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Ich bummle langsam die Linden hinunter und freue mich an dem schönen Herbstmorgen.
Alles ist so freundlich, lacht in einem leichten Goldschimmer, die Läden, die Häuser, die Menschen.
Der alte Fritz da oben auf seinem Postament reitet munterer wie sonst in die klare Frische hinein. Das prächtige Standbild, mir das liebste in ganz Berlin, nimmt für mein Empfinden immer an allen Stimmungen der Hauptstadt teil. Ich habe ihn schon reiten sehen, den klugen König, müd, schweigsam, düster auf regenverwaschenem Pferd, als käm' er just von jenem bösen Hügel vor Kollin, von dem aus er seine Grenadiere zum ersten Male vor den Weißröcken Dauns davonlaufen sah. Hab' ihn schon im Sattel sitzen gesehen, würdig und gemessen, als ob er noch einmal hinausritte nach Charlottenburg in die Schloßkirche, dem alten Herrgott, den er sonst nicht viel bemühte, für den Hubertusburger Frieden zu danken. Heut aber, wie er so reitet, sonnengoldumflossen, in den kalten, klaren Novembermorgen, scheint er mir, munter und siegbewußt, von der Anhöhe nach Roßbach herunterzutraben. Und ich wollt' mich gar nicht wundern, wenn jetzt von dort hinten, aus der engen Charlottenstraße, die dreiunddreißig preußischen Schwadronen in die »Linden« hineingaloppierten. Seydlitz, sein Pfeifchen munter schwenkend, seinen Tapferen voran . . . Es war ja auch ein Novembertag – damals! Und mir fällt das alte Verschen ein, das in jenen fernen Novembertagen so stolz, so fröhlich, so keck von jedem Preußenmunde und gewiß am stolzesten hier unter den Linden klang:
Und wenn der große Friedrich kommt
Und klopft nur an die Hosen,
Dann läuft die ganze Reichsarmee,
Panduren und Franzosen!
. . . Aber aus der Charlottenstraße kommen keine Seydlitzschen Kürassiere. Ein paar alte Geheimräte mit Aktenmappen, ein paar Choristen vom Opernhaus mit glattrasierten Gesichtern und den weitausladenden Gesten der Männer, die allabendlich so viel Blut, Mord, Hochzeit und Heldentreue, im Chor singend, miterleben müssen. Ein paar niedliche Konfektionöschen mit eiligen, kleinen Trippelschrittchen die gelben Lindenblätter niedertretend. Ein paar würdige Fremde aus der Provinz, fluchtbereit um sich schauend an den gefahrvollen Übergängen und sich von Schutzmann zu Schutzmann durchfragend durch das große, böse Berlin. Und da vor mir ein paar Studenten.
Recht so, die brauch' ich! Der Tag ist so frisch und so jung. Und ich war so lange in keiner Universität.
Die beiden da knapp vor mir haben mich auf den rechten Weg gebracht. Sie unterhalten sich von der besten Art, Hackenquarten zu parieren. Der Jüngere hat noch keine wohlbegründete Ansicht; er lauscht lernbegierig. Der Ältere von beiden, dem sein Friseur schon durch reichliche Einfettung der Oberlippe den schattenhaften Traum eines Schnurrbartes ins Gesicht zaubert, riecht gar so seltsam nach Jodoform.
Ich weiß, es gibt naserümpfende Leute, die mögen den Geruch nicht. Ich aber bewahre manchen Parfüms, auch den wunderlichen, die treue Dankbarkeit der Erinnerung. Jodoform! Ich denke an eigene Freiburger Tage. Ich denke an meinen Besuch in Heidelberg, als Ben, weiß wie ein Schneemann, im Stuhle sah und Hühnerbrühe durchs Glasröhrchen suckelte . . . Und ich gehe den beiden nach, dem Jodoformduftigen und seinem lauschenden Jünger.
