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Vor sechs Wochen, an einem Märzabend, hatten sie sich kennen gelernt. Sie kam aus ihrer Werkstatt, er aus seinem Ministerium zurück. Und seitdem gingen sie täglich Seite an Seite die Straßen Sainte-Anne, Taitbout, Notre-Dame-de-Lorette entlang und benutzten, wenn es regnete, Arm in Arm denselben Schirm.
Er machte ihr diskret und bescheiden den Hof, wie ein Mann, dem das Elend und der Ekel des Lebens die Spannkraft der Hoffnung mit dem dreißigsten Jahre zerbrochen haben und der nicht mehr an die Möglichkeit glaubt, seine Wünsche könnten sich verwirklichen. Sie antwortete ihm ausweichend und tat, als hielte sie alle seine Worte nur für Scherz; manchmal aber war sie doch ein wenig verwirrt, verstummte sie plötzlich, weil ihr die Stimme versagte.
An der Ecke der Laferrièrestraße, in der das junge Mädchen wohnte, wurden ihre Schritte langsamer, und sie trennten sich immer in einer leichten Verlegenheit.
»Sollen wir wieder so auseinandergehen, Fräulein Marie?« fragte der Beamte.
Sie antwortete und versuchte dabei ihrer Stimme Festigkeit zu geben:
»Natürlich, Herr Jean ... Wir müssen ja zu Abend essen und dann schlafen gehn, nicht wahr?«
»Und wenn wir zusammen essen würden? ... Zum Schlafen müßten wir uns allerdings trennen ... wenn Sie nicht ...«
Sie lachte und drohte mit dem Finger.
»Sie sind nicht bei Trost. Gehn Sie nach Hause und sein Sie artig. Vielleicht morgen.«
»Das sagen Sie immer! Lassen Sie mich wenigstens für einen Augenblick mit in Ihr Zimmer ... ich möchte es gern einmal sehen.«
»Nein, Herr Jean, nein,« antwortete das junge Mädchen, auf einmal ernst. »Warum bitten Sie mich jeden Tag darum? Ich sage Ihnen doch, es geht nicht. Ach, machen Sie doch kein böses Gesicht, sagen Sie mir nett und freundlich auf Wiedersehn.«
Sie streckte ihm ihre kleine schwarzbehandschuhte Hand entgegen. Er legte seine schwere bloße Hand hinein. Und trotz alledem fühlten beide in dem Händedruck, den sie tauschten, Liebe.
*
Wenn er sich von ihr getrennt hatte, ging er rascher nach seiner Wohnung zu. Mit vollem, beklommenem Herzen träumte er vor sich hin, denn er war traurig, weil er Mariens blasses Profil nicht mehr neben sich sah, ihren Rock und ihren Arm nicht mehr im Gehen streifte; und außerdem quälte ihn eine unklare Angst, die Angst vor irgend einem schlimmen Geheimnis, das am Ende das junge Mädchen verhindern könnte, ihm jemals anzugehören.
Warum verweigerte sie sich ihm und wollte sich ihm nicht hingeben? Warum erlaubte sie ihm nicht, sie auf einen Augenblick zu besuchen? Warum war sie immer so verlegen, wenn sie Abschied voneinander nahmen? Sie war ja doch nicht mehr unschuldig, wenigstens vermutete er das, weil sie einige Worte hatte fallen lassen, die darauf hindeuteten, weil sie zuweilen Anspielungen auf Körperlichkeiten der Liebe gemacht hatte, wie eine, die diese Dinge schon kannte ... Und dann ist ein völlig unabhängiges Mädchen von zwanzig Jahren, das zugleich völlig unberührt ist, in Paris eine Seltenheit ...
Was der Beamte befürchtete, war, daß Marie in diesem Augenblick einem andern geben könnte, was er für sich ersehnte. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft hatte er sie zu fragen gewagt: – »Haben sie jemanden? ...« Und die Antwort des jungen Mädchens war gewesen: – »Nein ... Ich bin ganz allein! ...« Und das war in einem so festen und aufrichtigen Ton gesagt worden, daß er an der Wahrheit ihrer Worte nicht zweifelte. Später aber, da sie hartnäckig jede Annäherung zurückwies, fing er zu zweifeln an.
