Abbé Prévost d'Exiles
Geschichte der Donna Maria und andere Abenteuer
Abbé Prévost d'Exiles

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Abenteuer eines englischen Edelmanns

Eine merkwürdige Beschreibung von Sibirien

Ganz allgemein bekannt ist, dass die Verbrecher des Moskowiterreichs gewöhnlich nach Sibirien verbannt werden; doch sei es, dass man nur schwer von dieser Stätte des Unheils zurückkommt, da man es ja verdient hat, nach dort verschickt zu werden, sei es, dass die Freude, von dort zurückzukehren, alle die erlittenen Leiden vergessen macht, wenige Leute nur haben uns von den dortigen Geschehnissen Mitteilung gemacht. Einige Unglückliche, denen der Wechsel ihrer Lebensverhältnisse die Erinnerung ihrer vergangenen Qualen nicht abhanden kommen liess, gaben, es mag einige Zeit her sein, durch den Mund ihres Oberhauptes sehr merkwürdige Aufschlüsse über diese Gegenden. Dieses Oberhaupt war ein englischer Edelmann, Herr eines Handelshauses in St. Petersburg. Er war überführt worden, über einige, für die Russen nachteilige Dinge geheimes Einverständnis mit Schweden unterhalten zu haben, und wurde für den Rest seines Lebens nach Sibirien verbannt. Da seine Angestellten sich an seinem Vergehen beteiligt hatten, wurden sie in seine Bestrafung mit eingeschlossen. Wiewohl er weniger, was er gesehen, als, was er erlitten hat, berichtet, ist seine Erzählung nicht minder anziehend. Solcherart schilderte er: Unsere Reise war nicht mühselig genug, um unseren Leiden gleich hoch gestellt zu werden. Nach einigen Tagemärschen durch eine Eisgegend, wo uns der hohe Schnee die Farbe der Erde nicht zu erkennen erlaubte, kamen wir am Ufer eines grossen Sees an, welchen unsere Wache den Lengehersee nannte, und fanden dort einige Schlitten, die uns als Gefährte dienen mussten. Sie waren mit Vorräten beladen und es war die erste Sorge unserer Wache, uns klar zu machen, dass man uns mit Menschlichkeit behandeln wolle. Und tatsächlich hatten wir, die Strenge der Kälte ausgenommen, gegen die uns selbst die fortwährend unterhaltenen Feuer nicht schirmen konnten, wenig während der drei Wochen zu erdulden, die wir sehr ungezwungen über Schnee und Eis geführt wurden.

Auf einer so langen Reise bot sich unserem Auge nichts, was Wechsel in die Szene bringen und unsere Langeweile vermindern konnte. Der See war nicht breit genug, um uns des Anblicks beider Ufer zu berauben, und wir bemerkten an beiden Seiten nur mit Schnee bedeckte Landstriche, ohne die geringste Spur von Ansiedelung. Nur am dreiundzwanzigsten Tage kündeten uns die Freudenschreie unserer Wache einen Wechsel an, und das Schauspiel, welches wir bald erblickten, ersparte ihnen die Mühe, uns darüber Mitteilung zu machen. Der See ward unmerklich schmäler und wir sahen am Fusse eines Hügels, der uns seit langer Zeit den Horizont zu begrenzen schien, einige Türme von bedeutender Höhe; doch dieser Anblick kündete uns nur Furchtbares an, da auf ihrer Spitze ein Kreuz stand, an welchem man einige Unglückliche hängen sah, die wahrscheinlich solche Strafe um ihrer Verbrechen willen verdient hatten. Unsere Wache setzte uns die Bedeutung dieses Schauspiels auseinander. Da die Stadt, der wir uns näherten, der Aufenthaltsort einer grossen Anzahl Verbrecher war, wollte man ihnen durch solchen Anblick anzeigen, dass sie die gleiche Strafe verdient hätten, und dass das Leben, welches man ihnen gelassen, einem Gnadengeschenk gleichkomme, dessen sie nicht würdig wären. Man erklärte uns, dass diese Verkündigung auch uns gälte, und ersuchte uns, aus solch schrecklichem Beispiel unseren Nutzen zu ziehen. Es währte nicht lange, bis wir das Ufer gewannen, und wir legten die noch übrig bleibende Entfernung von zwei Meilen bis nach der Stadt zu Fuss zurück. Die Zugänge zu diesem trostlosen Ort entsprachen den Vorstellungen, die wir uns auf der Fahrt davon gemacht hatten. Die Natur schien ihn bei der Verteilung ihrer Güter ganz vergessen zu haben. Man schaute dort die Sonne, aber ohne ihre Wärme zu spüren und fast ohne eine andere Spende als ihr Licht zu empfangen. Ihre Strahlen fielen immer so spärlich, dass die Einwohner dort kaum ihr, sondern der Weisse des Schnees den Tag verdankten. Als wir die Stadt betraten, hielten wir die Gebäude weniger für Häuser als für Höhlen wilder Tiere. Die Strassen lagen verlassen da und waren ebenso eisig wie das Land. Lediglich ein spärlicher Rauch wirbelte auf den Dächern auf, als einziges Zeichen, dass wir hier Menschen zu finden hoffen dürften.

Unsere Wache kannte den trostlosen Ort schon und führte uns geradeswegs zum Gouverneur. Er empfing uns sehr menschlich; da er sich aber erst über unsere Verbrechen und Strafen unterrichten wollte, um nach dieser Kenntnisnahme die uns gebührende Behandlung abzuwägen, liess er uns in ein weit von seinem entfernt liegendes Haus führen, wo wir lange Zeit auf seine Befehle zu warten hatten. Wir wurden von ihm verurteilt, in die benachbarten Wälder gebracht zu werden, um dort mit der Jagd auf wilde Tiere, an denen sie Ueberfluss haben, den Rest unseres Lebens zu verbringen.