»Wir hatten vor vier Semestern einen zweiten Chargierten,« belehrt der Erfahrene den Fuchsen gerade, »der war Kunstlinkser, verstehst du. Der hatte eine Kraft im linken Arm, na, ich sage dir, einfach phänomenal! Der schlug – so aus'm Handgelenk – mit seinen berüchtigten Spickern jede Parade durch. Aber glatt. Jede!«
Ich gehe an den beiden vorbei. Durch das große Gartenportal trete ich in den Vorhof, in dessen Mitte sich Helmholtz in Marmor erhebt. Der runde, wenig fesselnde Kopf mit dem spärlichen Bärtchen läßt Unbefangene kaum auf den genialen Gelehrten schließen. Nicht den Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft, denk' ich so bei mir, nicht den großen Nervenphysiologen möchte man in diesem weißen Biedermann suchen. Es ist ja überhaupt so schwer, sich für die geistige Größe die entsprechenden körperlichen Formen zu denken. Ich erinnere mich, daß vor vielen Jahren für die lebenden Bilder eines Wohltätigkeitsfestes in Frankfurt ein Michelangelo nötig war. Man machte den Versuch mit Herren aus der Gesellschaft, mit klugen und minder klugen, schönen und minder schönen. Es ging nicht. Die Ähnlichkeit kam nicht heraus. Keiner genügte als Michelangelo. Schließlich nahm man einen – just nur für sein Handwerk begabten Hühneraugenoperateur, der tatsächlich dem Meister, der die Kuppel der Peterskirche gewölbt und geschmückt, in Schädelform, Gesichtsausdruck, Haarwuchs und Barttracht am nächsten kam. Und der gewaltige Buonarotti, die Blüte edelsten Geistes aus dem erlauchten Hause der Grafen von Canossa, wurde am festlichen Abend durch einen Leichdornvertilger vollendet dargestellt; durch einen Stumpfsinnigen, der den ganzen Tag über, ehe er stolz – im Bilde – vor Julius II. die Pläne der Sixtinischen Kapelle ausbreitete, die harte Haut von gedrückten Zehen entfernt hatte.
Edle Köpfe machen nicht immer die edlen Menschen. In das Bild der Großen legt oft erst unsere Kunst oder unsere Liebe das Bedeutsame hinein . . . Und wer weiß, wie viel künftige Geistesgröße, wie viel Gelehrsamkeit, Ruhm und Unsterblichkeit jetzt eben hier am Bilde von Helmholtz vor der Berliner Universität an mir vorbeiflutet. Zukunftsruhm mit Bierpickeln im jugendlich unfertigen Gesicht. Bartlose Größe in bescheidenen Hosen, die von den groben Bänken der Hörsäle spiegelglatt gescheuert sind. Blasse Unsterblichkeit, die heute noch aussieht, als sollte sie den Kater von der gestrigen »offiziellen Kneipe« nicht überleben. Und unter der Maske dieser frischen Gesundheit, die lachend aus dem Riesenkasten der Gelehrsamkeit an mir vorbeiflutet in die vornehmste, lebenspendende Ader der Großstadt, wie viel künftiger Schmerz um nie gelöste Rätsel, wie viel bald erwachsende Sehnsucht nach all dem Unmeßbaren und all dem Unfaßbaren mag sich da bergen?
Und wie ich durch das Portal in das stimmendurchwühlte Haus trete, in dem ich doch eigentlich nichts mehr zu suchen habe, schmeichelt mir ein freundlicher Gedanke. Für wen halten sie mich jetzt wohl, die Leute, die sich hier auskennen, der Pedell dort unter der blauen Mütze oder hier der hübsche Bursch', der keinen Überzieher trägt, damit das dreifarbige Band in die Weite leuchten kann? Für was und für wen? Für einen, ach, wie bemoosten Studenten oder für einen neuen Professor?
Es ist gerade Pause zwischen den Kollegien. Das Vestibüle ist gefüllt und voll Leben. Ein Gewirr junger, kräftiger Stimmen umspinnt mich. Ich greife unwillkürlich mit der Linken unter meinen rechten Arm. Wo ist die Kollegienmappe? Bin ich denn wirklich schon so alt? Komm' ich nur als schüchterner Gast, als einer, der »Lokal schinden« will, hierher? Gehör' ich gar nicht mehr dazu?
Aber nein: da kommen – Damen; junge Damen mit Mappen. Eilfertig trippeln sie an mir vorbei und steigen wichtig die Treppe hinauf.
