Rudolf Presber
Der Untermensch und andere Satiren
Rudolf Presber

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Der Diplomat.

». . . Und außerdem,« sagte mein Freund Eduard und warf mir einen mild tadelnden Blick zu, »du bist kein Diplomat. Oder glaubst du etwa?«

»Nein, nein.«

»Ja, siehst du, ich hätte dir's auch nicht geglaubt, wenn du's versichert hättest. Ich hab' ein Auge für so etwas. Verlaß dich drauf. Neulich zum Exempel, wie wir auf der Treppe dem kleinen Karlchen begegneten – –«

»Welchem Karlchen?«

»Nun dem einzigen Sprößling des Kritikers von der ›Tagwacht.‹«

»Dem unappetitlichen kleinen Bengel, der in der Linken das grünlich schillernde Geleebrot und die Rechte immerzu an der Nase hatte?«

»Eben dem. Ja. Du bist an ihm vorübergegangen und hast nichts gesagt.«

»Ich fand den Bengel reizlos und wenig kindlich mit seinem altklugen Gesicht.«

»Ja, meinst du, ich hätte ihn mit einem Raffaelschen Engelchen verwechselt? Und doch – du erinnerst dich – ich habe ihm den Kopf gestreichelt! . . .«

»Was ich sehr geschmacklos fand und sehr unnötig.«

»Bitte, laß mich ausreden. Und ich habe teilnehmend gefragt: ›Nu, Karlchen, was machst du denn Schönes?‹«

»Richtig. Darauf hat er dir die Zunge herausgesteckt. Ich hatte wenigstens diesen Eindruck.«

»Ich auch. Aber wie hab' ich mich nun benommen? Großartig. Ich hab' die kleine Flegelei übersehen, schlicht und schlank übersehen. Und habe gefragt: ›Karlchen, mein liebes Karlchen, gehst du denn auch schon zur Schule?‹«

»Du mußtest doch wissen. daß er mit kaum fünf Jahren noch nicht zur Schule geht.«

»Ja, siehst du, lieber Freund, geht einer noch nicht zur Schule, dann ist ihm diese Frage lieb und angenehm. Er fühlt sich instinktiv älter, reifer taxiert als er ist. Fühlt sich gehoben und geschmeichelt. Und von dem erschrecklichen Ungetüm, das hinter dem für erfahrene Ohren so düster klingenden Hauptwort ›Schu–le‹ steckt – hast du schon irgendwo ein dumpferes, drohenderes ›u‹ gehört, wie in dem Wort ›Schule . . . Schuuule?‹ – hat dieses Mistfinkchen bestimmt noch gar keine Ahnung. Ist aber einer erst drin, spaziert er erst täglich mit der vollgeschriebenen Tafel und einem noch volleren Herzen zu der düsteren Zwingburg der Gelehrsamkeit, um zu erfahren, daß alle die lustigen Sätze, die er so mühelos in der Kinderstube gebildet und nachgeplappert hat, aus ›Subjekt und Prädikat‹ und was weiß ich bestehen – ja dann, dann beschwörst du ihm eben mit solcher Frage die ganze Schmach seiner Knechtschaft, seiner Unmündigkeit, seines Leidens herauf. Ich habe einen alten, sonst vortrefflichen Oheim meines lieben Vaters in den Tod nicht ausstehen können, mein Lebtag, und ich kann heute noch nie ohne leise aufgrollenden Vorwurf an seinem blanken Granitgrabstein vorbeigehen, weil dieser brave alte Herr – ein behaglicher Junggesell durch und durch und ohne das geringste Verständnis für die komplizierte Kinderpsyche – mich bis zu meinem fünfzehnten Jahre, wann und wo er mich sah, fragte: ›Na, Lieber, wie geht's in der Schule?‹ Er erwartete gar keine Antwort, bekam auch keine. Aber siehst du, diese ewige Schulfragerei wirkt auf ein Kind, wie auf einen schwer Seekranken die Frage: ›Essen Sie gern Hummer-Mayonnaise?‹ Er ißt sie zuzeiten vielleicht wirklich gern. Aber der Moment zur Erkundigung ist äußerst unglücklich gewählt.«