Ich muss gestehen, dass mich meine Standhaftigkeit, die sich bis dahin als ziemlich fest erwiesen hatte, plötzlich verliess, um einer schrecklichen Verzweiflung zu weichen. Konnte meine Tränen nicht aufhalten. Ein so grausames Los erschien mir fürchterlicher als der Tod. Ich beschloss zu sterben, wenn ich meinen Urteilsspruch nicht zu mildern vermöchte, und beschwor meine Wache mir einen freien Augenblick zu gewähren, um mich vor dem Gouverneur zeigen zu können. Solche Gunst ward mir nicht verweigert. Ich erschien vor dem unumschränkten Herrn meines Schicksals. Er liess sich durch die Schilderung meiner Schwächezustände rühren, und da er einsah, dass man nicht viel Nutzen aus meinen Arbeiten im Walde ziehen könnte, willigte er ein, mich in Ciangut leben zu lassen. Dies ist der Name der Stadt oder vielmehr des elenden Nestes, in welchem er selber seinen Wohnsitz hatte. Vergebens bat ich ihn um gleiche Gunst für meine Genossen: sie zogen fort, und ich litt tödlichen Schmerz, mich von ihnen getrennt zu wissen.

So empfing meine peinliche Strafe einige Erleichterung; doch ward ich deshalb nicht weniger von den Bewohnern Cianguts für einen Verbrecher und unglücklichen Verbannten angesehen. Man erklärte mir seitens des Gouverneurs bald, dass ich mich vorbereiten müsse, mein Verbrechen durch andere Strafen wieder gut zu machen. Sie waren minder hart, schienen mir aber so demütigend, dass, da mein Stolz noch mehr als meine anfängliche Furcht vor dem Waldleben über mich vermochte, der bereits vorher in mir aufkeimende Gedanke, mir den Tod zu geben, von neuem in mir wach wurde. Gemäss der moskowitischen Sitte bestanden sie darin, dass ich einer Tätigkeit nachgehen sollte, die der, in welcher ich geboren und stets gelebt hatte, gänzlich entgegengesetzt war.

Mein Beruf war der Handel. Ich hatte ihn dreissig Jahre mit der Auszeichnung ausgeübt, die den Engländern eigentümlich ist, will sagen, mitten im Ueberfluss und in Vergnügungen, frei, unabhängig, von einer grossen Zahl Angestellter und Diener umgeben, kurz im Besitz all dessen, was das Leben schön und glücklich machen kann. Man kündete mir an, ich sollte von nun an in der Eigenschaft eines Lastträgers verwendet, folglich zu den elendesten Diensten gezwungen werden, um Brot zu verdienen, dazu der Machtvollkommenheit einiger Unglücklicher unterworfen, die eine unumschränkte Gewalt über die hatten, die zu gleichem Lose verdammt worden waren. Um mich dieses schändlichen Missgeschicks zu trösten, führte man mir eine Unzahl Leute an, die höherer Herkunft als ich waren. Diese Mitteilung hatte die Kraft, mir Geduld einzuflössen. Tatsächlich weilte ich nicht lange in Ciangut, ohne nicht hundert Leute von Rang kennen zu lernen, die sehr viel mehr um des Unterschiedes ihres gegenwärtigen Gewerbes willen von dem, welches sie verlustig gegangen, zu beklagen waren. Ich sah Generäle zu einfachen Soldaten erniedrigt, Richter des ersten russischen Gerichtshofes gezwungen, ihr ganzes Leben als Scharfrichter hinzubringen, Adelige von sehr hoher Geburt als Diener eines Bürgers oder Pächters, kurz die unerträglichste Umkehrung der von der Natur und himmlischen Vorsehung eingerichteten Ordnung. Wahrlich ist man bestrebt, all diese Wechsel in der Ordnung als Strafe hinzustellen, aber ich übertreibe nicht, wenn ich erkläre, dass meine Einbildungskraft dadurch sehr viel mehr verwirrt wurde, als etwa durch ein Menschengeschlecht, bei welchem der Kopf da sässe, wo wir die Füsse haben.

Indessen verminderte die eigene Erfahrung meine Verwunderung und ich passte mich meinem Unglück und dem anderer eher an, als ich gedacht hätte. Ich knüpfte mit manch einem dieser Schuldigen Bekanntschaft an und fand sie weniger traurig, als es ihr jetziger Stand eigentlich mit sich brachte. Mit Freude gingen sie auf meine Freundschaftsanerbietungen ein. Sie erzählten mir die Geschichte ihres Unglücks und, sei es Gewohnheit oder Geisteskraft, fast alle äusserten ihrem harten Geschick gegenüber eine aussergewöhnliche Ergebung. Vielleicht muss man diesen Umstand den blinden Ehrfurchts- und Unterwerfungsgefühlen zuschreiben, welche alle Moskowiter vor ihren Herrschern empfinden, will sagen, denselben Gründen, welche die Türken veranlassen, ihren Hals ohne Murren dem Säbel oder der Schnur des Stummen ihres Grossherrn hinzuhalten. Wie diese, schienen sie überzeugt zu sein, dass ein von ihrem Zaren ausgesprochenes Todesurteil ein sicherer Geleitbrief für den Himmel bedeute.

