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Der Andere

Vor ungefähr zwei Jahren hatte ich einen heftigen Anfall von Rheumatismus und sah mich genötigt, meine Praxis einem Kollegen zu übergeben und nach Saint-Amand ins Moorbad zu gehen. Obgleich ich schon öfters Patienten hingeschickt hatte, lernte ich die Anstalt bei dieser Gelegenheit zum erstenmal persönlich kennen. Es war ein riesiges, modern eingerichtetes Gebäude mit einem schönen Park, und der leitende Arzt hielt auf militärische Disziplin unter seinem Personal und seinen Patienten.

Gleich am ersten Tage begann ich mit meiner Kur. Jeden Morgen mußte ich bis an den Hals in das schlammgefüllte Bassin steigen und dreißig bis vierzig Minuten möglichst ruhig darin liegen bleiben. Dann bekam ich eine warme Dusche und ein Reinigungsbad, um meinen Körper von dem schwarzen Zeug zu befreien, worauf man noch eine Stunde ruhen mußte. Damit war die Behandlung zu Ende, und für den Rest des Tages war ich mein eigner Herr.

In der Hochsaison, gegen Ende Juli, wimmelt das gemeinsame Bassin zur Badezeit von Kranken. Jeder bekommt eine Art Halseisen um die Schultern gelegt, damit man an seinem Platz bleibt, aber trotzdem kommt man öfters in unfreiwillige Berührung mit seinen Nachbarn.

Als ich meine Kur durchmachte, war es erst Juni, und wir waren höchstens zwölf Leidensgenossen, die gemeinsam badeten. Wir dachten denn auch gar nicht daran, uns auszuweichen, sondern suchten im Gegenteil uns die Zeit mit Plaudern gegenseitig zu verkürzen. Für den Zuschauer war es jedenfalls ein komisches Schauspiel, es sah aus wie eine Zusammenkunft von zwölf Geköpften, die sich miteinander unterhielten.

Unter den verschiedenen Kranken interessierte mich vor allem ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren. Seine Glieder waren durch den Rheumatismus so verkrümmt, das er nicht gehen konnte, und seine Mutter pflegte ihn im Park spazieren zu fahren. Der arme Kleine lag dann ganz in sich zusammengesunken in seinem Wagen, und seine Augen glitten unruhig über die Landschaft hin. Die Mutter selbst sah sehr zart aus und war recht anmutig mit ihrem bleichen Gesicht und den blauen Augen, aber in ihren Zügen, über die von Zeit zu Zeit ein nervöses Zucken ging, spiegelte sich dieselbe Unruhe wie in denen des Kindes. Sie nannte sich Madame Delesdain, und der Kleine hieß Paul.

Unsre Zimmer lagen nebeneinander, und nach der Abreise einiger anderer Badegäste wurden wir auch bei Tisch Nachbarn. So schlossen wir allmählich Freundschaft. Ich erfuhr, daß sie in Neuilly wohnten, daß der Kleine zu Hause unterrichtet wurde, da er ja nicht in die Schule gehen konnte, – daß er von Geburt an krank gewesen sei, das Übel sich aber während der letzten zwei Jahre stetig verschlimmert habe. Von ihrem Mann sprach sie nie, ebenso wie Paul seinen Vater nicht erwähnte. Übrigens war er geistig sehr zurückgeblieben.

Ich fragte natürlich auch nicht weiter, ich sah nur, daß Madame Delesdain einen Ehering trug, und fand es sehr sympathisch, daß sie in dieser Weise die Form wahrte.

Aber eines Morgens beim Frühstück stellte sie mir einen imposanten, bärtigen Herrn von etwa vierzig Jahren vor:

»Mein Mann,« sagte sie etwas unsicher und errötete, als hätte sie eine Lüge gesagt.

Der Mann war ein ganz gleichgültiger Spießbürger, der mit großem Ernst über die langweiligsten Tagesereignisse redete. Aber von diesem Tage an begann Madame Delesdain mich zu interessieren.

