Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Als ich, fünf Tage später, im Mittagszug Frankfurt–Basel mir ein Coupé suchte, nickte mir aus einem Abteil erster Klasse eine Dame zu. Ich erkannte Ruth Baddach und trat grüßend heran.

»Oh, Sie fahren gewiß auch nach Heidelberg?« Sie schien ehrlich erfreut, mich zu sehen.

»Allerdings, liebes Fräulein. Aber nicht ganz so vornehm wie Sie. Ein kleiner Rechtsanwalt kann sich nur zweiter Güte leisten.«

»Warten Sie – ich komme mit Ihnen nebenan ins Nichtraucherabteil – oder nein, das Raucherabteil ist ja ganz leer – um so besser, da können wir rauchen. Lassen Sie das Gepäck nur im Netz. Meine Jungfer gibt schon acht. Rosa –« Sie wandte sich an ein üppiges weibliches Wesen, das einen grauen Regenmantel schier mit dem Überfluß an Weiblichkeit sprengen wollte und ein kokettes Schäferhütchen auf brandrotem Haar trug. »Rosa, wir steigen in Heidelberg aus. Daß Sie mir nicht nach Basel weiterfahren! Ich denke, der Herr Professor wird den Wagen schicken, wenn er nicht selbst . . . Sehen Sie sich nach dem Gustav um, Sie kennen ihn ja.«

Im breiten Gesicht der als Rosa angeredeten Zofe leuchtete etwas auf. Man sah es, sie kannte den Gustav.

»Es ist eine außerordentlich tüchtige und zuverlässige Person, meine Rosa –« sagte Ruth, als wir uns im Raucherabteil am Fenster gegenüber sahen, »übrigens: Rosa Riemenschnut, ein verrückter Name, nicht? Gewandt, willig, diskret, kurz, ideal – bloß die Männer zwischen siebzehn und siebzig sind ihr alle gefährlich.«

»Nach siebzig nicht mehr?«

»Ich denke, das liegt nur an den Männern. Heidelberg wird wohl kein sehr glücklicher Boden für sie sein. Aber wie ich die brave Rosa kenne, verlobt sie sich spätestens morgen abend mit Gustav, dem Diener meines Onkels. Den hat sie auf seiner Durchreise mit dem Professor zum Kongreß nach Berlin letzten Herbst in Frankfurt gesehen. Seitdem korrespondiert sie mit ihm.«

»Oh, dann verlieren Sie ja die Perle?«

»Aber nein. Sie hat ihren Schiller gelesen; sie »prüft« sich, eh' sie sich »ewig bindet«. Die Verlobung dauert nur, bis ich wieder heimreise.«

»Und wann ist das?«

Ruths Augen wurden klein. Sie sah mich einen Augenblick schweigend an, als ob sie hinter meiner harmlosen Frage etwas anderes vermute, dann sagte sie: »Ich weiß selbst noch nicht. Wenn Frauen schon zum Studium zugelassen wären – das kommt, glauben Sie mir, das kommt bestimmt, wenn auch mein Onkel Professor ärgerlich behauptet: »Juristen würden die Weiber nie, weil wir mit dem Herzen Recht sprechen wollten, nicht mit dem Kopf. Aber ich wollte sagen, wenn wir schon immatrikuliert werden könnten, blieb ich das ganze Semester da. Vielleicht sogar noch die folgenden.«

»Sind Sie Frankfurts überdrüssig?«

»Ja und nein. Aber rauchen Sie nicht –?« Sie bot aus einem sehr zierlichen, goldenen Zigarettenetui schlanke Ägypterinnen an. »Ach, Sie betrachten das Etuichen? Gold mit Monogramm in kleinen Saphiren –« Sie lachte. »Ein bißchen üppig in seiner Sinnigkeit. Aber – »Geschenk des Herrn Kommerzienrats Baddach« – wie auch im Zoo an dem Käfig des Amerikanischen Biber steht. Haben Sie ihn gesehen, den Biber? Nein? Man sieht ihn meist nicht, denn er ist fast immer unter Wasser. Das hat er mit meinem Vater gemein, der ihn geschenkt hat. Der jetzt immerzu schenkt, nicht bloß Biber. Der überhaupt jetzt von einer Freigebigkeit ist, daß es einem Angst werden könnte . . . Ihn selber aber sieht man auch nicht viel öfter, als den Biber im Zoo.«

»Auch – unter Wasser?« fragte ich.