Richtig, die Zeit ist weitergeschritten; die Welt, die Mode mit ihr. Zu meiner Zeit, als ich noch die schmale, lederne Mappe trug, die Bücher und die – Jodoformkompresse, gab's noch keine Damen in solchen Hallen der Gelehrsamkeit. Wir waren noch ganz unter uns Jünglingen. Und wie ich das überdenke, bekommt dieser weite, kühle dunkle Vorraum mit den beiden steifen, schmalen Treppen links und rechts ein ganz eigenartiges, neues Interesse. Ich suche in dem wimmelnden Haufen nur noch die Frauen heraus. Ich möchte spähen und erkennen, ob sie wohl anders sind, anders sich tragen und geben, als ihre Schwestern da draußen im Herbstsonnenschein, die nichts wissen von den Komödien des Plautus, von den Funktionen der Milz oder von der Zivilprozeßordnung. Die Frauenmoden, denk' ich, werden von der weiblichen Gelehrsamkeit nichts profitieren, das ist sicher. Übrigens hätte schon vor unserer Zeit eine Statistik erwiesen, daß just nicht die klügsten Frauen die Moden machen; wenn auch leider selbst kluge Frauen die Mode mitmachen. Die Ausgaben für Schneider und Hutmacherinnen und die geistigen Ausgaben, die eine Frau zu machen imstande ist, verhalten sich nur zu häufig umgekehrt proportional . . .
Schlichteste Einfachheit ist unter den weiblichen Hörerinnen Mode. Vielleicht haben sie in diesem Jahre noch weniger das Bedürfnis aufzufallen als in früheren. Denn der jetzige Rector magnificus ist, sagt man, kein Freund der Frauengelehrsamkeit und des Frauenstudiums. Unauffällige runde Hüte mit wenig bunten Bändern und ohne die früher beliebten toten Vögel. Die »älteren Semester« unter den Hörerinnen treten ziemlich sicher auf. Von den jüngeren steigen noch viele mit gesenktem Auge die Treppen. Die männlichen Kommilitonen sind höflich ohne Übertreibung. Sie zeichnen die Damen nicht aus und sie belästigen sie nicht mit ihren Blicken. Freilich sinnverwirrende Schönheiten nehme ich auch keine wahr. Nach Darwin hat die Natur jedem Geschöpf in seinem Erhaltungstrieb auch die Waffe zum Kampf geliehen. Nutzlos gewordene Waffen legt die Gattung im Laufe der Zeit ab. Und was soll die Schönheit in den Hallen der Gelehrsamkeit? Käme eine neue Helena, wie sie einst in den Mauern Trojas sogar das Herz der silberhaarigen Greise entzündete, und wäre die moderne Tochter der Leda von dem heißen Wunsche beseelt, Sanskrit oder philosophische Propädeutik zu studieren – ja, dann freilich bangte mir sehr um die Ruhe und den Frieden in diesen heiligen Hallen!
Erst als ich Ruth daherkommen sah, fiel mir wieder ein, daß ich ja eigentlich ihretwegen allein hier in die kühlen Gänge der Berliner Universität eindrang.
Als sie meiner ansichtig wurde, verabschiedete sie sich sofort von einem zerknitterten älteren Fräulein, das mit hängender Schulter eine schwere Büchermappe schleppte, als käme sie mit Rüben vom Markt.
»Ich habe schon ein Kolleg über Minnesänger und eins über das antike Rom hinter mir.« Ruth streckte mir vergnügt den dänischen Handschuh hin. Sie schien nicht weiter erstaunt, mich hier zu sehen. Wie es denn überhaupt zu ihren merkwürdigsten Eigenschaften gehörte, selten erstaunt, niemals verblüfft zu sein. Woher es wohl kam, daß ihr Antlitz zu den wenigen Menschengesichtern zählte, die ich nie, auch nur für flüchtige Augenblicke, einen blöden, unbewachten Ausdruck habe annehmen sehen, der bekennt: ich bin der Situation nicht gewachsen.