Zuweilen fühlte er sich versucht, Nachforschungen anzustellen, die Portiersfrau in der Laferrièrestraße auszufragen ... Mit einem Silberstück konnte er sich die Wahrheit kaufen ... Aber abgesehen von der Schüchternheit des armen Teufels, die ihm einen solchen Schritt erschwerte, schrak er unbewußt auch vor dem zurück, was er am Ende erfahren würde. So wußte er wenigstens nichts, er konnte glauben, Marie lebe allein ... Die Gewißheit, daß sie einen Liebhaber hätte, würde ihm soviel Kummer bereiten, daß er's daraufhin nicht wagen wollte. Denn er liebte sie wirklich.
*
Die Tage gingen, und schon war der Frühling gekommen. Es war Mai geworden, das verkündeten die Blätter der Kastanienbäume auf den Boulevards, die offenen Wagen auf den Straßen, die hellen, leichten Gewänder der blühenden Frauen. Jetzt war es noch ganz hell, wenn der Beamte und die Modistin Seite an Seite den Hang des Montmartre hinunterstiegen. Sie gingen ganz langsam, da die lässige Ruhe dieser sinkenden Tage sie ansteckte, dieser Tage, die sich wie schöne junge Mädchen nicht entschließen konnten, zu sterben. Ihre feuchten Hände verließen sich nicht mehr, ihre Finger und ihre Blicke liebkosten sich; wenn der Moment der Trennung kam, gingen sie noch ein Stückchen in die Laferrièrestraße hinein, die immer einsam dalag, und dort küßten sie sich ohne Ende. Jean flehte:
»Marie, ich bitte dich ... komm mit mir ... oder laß mich zu dir hinauf ...«
Und sie antwortete, indem sie sich aus seinen Armen, die sie fest umschlangen, zu lösen suchte:
»Nein! nein! noch nicht ... Warte ein wenig ... ein paar Tage noch ... nicht mehr lange.«
Eines Abends, als er sie mit ganz besonderer Glut anflehte, flüsterte sie, schon halb besiegt, an seiner Schulter:
»Willst du durchaus nicht warten ... willst du durchaus mit hinaufkommen?«
»Ich kann nicht länger warten ...« hauchte er ... »ich bitte dich inständig ... Ich will dir nichts tun, aber ich möchte mit dir an einem Ort sein, wo niemand uns sieht!«
»Wirst du aber auch vernünftig sein? Versprichst du mir, keine Dummheiten zu machen?«
»Ich verspreche es dir.«
»Also,« sagte sie entschlossen ... »dann komm!«
Sie ging vor ihm her und klopfte an das Fenster der Portierloge.
»Ich bin's, Frau Parquet!«
»Schön Fräulein,« antwortete eine Frauenstimme. »Ich bring' ihn Ihnen gleich. Sie glauben nicht, wie er sich nach Ihnen gebangt hat!«
Marie ging durch den Hof. Ihr Freund folgte ihr. Sie bewohnte ein Zimmer im sechsten Stock, ein kahles, großes Dachzimmer. Als sie oben waren, stieß das junge Mädchen die Tür auf, sah dem Beamten ins Gesicht und sagte:
»Hören Sie, Herr Jean ... Sie wollten durchaus heraufkommen, Sie sehn, daß es bei mir nicht sehr hübsch ist. Aber es gibt etwas, was Sie nicht wissen, und was ich Ihnen sagen muß. Ich habe mich schon einmal vergangen.«
Sie schwieg einen Augenblick. Er antwortete nichts und rührte sich nicht. Er dachte: »Ich wußte es ja ... Warum macht es mich denn so traurig, daß sie es mir erzählt?«
Marie sprach weiter:
»Das ist nicht alles ... mein Verhältnis mit dem Mann, dem ich gehört habe, ist nicht ohne Folgen geblieben ... Er hat mich dann verlassen ... Ich habe ein Kind.«
»Ein Kind,« wiederholte Jean erstaunt ... »ein großes Kind schon?«
»Nein,« antwortete sie ... »ein ganz kleines Kind ... ein Kind von elf Monaten ... Und ich wollte ... mich dir nicht hingeben, obgleich ich dich liebe, weil er noch nicht entwöhnt ist, ich stille ihn noch ...«
Die Tür öffnete sich; die Portier-Frau erschien, es war eine dicke Frau mit einem jungen Gesicht und ergrauenden Haaren, im Arm hielt sie ein leise wimmerndes Kind.
