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In einem Separatzimmer des Restaurants Voisin fand eines jener auserlesenen kleinen Herrendiners statt, die für den Pariser einer gewissen Gesellschaftsschicht geradezu eine Lebensbedingung sind. Die hier zusammen kamen, waren alles Männer, die irgend eine hervorragende Rolle im öffentlichen Leben spielten und tagsüber durch ihre Tätigkeit stark in Anspruch genommen waren. Sie bildeten einen fest in sich abgeschlossenen Freundeskreis, zu dem kein Fremder zugelassen wurde, und der sich in bestimmten Zwischenräumen hier zu versammeln pflegte, um nach des Tages Last und Hitze ein paar Stunden in gemütlichem Geplauder zu verbringen.
An diesem Abend nun waren die meisten ausgeblieben. Bei dem rauhen Frühlingswetter herrschte in ganz Paris die Influenza, – einige passionierte Jäger waren hinausgefahren, den letzten Bekassinen nachzustellen, und so kam es, daß von den üblichen zwölf Gästen nur fünf erschienen waren, nämlich der Bildhauer Maigret, der Doktor Tavernier, Graf Billois, der in Nanterre eine Automobilfabrik leitete – ferner der Komponist Herbelin und der Notar Viger-Boucart.
Das Essen war vorzüglich gewesen, und sie saßen jetzt in bester Stimmung beim Kaffee und rauchten gute Zigarren. Herbelin war der einzige, der Zigaretten vorzog, er rauchte eine nach der andern und warf sie weg, ehe sie halb zu Ende war.
Die Likörflaschen blieben fast unberührt stehen, denn alle diese Männer, die schon in reiferem Alter standen und angestrengt arbeiteten, scheuten den Alkohol ein wenig. Herbelin und Tavernier machten ihre Glossen über die kleinen Skandalgeschichten der letzten Woche, Maigret erzählte eine komische Ateliergeschichte. Dann kam man auf die Frauen zu sprechen. Herbelin, der sehr glücklich verheiratet war, rühmte den Typus der guten Hausfrau, die dem arbeitenden Mann hilfreich zur Seite steht. Maigret hatte ein Modell geheiratet, er und Graf Billois, über dessen Ehe allerhand dunkle Gerüchte gingen, gaben ihm recht, betonten aber, wie schwer es sei, die richtige Lebensgefährtin zu finden.
»Und wie denken Sie darüber, Viger?« fragte Billois.
Der Notar, der mit seinem glatt rasierten Gesicht fast wie ein Geistlicher aussah, brummt vor sich hin:
»Ich bin Junggesell.«
»Das wissen wir,« meinte Tavernier, »aber eigentlich ist es unerhört. Du, mit deinem Namen und deiner Stellung. Aber du hast dir wahrscheinlich in Anbetracht deiner schönen Klientinnen deine Freiheit wahren wollen.«
»Schöne Klientinnen! Gott soll mich vor ihnen bewahren,« rief Viger mit so aufrichtigem Entsetzen, daß alle in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Das kam von Herzen,« sagte Maigret – »ich glaube wahrhaftig, er ist ein Weiberfeind.«
»Nun, damals im Quartier Latin, als wir in der Pension Laveur verkehrten, habe ich dich von einer andern Seite kennen lernen,« meinte Herbelin.