Wenn sie mit ihrem Mann zusammen war, machte sie den Eindruck einer schuldbeladenen Sünderin. Man hätte denken können, ihr Gatte habe sie erst gestern in flagranti ertappt, sie schwer beschimpft und ihr dann verziehen. Sie konnte weder essen noch sprechen und sah nichts von dem, was um sie herum vorging. Als Delesdain sie einmal bei ihrem Namen – Blanche – nannte, fuhr sie förmlich zusammen und rang nach Atem. Und ein paarmal fiel es mir auf, daß sie ihn ganz starr ansah, als stände ein Gespenst vor ihr.

Zum Essen kam sie nicht herunter. Ich erkundigte mich und erfuhr, Madame Delesdain habe Migräne, und sie hätten sich auf ihrem Zimmer servieren lassen. An dem Abend sah ich sie nicht mehr, aber mitten in der Nacht klopfte ihr Mann bei mir an.

»Herr Doktor,« sagte er, »meine Frau hat einen schlimmen Nervenanfall. Würden Sie so freundlich sein, mir etwas Hilfe zu leisten und sie zu beruhigen.«

Die junge Frau lag in Krämpfen, als ich herüberkam. Sie wand sich hin und her, wühlte den Kopf tief in die Kissen hinein und ließ ein langgezogenes Stöhnen vernehmen. Ich glaubte zu wiederholten Malen ein abwehrendes Nein, nein, herauszuhören.

Vergebens wendete ich alle Mittel an, die in solchen Fällen zu helfen pflegen, Äther, Morphium, Kompressen, – alles war umsonst.

Schließlich fiel es mir auf, daß sie den Anblick ihres Gatten sichtlich vermied, und ich dachte an meine Beobachtungen von heute vormittag. So wendete ich mich an den Mann:

»Wahrscheinlich hat heute zwischen Ihnen und Ihrer Frau eine Unterredung stattgefunden, die sie heftig erregt hat. Ich glaube deshalb, sie wird sich eher beruhigen lassen, wenn Sie nicht dabei sind. Wollen Sie mich ein paar Minuten mit ihr allein lassen.«

Ganz traurig antwortete er: »Es ist nicht das mindeste zwischen uns vorgefallen. Ich mache meiner Frau nie im Leben eine Szene. Aber Sie haben recht, es ist besser, wenn ich hinausgehe. Jedesmal, wenn wir uns nach längerer Trennung wiedersehen, bekommt sie diese Anfälle, und ich ahne nicht, wie das kommt.«

»Und im gewöhnlichen Leben, wenn sie zu Hause ist?«

»Dann werden die Anfälle immer seltener und hören zuletzt ganz auf.«

»Haben Sie Ärzte darüber befragt?«

»Ja – aber sie konnten es sich nicht erklären.«

Sobald ich mit der Kranken allein war, sagte ich ihr kurz:

»Er ist fort.«

Das wirkte wie ein Zauberwort. Sie beruhigte sich sofort, richtete sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn, die ganz in Schweiß gebadet war.

»Kommt er wieder?«

»Nein, er ist abgereist.«

Mit einem Seufzer legte sie sich wieder in die Kissen zurück und schloß die Augen.

Ihre Atemzüge wurden regelmäßiger, und nach zehn Minuten schlief sie fest und ruhig. Ihr Puls war völlig normal.

Ich suchte ihren Mann auf und fragte ihn, wann er abzureisen gedenke.

»Morgen abend.«

»Reisen Sie lieber in aller Früh ab, ohne Ihre Frau noch einmal zu sehen. Sie können sie ruhig in meiner Obhut zurücklassen, der Fall interessiert mich, und ich werde sie behandeln, bis der kleine Paul mit seiner Kur fertig ist. Was sollten wir jetzt machen, wenn Ihre Frau wirklich krank würde, es wäre doch sehr schlimm, wenn der Kleine seine Behandlung unterbrechen müßte.«

Er gab mir recht und sprach mir seinen herzlichsten Dank aus. Am nächsten Morgen um neun Uhr fuhr er denn auch nach Paris zurück.