Doch diese religiösen Gedanken, welche ich anfänglich bewunderte, sollten mir hernach verderblich sein. Man hatte mich in Petersburg ungekränkt in der anglikanischen Kirche, der ich angehörte, belassen, und ich hoffte mich der gleichen Freiheit in der Verbannung erfreuen zu dürfen. Tatsächlich war ich solange frei wie man nicht argwöhnte, ich hätte einen anderen Glauben wie die Bewohner; es war aber unmöglich, dass man nicht früher oder später bemerkte, dass ich nicht in die Kirche käme; ich dachte an nichts weniger als den Schein zu wahren. Leise verbreitete sich das Gerücht, ich sei ein Ketzer. Bald bemerkte ich, wie mir jedermann unter Schreckens- und Entsetzensbezeigungen aus dem Wege ging. Einige Verbannte, deren Freundschaft ich mir erworben zu haben glaubte, flohen meine Gegenwart und, um mein Unglück voll zu machen, begannen meine Herren, von denen ich abhing, mich mit grösserer Strenge zu behandeln. Endlich führten mich zwei Popen eines Tages abseits und fragten mich sehr dringlich, ob es auf Wahrheit beruhe, dass ich ein Ketzer sei. Arglos erzählte ich ihnen, ich sei als Anglikanischer geboren und wollte als solcher denn auch sterben. »Man wird Ihnen gegenüber keine Gewalt anwenden,« sagten sie mit einiger Liebenswürdigkeit, »doch wir haben den Befehl vom Gouverneur erhalten, Ihre Ansichten zu erforschen und Ihnen kundzutun, dass, wenn Sie sich nicht zu unserem Glauben bekehren, Sie in die Wälder verbannt werden würden!«

Ich beschwerte mich bitter über solchen Zwang, fragte, ob es das Gerichtsurteil verlange, dass ich meinen Glauben wechsele. Man gestand mir, es enthielte nichts auf diese Sache Bezügliches, aber der Gouverneur, der unumschränkte Machtbefugnis über alle Verbannten habe, sei ein so eifriger Anhänger der griechisch- katholischen Kirche, dass er keinen Andersgläubigen in Ciangut dulde. Solcherart war der Wille ihres Herrn der Hauptgrund, welchen die guten Popen, um mich zu bekehren, gelten liessen. Nun erst sah ich klar, warum man sich seit einiger Zeit so seltsam gegen mich betrug, und auch was ich von dem blinden Eifer einer unwissenden Bevölkerung zu befürchten hätte. Vielleicht würde ich weniger ängstlich gewesen sein, wenn ich nur den Tod zu befürchten gehabt hätte; aber ausser der drückenden Erniedrigung aller meiner Verhältnisse, dachte ich daran, dass mein Los trauriger denn je durch die Weigerung aller Einwohner, sich mit mir zu unterhalten, geworden sei. Konnte ich Schlimmeres in den Wäldern für mich erwarten? Ich hatte im Gegenteil die Hoffnung mich dort mit meinen Gefährten vereinigen zu können. Tausendmal bereute ich es sie verlassen zu haben. So erbat ich es mir denn, ohne den geringsten Widerstand gegen die eben vernommene Erklärung zu leisten, als eine Gunst aus Ciangut verbannt zu werden, um unter den wilden Tieren zu leben.

Da den Gouverneur mein Entschluss, nach all meinen inständigen Bitten um ganz entgegengesetzte Gnade, welcher er sich erinnerte, überraschte, wünschte er mich zu sehen und zu sprechen. Ich ward vor ihn geführt. Mein Abenteuer hatte einiges Aufsehen in der Stadt erregt und seine Gattin und einige andere Frauen waren so neugierig mich sehen zu wollen. Die Gesellschaft war sehr zahlreich. Trotz meiner ärmlichen Kleider und der Abgespanntheit, die ein so langes Unglück auf meinem Gesichte eingeprägt hatte, sah ich mich doch angesichts einiger liebenswürdiger Weiber veranlasst, einige Ueberbleibsel von Höflichkeit in der Art mich zu benehmen und in der Unterhaltung hervorzukehren. Obwohl der Gouverneur scheinbar sehr menschlich war, blieb er in dieser Sache nicht minder starrsinnig; doch seine Gattin und die anderen Damen waren so gerührt über den Umstand, welcher mich den Waldaufenthalt dem Wechsel meiner Meinungen vorziehen liess, dass sie ihre Bitten vereinigten, um ihn zu meinen Gunsten umzustimmen. Er schlug es ihnen mit einiger Hartnäckigkeit ab; und ich bemerkte, als ich mich zurückzog, dass sie empört waren, ihn so wenig gefällig zu finden. Ich sagte allen, die es hören wollten, Lebewohl; da bereits am Morgen der Befehl zu meinem Abmarsch erteilt worden war, machte ich mich unter dem Schutze des Himmels und der Führung zweier Wächter auf den Weg. Wir marschierten eine Strecke von etwa zwei Meilen. Ich war meines Unglücks so sicher, dass selbst Gebete mir nutzlos erschienen, ich sprach deshalb auch keine für den Wechsel meines Loses. Indessen war mir die Hilfe des Himmels niemals so nahe gewesen. Meine Wächter machten am Eingange eines Waldes halt, indem sie mir erklärten, meine Reise wäre beendigt, und verkündeten mir ein Glück, das zu erhoffen ich keinen Grund hatte.

Die Gattin des Gouverneurs war empört über die hartnäckige Weigerung ihres Ehemanns gewesen und hatte nicht den Augenblick meiner Reise abgewartet, um ihrem Groll genug zu tun. Sie weihte einige ihrer Freundinnen in ihr Vorhaben ein, welche Mitleid mit meinem Lose bezeigt hatten, und sie beschlossen zusammen mir die Freiheit wiederzugeben. Die Zeit drängte so, dass sie, ohne ihre Gedanken allzuweit in die Zukunft zu richten, zuerst nach Mitteln suchen mussten, um meine Reise aufzuhalten. Das Natürlichste war meine Wächter zu gewinnen. Sie waren darin so erfolgreich, dass diese beiden Männer alle Zuneigung, deren sie fähig waren, zu mir fassten, und mir mit ebensoviel Zuvorkommenheit wie Nutzen dienten.