Viger-Boucarts Gesicht hatte wieder seinen gewohnten Ausdruck angenommen, und er antwortete nur:
»Das ist vorbei.«
Und als die andern ihn fragend anblickten, fügte er hinzu:
»Ja, ich habe mit diesen Dingen abgeschlossen. Als junger Mensch hielt ich es, wie alle andern, natürlich für den würdigsten Zeitvertreib, ja beinah für meine Pflicht, den Weibern nachzulaufen. Ich war der Ansicht, daß Arbeit und Galanterie sich sehr wohl vereinigen ließen, aber ein unglücklicher Zufall hat mir eine harte Lektion erteilt. Seitdem bin ich davon zurückgekommen. Da habt Ihr meine ganze Geschichte!«
»Aber nein,« widersprach der Komponist, »das ist doch nicht deine ganze Geschichte, sondern nur die Moral, die du daraus gezogen hast. Komm, erzähl sie uns. Tavernier und ich haben bisher die Kosten der Unterhaltung bestritten, ihr andern habt nur dagesessen und geraucht. Also, raffe dich auf, Notar, und gib uns deine Geschichte zum besten.«
Die andern baten ebenfalls, und schließlich ging der Notar darauf ein und begann seine Erzählung:
»Als ich neunundzwanzig Jahre alt war, arbeitete ich in der Kanzlei meines Onkels Boucart, dessen Praxis ich später übernehmen sollte. Er hatte damals einen alten Sekretär, den er nur aus Humanität beibehielt, in Wirklichkeit lag eigentlich die ganze Arbeitslast auf mir, und ich war sozusagen die rechte Hand meines Onkels.
Nun, ich war damals sehr fleißig, mein Beruf machte mir Freude, und so kam es, daß die Klienten sich mit Vorliebe an mich wandten. Ihr könnt euch ja denken, daß ich mit größerem Feuer drauflos ging als mein Onkel, der noch zur alten Schule gehörte und eine etwas langsame, feierliche Art hatte. Außerdem war ich damals wirklich ein hübscher Kerl – Herbelin kann es euch bezeugen.«
»Du könntest immer noch ganz gut aussehen,« unterbrach ihn Herbelin, »wenn du dich nicht herrichtetest wie ein Geistlicher. Warum hast du dir deinen schönen blonden Bart abschneiden lassen, der dir so gut stand.«
»Erstens wäre er wahrscheinlich nicht ewig blond geblieben,« antwortete der Erzähler, »und zweitens hatte ich meine Gründe, ihn zu opfern, wie ihr noch erfahren werdet. Herbelin war nicht der einzige, auf den mein blonder Bart Eindruck machte. Schon auf der Universität verdankte ich ihm einige entzückende kleine Abenteuer, und meine Klientinnen betrachteten ihn ebenfalls mit Wohlgefallen. – Es wird oft behauptet, daß die Weiber einem Mann nachlaufen, weil er geistreich oder talentvoll ist, weil er in der Gesellschaft eine Rolle spielt oder wohlhabend ist. Ich halte das für grundfalsch. Meine persönlichen Beobachtungen und meine Erfahrungen als Rechtsanwalt haben mich gerade das Gegenteil gelehrt: sie laufen instinktiv nur den hübschen Kerlen nach. Nur sind diese meistens so dumm, daß sie ihre Chancen nicht ausnutzen, und dadurch gleicht sich die Sache wieder zugunsten der andern aus.
Mit dreißig Jahren nun, darin werdet Ihr mir beistimmen, fühlt man eine solche Lebenskraft und Lebenslust in sich, daß man alles zugleich sein möchte: reich, geliebt, einflußreich und so weiter. So kam es mir ganz selbstverständlich vor, daß mein Beruf, alle diese verschiedenen Gelüste befriedigen sollte. Und mein Onkel Boucart, der bei all seiner anscheinenden Schläfrigkeit einen hervorragenden Scharfblick besaß, wurde es nicht müde, mir immer wieder Moralpredigten zu halten. »Nur nicht mit den Klientinnen poussieren,« war seine ständige Mahnung. Manchmal drückte er sich auch energischer und weniger galant aus: »der Architekt darf nicht mit seinen Maurern Schnaps trinken.«
Aber ich dachte bei mir: der gute Onkel ist eben ein vorsintflutlicher Anwalt. Und ich trank erst recht mit meinen Maurern Schnaps – und zwar nach Herzenslust – denn ich war fest überzeugt, daß ich mir das ruhig leisten könne, ohne den Kopf zu verlieren.