Ich hielt mein Wort und beschäftigte mich aufs eingehendste mit dem Zustand der jungen Frau, solange wir noch zusammen in Saint-Amand waren. Soviel war mir schon lange klar, und ich habe es in meiner Praxis oft genug bestätigt gefunden: wenn eine Frau an nervösen Zuständen leidet, steckt fast immer eine unglückliche Liebesgeschichte oder irgend eine Störung des Geschlechtslebens dahinter. Und solange sie sich dem Arzt nicht rückhaltlos anvertraut, nützt alle Behandlung nichts. Unsre Kunst soll also vor allem darin bestehen, diesen Dingen auf den Grund zu kommen.

Bei Madame Delesdain hielt dies schon schwer. Erst zwei Tage vor der Abreise gelang es mir, sie zum Sprechen zu bewegen, und zwar nur durch die Drohung, daß ich mich später in Paris nicht mehr um sie kümmern würde, wenn sie mir ihr Geheimnis nicht anvertraute.

Und nun erzählte sie mir folgendes:

Ich habe mit zweiundzwanzig Jahren geheiratet, und ich liebte meinen Mann. Unsere Eltern waren befreundet, und wir waren schon seit frühester Kindheit Spielgefährten gewesen, und naturgemäß verwandelte sich unsre Kameradschaft im Lauf der Jahre in Liebe.

Wie gesagt, wir hatten uns sehr lieb. Mein Mann war eine elegante Erscheinung, gut gewachsen, schlank und blond. Durch sein angenehmes Äußere fand er viel Anklang bei den Frauen. Ich gebe zu, daß ich manchmal etwas eifersüchtig war, aber da er mir nie Anlaß gab, an seiner Treue zu zweifeln, war ich an seiner Seite wirklich vollkommen glücklich. Ich war ihm Gattin und Geliebte zugleich, und zwei volle Jahre vergingen, ohne daß unser Liebesglück durch den leisesten Schatten getrübt wurde.

Nur eine Hoffnung blieb uns anfangs unerfüllt, wir hatten keine Kinder. Wir zogen verschiedene Arzte zu Rate, aber sie konnten nichts Anormales in meiner Konstitution entdecken. So rieten sie uns, abzuwarten und die Hoffnung nicht fahren zu lassen. Und sie behielten recht, denn im dritten Jahr unsrer Ehe fühlte ich mich Mutter.

Wir machten damals eine Reise ins bayrische Hochland. Mein Mann mietete in der Nahe des Starnberger Sees eine kleine Villa, in der wir die ersten Monate meiner Schwangerschaft verlebten. Im Herbst kehrten wir nach Paris zurück, und da meine Mutter mich gerne in ihrer Nähe haben wollte, zogen wir nach Neuilly.

Mein Mann und ich hatten wie von jeher ein gemeinsames Bett, und auf dem Kamin brannte immer eine Nachtlampe. Ich war das von meiner Kindheit her so gewöhnt, im Dunkeln fürchtete ich mich und litt leicht an Halluzinationen.

Eines Nachts wachte ich nun plötzlich aus – es war am 9. November, das weiß ich noch ganz genau – und hatte das Gefühl, als ob irgend etwas anders wäre wie sonst.

Die Nachtlampe erfüllte das Zimmer mit ihrem spärlichen Licht, es war also immerhin hell genug, die nächstliegenden Gegenstände deutlich zu sehen. Ich wendete mich um, nach der Seite, wo mein Mann lag, und nun sah ich etwas, was mich mit namenlosem Schrecken erfüllte. Ich konnte nicht einmal aufschreien, der Schreck schnürte mir die Kehle zu.

Da lag ein Mann neben mir und schlief – aber es war nicht mein Mann, sondern ein Fremder – ein breitschulteriger, brünetter Mensch mit bärtigem Gesicht. – Sie haben ihn ja gesehen, es war Delesdain.

Ich muß dann lange Zeit bewußtlos gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, war es Tag. Das merkwürdige Erlebnis der Nacht fiel mir wieder ein, und aus Angst, daß die schreckliche Vision noch einmal wiederkehren könne, blieb ich regungslos liegen und starrte die Wand an.