Nachdem sie mich in den Plan der Gouverneurin eingeweiht hatten, setzten sie mir die ersten Massnahmen auseinander, die man sie in Anbetracht meiner Sicherheit hatte ausführen lassen. In der vorhergehenden Nacht waren sie in denselben Wald mit einem geschlossenen Schlitten gekommen, welchen sie zu meinem Gebrauch dort gelassen hatten, will sagen, um mir als Wohnung zu dienen, bis die Damen andere Entschlüsse gefasst. Die zugleich mitgebrachten Lebensmittel reichten für einige Tage für uns aus; denn in diesen ungeheueren Einöden reist man lange ohne auf bewohnte Orte zu stossen, und man nimmt von einer Ansiedelung bis nach der anderen alle für die Reise notwendigen Mittel mit. Sie geleiteten mich nach dem Schlitten, der im dichten Gebüsch versteckt war. Wir nahmen dort einige Erfrischungen zu uns und, um meine Freude voll zu machen, versicherten mir meine Wächter, dass sich die Gouverneurin mit drei Damen ihrer Freundschaft verabredet hätte, mich am Nachmittage, unter dem Vorwande eine Lustpartie zu machen, aufzusuchen.

Ich empfing diesen hochherzigen Besuch. Meine Dankbarkeit äusserte sich in solch lebhafter und zarter Weise, dass sie deren Lust, Gutes an mir zu tun, vermehrte. Zuerst aber musste ich der Neugierde Genüge leisten, die man bezeigte, um mein Vaterland und den Grund meiner Abenteuer kennen zu lernen. Ich hatte mir nichts Unehrenhaftes vorzuwerfen, und die Erzählung meines Missgeschicks war geeignet Mitleid mit mir zu erwecken. Diese Wirkung brachte sie auch hervor. Ich sah vier Damen, die über mein Los ebenso gerührt waren, wie wenn sie Blutverwandtschaft oder Freundschaft dazu veranlasst hätte. Wir beratschlagten über die Mittel zur Beendigung meiner Flucht. Welche Hilfe sie mir auch verschaffen konnten, es war doch hoffnungslos für einen Fremden, der die Reise von Petersburg nach Ciangut nur einmal gemacht hatte, sich auf den Wegen und in den wüsten Gegenden, welche diese beiden Städte voneinander trennen, zurecht zu finden. Noch weniger Hoffnung war vorhanden, Europa auf anderen Wegen, die mir noch unbekannter waren, wieder zu erreichen. Solche Schwierigkeiten kannte ich nicht allein; denn die Damen waren ihretwegen nicht minder besorgt und sahen nicht klarer als ich in ihren eigenen Unternehmungen. Man musste einen wahrscheinlichen Vorwand für die so schnelle Rückkehr meiner beiden Wächter finden, ausserdem durfte unser Geheimnis nicht viel länger als ihre Abwesenheit dauern. Man hätte dem Gouverneur etwa leicht einreden können, ich sei auf dem Marsche gestorben; da aber Ciangut so nahe lag, konnte der Zufall meinen Zufluchtsort leicht entdecken lassen und ich verfiel nicht nur all dem Unglück, dem ich mich ausgeliefert wähnte, sondern ich setzte auch die Gouverneurin dem Groll ihres Gatten aus. Andererseits konnte ich mich nicht weiter entfernen, ohne nicht auf alle Arten von Trost- und Hilfsmitteln zu verzichten; und wenn ich in einer grausigen Einöde inmitten der Wälder und wilder Tiere leben sollte, nutzte mir die Freiheit wenig, da ich in Sklaverei nichts Traurigeres zu befürchten hatte.

Ich weiss nicht, wohin diese verdriesslichen Betrachtungen geführt haben würden, wenn mich die Macht einer so dringlichen Schwierigkeit nicht alles, was zu meinem Heile dienen konnte, hätte in Erwägung ziehen lassen. Ich erinnerte mich meiner Gefährten in der Verbannung. Es waren ihrer vier: zwei Engländer, ein Schwede und ein Moskowiter. Ich schlug der Gouverneurin vor, die beiden Wächter mit dem Befehle auszuschicken, sie frei herzuführen. Durch diesen Vorschlag waren all meine Bedenken gehoben; denn die Reise überzeugte den Gouverneur von der Treue der Wächter, mir aber gab die Rückkehr meiner Gefährten die Hoffnung mich mit ihnen auf dem gar langen und gefährlichen Weg retten zu können. Ich zweifelte keinen Augenblick, dass die Sklaven, die schon vor dem Namen ihres Herrn allein zittern, den Befehl der Gouverneurin genau so ausführen würden, wie wenn er vom Gouverneur selber käme.

Die Wächter gingen von dannen. Ich blieb mit den Damen zurück, die mir neue Beweise ihres Mitleids und ihrer Schätzung gaben. Mein noch bestehendes Unglück hinderte mich nicht den Reizen der Jüngsten gegenüber empfänglich zu werden; doch verwarf ich ein Gefühl, das sich bei meinem Unglück gar wenig für mich ziemte. Sie versprachen mir insgesamt bestens für meine Bedürfnisse zu sorgen und ihren Besuch oft zu wiederholen. Die Wächter hatten sich nur acht Tage für ihren Weg ausbedungen. Die Zeit war so kurz, dass ich mich wahrlich des Endes meiner Leiden versichert glaubte.