Schließlich trat der gute Onkel Boucart mir seine Praxis für 600 000 Francs ab. Ich zahlte ihm einstweilen nur die Hälfte, die schon mein ganzes Vermögen verschlang. Den Rest sollte ich ihm in den nächsten zehn Jahren von meinem Einkommen amortisieren. So hatte ich also mit meinen dreißig Jahren eine der bekanntesten Anwaltskanzleien inne, und die Sache ging großartig – ich hatte entschieden mehr Geschäftsgenie als mein Onkel. Nur war jetzt niemand mehr da, mich zu überwachen und im Zaume zu halten – und ich amüsierte mich besser als je zuvor.
So hatte ich eine Klientin, eine reizende Amerikanerin – ich will sie bequemlichkeitshalber Mrs. Smith nennen. Sie war viel in Europa gereist und hatte einen italienischen Fürst geheiratet. Das junge Paar ließ sich dann in Paris nieder, wo auch der alte Fürst wohnte. Aber schon nach anderthalb Jahren kam sie dahinter, daß ihr Mann sie hinterging, ließ sich scheiden und nannte sich wieder Mrs. Smith. Der Mann hatte sich bei der Sache so schmachvoll benommen, daß selbst der alte Fürst für seine Schwiegertochter Partei ergriff. Er dachte sogar daran, seinen Sohn aufs Pflichtteil zu setzen und ihr den Rest seines Vermögens zu vermachen.
Es war ein etwas schwieriger Fall, denn es war vorauszusehen, daß der benachteiligte Erbe sie der Erbschleicherei bezichtigen und mit den übelsten Beschuldigungen ins Feld rücken würde. So nahm Mrs. Smith ihre Zuflucht zu mir, ich sollte ihr raten, wie das Testament abzufassen sei und wie sie jetzt die Beziehungen zu ihrem Schwiegervater gestalten sollte, um sich nicht in ein falsches Licht zu setzen. Sie suchte mich oft in meinem Bureau auf, wie ich bald bemerkte, öfter, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Kurz, es entspann sich ein Flirt zwischen uns.
Sie war übrigens recht hübsch, die kleine Mrs. Smith, und nicht uninteressant, ein merkwürdiges Gemisch von Temperament und Sinn fürs Praktische. Sie war sehr darauf bedacht, ihre berechtigten Interessen wahrzunehmen, hätte es aber nie über sich gebracht, um des Geldes willen irgend eine unfaire Handlung zu begehen. Dabei war ihr Lebenswandel zweifellos völlig einwandfrei, Liebe und Ehe waren für sie ein untrennbarer Begriff. Wenn man sich liebte, so heiratete man sich auch, davon ließ sie sich durchaus nicht abbringen. Und nachdem das einmal festgestellt war, hatte sie weiter nichts dagegen, auf freundschaftlichem Fuß mit mir zu verkehren. Als geschiedene Frau konnte sie sich ja immerhin eine gewisse Bewegungsfreiheit erlauben.
Und ich dachte mir: Warum soll ich sie eigentlich nicht heiraten? Sie ist einfach reizend, und sie hat Vermögen, aber wiederum nicht so viel, daß es aussieht, als ob ich mich verkaufte. Außerdem hat sie mich entschieden ganz gern. – Na, wir werden ja sehen.«
»Und das nennst du Liebe, du Aktenmensch!« schrie Maigret.