»Nein, im Feuer.« Sie sagte das ganz ernst und blies, kunstgerecht, schwankende Kringel ins Coupé.

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Wir waren allein geblieben.

»Sehen Sie – jetzt, von der Brücke das Stadtbild! Das ist der einzige Moment, der mir jedesmal, wenn ich ausfahre, einen Heimwehstich ins Herz gibt – jedesmal, wenn ich einfahre, einen heimlichen Jubel auslöst. Frankfurt! Wie schön sich das aufbaut in der sanften Schwingung den Fluß entlang – der Dom, der die Spitze kühn in den Himmel bohrt – der abgebrannte, dem die alte Generation noch nachweint, kann lang nicht so schön gewesen sein – und die Paulskirche mit ihrer bläulichen Kuppel – und die feinen alten Häuser am Kai mit den gereihten Fenstern, ohne Schnörkel, Gesimse, Balkone – alle, als wollten sie sagen: hier wohnen alte Geschlechter, hier wohnen große Kaufherren – Respekt! Und dort die alte Brücke, um die all die Märchen und Sagen weben, die unsere Kindheit entzückt haben – Aber schon aus! Sachsenhausen mit seinen Gemüsebeeten und Spargelpflanzungen wischt alle Sentimentalität wieder weg. Hinter dieser Brücke, wenn der Blick getilgt ist, hat man sich wieder.«

Sie zog das Vorhängchen vor gegen die grelle Sonne, löschte den glimmenden Stumpf ihrer Zigarette und sah mich ein wenig ironisch an.

»Mein Vater prozessiert wohl nicht mehr viel?«

»Gar nicht mehr. Er scheint – zum Schmerz seines Anwalts – sehr friedlich geworden mit zunehmendem Alter.«

»Wie man's nimmt – die Friedlichkeit und das Alter. Wenn er das hörte: Alter! Er hat noch einmal Feuer gefangen. Sie wissen: gelagertes Holz brennt gut. Vielleicht ist er auch durch den beruflichen Verkehr mit den durchreisenden Türken – übrigens die Paschas vom Goldenen Horn sind seltener, als die ganz geriebenen Schnorrer aus Smyrna und Damaskus – selbst etwas türkisch angehaucht. Sie haben doch gewiß gehört –? Nein? Wo leben Sie? Nur in den Akten? Ja so. Sie sind glücklich verheiratet – immer noch – man weiß und gönnt's Ihnen. Nein, wirklich, Sie haben keine Neider . . . Aber Ben ist schon orientiert – er korrespondiert ja so viel nach Frankfurt – und er würde Ihnen das schon sagen . . . Gott, die Sache ist ja so einfach. Da war im Orpheum eine Artistin, Gigi Blondin – erinnern Sie sich –?«

»Ich glaube. Trat sie nicht mit dressierten Affen auf?«

»Beinah. Mit Kakadus. Sie ging auf dem Drahtseil in einem meergrünen Trikot – und dann kamen die weißen Kakadus aus den Kulissen geflogen und setzten sich ihr auf Arme und Schultern. Sehr schöne Schultern übrigens. Und während sie auf dem Drahtseil schaukelte, sprach sie mit den Viechern.«

»Ja, ich erinnere mich – es soll ein bißchen Schwindel dabei gewesen sein.«

»Geht's auf einer Bühne ganz ohne Schwindel? In der Kulisse stand ein Tierstimmenimitator, der antwortete für die Kakadus. So kamen sehr geistreiche Gespräche zustande.«