Hinreichend getröstet durch die Hoffnung, sie wiederzusehen, sah ich meine barmherzigen Befreierinnen ohne Bedauern von dannen gehen. Als sich die Nacht näherte, wandte ich mich nach meinem Schlitten, der dazu dienen sollte, mich vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Er glich in der Form dem Rumpfe unserer Kutschen mit dem Unterschiede, dass, da er mit Bärenfellen gefüttert war und nur eine sehr kleine Oeffnung hatte, ein Mann von meiner Stärke und meinem Alter darin der Kälte durch seine eigene Körperwärme widerstehen konnte. Nichtsdestoweniger war er so leicht, dass ich ihn mit meiner Hand schnell auf dem Boden vorwärts zu bewegen vermochte; doch waren wir in der schönsten Jahreszeit und die Sonne hatte Kraft genug, um den Schnee bis in die Wälder zu vertilgen. Indessen waren die Abende so kühl, dass ich nicht die Dunkelheit erwartete, um mich zur Ruhe zu begeben. Stieg in meinen Schlitten und schloss die Türe sorgsam ab. Meine Lage war nicht so unbequem, als dass sich der Schlaf meiner Augen nicht bald bemächtigt hätte. Ich schlief einige Stunden lang ebenso ruhig wie ich es in meinem Bette getan haben würde.

Während ich mich so glücklich des Vergessens all meiner Nöte erfreute, ward meine Ruhe plötzlich durch eine heftige Bewegung des Schlittens gestört. Erschreckt wachte ich auf, doch da ich mir für diesen Zufall keinen anderen Grund wie einige Bewegungen wusste, die man öfters im Schlafe macht, dachte ich nicht daran, dass mir ein neues Unglück drohen könne. Nach einigen ruhigen Augenblicken fühlte ich, dass meine Behausung zu schwanken begann; und die Stösse verdoppelten sich bald mit solcher Wucht, dass der Schlitten umgeworfen wurde. Ich hörte kein anderes Geräusch wie ein fortwährendes Kratzen an den Brettern meines Käfigs. Meine Unruhe war unbeschreiblich. Die Furcht verband mich, meine Hand beständig an dem Kutschenschlag zu haben, besorgend, er möchte sich von selber öffnen oder dies könnte von aussen her geschehen. Und in solcher Sorge, zu der noch meine unbequeme Lage in dem umgestürzten Schlitten kam, verbrachte ich fünf oder sechs Stunden in einer Angst, schlimmer als Erleiden aller Todesstrafen. Endlich hörten Kratzen und Bewegung auf; aber ich hatte keinen Mut mehr, selbst als ich es Tag werden sah, aus meinem Gefängnis hervorzugehen. Da ich hinreichende Nahrungsmittel hatte, um einige Tage ohne andere Hilfe leben zu können und ich Luft durch ein hinteres Kutschenfenster, welches mir auch gleichzeitig Licht spendete, bekam, beschloss ich, in solcher Lage den Besuch der Damen oder die Rückkehr der Wächter abzuwarten.

Die Gouverneurin erinnerte sich glücklicherweise ihres Versprechens und suchte mich vor Ende des Tages mit den gleichen Begleiterinnen auf; das Geräusch ihrer Wagen, welches ich schon von fern her vernahm, zerstreute all meine Besorgnisse. Ich strebte eiligst aus meinem Schlitten, um den Scherzen zu entgehen, denen ich ausgesetzt worden wäre, wenn ich einige Zeugen meiner Schwäche gehabt hätte. Ueberlegte sogar, ob ich von meinem Abenteuer und hauptsächlich von meiner Angst sprechen solle; doch wiewohl ich der Gefahr entronnen, wähnte ich, sie könne sich in der folgenden Nacht erneuern und ein wenig Rat werde mir nicht nutzlos sein; darum erzählte ich kaltblütig, in welcher Verwirrung ich nachts über gewesen sei. Man hörte meiner Schilderung ernsthafter zu, als ich erwartet hatte, und vermehrte meine Besorgnis noch, indem man mich um die Ursache wissen liess. Es wären die Grislys, sagte man, oder andere wilde Tiere gewesen, die mich während der Nacht gequält hätten. Man riet mir, meinen Schlitten niemals nach Sonnenuntergang zu verlassen und meine Türe stets gut verschlossen zu halten. Diese Grislys sind eine Bärenart, die immer in grosser Zahl die sibirischen Wälder durchschweifen. Sind wild und grausam, wenn sie Hunger quält, und man sieht sie Winters ohne Furcht vor den Waffen der Landbevölkerung bis in deren Dörfer vordringen, um dort ihre Beute zu machen. Dieser Blutdurst lässt gewöhnlich im Sommer etwas nach, da sie dann eine Unzahl furchtsamer Tiere finden, die ihnen als Nahrung dienen. Doch sind sie stets gefährlich genug, dass man sie fürchten muss, und die Reisenden haben in den Wäldern keine stärkeren Feinde als sie. Indessen sprachen die edlen Damen mir Mut zu, indem sie versicherten, ich müsste ruhig in meinem Schlitten bleiben, man wüsste sich nicht zu entsinnen, dass Jäger, die nicht anders hausten, jemals der geringsten Lebensgefahr darin ausgesetzt gewesen wären. Darum war ich ohne Besorgnis vor der folgenden Nacht; und da ich nur noch Gutes für die Zukunft und mein Los voraus sah, überliess ich mich mit minderer Zurückhaltung der vergnügten Unterhaltung mit den vier Damen. Die Weise, in der sie meine Artigkeiten und Schmeicheleien entgegennahmen, liess mich erkennen, dass Galanterie in diesem eisigen und wilden Lande nicht unbekannt sei. Die Dame, deren Vorzüge ich schon lobte, bemerkte bald, welche Auszeichnung ich ihr vor ihren Gefährtinnen zuteil werden liess. Ihre Augen sagten mir tausend Dinge, die ich ohne Zagen zu meinen Gunsten auslegte; und ich fand Gelegenheit, ihr noch viel sichere Beweise ihrer Gefühle, ehe wir uns trennten, zu entlocken. Nicht sobald war ich allein, als ich meine Augen auf meinen in Fetzen herabhängenden Kleidern, kurz auf all den Umständen meines Geschicks ruhen liess; ich konnte mich eines Gelächters über diese Neigung, welche mich zur Zärtlichkeit veranlasste, nicht erwehren, denn es fehlten mir die notwendigsten Bequemlichkeiten des Lebens. »Ist es denn süsser zu lieben als zu leben?« rief ich aus, indem ich über die Vorgänge in meinem Herzen staunte, und dass ein Schimmer von Liebe mich plötzlich, noch dazu in einer Lage, in der ich das Leben als eine Last ansehen musste, wieder froh machte. Ohne länger nach der Ursache dieses Wunders zu suchen, nahm ich mir vor, allen Vorteil aus solch gutem Glücke zu ziehen. Unter diesen süssen Gedanken kehrte ich in meinen Schlitten zurück und verbrachte dort mehrere Stunden in grösserer Zufriedenheit als sie dem nun erfolgendem Ereignisse zukam.