»Unterbrich mich nicht,« antwortete Viger, »ich wollte gerade hinzufügen, daß trotz all dieser nüchternen Erwägungen die Reize meiner Klientin mich eigentlich völlig gefangen hielten. Mehr als ich mir selbst eingestehen wollte. Diese kleine Frau hatte eine Art mir zu sagen, sie hätte mich gern, und mir dann doch nicht die harmloseste Annäherung zu gestatten, daß mir manchmal heiß und kalt wurde. Kaum ein Nachmittag verging, ohne daß sie auf meinem Bureau erschien, und ihr Parfüm – Iris und Iicky – wich nicht mehr aus meinen Räumen. Machte ich irgend einen Scherz, der ihr zu gewagt erschien, so strafte sie mich dadurch, daß sie den nächsten Tag wegblieb. Und ich war schwach genug, ihr dann flehende Briefe zu schreiben.«
»So, das gefällt mir schon besser«, meinte Herbelin, »du scheinst doch in deiner Jugend so etwas wie ein Herz gehabt zu haben.«
»Nenn es meinetwegen Herz,« sagte der Notar trocken. – »Und dieses sogenannte Herz sollte bald noch heftiger schlagen. An einem Dezemberabend war ich mit Mrs. Smith in einer Gesellschaft – denn sie schleppte mich jetzt überall mit hin. – Als ich sie an ihren Wagen brachte, sagte sie mit einem Blick, dem selbst Onkel Boucart nicht widerstanden hätte:
›Hören Sie, in einigen Tagen ist die Premiere der »Renaissance« – Sie wissen doch das Stück von diesem jungen Dichter, der so talentvoll sein soll. – Ich möchte es auf jeden Fall sehen – nehmen Sie eine Loge, dann gehen wir zusammen hin und soupieren nachher irgendwo – nur wir zwei. Sagen Sie nichts, bitte – und lassen Sie meine Hand los. Erkundigen Sie sich, an welchem Tag das Stück gegeben wird, und lassen Sie mich die Logennummer wissen. Ich komme bis dahin nicht mehr auf Ihr Bureau, und Sie dürfen mich auch nicht besuchen. Ich will Ruhe haben, um über allerhand nachzudenken.‹
Damit ließ sie mich stehen und stieg in ihr Coupé, das rasch davon rollte. Ich ging heim und war glückselig wie ein verliebter Gymnasiast.
Wenn ich jetzt, nach zwanzig Jahren daran zurückdenke, bin ich mir ganz klar darüber, was sie beabsichtigte. Sie wollte ganz einfach einen Abend mit mir allein sein, um mir liebenswürdig und dezent mitzuteilen, daß sie nichts dagegen hätte, meine Frau zu werden. Wir wußten ja beide ganz gut, wie es um uns stand, hatten uns aber nie darüber ausgesprochen. – – Ich muß allerdings gestehen, daß ich an jenem Abend nicht unbedingt ernste Heiratsgedanken im Kopfe hatte. – ›Einen ganzen Abend mit ihr allein,‹ sagte ich mir – ›nun, wir werden ja sehen!‹ Gleich am nächsten Morgen studierte ich die Zeitungen, um das Datum der Aufführung festzustellen. Aber es war noch nicht endgültig festgesetzt. Voller Ungeduld schrieb ich an die Direktion, bestellte eine Loge und ersuchte, mir Mitteilung zu machen, sobald der Tag bestimmt sei.
Wie sie vorhergesagt hatte, ließ Mrs. Smith sich in der Zwischenzeit nicht bei mir blicken. Statt dessen kam am übernächsten Tage ein Billett von ihrem Schwiegervater. Sein Herzleiden hatte sich plötzlich in bedenklicher Weise verschlimmert, und daraufhin wollte er jetzt schleunigst das beabsichtigte Testament aufsetzen. Da er zu Bett lag und nicht lange schreiben konnte, bat er mich, gleich heute Nachmittag mit den üblichen Zeugen zu ihm zu kommen. Seiner Schwiegertochter möchte ich nichts davon sagen, um sie nicht zu beunruhigen.