»Aber sie tritt nicht mehr auf – oder . . .?«

»Nein. Der Kommerzienrat und türkische Konsul Baddach hat der Direktion Reugeld – ich denke so dreitausend Mark – für sie bezahlt. Sie bewohnt jetzt in der Lersnerstraße eine hübsche Etage, hat eine Jungfer und einen Groom, reitet morgens einen bemerkenswerten Apfelschimmel durch die Promenaden, sitzt Dienstags und Samstags in der Rangloge im Opernhaus, nimmt – zum Vergnügen – Gesangsunterricht und gießt jeden Nachmittag um sechs Uhr dem Kommerzienrat und türkischen Konsul Baddach ein Löffelchen Arrak in den chinesischen Tee . . .«

»Sie – wollen damit andeuten, daß Ihr Herr Vater . . .«

»Aber lieber Doktor, ich will gar nichts andeuten. Ich will nur nicht dümmer sein als halb Frankfurt. Übrigens, er ist wirklich glücklich, mein Vater. Es hat direkt was Primanerhaftes, sein Glück. Aber ich gönn's ihm – und fahre nach Heidelberg.«

Mir fiel eine Stelle in Bens letztem Brief ein. Das Zitat aus dem Epistel Schopenhauers, des Sohns an die Mutter.

»Sie haben sich doch nicht mit Ihrem Herrn Vater –«

»Überworfen? Aber nein. Wir sind beide nicht für die großen Worte und die großen Szenen. Ich hab' ihm zu seinem Geburtstag – vor vier Wochen –, es war übrigens sein achtundfünfzigster, alle Achtung, nicht wahr! – hab' ihm einen sehr hübschen Kakadu von Bronze geschenkt. Wirklich ein kleines Kunstwerk. Man macht jetzt solche Vögel sehr hübsch den Japanern und ihren Falken nach. Und wie er den Kakadu sah, war er im Bilde. Übrigens war er all die Zeit auch gegen die Tochter vollendeter Kavalier. Daß er sich den Bart färbt – das geschieht ja wohl nicht für mich. Aber sein Gerechtigkeitsgefühl oder ein gewisses Schuldbewußtsein hat ihn veranlaßt, mir immerzu – nicht immer hübsche, selten praktische, aber meist wertvolle Geschenke zu machen. Offenbar führt er – ordnungsliebend, wie er ist – säuberlich Buch und ist bestrebt, nicht weniger für die Tochter auszugeben, als für die Geliebte.«

Das alles sagte sie freundlich referierend, als spräche sie von einem fremden Herrn, den sie mal auf dem Rheindampfer getroffen oder mit dem sie ein Wohltätigkeitsbasar zusammengeführt.

»Hat es Ihren Herrn Vater nicht sehr schmerzlich berührt, daß Sie . . .?«

»Daß ich ihm ein bißchen aus der Sonne gehe? Aber nein. Wir haben uns ganz ruhig zusammen ausgesprochen. Ich habe ihm gesagt: »Lieber Papa, heute bist du glücklich; morgen bist du vielleicht lächerlich. Dein Glück ist ein bißchen zu jugendlich, als daß es eine Tochter von dreiundzwanzig Jahren – so alt bin ich, nichts zu machen, lieber Doktor! – als daß es eine Tochter von dreiundzwanzig Jahren so ganz aus unmittelbarer Nähe miterleben müßte. Und deine Lächerlichkeit wird so sehr deine persönliche Angelegenheit sein, daß du froh sein wirst, mich nicht dabei zu haben. Übrigens ist Heidelberg nicht aus der Welt, und wenn du, deiner Jugend entsprechend, plötzlich die Masern bekommen solltest oder den Keuchhusten, so bin ich auf telegraphischen Ruf sofort bei dir.«

»Sie reden mit Ihrem Herrn Vater ein bißchen –« Ich suchte das Wort.