Die Grislys unterliessen es nicht, um Mitternacht wieder zu kommen. Seit der von den Damen erhaltenen Aufklärung fürchtete ich sie weniger und meinte, der grösste Schaden, den sie mir antun könnten, bestände in der Unterbrechung meines Schlafs. Tatsächlich stiessen sie anfangs nur an den Schlitten, und ich rechnete damit dieselben Vorkehrungsmassregeln wie in der vorigen Nacht auch heute bis zum Tagesanbruch anwenden zu müssen. Gewöhnte mich unvermerkt an das Schwanken, als ich bemerkte, wie der Schlitten mit grosser Gewalt und Schnelligkeit vorwärts geschoben wurde, und nach dem Raum zu schliessen, den er bei der Lebhaftigkeit seiner Bewegung zurücklegen musste, war er bald sehr weit von dem Orte entfernt, von welchem man mich fortgezerrt hatte. Im ersten Augenblick wollte ich dies Abenteuer auf Rechnung der Damen setzen, die gewiss imstande waren, sich ein wenig auf meine Kosten lustig zu machen. Doch war es ja ganz unwahrscheinlich, dass sie inmitten der finsteren Nacht und zwei Meilen von Ciangut fern, ihre Gesundheit und selbst ihr Leben daran gewagt hätten, um sich an meinem Schrecken zu vergnügen. Diese Erwägung liess mich nur allzusehr die Wahrheit erkennen. Ich vermutete, dass es die Grisly seien. Die Stricke, die zum Ziehen des Schlittens dienten, hingen herab. Keinen Augenblick zweifelte ich, dass die sehr listigen Tiere sie mit den Zähnen erfasst hätten, um mich in den tiefen Wald zu schleppen.

Ich empfahl mich dem Himmel, denn nur seine Hilfe vermochte mich aus einer so dringlichen Gefahr zu befreien. Die Einbildung allein schon, eine Schar dieser ausgehungerten Bären zögen mich mit solcher Gewalt von hinnen, und ihre Hartnäckigkeit mussten mir tödliche Aufregungen verursachen. Ich sah den Schlitten bereits in tausend Stücke zerrissen und die grausamen Tiere mit ihren Krallen und blutigen Zähnen sich auf mich stürzen. Das furchtbare Entsetzen, welches dieser Gedanke in mir erzeugte, liess mich in Schreie oder besser in ein Geheul ausbrechen, und ich bemerkte an dem Eindruck, den das hervorrief, dass die Grisly erschreckt waren. Ich urteilte wenigstens nach der Ruhe, die sie mir einige Augenblicke liessen, dass sie sich entfernt hatten, und als ich wieder ein wenig zu mir kam, wagte ich schon zu hoffen, der Himmel habe mein Gebet erhört. Doch kamen sie bald zu ihrer Lust zurück. Und mit der Gefahr wuchs meine Verzweiflung wieder. Ich hielt mich für verloren. Erneute Schreie waren nutzlos und ich sah nichts anderes wie einen unvermeidlichen grässlichen Tod vor mir.

Ward nicht mehr weiter gezogen, aber das Stossen und Rütteln währte den ganzen Rest der Nacht. Dieser Aufschub meines Verderbens machte meine Hoffnungen nicht wieder lebendig. Ich redete mir im Gegenteil ein, der Tag würde nur wiederkehren, um meine letzten Augenblicke zu beleuchten, und an dem entlegenen Orte, wo ich nach mindestens halbstündiger Fahrt weilte, würde es den Grislybären bei Tageslicht nur leichter fallen, mich meiner Zufluchtsstätte zu entreissen. Es erschien endlich der Tag. Seine ersten, durch das Fensterchen fallenden Strahlen gaben mir die Kühnheit, hinauszublicken; aber seine Oeffnung war so schmal, dass ich die Feinde, die mich belagerten, nicht entdecken konnte. Vielleicht waren sie bei Tagesanbruch geflohen. Naturgemäss musste ich der Ruhe wegen, deren sie mich bis zum Abend erfreuen liessen, darauf schliessen. Doch muß ich bekennen, dass mir dies keinen neuen Mut gab, und ich verbrachte den ganzen Tag über in einer solchen Niedergeschlagenheit, dass ich nicht einmal daran dachte, die geringste Nahrung zu mir zu nehmen.