Etwas vor vier Uhr verließ ich in Begleitung der erforderlichen vier Zeugen mein Bureau, mich zu dem alten Fürsten zu begeben, als der Portier mir einen Rohrpostbrief überreichte. Es war das Logenbillett für die »Renaissance«. Meine Begleiter haben sich gewiß gewundert, denn ich wurde rot und meine Hände zitterten, als ich das Billett sah. Das Datum der Aufführung stand darauf – am 21. Dezember. Heute war der 19. Also noch zweimal vierundzwanzig Stunden. Dann stiegen wir in eine Droschke, und ich hatte alle Mühe, mein Gesicht für die bevorstehende Amtshandlung in ernste Falten zu legen.
Der alte Fürst machte einen bedenklichen Eindruck, sein Gesicht war wachsbleich und die Hände angeschwollen. Ich wollte ihm ein Paar tröstende Worte sagen, aber er lenkte gleich ab:
›Wir wollen uns beeilen, Sie sind ja über meine Absichten unterrichtet. Den Pflichtteil ausgenommen, will ich alles meiner Schwiegertochter hinterlassen. Setzen Sie es bitte so auf, daß das Testament nicht angefochten werden kann.‹
Ich hatte das Schriftstück schon im voraus aufgesetzt und las es ihm vor. Er war einverstanden, und nun übertrug ich es auf Stempelpapier.
Ich fühlte mich sehr glücklich bei dieser Arbeit, denn es handelte sich ja um meine teure Klientin. ›Am 21. werde ich wohl mein Berufsgeheimnis verletzen,‹ dachte ich im stillen, »und ihr erzählen, daß das Testament gemacht ist. Ja, am 21. – in zwei Tagen.«
»Warum lächelst du, Herbelin?«
»Na, weißt du, das bringt doch nur ein Notar fertig, bei der Abfassung eines Testaments noch frivole Nebengedanken im Kopf zu haben. Aber erzähl weiter, wir zappeln vor Ungeduld.«
Als ich damit fertig war, las ich dem Fürsten und den vier Zeugen das Schriftstück vor. Niemand hatte etwas einzuwenden, der Fürst unterzeichnete, und dann verließen wir das Haus.
»Ich kann mir jetzt beinah denken, wie die Geschichte endigt,« sagte Graf Billois.
»Dann behalt deine Entdeckung für dich und verdirb mir meinen Effekt nicht. – Also – der Fürst hatte in weiser Voraussicht gehandelt, denn am folgenden Tag um drei Uhr früh verschied er. Ich fand die Todesanzeige in der Abendzeitung, die ich vor dem Einschlafen noch im Bett zu lesen pflegte. Ich lag ganz ruhig da, und hatte gerade die Anzeige gelesen, da ließ ich plötzlich das Blatt fallen und fuhr in die Höhe. Denn in demselben Augenblick sah ich ganz deutlich die letzten Zeilen des Testaments vor mir, das ich gestern abend niedergeschrieben hatte, und da stand es schwarz auf weiß:
»Im Jahre achtzehnhundertvierundachtzig, am einundzwanzigsten Dezember.«
– Versteht Ihr – am 21. Dezember. Ich sah diese vier Worte vor mir, als hätte ich sie gerade hingeschrieben.
Am 21. Dezember – das war das Datum der Aufführung – das war morgen. Und der Fürst war heute gestorben, am 20. – Das Testament war ungültig.«
»Aber ich bitte dich,« rief Herbelin, »das hatte sich doch beweisen lassen.«
»Ja, du hast eine Ahnung. Nein, mein Lieber, bleib du bei deinem B-moll und schlag dir solche Gedanken aus dem Kopf. Wenn ich mich wirklich im Datum geirrt hatte, so konnte man beweisen, daß ich mich geirrt hatte, weiter nichts.
Und natürlich war ich als Notar für meinen Irrtum verantwortlich. Die Jurisprudenz hält sich eben an jede Formalität, und es wäre nicht der erste Fall gewesen! Hatte ich ein falsches Datum geschrieben, so mußte ich für die Summe von 400 000 Francs haften, die laut dem Testament Mrs. Smith zufallen sollten. Und ich besaß nicht einen Heller, da ich meinem Onkel noch 300 000 schuldig war.