»Da ist er. Er greint schon seit einer Stunde, er möchte trinken.«
Sie legte ihn in die Arme seiner Mutter, die ihm zärtlich Gesicht, Händchen und den ganzen kleinen Körper küßte.
»Guten Abend, mein Herr, guten Abend, Fräulein!« sagte die Frau dann und ging fort. Marie bot dem Beamten einen Stuhl an:
»Setzen Sie sich, Herr Jean. Stört es Sie nicht, wenn ich den Kleinen stille?«
Er stammelte:
»Nein, nein! ...« und fühlte sich von Traurigkeit und Mitleid ergriffen. Er setzte sich an der Ofenecke auf einen Stuhl und hielt, um sich Haltung zu geben, seinen Hut krampfhaft mit beiden Händen fest. Das menschliche Bündelchen auf dem Schoß, saß Marie ihm gegenüber. Sie öffnete ihr Kleid. Einen Augenblick sah Jean die Weiße einer Brust, aber ein Tuch, das sie über den Kopf des Kindes warf, verbarg sie ihm gleich wieder ... Die Mutter lächelte.
»Vier solche Mahlzeiten verlangt er täglich,« sagte sie: »Morgens, eh' ich ins Atelier gehe; zu Mittag und am Abend, wenn ich wiederkomme, und dann noch eine um Mitternacht. Außerdem gibt ihm die Pförtnerin noch zweimal am Tage sterilisierte Milch.«
Jean fragte:
»Und er, dessen Sohn das ist, was ist aus ihm geworden?«
Sie antwortete ohne Bitterkeit:
»Er ist fort. Er ist wieder in seiner Heimat, in Poitiers; er ist verheiratet.«
»Haben Sie ihn sehr geliebt?«
Sie errötete ein wenig ...
»Ich hab' ihn anfangs geliebt. Nachher war er nicht gut zu mir; so hab' ich mich von ihm losgemacht. Könnte ich das Geschehene rückgängig machen, heute würde ich es nicht wieder tun ... Aber wenn man jung und unerfahren ist?«
*
Eine Zeitlang schwiegen sie. Man hörte im Zimmer nur das Saugen und Schlucken des Kindes. Jean litt nicht mehr so sehr, wie eben noch. Mariens Worte hatten ihn beruhigt. Er dachte voll Freude: – »Sie hat niemanden ...« Er liebt sie um ihrer Einsamkeit willen und fühlte in seinem Innern eine dunkle Neigung für dies kleine unbewußte Wesen entstehen, das ihm Maries Keuschheit garantierte ...
Endlich hatte das Kind genug getrunken und schlief jetzt in seiner Wiege hinter dem Vorhang des Alkovens. Jean und Marie lehnten im Fenster; sie träumten, ihre Gedanken waren schwer von der unbestimmten Erregung, die jedes Liebeshindernis in die Seelen gießt ...
Die Modistin flüsterte:
»Jetzt verstehst du wohl, warum ... ich nicht wollte ... Denn ich liebe dich auch sehr, und es ist mir nicht leicht geworden, dir nein zu sagen.«
Der Beamte, der sie wieder ihr Kind nährend vor sich sah, gewann an Liebe, was er an Begier verlor, und erwiderte:
»Ja ... du hast recht, Marie ... Wir dürfen nicht ... noch nicht ... Wir müssen warten, bis du ihm nicht mehr die Brust gibst.«