»Gut. Zugegeben. Aber was willst du eigentlich damit beweisen?«

»Daß man die Kinder der Leute, von denen man abhängt, die einen kritisieren, schlachten, erledigen können, stets besonders gut behandeln muß; diplo–ma–tisch behandeln muß. Die Väter sind unbestechlich; uneinnehmbare Festungen, so scheint's. Aber diese Festungen haben einen geheimen Zugang, durch den sie doch zu erobern sind: die Kinderstube. Das Kind eines Vorgesetzten, eines Mannes, der irgendwo über uns den Stab brechen kann, hat danach niemals einen Wasserkopf. Es kann unmöglich englische Krankheit gehabt haben. Es ist stets intelligent. Es verspricht sehr schön zu werden, wenn es ein Mädchen ist. Es verspricht sehr klug zu werden, wenn es ein Junge ist. Es sieht in glücklichen Ehen stets der Mutter ähnlich. Denn das freut den Mann, der seine Frau noch liebt. In unglücklichen stets dem Vater, denn das bricht jedem Argwohn die Spitze ab. Ist aber ein berühmter Mann in der Familie, auf den alle stolz sind, so hat es unfehlbar gewisse körperliche Vorzüge mit diesem gemein.«

»Du magst ja recht haben, mein Bester; aber das alles kannst du doch nur den Eltern sagen. Wenn du also einem so ausgesprochenem Kretin, wie diesem Karlchen, einem Ausbund von Ungezogenheit und Reizlosigkeit, auf der Treppe schöne Worte gibst, da dieser kleine Aztek ganz allein mit seinem Geleebrot daherkommt, so hat das doch schlechthin keinen Sinn.«

»O doch, Verehrtester. Zum ersten: Es ist eine oft bestätigte Erfahrung, daß viele Mütter an der Korridortür lauschen, ob ihr scharmanter Liebling auch gut unten ankommt. Siebzig Prozent der Wahrscheinlichkeit sprechen also dafür, daß Karlchens Mutter oben jedes Wort gehört hat, als ich den unmanierlichen kleinen Kerl mit schmelzenden Worten apostrophierte.«

»Hm. Aber warum sprachst du plötzlich französisch? Wenn ich mich recht erinnere, sagtest du plötzlich zu mir: ›Regardez la figure. Il est ravissant, ce petit.‹«

»Ganz recht. Es gibt nämlich Mütter, die sich einen Rest von Vernunft selbst der lauten Bewunderung ihrer Kinder gegenüber bewahrt haben. Die freuen sich diebisch über das Lob; aber sie wünschen nicht, daß die Kinder eitel werden. Deshalb hab' ich französisch gesprochen – aber laut und deutlich.«

»Ja, du hast fast gebrüllt. Und dann hast du ihn gestreichelt: ›Du bist ein lieber Junge, Karlchen. Sage das deiner lieben Mama. Weißt du denn aber auch, wer ich bin?‹ Und da hat das herzige Kind nach einigem Besinnen gesagt: ›Ja, du bist der Preßkohlen-Mann.‹«

»Allerdings, das war schmerzlich. Vielleicht eine Ähnlichkeit in der Barttracht. Ich habe den Irrtum natürlich sofort aufgeklärt. Habe dem tüchtigen Karlchen drei, fünf, sieben Mal meinen Namen wiederholt und ihn mir repetieren lassen. Das ist notwendig wegen der Erzählung am Abend zu Hause. Für den Fall, daß niemand oben zugehört hat. Dann hab' ich ihm fünf Brustbonbons geschenkt. Die schmecken nach nichts, aber sie lutschen sich sehr langsam, so daß der Lutschende einen intensiven Genuß davon hat und keine üblen Nachwirkungen, die mir die Mutter übelnehmen könnte.«

»Eins hast du nur vergessen.«

»Und was?«

»Du hättest ihm noch einen Kuß geben müssen.«

»Kuß? Hm. Nein. Das hab' ich früher auch gemacht. Aber ich will dir gestehen: Vor fünf Jahren, als meine ›Semiramis‹ im Stadttheater zu Blötzingen aufgeführt werden sollte, da hab' ich dem dreijährigen Ältesten des Gewaltigen am ›Stadtanzeiger‹ in großer Begeisterung über seine blonde Schönheit – unter uns, er schielte und hatte keine Augenbrauen – auf den Mund geküßt. Die Mutter stand, ohne zu warnen, strahlend dabei . . .«

»Nun, und?«

»Und? Meine ›Semiramis‹ hat dem Gewaltigen vom ›Stadtanzeiger‹ sehr gefallen. Besonders die Kinderszenen, schrieb er, seien bedeutend. Man sehe, daß ich tief in das Seelenleben des Kindes eingedrungen sei, und daß der kleine Mensch mir das Mysterium seiner Weltanschauung enthüllt habe.«