»Du bist anders schwer zu sprechen, liebe Ruth,« erklärte ich diese ungewöhnliche Begegnung, »so hab' ich mich bei Ben telephonisch nach deinem komplizierten Stundenplan erkundigt. Und siehe: es gelang.«
»Aber wie? Teurer Schwager, du hast doch erst vorgestern bei uns Tee getrunken mit deiner lieben Frau – das soll kein Vorwurf sein, weder der Tee noch das »Vorgestern« noch die liebe Frau.«
»Schön. Schön, wie alles, was du sprichst. Schön, wie der köstliche Karawanentee, den du bereitet hast. Aber du bist dann nie allein. Entweder ist Ben bei dir oder eine Freundin oder Bekannte oder ein Künstler oder ein Literat oder – – Na, der Reichskanzler wird auch bald kommen, was?«
»In der Diplomatie bin ich noch nicht so weit. Aber ich gebe zu, es wird da auch bald werden.« Ihr Ton fand zwischen Ernst und Scherz eine listige Mitte. Man wußte nicht recht. »Ich bereite so langsam – soweit man das kann, ohne zunächst selbst eingerichtet zu sein – einen sogenannten »Salon« vor. Oder – doucement, doucement! n'allons pas si vite! – ein bescheidenes Salönchen. Nicht lächeln –! Warum soll die Ruth, geborene Baddach, aus Frankfurt nicht da anfangen in Berlin, wo die Rahel, geborene Lewin, aufgehört hat?«
»Na – Ben als Varnhagen von Ense? Ich weiß nicht, ob er Talent hat?«
»Er wird sich gewöhnen.«
»Ein kleiner Ehrgeiz steckt doch in dir – ich dacht' mir's. Aber –«
»Aber – du wolltest von anderen Dingen sprechen. Und da ich dich und deine Geschäfte kenne, so weiß ich schon, es handelt sich dabei nicht um dich und nicht um mich. Immer um Ben.«
»Ganz recht, Ruth. Er macht mir etwas Sorge.«
»Hm. Ich glaube, das wird er machen, solange er lebt. Aber er macht das so nett, findest du nicht? Es ist in dem großen, klugen, ideenreichen Menschen ein Stück Kind. Ich könnte mir denken, daß ich eines Tags nach Hause komme – und er baut Bleisoldaten auf und schießt mit Erbsen hinein. Oder ich seh' zufällig aus dem Fenster, und – wahrhaftig, er springt unten in dem, was man in Berlin bescheiden seinen »Garten« nennt, übers Seil! . . . Aber reden wir im Hause ernsthaft von den ernsten Dingen, ja? Jetzt bin ich allein. Ich nehme dann keinen Besuch an. Ben ist im Bureau – wie das zusammen klingt: Ben und »Bureau«! Obschon's ein Stabreim ist, will's gar nicht recht passen, nicht? . . . Sieh mal, wie entzückend hier bei Santen die Elfenbeinminiaturen!«
Und schon stand sie an der Auslage des Santenschen Geschäfts und betrachtete, bewunderte, erklärte mit einem liebegetränkten Verständnis die einzelnen Kunstgegenstände.
Etwas Fremdes blieb immer für mich in dieser jungen Frau, die ich schon als Kind gekannt, deren Herzenswünsche ich früher als andere gehört, deren wunderliche Verlobung ich mitgefeiert, und die nun seit sechs Monaten meines Bruders Ben Frau hieß. War es doch die andere Rasse, das freiere Milieu, aus dem sie kam? War es ein kühnerer Zuschnitt des Geistes, der Erziehung, der Lebensformen, der Bedürfnisse?
Wir schlenderten die Linden hinunter. Kavaliere sahen diskret nach ihrer eleganten Erscheinung. Mißbilligende Bürgerinnen drehten sich nach ihr um. Sie bemerkte alles und beachtete nichts. Sie führte eine leichte Unterhaltung über Theater und Gemälde, über Berlin und seine Geselligkeit, in der sie, das merkte man aus allem, schon gut orientiert war und allmählich eine Rolle zu spielen hoffte. Und während sie plauderte, liebenswürdig, ruhig, meldete sich immer wieder leise die Frage in mir: Und Ben?
Am Brandenburger Tor winkte sie einer leer vorbeizottelnden Droschke.