»Respektlos,« half sie freundlich aus. »Ich werde Ihnen was sagen. Mein Vater ist ein merkwürdiger Mann. Er hat, wie alle reichen Leute, keine allzu große Meinung von der Würde der Menschheit. Er weiß, daß alles käuflich ist –«

»Alles?«

»Alles. Es kommt nur aus das Angebot an. Es gibt Kleinigkeiten, wie schöne Pferde, Villen, Brillanten, die bekommen Sie schon um ein Portefeuille voll brauner Lappen. Und es gibt kostbare Dinge, wie etwa Überzeugung, Liebe, Rechtlichkeit und solche Ansichtbarkeiten, die man nicht satteln, nicht umbauen und nicht à jour fassen kann. Aber für viel, für sehr viel Geld kaufen – kann man sie auch

»Das ist doch nicht Ihre Ansicht, liebes Fräulein?«

»Ich entdecke zuweilen im Spiegel, daß ich doch mehr die Tochter meines Vaters bin, als ich dachte. Besonders seit er sich die Haare färbt und etwas weniger ißt, um bessere Figur zu machen, entdecke ich das . . . Aber ich wollte von meinem Vater reden. Sein Respekt vor den anderen fängt erst da an, wo diese anderen den Mut haben, ihm zu zeigen, daß sie selber keinen Respekt haben vor seinen Theorien, seinem Geld und seinem Zynismus. Einen Augenblick hat er wohl daran gedacht – so stark kann der Eindruck meergrüner Trikots auf Herren sein, die mit achtundfünfzig Jahren anfangen, sich den Bart zu färben! –, daran gedacht, diese Kakadudame zu heiraten. Da habe ich ihm, ohne große Feierlichkeit und Einleitung, gestern erklärt: »Lieber Papa, wenn du die Dame mit den Kakadus zum Standesamt führst und ihr den Namen gibst, den meine Mutter getragen, dann trete ich in sechs Wochen – ohne Pseudonym, mit deinem Namen – im Orpheum in einer Dressurnummer auf. Seehunde oder Affenpinscher, das ist mir gleich. Aber ich trete auf. Im Trikot. Dir zu Ehren: meergrün.« Da hat er gelacht – ein bißchen gezwungen, wie ein Bauer beim Zahnarzt – und hat gesagt: »Liebe Ruth, du bist immer originell!« Das hat er nicht geglaubt, denn ich bin in seinen Augen so besonders originell gar nicht. Ich weiß nur, was ich will. Und ich würde auftreten – meergrün mit singenden Seehunden oder so was. Hagenbeck stellt einem für ein paar tausend Mark im Handumdrehen so eine Nummer zusammen. Würde auftreten, wenn er diese Gigi Blondin . . .«

Das Gespräch wurde mir peinlich. Ich versuchte, auf ein anderes Geleise zu kommen.

»Ist diese Künstlerin wohl verwandt mit dem einst so berühmten Seiltänzer, der –«

»Der auf dem Seil über den Niagarafall mit dem Schubkärrchen lief? Vermutlich so verwandt, wie ich mit Ludwig dem Frommen oder Sie mit Judas Maccabäus. Aber selbstverständlich behauptet sie's. Eine Verwandtschaft durchs Drahtseil . . . Aber lassen wir die Kakadudame! Sehen Sie lieber, wie hübsch und friedlich diese sauberen Städtchen der Bergstraße sich an die bewaldeten Höhen kuscheln. Und welche Obstkammer das ist! Besonders viel Kirschen soll's gegeben haben dieses Jahr.«

Eine seltsame Gedankenverbindung zeigte mir bei dem Wort »Kirschen« das Kapotthütchen der Frau Morgenthau. Und mit der Frau Morgenthau fiel mir Ben und der Zweck meiner Reise wieder ein; und daß damals, als ich in nicht unähnlicher Mission nach Venedig fuhr, Ruth Baddach die Veranlassung gewesen war.

