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Wir waren ganz unter uns und erörterten die von den Moralisten oft aufgeworfene Frage: hat ein Vater oder ein Ehemann das Recht, sei es durch ein Testament, sei es durch bindende Ratschläge in der Todesstunde, das Herzensschicksal seiner Kinder oder seiner Frau zu beeinflussen?
Alle einigten sich dahin, daß derartige letzte Wünsche immer eine Unklugheit wären, mögen ihre Beweggründe auch noch so rein und edel sein. Ein Herr Descombes, der Notar in einem Städtchen unweit von Paris war, sagte darauf:
»Ich habe in meiner Praxis mehrere Beispiele von solcher Unklugheit kennen gelernt, und ich habe den Grundsatz, die unter meinen Klienten, die überhaupt auf mich hören, von solchen Streichen abzuhalten. Die Fälle, die ich nicht verhindern kann, haben gewöhnlich viel Unheil im Gefolge. Das Schmerzlichste, was ich in der Art erlebt habe, ist die folgende Geschichte:
Als ich noch erster Sekretär in meinem jetzigen Bureau war, war ich in der Gesellschaft unserer Stadt, die ja ganz nahe von Paris liegt, aber sehr kleinstädtisch ist, sehr gern gesehen. Ich war ein flotter Tänzer. Ich konnte ziemlich gut eine Quadrille, einen Walzer auf dem Klavier des Friedensrichters oder des Ingenieurs spielen. Ich besaß die Frische meiner fünfundzwanzig Jahre. Kurz, mit den zweihundert Franken Zulage, die ich von meinen Eltern bekam, mit meinem einförmigen Beruf, meinen schlichten Freunden und dem bescheidenen Ehrgeiz, eines Tages Herrn Gobins Nachfolger zu werden, fühlte ich mich vollkommen glücklich.
Ein junger Sekretär ohne Vermögen interessiert sich für heiratsfähige junge Mädchen. Es gab deren genug in unserem Kreise. Auch reiche gab es darunter. Auch liebenswürdige. Sogar hübsche. Nach den ersten paar Tanzgesellschaften wußte ich, daß das Schicksal in seiner ausgleichenden Gerechtigkeit diese drei Eigenschaften nur selten zu gleicher Zeit auf ein braunes oder blondes Haupt gehäuft hatte. Ich war ein vernünftiger Junge. Ich war höflich gegen alle, vermied es aber, zu tief in gar zu hübsche Augen zu sehen. Meine Wahl fiel auf ein kleines Mädchen, das nicht sehr umworben war, weil es schüchtern und durchaus nicht schön war. Als ich sie fünf Jahre später heiratete, brachte sie mir unter anderm auch Herrn Gobins Notariat in die Ehe mit; siebzehn allzu kurze Jahre bin ich vollkommen glücklich mit ihr gewesen. – – –«
Herr Descombes sann, wie sich's gehörte, einen Augenblick ernst vor sich hin, weil er der Toten gedachte.
»Mein bester Freund Hurelin, der Obersekretär beim Rentamt für die direkten Steuern war, hat weniger klug gehandelt als ich. Er war selber arm und verliebte sich in die Ärmste unter unsern Tänzerinnen: ein Fräulein Régine de Pillière, die Tochter eines verabschiedeten Infanteriehauptmanns. Der Hauptmann war Witwer: seine Tochter wußte mit der bescheidenen Pension des alten Soldaten trefflich hauszuhalten. Dazu war Régine eine sehr hübsche Brünette, der Hurelin, der gleichfalls ein hübscher Junge war, so wenig mißfiel, daß sie seinetwegen eine glänzende Heirat ausgeschlagen hatte: den jungen Coubert, der der Sohn eines der reichsten Fabrikanten der Stadt war. Und Herr von Pillière war darüber selbstverständlich sehr ungehalten gewesen.
Sie erraten wohl schon, wie sich der Knoten dieses kleinstädtischen Dramas schürzte? Herr von Pillière hatte in seinem fünfundsechzigsten Jahre einen Schlaganfall, der seinen rechten Arm lähmte, seinen Geist aber klar ließ. Régine pflegte ihn mit aufopfernder Zärtlichkeit; aber sieben Monate später machte ein zweiter Anfall dem Leben des Hauptmanns ein Ende.
Er ließ seine Tochter mittellos zurück. In seinem Portefeuille fand man ein Testament, das die Angst ausdrückte, die er wegen der Zukunft seines Kindes hatte. Er empfahl sie einem seiner Freunde, einem hochgestellten Mitgliede des Generalstabes. Es schloß mit den Worten:
›Wenn meine liebe Tochter Régine will, daß ich in meinem Grabe Ruhe habe, bitte ich sie, auf ihren ersten Entschluß zurückzukommen und Herrn François Coubert zu heiraten, der sie aufrichtig liebt ...‹
Régine benahm sich heldenhaft. Sie erklärte Hurelin, er hätte nichts mehr zu hoffen; sie heiratete François Coubert; ich hatte, weiß ich noch, den Ehekontrakt aufzusetzen. Ich hatte damals ein so weiches Herz, daß ich eine Träne auf mein Kanzleipapier fallen ließ, was mir einen strengen Tadel eintrug von Herrn Gobin.