In dieser denkwürdigen Nacht habe ich an allen Gliedern gezittert wie ein Fieberkranker, ich war nicht einmal imstande, aus dem Bett zu springen. – Vergebens suchte ich mich zu beruhigen, indem ich mir sagte: es ist ja nicht möglich – ich habe das Testament dem Fürsten und den Zeugen vorgelesen – es hätte ihnen doch auffallen müssen, wenn ich wirklich 21. Dezember statt 19. Dezember geschrieben hatte. – Dann dachte ich wieder an ähnliche Vorkommnisse, von denen ich gehört hatte, gerade bei Testamenten war es schon dagewesen, daß irgendein Irrtum untergelaufen war, und niemand hatte darauf geachtet.
Es schlug halb eins, als es mir endlich gelang, aufzustehen und in meine Beinkleider zu schlüpfen. Mein Bureau lag in demselben Hause, nur einen Stock tiefer. So ging ich mit einem Leuchter in der Hand hinunter und schlich mich wie ein Dieb in mein Privatzimmer. – Ja, da war das Testament, rasch überflog ich die letzten Zeilen – und da stand wahrhaftig: am 21. Dezember. Das Testament war ungültig.
Ich muß mir selbst das Zeugnis ausstellen, daß ich es ruhig wieder zu den Akten legte, die Akten in den Schrank schloß und ruhig in mein Zimmer zurückkehrte. Daß die Sache wirklich stimmte, setzte mich nicht weiter in Erstaunen. Den eigentlichen Schrecken hatte ich ja schon durchgemacht, als ich beim Lesen der Anzeige durch eine Art von Telepathie meinen Irrtum entdeckte. Jetzt hatte ich meine Kaltblütigkeit wiedergefunden. Aber ich will euch nicht weismachen, daß ich in dieser Nacht geschlafen oder sie mit angenehmen Gedanken verbracht hätte. Ihr würdet es mir auch nicht glauben. Ich faßte alle Lösungen ins Auge, die überhaupt in Frage kommen konnten – inklusive den Revolver. – Ja, es war eine verfluchte Nacht. Mir wird noch heute kalt, wenn ich daran denke. – Billois, gib mir doch den Kümmel herüber.«
Während Viger sich ein Gläschen einschenkte und es austrank, erwogen seine Zuhörer die Frage, was er hätte tun können.
»Ich hätte alles im Stich gelassen,« meinte Maigret, »das Bureau, das Testament und die Amerikanerin dazu, hätte mich in einen Nachtzug gesetzt und wäre über die Grenze. – Das Gewissen hätte mir dabei wirklich nicht geschlagen.«
»Aber wovon hätte er im Ausland leben sollen – etwa von seinem schönen blonden Bart?« fragte Billois.
»Nein, es wäre am einfachsten gewesen, zu der Amerikanerin hinzugehen und ihr alles zu sagen. – Schließlich war sie doch eigentlich an allem schuld – und sie war noch dazu in ihn verliebt. Sie hätte ihm schon verziehen.«
Alle erklärten das einstimmig für die beste Lösung des Problems.
»Und doch war es die einzige, die ich auch nicht einen Moment erwog,« nahm Viger seine Geschichte wieder auf. »Seht ihr – jeder von euch vertritt die Moral seines Milieus und seines Berufes. Und ich betrachtete die Sache eben damals schon von dem moralischen Standpunkt aus, den man als Jurist vertreten muß. Durch meine Schuld war jemand geschädigt worden. Ob es eine Frau war, die mir gerne verziehen hätte, oder nicht, das kam nicht in Betracht, sie war und blieb eben doch meine Klientin. Und durch meine Schuld hätte sie 400 000 Francs eingebüßt, denn höchstwahrscheinlich hatte ihr Exgatte das Testament angefochten und den Prozeß gewonnen. Ich traf im stillen meine Vorbereitungen um, wenn es nötig sein sollte, diskret vom Erdboden zu verschwinden. Aber vorher wollte ich noch die einzige Möglichkeit, die es für mich gab, versuchen, um die Summe aufzutreiben.«
»Onkel Boucart?« fragte Maigret.