»Schreibt Ihnen Ben noch fleißig?« fragte ich, ohne besonders neugierig auf die Antwort zu sein. Und dachte dabei, wie verschieden in der Reife, in der Lebensanschauung, in der Art sich zu geben und die Welt zu nehmen, sind doch gleichaltrige Menschen!

»Ja. Er schreibt noch nette und lustige Briefe. Zeichnet auch wohl kleine Karikaturen an den Rand. Dazwischen philosophiert er – eine höfliche Konzession an die Fakultät, bei der er inskribiert ist, kein Herzensbedürfnis – und plaudert über Kunst und Theater – mehr nach Neigung, und oft eigensinnig und originell. Freilich, in letzter Zeit ist er etwas knapper geworden mit seinen Berichten . . .«

»Das schöne Wetter dieses herrlichen Sommers . . .«

»Ja, ja. Er hat vielleicht, wie Hamlet, zu viel Sonne. Übrigens« – sie hatte eine Apfelsine geschält, sehr zierlich mit gespreizten Fingern und bot mir jetzt ein appetitliches Scheibchen der saftigen Frucht im Teller ihrer Schale. »Bitte – sie sind zuckersüß. Ich sag' das nicht nur, weil der gestoßene Zucker drüben im Coupé bei meiner Jungfer geblieben ist. Dort, wo diese saftigen Früchte herkommen, gibt's noch mehr Sonne, als Ben jetzt auf Kopf und Herzen hat. Übrigens – was ich sagen wollte – von der Angelegenheit, in der Sie, lieber Doktor, jetzt nach Heidelberg fahren, hat er mir nichts geschrieben.«

Sie sah mich dabei mit einem listigen Lächeln an, das ihr kluges Gesicht gut kleidete. Nur ihre Augen blieben immer ernst und dunkel, als stünden sie forschend auf Wache.

»Sie meinen –?«

Ein leiser Ärger, wohl über das etwas unbeholfene Versteckspiel, das ich treiben wollte, huschte um ihren Mund. »Lassen wir's,« sagte sie. »Übrigens, dieser Freiherr von Buchecker ist ein Vetter des Herrn von Birkhuhn.«

Wenn sie mir mitgeteilt hätten die Großtante des Königs Nabopolassar sei eine geborene Kyaxares aus Ninive gewesen, so hätte mir das in unsere Unterhaltung ebensogut gepaßt. Der Name Birkhuhn klang irgendwoher aus einer fernen Ecke meines Lebens, ohne daß ich im Augenblick wußte, in welcher Richtung diese Ecke lag; und einen Freiherrn von Buchecker kannte ich bestimmt überhaupt nicht. Aber mir schien, ich würde mehr erfahren, wenn ich mich orientiert stellte. Ich sagte also bloß:

»Ei der Tausend – was Sie nicht sagen!«

»Ja,« nickte sie. »Die Mütter der beiden Siebenzackigen sind Schwestern. Herr von Birkhuhn ist übrigens dieses Frühjahr wieder mit dem Erbprinzen in Italien gewesen. Diesmal haben die Herren in Capri mit zwei Spanierinnen die blaue Grotte besichtigt. Der Erbprinz legt sich nicht gern auf eine bestimmte Nation fest.«

Jetzt wußte ich wieder, wer Herr von Birkhuhn war. Der nächtliche Weg über Brückchen und Sträßchen Venedigs fiel mir ein und mein Gespräch mit dem Adjutanten in jener Vollmondnacht, die mit Teresinas Flucht abschloß. Aber der Freiherr von Buchecker – wer war das?