»Jetzt muß gleich das Mädchen mit dem Tee kommen,« dachte ich, »dann kann ich mich ohne Angst umsehen.

Francine trat denn auch wie gewöhnlich um einhalb neun Uhr ins Zimmer, stellte ihr Tablett auf den Tisch und zog die Vorhänge in die Höhe. Jetzt erst wagte ich, mich umzuwenden, und diesmal stieß ich einen furchtbaren Schrei aus.

Der andere, der bärtige, brünette Fremde lag wirklich noch neben mir. Aber was mich am meisten entsetzte, war, daß Francine ihn ganz ruhig da liegen sah, ihn zu kennen schien und sich gar nicht über seine Anwesenheit wunderte.

Was dann geschah, daran vermag ich mich nicht mehr genau zu erinnern. Wie im Traum sah ich, daß meine Mutter und meine Schwiegereltern um mich waren und auch dieser fremde Mann, den sie zu meinem Entsetzen alle für meinen Gatten zu halten schienen.

Das muß mehrere Tage und Nächte gedauert haben. Und allmählich ging etwas Seltsames in mir vor, während ich immer noch in einer Art Halbschlaf dalag und nicht recht wußte, ob ich wache oder träume. – Ich begann an mir selbst irre zu werden. Mir wurde klar, daß wir uns nicht auf unser eignes Gedächtnis und auf die Wahrnehmungen unserer Sinne verlassen können, und ergab mich in die Tatsache, von der die andern alle einmütig überzeugt waren. Ein paar Tage später kam ich vorzeitig nieder, mein kleiner Paul kam, wie Sie wissen, schwächlich und halbverkrüppelt zur Welt.

Ich wurde wieder gesund, – wenn man das Gesundwerden nennen kann, – ich konnte wieder gehen, sprechen und Nahrung zu mir nehmen. Aber ich gewann es nicht über mich, irgend jemand von meiner Umgebung den entsetzlichen Zweifel einzugestehen, daß dieser Mensch, der von jetzt an mein Leben teilte, nicht mein Mann war. Ich wußte, daß alle mich für verrückt halten würden. – Denn sie schienen ihn alle zu kennen, und was das allerschrecklichste war, er sprach von unseren gemeinsamen Erinnerungen, als ob er wirklich alles mit mir zusammen erlebt hätte.

Allmählich fand ich mich denn auch darein, daß er mein Mann sein sollte, und hielt ihn selbst dafür, wie die andern alle.

Ja, und so lebe ich denn seit fünf Jahren mit Delesdain zusammen. Wir verstehen uns sehr gut, ich habe mich an ihn gewöhnt und leide nicht mehr darunter. Nur, wenn ich von ihm getrennt bin, taucht das Bild meines ersten Mannes wieder vor mir auf. Und wenn ich Delesdain wiedersehe, kommt dieser Anfall über mich, den Sie ja miterlebt haben. Übrigens weiß kein Mensch auf der Welt um mein Geheimnis. Ich habe es mit mir herumgetragen wie eine Krankheit, die man nicht eingestehen möchte. Und es reut mich beinah, daß ich es Ihnen anvertraut habe.

*

Zwei Tage nach diesem Geständnis kehrte Madame Delesdain mit ihrem Kind nach Neuilly zurück. Wir hatten ausgemacht, daß sie mich nach meiner Rückkehr in Paris aufsuchen sollte, und ich wollte sie dann in gründliche Behandlung nehmen. Ich sah in ihrem Fall eine seltsame Monomanie, hielt sie aber nicht für unheilbar.

Zu meinem großen Erstaunen ließ sie dann nichts mehr von sich hören. Als etwa vierzehn Tage vergangen waren, schrieb ich, erhielt aber keine Antwort.

Ein halbes Jahr später, als ich die ganze Sache schon fast vergessen hatte, hörte ich, Monsieur Delesdain habe sich selbst das Leben genommen.

Seine Witwe hat sich bald darauf wieder verheiratet, und man hat mir erzählt, daß sie sich körperlich und geistig sehr wohl befände.


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