»Ja, Onkel Boucart. Er war nach Neuilly gezogen und hatte dort eine entzückende Wohnung, voll von wertvollen Antiquitäten. Denn er war ein passionierter Sammler, Als ich ihn morgens um neun Uhr aufsuchte, war er gerade damit beschäftigt, ein Miniaturbildchen aus dem siebzehnten Jahrhundert durch die Lupe zu betrachten. Ich wartete, bis er seine Lupe weglegte, und erzählte ihm kurz und bündig die ganze Geschichte, angefangen von meinem Flirt mit Mrs. Smith, bis zu der verhängnisvollen Verabredung im Theater und der unseligen Datumsverwechslung. Mein Onkel unterbrach mich nicht ein einziges Mal, aber ich sah ihm an, daß meine Erzählung ihn tief erregte. – »Ich bin verloren,« dachte ich bei mir, »er wird mich zum Teufel schicken, mich verleugnen, enterben und sich von mir lossagen«. – Aber trotzdem vollendete ich meine Beichte. – Und nun kam er auf mich zu, reichte mir seine welke Greisenhand und sah mir mit demselben Blick in die Augen, mit dem er vorhin die Miniatur betrachtet hatte.
»Mein armer Junge, du hast wohl daran gedacht zum Revolver zu greifen?«
»Das habe ich allerdings getan, Onkel.«
»Ich hab es ja gleich gewußt, sonst hättest du wohl nicht in diesem Ton gesprochen.«
Dann ließ er meine Hand los und setzte sich nieder:
›Natürlich mußt du zuerst versuchen, Mrs. Smith zu bewegen, daß sie keine Ansprüche gegen dich geltend macht. Selbst, wenn sie ihre Erbschaft einbüßt, was höchstwahrscheinlich ist.‹
›Mein, lieber Onkel – Mrs. Smith muß ihr Geld bekommen – oder – – ‹
Onkel Boucart ließ mich nicht aussprechen – er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und küßte mich:
›Schweig, dummer Junge – du weißt sehr gut, daß ich dich nicht in der Klemme sitzen lasse. Du bist ein echter Boucart. Wärst du zu der Erbärmlichkeit imstande, deine Klientin darum zu bitten – so hättest du mich nie wiedergesehen.
Wenn dieses Teufelsweib auch eigentlich verdient hätte, sein Vermögen zu verlieren. – Man gibt sich nicht Rendezvous mit seinem Rechtsanwalt – man soupiert nicht unter vier Augen mit ihm – verwirrt sein Gedächtnis nicht mit Theateraufführungen, so daß er nachher die Daten verwechselt.
Da siehst du nun, mein Junge, was dabei herauskommt, wenn der Architekt mit seinen Maurern kneipt. – Siehst du, ich hab mich als Anwalt mein Leben lang nicht darum gekümmert, ob meine Klientinnen braune oder blaue Augen hatten. Selbst meine selige Frau hatte ich darnach erzogen, daß sie sich aller überflüssigen Höflichkeiten gegen meine Klienten enthielt.‹ Ich sah die gute alte Tante Boucart vor mir, wie sie in ihrem schwarzen Seidenkleid und mit einer Tüllhaube auf dem Kopf im Hause herumhuschte und sich unaufhörlich mit ihren Dienstboten, mit den Schreibern und Praktikanten herumzankte. Und ich mußte unwillkürlich lächeln.
»Ja, lach nur, lach nur,« brummte der Onkel. »Deine Amerikanerin wird dich allein vierhundert schöne, braune Lappen kosten. – Denn du kannst dir wohl denken, wenn du sie mir jetzt wegnimmst, nimmst du sie in Wirklichkeit dir selbst weg.«
Viger-Boucart hielt inne und trank noch ein Glas Kümmel.