»Mein Vetter Theodorich hält mich über diese Dinge auf dem laufenden. Er schreibt nicht so hübsch wie Ben, aber sachlicher, phantasieloser. Nehmen Sie ein Täfelchen Schokolade? Sie können ruhig – es ist Lindt und vor acht Tagen erst aus der Schweiz gekommen. Mein galanter Vater hat mir fünf Pfund auf die Reise geschenkt, woraus ich entnehme, daß er zehn hat kommen lassen. Theodorich – kühner Name, nicht? Ein kleines christlich-germanisches Gegengewicht gegen seinen Vater, meinen Onkel Professor, der zu seinem Ärger Salomon mit Vornamen heißt. Er hat sich ein etwas pompöses Landhaus auf der Neuenheimer Seite überm Neckar gebaut – herrliche Aussicht aufs Schloß. Diese Villa nennt mein Vater den Salomonischen Tempel. Und seit der Onkel mit dem Nachbar um ein Mäuerchen prozessiert, das die Gärten trennt und das keiner von beiden reparieren lassen will, sagt mein Vater: »Nun hat er auch schon seine Klagemauer am Salomonischen Tempel.« Aber Theodorich, der Sohn, ist schrecklich arisch. Blond, lang aufgeschossen, Korpsstudent, kein Welteroberer, aber ein guter Kerl. Ein bißchen Fatzke, seidene Strümpfe mit Börtchen, schmales goldenes Armband, Dreimillimeterfrisur, englischer Schneider, der alle halbe Jahre im Viktoriahotel absteigt und den paar Dandys von Heidelberg die Maße nimmt. Sonst nicht dumm und sicher Aussicht auf korrekte Karriere. Als Vorbereitung darauf vor zwei Jahren in aller Stille getauft. Der Wunsch der Väter – den er im Vorjahr noch teilte; ob jetzt noch, weiß ich nicht – war's: daß wir beide uns heiraten. Wie ich acht Jahre alt war, hatt' ich das auch vor. Da war Vetter Theodorich auf Besuch bei uns, und ich fand seinen Vornamen so unsagbar schön. Und erst seine blonden Locken, die sonst in der Familie nicht vorkamen!«

»Und jetzt –? Darf man am Ende, als erster, diese Reise nach Heidelberg richtig deuten und gratulieren?«

»Man darf nicht. Ich bin gegen alle Verwandtenehen. Die Kinder haben zu große Chancen, Idioten zu werden. Mein Vater hat einmal gesagt – vor Jahren, als er noch glaubte, daß ich so was nicht höre – »die beste Mischung ist ein pommerscher Junker und eine Frankfurter Jüdin«. Ich habe nicht die Ambition, als rasseveredelnde Landbaronin in Pommern die dicksten Kartoffeln zu bauen. Genau so wenig aber hab' ich vor, meinen Vetter zu heiraten, weil er Theodorich heißt und nur seidene Strümpfe trägt.«

»Ich bin sehr begierig, wen Sie einmal in der Schar der Freier zum Glücklichen machen.«

»Das werden Sie in etwa – zwei Jahren wissen.«

»Also – wissen Sie es heute schon.«

»Genau und bestimmt.«

»O lala, Sie sind heimlich verlobt?«

»Von mir aus – ja.«

»Was heißt das: von mir aus? Ist Ihr Herr Vater dagegen?«

»Nein. Meinem Vater ist in seinem augenblicklichen Seelenzustand – jeder recht, den ich bringe. Er hat so viel Butter auf dem Kopf, daß er sich hüten wird, den Tyrannen der alten Schule zu spielen, wie ihn Erwin Schuster im Rollenfach führt. Aber wenn ich sage: von mir aus verlobt, so mein' ich damit, der andere, mein Zukünftiger, weiß noch nichts davon.«

