dir allein zu. Ich versuchte, ohne daß ich es wagte, es Dir zu sagen, mich Dir zu nähern, Deinem Beispiel zu folgen. Was nicht von Dir kam, das stieß mich ab.
Unter diesem Einfluß, für den Hervé auch nicht unempfindlich blieb, hörten zunächst im Hause die nächtlichen Zusammenkünfte auf, wie ich Dir schon sagte. Dann wurden aus unsern Besuchen in Aubiac einfache Geschäftsbesuche, und schließlich hörten auch jene Stationen im Walde und in der Einsamkeit ganz auf. Hervé hatte endlich begriffen! Er verstand es, sich zu bezwingen. Sicher sagte er sich, daß Dein Aufenthalt hier einmal sein Ende haben werde und dann sein Einfluß wieder alle seine Gewalt auf mich üben werde. Aber ich hatte meinen Frieden erobert. Und nun geschah es, daß ich, mich meiner weniger schämend, zu begreifen wagte, was ich mir bis zu diesem Tage nicht gestehen wollte, und was der Ernst dieser Stunde mich Dir zu bekennen zwingt. Ich begann, Dich zu lieben.
Ich beschwöre Dich, nimm dieses Wort in dem einzigen Sinn, in dem ich es an Dich richten kann. Ich reinige es gern und aufrichtig von allem Materiellen, das es enthält. Gott bewahre mich vor einer Lästerung! Ich liebe Dich, Arnal, wie die Sünderinnen ihren Meister liebten. Sie waren seine Gefangenen, auch sie; aber diese köstliche Gefangenschaft befreite sie, ohne ihr Fleisch zu verderben.
Auch Du hast, wie jener, den Magdalena ihren Meister nannte, aus mir die Dämonen vertrieben. Ich bin gebrochen davon, aber ich atme und fühle die Wiedergeburt. Ich liebe Dich, Arnal, und nichts wird mich hindern, Dich zu lieben. Solltest Du mir aber befehlen, Dich nicht zu lieben, wie könnte ich Dir gehorchen? Das hängt ja nicht von mir ab. Ich weiß, Du wirst mich nicht lieben; Du hast nie eine Frau geliebt, und wenn Du eine lieben solltest, wäre ich die letzte, an die Du dächtest. Ich verlange also nichts, absolut nichts von Dir als Gegengabe für meine Ergebenheit. Gern hätte ich Dir gedient, wie die Schwestern des Lazarus dem Meister dienten; ich wäre, nach Deinem Willen, Martha oder Maria gewesen; ich weiß, es ist unmöglich, und ich unterwerfe mich; ich nehme es hin, allein zu leben, aber befreit! ... Sei versichert: ich werde Dir nicht lästig fallen. Wenn ich die in meinem Leben noch nötigen Änderungen getroffen habe (Du wirst verstehen, daß die Dinge nicht bleiben können, wie sie sind), dann hast Du nichts weiter zu tun, als mich auszuschließen, und ich werde Dich nicht einmal mehr wiedersehen.
Wenn ich mich heute an Dich wende, ist's auch nicht, um Deine Meinung über meinen Entschluß zu erfahren. Der ist gefaßt. Ich bleibe nicht in La Gatère. Ich werde nach Aubiac gehen und dort leben wie meine Tante von Anglésis. Aber um diesen Entschluß mit so wenig als möglich Aufsehen und Nachteil für irgend jemanden auszuführen, brauche ich, das wirst Du verstehen, Deinen Rat und Deine Hilfe. Darum wollte ich Dich gestern nacht bitten, als ich zu Dir hinaufstieg. Ich war bewegter, als ich es jetzt bin, denn ich trug noch das Gewicht meines Bekenntnisses in mir ... Ohne Kraft stand ich vor Deiner Tür, wagte nicht zu klopfen ... Die Vorsehung wollte es anders, da sie meinen Schritt aufhielt. Hervé, der mir immer nachspioniert, hatte mich wohl gehört und war mir nachgegangen. Er traf mich in Deinem Korridor in dem Augenblick, wo ich mich zögernd an die Wand stützte. Alle meine körperliche Kraft war gebrochen, und er hatte keine Mühe, mich in sein eigenes Zimmer zu bringen, wo er mich in einen Stuhl setzte. Ich sah nur sein bestürztes, verzerrtes Gesicht: er glaubte, daß ich Dich aufsuchte, wie ich ehemals ihn aufgesucht habe ... Er sah aber rasch seinen Irrtum ein; doch ich erklärte sogleich, daß ich La Gatère verlassen würde. Vier Stunden lang redeten wir hin und her, bis mich meine Kräfte verließen ... Hervé führte oder trug mich mehr in mein Zimmer aufs Bett und tat sorglich für mich, was er konnte ich weiß nicht wie lange, denn mein Schlaf war wie eine tiefe Ohnmacht, aus der ich erst am hellen Tag erwachte.
Ausgeschlafen, wurde es mir klar, daß es unnütz wäre, noch einmal ein mündliches Bekenntnis zu versuchen. Was ich Dir nicht sagen konnte, hier hast Du es nun aufgeschrieben. Gern möchte ich den ganzen Anfang ändern oder streichen; so wie er jetzt dasteht, würde ich ihn nicht mehr schreiben. Ich werfe Dir törichterweise vor, mich nicht mehr zu lieben, nicht mehr der gleiche für mich zu sein. Nimm's für nicht gesagt. Du bist so, wie Du sein mußt. Ich habe nur, was ich verdiente. Was mir jetzt nottut, ist nicht, mein Leben von neuem zu beginnen (nichts könnte es ungeschehen machen), sondern es in der Zurückgezogenheit und im Vergessen zu beschließen.