Meine einzige Hoffnung war, wenn die Gouverneurin und ihre Begleiterinnen mich nicht an alter Stelle wiederfänden, würden sie sich mein Unheil leicht denken können und mit einigem Eifer meine Spuren zu entdecken suchen. Im festen Glauben daran war ich entschlossen meinen Schlitten nicht einen Augenblick zu verlassen. Inzwischen kam die Nacht und ich sah keine Spur von Hilfe. In der Dunkelheit begannen meine Qualen von neuem und dauerten noch bis zum Tage. Am Morgen fand ich mich so geschwächt, dass mich die Not zwang, Zuflucht zu meinen Lebensmitteln zu nehmen. Wie am Vortage wagte ich noch zu hoffen, dass die Frauen, von denen ich so edelmütige Dienstleistungen empfangen hatte, nicht die Grausamkeit besitzen würden, mich meinem harten Lose zu überlassen. Sie dachten tatsächlich meiner, doch der Erfolg ihrer Bemühungen entsprach weder ihren noch meinen Wünschen.

Kurz ich brachte eine volle Woche in dem Schlitten zu, um mich bald der Verzweiflung bald der Hoffnung zu überlassen und jede Nacht mein Ende für bestimmt zu halten; wenn ich mich manchmal des Tages über soweit von meinem Entsetzen erholte, dass ich für den kommenden Tag Pläne fasste, hatte ich nicht die Kraft, sie auszuführen. Der Hunger war das Mittel, welches der Himmel anwendete, mir einen unerwarteten Weg zur Rettung zu weisen. Meine Lebensmittel reichten nicht länger als fünf, sechs Tage; ich sah am Ende des vierten ein, dass, wenn ich gezwungenerweise noch länger an meinem unbehaglichen Zufluchtsorte verweilte, es zu spät ward, ihn zu verlassen, da es mir völlig an Nahrungsmitteln fehlen würde; denn, vorausgesetzt ich entrönne den Bärenklauen, so konnte ich doch nicht hoffen, nach welcher Seite ich meine Schritte zu wenden Lust hätte, dass in einem Walde von Fichten und anderen, keine Früchte tragenden Bäumen die geringste Nahrung für meinen Hunger zu finden sei. Trotz der Bedeutung dieser Erwägung waren meine Furchtgefühle so stark, dass ich all meine Vorräte dahinschwinden sah, ohne es über mich gewinnen zu können, meine Türe zu öffnen. Ich verweilte sogar den sechsten Tag hungrig dort, unentschlossen, welchen Plan ich fassen sollte, und immer noch auf den Edelmut der russischen Damen rechnend. Schliesslich ward es mir klar, dass ich auf diese oder jene Weise umkommen müsste; und von den beiden Todesarten, unter denen mir der Tod die Wahl liess, schien es mir bei meinem verzehrenden Hunger, dass der durch die Klauen und Zähne der Bären der weniger schreckliche sein müsse. Fügen wir hinzu, dass dies der minder gewisse war; denn meine Kräfte waren bereits derartig erschöpft, dass mir ihrer kaum soviele blieben, um gehen zu können.

Ich stieg aus dem Schlitten. Meine ersten Schritte geschahen schwankend, und ich weiss nicht, ob das mehr eine Wirkung meiner Furcht als meiner Schwäche war. Einen Augenblick betrachtete ich die Spuren der Grislys auf der Erde und an meiner Behausung. Das Leder, welches den Schlitten überspannte, war grausam zerrissen. Ich verdankte mein Leben nur den Brettern, deren Haltbarkeit mich verteidigt hatte, wiewohl sie aus leichtestem Holze bestanden. Die Stricke waren durch die schrecklichen Zähne meiner Feinde abgerissen und ihre geringen Reste trugen die Spuren ihrer Bisse. Dieser Anblick machte mein Blut gefrieren.

Es mochte gegen Mittag sein. Die Sonne, im Vollbesitze ihrer Kraft, gab mir einigen Lebensmut und gleichzeitig die Hoffnung, dass die Tiere, welche immer die Nacht gewählt hatten, um mich zu quälen, sich nicht am hellen Tage auf meinem Wege blicken lassen würden. Doch nach welcher Richtung mich wenden? Wiewohl ich mich auf einer Lichtung von gewisser Grösse befand, sah ich in einiger Entfernung von mir nur mehr als hundertjährige Bäume, unter welche ich mich nicht wagen konnte, ohne alle Angst in mir zu erneuern. Im übrigen bemerkte ich, dass ich in einem Tale war und dass ich nach allen Seiten hin hochsteigen musste. Ueberlegung war für einen Menschen, der nicht die geringste Kenntnis von Astronomie hatte, völlig nutzlos. Ich beeilte mich, den Weg einzuschlagen, der mir der leichteste schien, wie wenn nichts Dringlicheres für mich zu tun gewesen wäre, als mich von dem Schlitten zu entfernen, und die argen Bären nur in dem Tal zu befürchten wären. Kam auf dem Gipfel eines Hügels an, wo ich mich gezwungen sah, mich aus Mattigkeit und Schwäche niederzusetzen. Glücklicherweise besass ich bei mir noch einige Tropfen Branntweins, die ich mir als letzte Hilfe aufgespart hatte. Als ich sie trinken wollte, erblickte ich um mich her eine grosse Anzahl Champignons. Nahm ihrer einige, tauchte sie in meinen Branntwein, und dieses wilde Gericht als eine Gabe des Himmels betrachtend, stellte ich mir eine Mahlzeit daraus her, welche mich das Uebermass von Hunger köstlich finden liess.

Zweifle, wer will, an der Vorsehung. Ich für meinen Teil, der in dieser Hilfe eine sinnlich wahrnehmbare Tat ihrer Sorge sah, gestehe ein, ihr mein Leben zu schulden, welches sie mir bewahrt hat. Von dem Augenblicke an kam es mir vor, als ob sie mich an der Hand halte, um mich durch die schrecklichsten Gefahren zu führen. Ich fand mich so gekräftigt durch dies merkwürdige Mahl, dass ich nicht zauderte, mich wieder auf den Weg zu machen, entschlossen, bei Sonnenuntergang auf einen Baum zu klettern und dort meine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Alle Champignons, die ich zu pflücken vermochte, nahm ich mit mir. Da eine so einfache Nahrung mir hatte Kräfte geben können, zweifelte ich nicht, dass mir nötigenfalls auch eine Menge Kräuter und Wurzeln von demselben Nutzen sein würden. Wie gesagt, ich befand mich in dem Zustande, in welchem die ersten Menschen nach der Schöpfung gewesen waren. Sie kannten kaum, was ihnen als Nahrung dienlich sein mochte, und konnten das nur durch Versuche feststellen. Solche Kenntnisse vermochte ich mir nur in gleicher Weise wie sie zu erwerben.