»So – der Rest ist Spazierfahrt.« Sie nannte dem Kutscher die Straße und wies an, durch den Tiergarten zu fahren. »Die Berliner schwärmen für den Tiergarten. Ich werde mich hüten, zu widersprechen. Das hab' ich jetzt schon gelernt: man kann und darf mit Berlinern über alles streiten, über Bismarck und Wagner, über Napoleon und Goethe, über den Kaiser und den Kainz – bloß nicht über Berlin. Da kann man sich Feinde machen. Besonders unter den Berlinern, die selber aus Breslau sind. Und beileibe nicht an den Tiergarten rühren! Sie nennen ihn die »Lunge« der Stadt, er ist ihr Herz. Mich stören gerade die Berliner darin. Alle diese korrekten Geheimräte und sich wichtig machenden Lebejünglinge, aber auch die Damen, die's so eilig haben, als ob sie auf die Bahn müßten, gehören nicht unter so breitschattende alte Bäume. Gehören zwischen Mauern, auf den Asphalt. Sogar die Spreewälderinnen, so energisch sie hinter den Kinderwägelchen die kurzen Röcke schaukeln, kommen mir immer maskiert vor, wie für den Karneval in Mainz. Unsere Zeit ist auf Moden angewiesen. Die Volkstracht ist vorbei. Schade, aber nicht zu ändern. Oben in Schweden – auf unserer Hochzeitsreise hab' ich's oft gedacht – wenn da ein Schiff einläuft in so einen grandiosen Fjord und schlank, ernst und blond stehen die Bäuerinnen in ihren Trachten – grell, wie das Holzspielzeug ihrer Kinder, wie ihre Sonnenuntergänge und ihre Malerei – das paßt ins Bild. Hier? Man kann die Leipziger Straße, find' ich, nicht einfach ausschütten auf die Rasenflächen eines englischen Parks ohne üble Stilwidrigkeit.«
In der vornehmen, stillen Straße in Charlottenburg stiegen wir aus.
Peter Pütz öffnete. Er hatte an Feierlichkeit nichts verloren, kam aber jetzt den vortrefflichen Vorschriften des Prinzen Reuß mit einer lächelnden Sicherheit nach, die jeden Zweifel ausschloß, ob man vielleicht einen Paletot mit weniger Anstand abnehmen oder eine Türe mit bescheideneren Zeremonien öffnen könne. Rosa Riemenschnut, die Zipfel einer Tändelschürze mit silbernen Nadeln an den geräumigen Busen gesteckt, und ein kokettes Schlupphäubchen aus dem zu seltsam eigenartiger Frisur aufgebauten, brandroten Haar, orientierte ihre Herrin kurz über die in ihrer Abwesenheit eingelaufenen Telephonate. Eine Schneiderin, der Baron von Gollwitz – Rosa Riemenschnut baronisierte jeden Adligen – eine Dame in Angelegenheiten der Heidenmission, die Buchhandlung Unter den Linden und ein japanischer Professor.
Ich wunderte mich im stillen über die Vielseitigkeit der schon angeknüpften Beziehungen und des Verkehrs und dachte lächelnd an meine kleine blonde Frau zu Hause, die noch immer in Berlin wie zu Besuch wohnte und kaum zwei, drei Damen kannte, zu denen sie ehrfurchtsvoll emporsah, da diese schon ein paar Jahre hier lebten, keine Linien der Elektrischen miteinander verwechselten und den Kühnheiten der Portierleute und Budiker gewachsen waren.
»Alles nicht wichtig,« sagte Ruth, als Rosa gegangen war. »Jetzt bin ich ganz Ohr, ganz zur Verfügung des vieledlen Schwagers und seiner drückenden Familiensorgen. Denn Sorgen werden's doch sein?«
»Allerdings. Das heißt – –« Es kam mir plötzlich wunderlich, ja fast komisch vor, in diesem Raum von alltäglichen, von mitteleuropäischen Angelegenheiten zu sprechen. Denn man war, eben noch durch den Berliner Tiergarten gefahren, plötzlich und unvermittelt in Ostasien. Mitten in Japan.