»Das ist aber – sonderbar.«

»Sonderbar? Finden Sie? Ich möcht' Ihnen etwas sagen.« Sie legte den Kopf etwas zurück in das Polster. Ihr Gesicht bekam einen ernsten, ein bißchen hochmütigen Zug. Ihre dunklen Augen gingen an mir vorbei weit in die Landschaft. »Ich glaube an Ahnungen. Die meinen – selten aber stark – gehen immer in Erfüllung. Und ich glaube an den Willen. Man kann etwas so stark wünschen und begehren – nicht mit kindischem Trotz, sondern mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit und aller Gedanken, die dem Leben überhaupt Ziel und Richtung geben – so stark wollen, daß es eintreffen muß

»Dann könnte man sich auch das große Los erzwingen.«

»Der Einwurf, lieber Doktor, ist Ihrer nicht ganz würdig. Das große Los ist ein Stück Papier. Auf so was kann kein Menschwille suggestiv einwirken. Und der Waisenknabe, der die Lose zieht, ist in jenem glücklichen Alter, das noch reine Anschauung ist und unbeeinflußbar von dem Willen, der reife Menschen lenkt, ablenkt, knechtet, zwingt.«

»Auf diese Weise müßte sich das Glück – das wahre Glück, nicht das Glück der großen Lose . . .«

»Große Lose sind überhaupt kein Glück in meinem Sinne, sie sind nur eine Chance für Idioten.« Sie hatte mich heftig unterbrochen. Jetzt warf sie mit ruhiger Hand die Apfelsinenschalen und das Staniol der Schokolade aus dem Fenster.

»Ich meine, es müßte sich nach Ihrer Theorie das wahre Glück überhaupt erzwingen lassen.«

»Von dem starken Charakter – ja. Bis zu einem gewissen Grade glaub' ich das. Ich bin überzeugt, daß die großen Sieger der Schlachten, die kühnen Entdecker und Erfinder nur stärker gewollt haben als die anderen. Glaube, daß alles sogenannte Unglück – oder doch das meiste; vom Bierwagen, der einen Schwerhörigen überfährt, oder vom Kurzsichtigen, der eine Treppe herunterfällt, red' ich natürlich nicht – daß alles sogenannte Unglück auf Willensschwäche des Leidtragenden zurückzuführen ist. Ich weiß nicht, ob Sie davon Kenntnis haben, daß ich die letzten Monate – Gott, man muß sich beschäftigen, nicht wahr – viel im Mutterschutz gearbeitet habe. Das ist jetzt eine neue Bewegung, die hauptsächlich unehelichen Müttern zugute kommen soll. Die den dummen Makel von ihnen nehmen, ihren gebrochenen Mut aufrichten, ihrer Bedürftigkeit helfen soll.«

»Das find' ich tapfer von Ihnen.«

»Tapfer? Ach, Sie meinen, weil so viele alte Damen in Frankfurt die Nase darüber rümpfen? Weil sie behaupten, wir fördern den Leichtsinn, wir prämiieren die Unsittlichkeit und erleichtern die sogenannte Sünde. Alte Damen haben meinem Leben nie die Richtschnur gezogen. Und ich bin überzeugt, wenn die Mädels der heute jungen Generation einmal weiße Scheitel haben, wird die Welt anders denken. Aber ich will nicht ins Soziale entgleisen und nicht als Pythia gastieren. Ich wollte nur sagen, ich habe in dieser Tätigkeit für die verlassenen Mütter und die, die es – so hart das klingt – werden wollen, so viel Unglück gesehen. Herzzerbrechendes, niederdrückendes Unglück. Und in den meisten Fällen, wenn ich in meinem bescheidenen Hilfsdienst die Listen führte: »Geschieden oder verlassen? Ehe beabsichtigt? Ist der Vater des Kindes Vorgesetzter der Hilfesuchenden? Ist er verheiratet?« – Hab' ich mir gesagt: Anlage und Erziehung haben hier den Willen verkümmern lassen. Den Willen, sich und sein Recht durchzusetzen. Den Willen zur Menschenwürde, zum Glück.«