Mit solchen Gedanken mich abgebend, wanderte ich rüstig zu. Doch in dieser Zeit, wo rings um mich her Stille herrschte, vernahm ich die gellenden Schreie einiger Tiere, die ich nicht schauen konnte. Die Furcht befiel mich von neuem. Ich rettete mich auf den nächsten Baum, der meine einzige Zuflucht bilden mochte, und in weniger als zwei Minuten war ich in seinem Wipfel. Die Sonne stand noch hoch über dem Horizonte. Wie gross war meine Ueberraschung, als ich auf den ersten Blick die Türme von Ciangut erspähte, die mir nur zwei Meilen entfernt zu sein schienen. Ich machte mir bittere Vorwürfe, nicht eher daran gedacht zu haben, mir also die Umgebung anzusehen, und in meinen ersten Freudenregungen stieg ich schnell hinab, ohne an die wilden Tiere zu denken, die mir Furcht verursacht hatten. Nichtsdestoweniger waren sie am Fusse des Baumes. Dies unvermutete Schauspiel erschreckte mich so stark, dass ich die Aufmerksamkeit, die ich den Zweigen widmen musste, an denen ich mich festhielt und auf denen ich stand, verlor und mitten zwischen sie fiel und eins davon durch meinen Sturz tötete. Die anderen ergriffen, scheinbar ebenso erschreckt wie ich, die Flucht und ich blieb einige Augenblicke bei dem, welches ich getötet hatte, niedergestreckt liegen, ohne noch zu glauben zu wagen, dass es ausserstande sei mir zu schaden. Als ich es unbeweglich sah, erhob ich mich geräuschlos und wandte mich nach Ciangut.

Kaum hatte ich hundert Schritte zurückgelegt, als mir ein anderes, aber viel zu glückliches Geräusch, als dass ich mich darüber zu beklagen gehabt hätte, noch einige furchtsame Augenblicke bereitete. Ich glaubte die Stimmen mehrerer Leute zu vernehmen, die sich eifrig unterhielten. Ich erreichte sie in einem Augenblicke und, ein noch unglaublicheres Wunder als alles bereits Erzählte, sah in ihnen meine Genossen der Verbannung.

Sie waren in weniger als acht Tagen mit den beiden Wächtern an dem Orte angelangt, wo mich diese zurückgelassen hatten, und waren dort einige Zeit, sehr überrascht, mich dort nicht zu finden, geblieben. Dort hatten sie die Damen aus Ciangut erwartet, von denen sie erfuhren, was die um mein Unglück wussten. In ihrem Schmerze darüber hatten sie mehrere Tage lang alle erdenklichen Mittel angewendet, um mir zu Hilfe zu kommen. Unter dem Vorwande einer Jagd hatten sie treue Leute in den Wald geschickt, deren Nachforschungen fruchtlos gewesen waren. Sie hatten zahlreiche Flintenschüsse abgegeben, die zu hören mir mein Unglück nicht erlaubt hatte. Die junge Dame, welche eine stille Zuneigung zu mir hegte, war dem Anscheine nach darüber betrübt gewesen, besonders nachdem sie meine Gefährten auf das genaueste ausgeforscht und durch ihr Zeugnis alles, was ich von meiner Herkunft, meinem Schicksal gesagt und dem, was sie selber an meinem Charakter zu erkennen geglaubt, hatte bekräftigen hören. Da sich die Gouverneurin nicht denken konnte, dass ein Mann mit einem festen Schlitten vom Erdboden zu verschwinden vermöchte, hatte sie sich indessen nicht durch die Nutzlosigkeit ihrer anfänglichen Bemühungen abschrecken lassen, und hatte gewünscht, dass die beiden Wächter und die vier Verbannten noch einige Zeit an dem Orte, wo man mich das letztemal gesehen, verweilten, Tag und Nacht damit beschäftigt, mich zu suchen. Dieser Auftrag konnte für Leute, die von der Jagd auf die wildesten Tiere zurückkamen, und die so manche Nacht in elenden Schlitten verbracht hatten, nicht weiter arg sein. Sie führten diesen Befehl am selben Tage aus, wo ich ihnen glücklicherweise begegnen sollte. Sie hatten auch die Tiere verjagt, die mich so erschreckt.

Meine Freude, wieder mit meinen Gefährten zusammen zu sein, war nicht viel grösser als die, welche mir die Güte der russischen Damen und besonders das zärtliche Gefühl derjenigen erweckte, die mein Herz gewonnen hatte. Nichts wünschte ich mir glühender, als ihnen meine Dankbarkeit auszudrücken. Sie nahmen die Bezeigungen in einer Weise an, die nur dazu diente, sie zu vermehren. Sie gingen in ihrer Gefälligkeit so weit, uns mehr als sechs Monate in den Wäldern Cianguts zurückzuhalten. Als endlich die Zarin nach dem Tode Peters I., ihres berühmten Gatten, alle Verbannten, die keine Kapitalverbrechen begangen hatten, aus den Einöden zurückrief, mussten wir sie verlassen und wir schmeicheln uns, schmerzlich von ihnen vermisst zu werden, wie wir unsererseits die lebhafteste Erinnerung an alle ihre Güte bewahren.


 << zurück weiter >>