Ben hatte diese Wohnung ausgesucht. Möbliert hatte er sie einer Kommerzienrätin Jänisch abgemietet, die mit ihrem jetzt längst verstorbenen Gatten viele Jahre in Japan gelebt und die einzige Tochter dort an einen vornehmen Japaner verheiratet hatte. Daher kam es, daß diese acht großen und hohen Zimmer aussahen, wie ein einziges japanisches Museum. Man hatte den Eindruck, es müßten eigentlich Nummern an allen Gegenständen stecken und auf dem Korridor illustrierte Kataloge verkauft werden. Auch war man vielleicht erstaunt, keine Plakate an der Wand zu finden mit der strengen Weisung, die Schirme an der Garderobe abzugeben und die ausgestellten Kunstwerke durchaus nicht zu berühren . . .
Ruth hatte gewünscht, sich in aller Ruhe in Berlin einrichten zu dürfen, nachdem man sich überzeugt, daß es die richtige Stadt sei, in der man sich niedergelassen, und die richtige Gegend gefunden. Ich, der ich, als Syndikus meiner Bank, schon ein paar Monate in einer hübschen, aber nicht ungewöhnlichen Wohnung des neuen Westens lebte, hatte geraten, zunächst mal in eine Familienpension zu ziehen. Aber Ben widerstrebte die Möglichkeit, immerzu mit anderen Leuten zu Tisch zu sitzen, amerikanischen Frohsinn und russische Tischgewohnheiten ertragen zu müssen und Lords und Contes kennen zu lernen, die später mit dem Tischsilber oder der Kochmamsell durchgingen. Anderes erwartete er nicht von einer Pension. Auch das Christliche Hospiz lehnte er ab. Es war ihm nicht auszureden, daß hier immer zugereiste Superintendenten von auswärts am Harmonium säßen und talentlos Choräle spielten. Ein Hotel erschien ihm, da Ruth Bewegungsfreiheit liebte und weniger als fünf Räume nicht in Erwägung zog, doch etwas kostspielig. So betrachtete er es als einen herrlichen Glücksfall – sein Leben war reich an solchen freudig begrüßten Glücksfällen, die einer Nachprüfung nicht immer standhielten – als er schon auf der Fahrt nach Berlin auf eine Annonce in der »Voß« aufmerksam gemacht wurde, in der eine Dame, die längere Zeit verreisen wollte, ihre »hochherrschaftlich und originell eingerichtete Wohnung, im einheitlichen Stil möbliert«, für sechs bis acht Monate »vornehm denkender, kunstverständiger, kinderloser Familie« anbot.
Diese Reise unternahm die Kommerzienrätin Jänisch zur fünften Entbindung ihrer einzigen Tochter nach Tokio. Die bis ins kleinste geregelte Lebensweise ihres Schwiegersohns, der Kudsuke-no Jatsu-nada hieß, von der Insel Sikok stammte und, wie alle edlen Japaner, sein Geschlecht in gerader Linie auf einen der achtmalhunderttausend dämonischen Mikotos zurückführte, brachte es mit sich, daß alle zwei Jahre ein neuer Kudsuke-no Jatsu-nada, schlitzäugig und mit schwarzem Schöpfchen, geboren wurde. Wie lange diese geregelte Lebensweise fortgesetzt werden sollte, blieb unbestimmt. Vorerst war an eine Unterbrechung des guten Familienbrauches nicht zu denken. Die Kommerzienrätin Jänisch reist also jedes zweite Jahr nach Japan, um nach alter, lieber Gewohnheit auf geflochtener Binsenmatte zwischen herrlich gemalten Wandschirmen aus dünnem Porzellanschälchen köstlichen Tee trinkend die schwere Stunde ihrer Tochter zu erwarten.
So kam es, daß die junge Ehe Bens und Ruths im modernen Berlin unter lauter Specksteingötzen, seidenen Wandschirmen, geflossenen Glasuren, verwegenen Tuschmalereien, grinsenden Elfenbeinaffen, bemalten Ziervasen und leuchtenden Goldlackarbeiten ihr erstes Nest fand. Ich habe in meinem ganzen Leben, wenn ich alles dieser Art zusammenrechne, was mir begegnet, solch überwältigende Fülle von Fischreihern und Kirschblüten, von Bronzefalken und silberverzierten Schwertern nicht gesehen, wie in diesem jungen Haushalt. Ben, der für alles Neue, Fremde und Wunderliche den Enthusiasmus seines allen Wallungen geneigten Temperaments mitbrachte, fand sich in diesen Bildern, papiernen Schiebewänden, Schwertstichblättern und Porzellankannen rasch und wunderbar zurecht und konnte bei seinem erstaunlichen Gedächtnis für fremde Namen und schwierige Vokabeln bald die Malereien der unaussprechbaren Schüler des Toba Sojo, die Blätter der Anhänger der Vamato-Tosa-Schule oder die Naturstudien Maruyama Okios und seines Schülers Geshum mit einer schwindelerregenden Zungengeläufigkeit erklären.