Mir war sonderbar zumute. Ich hatte mir auf dem Bahnhof in Frankfurt einen Unterhaltungsroman gekauft und dachte, in den zwei Stunden bis Heidelberg so ganz friedlich, vielleicht von einem Nickerchen wohltuend unterbrochen, die nicht aufregende Geschichte zu lesen, wie der Hans nach allerlei Wirrsal seine Grete heimführt, oder wie der Heinrich die Marie entführt und schließlich doch noch den Segen und die Mitgift bekommt. Und jetzt saß mir eine junge Dame gegenüber aus Kreisen, in denen man sonst mit Herren über Botticelli redet oder über die Jungfraubahn oder über den Hausball bei Neumanns und die Silberne Hochzeit von Altmüllers, und sprach mit einer Ruhe und Sachkenntnis von unehelichen Müttern, von den Recherchen nach Vätern, die keinen Wert auf diese Würde legen, und von Frauen, die einen kurzen Rausch mit der Sklaverei eines Lebens büßen. Und neben uns glitten die schönen waldigen Ausläufer des Odenwaldes vorbei, und die Namen sauberer kleiner Stationen riefen flüchtige Erinnerungen an Maifeste und Tanzstundenausflüge wach, an allerlei gesittete Vergnügungen braver Bürgerkinder, die von dem harten Kampf der mit Not und Leidenschaft Ringenden nichts wissen.

Und während Ruth Baddach mir mit einer reifen Sachlichkeit, manchmal entschieden mit novellistischem Blick für das wesentliche Detail, Fälle aus ihrer Helferinnenpraxis erzählte und Frauenschicksale ohne falsche Sentimentalität, mit einer, ich möchte sagen, kühlen Wissenschaftlichkeit entrollte, glitt unser Zug aus dem Hessischen ins Badische hinüber. Es kam uns beiden überraschend früh, als der Schaffner, die Tür des Abteils aufreißend, rief: »Heidelberg!«

Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander. Eine gewisse Hochachtung, die mich sonst in der Unterhaltung mit diesem rassigen, verwöhnten Mädchen nicht niedergedrückt hatte, gab mir wärmere Worte. Sie schien das angenehm zu empfinden und sagte im Aussteigen:

»Ben und andere werden Ihnen Schloß und Königstuhl und alle die Kneipeckchen der Umgebung zeigen. Reservieren Sie mir einen Spaziergang über den Philosophenweg. Der Weg – übrigens einer der herrlichsten Spaziergänge in Baden, vielleicht in der Welt – ist würdig unserer Unterhaltung von heute, nicht? Abgemacht – übermorgen um zehn Uhr – vormittags natürlich, was dachten Sie? Kommen Sie bei uns vorbei, das heißt am Haus Onkel Salomons – den Onkel teil' ich mit Heinrich Heine. Ja? Und – keinen »Besuch«! Pfeifen Sie einfach. Was wollen Sie pfeifen? Aus dem »Don Juan«? Das läge Ben besser. Oder »Winterstürme«? Nein, warten Sie –« In ihren Augen funkelte eine kleine Malice. Ich folgte ihrem Blick und sah einen etwas geschniegelten, aber hübschen blonden jungen Herrn, groß und elegant, grüßend den Bahnsteig entlang auf sie zukommen. Hinter ihm schritt ein sauber rasierter Diener in diskreter Livree. Theodorich und der Gustav, dacht' ich.

»Pfeifen Sie die Arie: »Recha, als Gott dich einst – zur Tochter mir gegeben . . .«

»Ist das nicht –«

»Jawohl, die Arie des Eleasar aus der »Jüdin«. Da ärgern sich welche im Salomonischen Tempel!«

Ein Lachen, ein Händedruck. Gefolgt von Rosa Riemenschnut, deren Schäferhütchen auf brandrotem Haar über viel aufgerafftem Handgepäck wippte, ging die elegante junge Frankfurterin dem Sohne Salomon Baddachs entgegen.

Mich holte niemand ab. Mir war es richtiger erschienen, Ben zu überraschen.


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