»Kam es wirklich denn zum Prozeß?« fragte Maigret.
»Nein. – Mein Onkel setzte sich mit dem Sohn des alten Fürsten in Verbindung und brachte einen Vergleich zustande. Der Exgatte ging darauf ein, weil er möglichst rasch zu seinem Gelde kommen wollte, denn der Prozeß hätte vielleicht Jahre gedauert. So erkannte er das Testament an, wenn ihm sofort eine Summe von 250 000 Francs ausbezahlt würde.«
»Und wie verlief der Abend in der Renaissance?«
»Er kam überhaupt nicht zustande, mein Lieber. Ich kann mir denken, daß ich dadurch in Eurer Meinung bedeutend sinke – aber ich hatte das Datum, den unglückseligen 21. Dezember – vollständig vergessen. Den ganzen Tag über war ich durch die Besprechung mit meinem Onkel und durch meine eignen Konsultationen in Anspruch genommen, kam erst nach Mitternacht nach Hause, legte mich zu Bett und schlief wie ein Toter. Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, fiel mir ein, was ich versäumt hatte. Ihr mögt darüber denken, wie ihr wollt, ich kann nur sagen, daß es mich ziemlich kalt ließ.«
»Und Mrs. Smith?«
»Ich hab sie nur noch einmal wiedergesehen. Sie war damit einverstanden, daß mein Onkel die geschäftliche Seite der Angelegenheit in die Hand nahm.
Als alles geregelt war und sie die Erbschaft angetreten hatte, beschloß sie, in ihre Heimat zurückzukehren. Zwei Tage vor ihrer Abreise erschien sie noch einmal auf meinem Bureau. Sie schien durchaus nicht bewegt, und ich konstatierte mit Genugtuung, daß ich ebenfalls ganz ruhig war. Dann erklärte sie mir, daß sie ihre Papiere, die noch bei meinen Akten lagen, wiederhaben möchte, da sie nach Neuyork fahren wolle. Beim Abschied sagte ich nur:
›Ich bitte vielmals um Entschuldigung, gnädige Frau, aber es war mir damals – am 21. Dezember unmöglich, Ihnen Gesellschaft zu leisten.‹
›O, das war ja ganz selbstverständlich,‹ erwiderte sie, ›deshalb bin ich Ihnen gar nicht böse gewesen.‹
›Weshalb waren Sie mir denn böse?‹ fragte ich erstaunt.
Sie hatte schon die Hand am Türgriff und zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie mit einem Anflug von Verlegenheit:
»Ich hätte Sie in geschäftlichen Dingen für zuverlässiger gehalten.«
Damit verließ sie mein Bureau. – Und ich begriff, daß diese praktische kleine Person mich ein wenig verachtete, weil ich damals aus Verliebtheit einen Augenblick meine ›self control‹ verloren hatte. Ich war in ihren Augen eben nur ›ein oberflächlicher Franzose.‹
Das war eine harte Lektion für mich. Ich muß gestehen, sie wirkte mehr auf mich als alle Vorhaltungen meines Onkels und alle Schrecken, die ich in jener schlimmen Nacht durchgemacht hatte. Ich habe von da an endgültig darauf verzichtet, mit meinen Klientinnen in persönliche Beziehungen zu treten.
Nun jetzt bin ich ja über das gefährliche Alter hinaus, aber damals brauchte ich nur das berühmte Logenbillett wieder anzusehen, das ich treulich aufbewahrte – dann war ich gegen alle Versuchungen gefeit. Ich sah Mrs. Smith wieder vor mir und fühlte den letzten verächtlichen Blick, der mich aus ihren grauen Augen traf.
Und ich war fest entschlossen, so zu handeln, daß nie wieder ein Klient – oder eine Klientin das Recht haben sollte, mir solche Blicke zuzuwerfen.