Während ich so auf der einzigen Konzession an den mitteleuropäischen Stil und seine Bequemlichkeit, einem breiten Armsessel, Platz genommen, hatte sich Ruth ein wundervoll besticktes seidenes Kimono übergeworfen und setzte sich auf eine Strohmatte mir fast zu Füßen. Hinter ihr tanzten auf einem Wandschirm aus ockerfarbener Seide zwei Affen, die aus einem Malvenbusch herausfeixten, um spindeldürre Gaukler.
»Liebe Ruth,« sagte ich und bemühte mich, von den Gedanken loszukommen, daß ich hier in meinem grauen Sakko wie ein Klecks im Bilde saß, »ich wollte mit dir von Bens Plänen sprechen. Mir scheint da wieder einiges durch die berühmte blaue Brille gesehen, die der gute Ben zur Betrachtung von Menschen und Dingen von Zeit zu Zeit vor seine sonst so klugen Augen nimmt.«
»Von Zeit zu Zeit? Er ist damit geboren. Wer ihm die Brille zerschlägt, trifft unfehlbar seinen Augapfel. Zerstört ihm das edelste Organ und die hellste Freude am Leben. Nie hat Kassandra wahrer gesprochen, als im Anblick dieses Optimisten: ›Nur der Irrtum ist das Leben – und das Wissen ist der Tod.‹«
»Ich fürchte nur, daß diese Verbindung mit Wüllich und seiner – nun sagen wir vorsichtig: seiner merkwürdigen Fabrik und dem, was mit ihr tiefer zusammenhängt –«
»Darauf kommt's für Ben an. Auf die tieferen Zusammenhänge. Nicht auf die Wässerchen und Salben –«
»Gewiß. Aber mir scheint – du weißt, ich war schon vorsichtig als Frankfurter Anwalt. Als Syndikus in Berlin hab' ich noch Vorsicht zugelernt – mir scheint da vieles doch recht unsicher, wenn nicht gefährlich. Die finanziellen Fundamente sind –«
»Wacklig, mild ausgedrückt. Ich weiß. Was macht das? Es füllt Ben aus – es freut ihn, regt ihn an, beschäftigt ihn. Er kann sich betätigen. Und – so hart das klingt, aber es hört uns ja niemand – wir haben's ja dazu.«
»Wenn ich nur das Gefühl hätte, daß er so ganz aus eigenster Initiative, aus innerster, froher Überzeugung – aber mir scheint, da sind treibende Kräfte hinter ihm, die nicht ganz uneigennützig . . . Wer ist eigentlich dieser Tobias Moscheles, von dem er immer schwärmt, und wie sieht dieser vielseitige Mann aus, und – –?«
»Oh,« Ruth lächelte vergnügt, »das Aussehen ist just seine starke Seite nicht.« Und den Kopf ein wenig wendend, zeigte sie mit dem Daumen über die großen gestickten Chrysanthemen auf ihrer Schulter zu dem bunten Wandschirm, den jetzt hinter ihr die Sonne leuchten ließ. »So sieht er aus!«
»Mein Gott, wie dort der schlitzäugige japanische Gaukler?«
»Nein, nein, wie der da – der andere.«
»Wie denn – der Affe unter dem Malvenbusch?«
»Ja, dem sieht er wirklich ähnlich. Ben meint's auch; hat's sogar zuerst entdeckt. Aber darin erblickt Ben, wie er nun mal ist, ein besonders glückliches Omen, daß ein Affe aus der Schule Kano Masanobus, vor vier Jahrhunderten in Japan unter einem Malvenbaum gemalt, zufällig erinnert an einen pfiffigen kleinen Journalisten, der alles macht und – gegen gute Beteiligung – sogar Ben und seinen Idealen den Weg ebnet. Mitten durch Berlin.«