Régine wurde Frau Coubert. Sie war reich. Sie hatte Kinder. Dieser Coubert war im Grunde ein anständiger Mensch; er behandelte sie gut. Dennoch war Régine nicht glücklich. Ich wußte es, weil sie, nachdem Hurelin die Gegend und seinen Dienst verlassen hatte, etwas von der Zuneigung, die sie dem Abwesenden bewahrte, auf mich, seinen liebsten Freund, übertrug. In den zwanzig Jahren, während derer ich in Beziehungen zu Frau Coubert stand, lernte ich die seltsame Wahrheit kennen: daß eine wahrhaft anständige Frau eine zwiefache Treue zu halten imstande ist, wenn auch die eine Treue die andere auszuschließen scheint. Régine war ihrem Manne eine vollkommene Frau; aber sie nahm nie zurück, was sie einst Hurelin von ihrem Herzen gegeben hatte. Coubert, der das wußte, litt nicht darunter; er war ein vergnügter Lebenskünstler, der sich nicht in gefühlvolle Spitzfindigkeiten verlor. Daß seine Frau hübsch und sparsam war und die Ehre seines Hauses strengstens wahrte, war alles, was er sich wünschen konnte. Aber Régine tröstete sich nicht. Die Wunde, die ihrer jungen Liebe geschlagen worden war, schloß sich niemals; und ich glaube, diese Wunde war die Ursache der Nervenkrankheit, an der sie im kritischen Alter vorzeitig starb.
Die Geschichte, die ich eben erzählt habe,« fuhr der Notar fort, »ist die Geschichte vieler Frauen, und ich könnte zehn andere ähnliche, deren Zeuge oder Vertrauter ich war, erzählen. Aber Réginens Geschichte hatte einen wahrhaft romantischen Epilog.
Als die arme Frau endlich die Todesruhe genoß, half ich ihrem Manne, ihre intimen Papiere zu ordnen. Wir fanden glücklicherweise keine schriftliche Spur der seelischen Qualen, die sie erduldet hatte. Das Geheimnis blieb zwischen ihr und mir. Wir stellten bewegt fest, daß sie pietätvoll alle kleinen Gegenstände, die von ihrem Vater stammten, aufbewahrt hatte, bis auf seine Hefte aus der Schule von Saint-Cyr, in denen Herr von Pillière in den letzten Monaten seiner Krankheit gern geblättert hatte. Ich öffnete mechanisch eins der Hefte und fand einen ganz vergilbten Briefbogen, auf dem in linkischer, zitternder Schrift folgende Worte standen:
›Unter der drohenden Nähe des Todes, der mich schon halb bezwungen hat, fühle ich, daß ich kein Recht habe, über das Herz meines Kindes zu verfügen. Das Testament vom 18. Januar ist null und nichtig. Régine soll heiraten, wen sie will.‹
Die Schrift war, wie ich schon sagte, die eines Kindes, das erst schreiben lernt ... es war die Handschrift des Hauptmanns aus der Zeit zwischen den beiden Schlaganfällen, er übte sich damals im Schreiben mit der linken Hand.
Hatte Régine diesen Widerruf ihres Vaters zu spät kennen gelernt? Niemals hat sie davon gesprochen; und ich glaube fast, sie hat ihn auch nie gesehen. Wahrscheinlich ist das Papier in dem Heft unbemerkt geblieben. Régine bewahrte die Andenken an ihren Vater pietätvoll auf; aber es ist nicht anzunehmen, daß sie seine Geometriehefte durchgeblättert hat.
So wurde das Leben dieser reizenden Frau durch die gewissenhafte Befolgung eines letzten Willens gebrochen – was sage ich? – eines falschen letzten Willens! ... Régine hatte ihr Leben der Glorifizierung eines Irrtums geopfert!
Ich gestehe, ich war durch meine Entdeckung wie niedergeschmettert. Herr Coubert sah meine Ergriffenheit. Es war mir unmöglich, ihn zu verhindern, das Papier zu lesen ...
Er konnte es nicht gleich fassen. Und als er's begriffen hatte – wissen Sie, was dieser trauernde Ehemann – denn seine Trauer war aufrichtig – zu mir sagte:
›Welch ein Glück, lieber Freund, welch ein Glück, daß Régine dieses Papier nicht vor unserer Hochzeit gefunden hat! ...‹«