»Sehr schön gesagt.«

»Ja. Und wahr. Aber fünf Tage nach dieser schönen Kritik, sieben Tage nach dem Kuß, fang' ich an zu husten. Bösartig mit Ziehen, Pfeifen und Würgen. Mit einem Wort – ich hatte den Keuchhusten. Mit dreiunddreißig Jahren die wüste Kinderkrankheit, der ich in meiner Sünden Maienblüte glücklich entgangen war! Ich habe fünfzehn Wochen damit zu tun gehabt. Der Arzt sagte, so heftig habe er diese an sich harmlose Krankheit noch niemals auftreten gesehen. Meine Wirtin hat mir gekündigt, weil niemand mehr neben mir wohnen wollte. Schließlich habe ich einen Spezialisten für Kinderkrankheiten hinter dem Rücken meines Hausarztes konsultiert; der hat mich Emser Viktoria-Quelle trinken lassen – eine Wasserquantität, die manchen netten kleinen Binnensee beschämen könnte . . . In die Mitte dieses Keuchhustens fiel der Durchfall derselben ›Semiramis‹ in Berlin. Ein Kritiker schrieb: ›Der Verfasser kann dem Herrn in der Eckloge rechts innig dankbar sein. Dieser merkwürdige Herr hustete so viel und so laut, daß einige der traurigsten Stellen dieses traurigen Stückes unverständlich blieben.‹ Der merkwürdige Herr in der Eckloge war ich.«

»Und seitdem küßt du keine Kinder mehr?«

»Nie mehr. Ich beschränke mich auf die Zärtlichkeiten des Blickes, der Worte und der Hände.«

»Wenn nun aber keine Kinder da sind?«

»Das ist bös. Aber nicht hoffnungslos, wenn der betreffende Gewaltige verheiratet ist. Dann lasse ich mich der Frau Gemahlin vorstellen, bin sehr höflich, ohne aufdringlich zu sein, und warte bis ich den Ehemann wieder allein habe. Und dann schieß ich los mit der Ähnlichkeit.«

»Mit welcher Ähnlichkeit?«

»Ja, das ist's. Starke, blonde Frauen sehen bei mir immer der Caterina Cornaro ähnlich. In schlanken Brünetten entdecke ich, wenn's irgend geht, einen Zug der Madame Récamier. Passen diese beiden nicht, dann habe ich folgenden Trick. Ich erfasse mit mühsam zurückgedämmter Bewegung die Hand des glücklichen Gatten und frage: ›Waren Sie schon in Venedig?‹ Er antwortet ja oder nein. Das ist ganz gleichgültig. Ich forsche voll Teilnahme weiter: ›Kennen Sie dort die kleine Kirche S. Maria del Carmine?‹ Die Antwort lautet immer: Nein. Und ich: Schade, sehr schade. Dort sah ich ein Bild, ein Altarbild von einem Schüler des Tizian. Gleich links in der Nische. Eine Heilige von wunderbarer weiblicher Anmut. Als Ihre Frau Gemahlin soeben hereintrat – Sie werden bemerkt haben, ich war etwas fassungslos. So etwas von Ähnlichkeit ist mir noch nicht vorgekommen. Mir noch nicht! . . . Er ist erstaunt, erfreut, geschmeichelt. Es ist keine Kleinigkeit, eine Frau zu haben, die einer Heiligen ähnlich sieht. Und von einem Schüler Tizians gemalt, ich bitte!«

»Ja, gibt's denn eine solche Kirche in Venedig?«

»Allerdings.«

»Und existiert dort so ein Bild?«

»Ich kann's nicht sagen. Ich war nie dort. Sie liegt etwas ab vom Verkehr, die Kirche. Ehrlich gesagt: Darum hab' ich sie just gewählt. Man findet sie nicht so leicht.«

»Ach – deshalb«

»Ja. Früher hatte ich die frappante Ähnlichkeit immer in S. Giovanni Evangelista in Ravenna entdeckt. Aber diese Kirche liegt zu günstig. Da hat wahrhaftig mal ein braver Mann das von mir in glühenden Farben geschilderte Bild seiner Frau gesucht

»Und gefunden?«

»Das weniger. Er schrieb mir eine ziemlich pikierte Ansichtskarte. Etwa so: Geehrter Herr! Bin in Ravenna ausgestiegen, um die Heilige zu sehen, der meine liebe Frau so sehr gleichen soll. Aber Ihr Gedächtnis muß Sie getäuscht haben. In S. Giovanni Evangelista befinden sich seit Jahrhunderten nur Fresken des Giotto. Vier alte, wenig schöne Männer und ihre Symbole in Tiergestalten. Was ich nicht unterlassen will, Ihnen mit ergebenstem Gruß – na, und so weiter. Seit der Zeit habe ich den Schüler des Tizian in S. Maria del Carmine bemüht.«

»Und du bist mit ihm zufrieden?«

»Sehr. Er hat schon viele Glückliche gemacht!«


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