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Am nächsten Tage ging Werner erst allein zu Frau Hell, um ihr selber von sich aus alles still zu sagen. Das war Drude so lieb, als sie es vernahm.
Dann tranken sie den Tee und waren zart und liebevoll miteinander, immer mit dem stillen, feierlichen Wissen von dem Großen, Schweren, das es zu lösen galt. Und dann besahen sie Bilder. Und dabei fing Frau Hell an, von den schönen, edlen Werdewundern des Erdenlebens zu reden. Ihr wißt es ja, in aufsteigender Stufenfolge der Wesen bewegt sich das All-Leben. Und es ist herrlich, zu fühlen, daß dieses Aufsteigen auch in unser Herz und in unsern Willen gelegt ist. Nicht wahr?
Es dringt aber die niedrige Sphäre der Welt mit ihrem dumpfen Zwang immer in uns hinein und will erlöst werden und macht uns manchmal wohl recht Not. Erdkraft dringt in uns ein, unerlöste. Und es ist nicht das Rechte, davor Angst zu haben, Kinder, sie will erlöst werden. Mit aller Bedrängnis, die sie schafft, soll man sie ehren, Kinder, soll man sie erhöhen zu Geistkraft.
Werner fuhr auf: Du –! Brauche ich mich dann nicht zu schämen?
Nein, mein Junge, du brauchst dich nicht zu schämen, was du fühlst, ist gut, es ist ja rein. Es ist gesund und ist adlig. Aber nun mußt du es erhöhen, bis der Zwang weicht! Der Mensch ist kein Wesen der Notdurft, der Mensch ist ein Wesen der Freiheit. Das ist die herrliche Schaffenstat des Menschen in dieser Welt, daß er in sich die Welt erhöht: Aus Zwang zu Freiheit, aus Dumpfheit zu Klarheit, aus Blut zu Geist.
Die jungen Menschen staunten ehrfürchtig. Und dies ist der Weg, sagte Frau Hell. Nimm deinen herrlichen Jugendrausch, Werner, und laß dich von ihm tragen über die Einzelheit in die Sphäre der Allheit. Noch ist nicht die Jahreszeit für dich, mein Kind! dies große Gefühl auf ein einzelnes Menschenwesen neben dir zu richten. In Unendlichkeitsgefühl mußt du es verwandeln, Gotterkenntnis mußt du daraus schaffen. Einst wird es dir kommen in deines Lebens Rosentagen, daß du das große Wunderfest der Liebe erleben darfst, dann wird es darauf ankommen, daß du es leisten kannst: durch die Einzelheit hindurch zur Allheit zu dringen, damit die Liebe nicht bloß Sinnenrausch ist, denn damit wäre sie Enttäuschung. Damit du es aber leistest, mußt du jetzt in deines Lebens Vorfrühling deine Seelenkräfte üben, den Weg zur Allheit zu suchen. Lebt heiligen Vorfrühling, Kinder! Tut, wie die Erde im Vorfrühling tut! Sie bebt Unendlichkeitsschauer. Lauscht es dem lieben Buchenwald ab: der lebt im Frühling eine heilige Ekstase des Lichts! Liebe die Unendlichkeit, Werner! und mitten hinein stelle das liebliche Bild deiner Freundin, so wird dir deine Liebe zu Kraft werden, Gott, den allnahen, ahnend zu spüren.
Hingerissen lauschten die jungen Menschen dem hohen Wissen, das die geliebte, herrliche Frau aus dem Schatz ihres Herzens herauf holte. Ehrfürchtig tranken ihre Seelen die erhabene Weisheit, die geheimnisvoll in leuchtender Schöne an ihnen vorüberzog!
Kinder, das ist die Sphäre der Dumpfheit, wo Menschen jede Ewigkeitserregung, die ihnen kommen will, nur als sexuelle verstehen können. Und ganz unorganisch steht dann dieser Gast aus der herrlichen, ekstatischen Welt, das Liebeserlebnis, neben der Nüchternheit ihres rechnenden Philisterdaseins, wer es aber dazu hat, für den wird die schöne Erregung der Sinnenkräfte, indem er sie emporrichtet, verwandelt in seelische Kraft, die ihm der Allheit Lebensgeheimnis erschließt. Die große Gottesekstase, die das Leben durchscheinend macht für das ewige Licht, Kinder, sie kommt erst den Menschen, die ihre schönen Sinneserregungen in Seelenkraft umzusetzen vermögen.
Ist das »die Kraft«? fragte Werner staunend. Und er erzählte, daß er einmal, unter ihrem Fenster vorübergehend, den Ausspruch von ihr hörte: wenn du in der Kraft bleibst, dann bleibt die Kraft in dir und treibt die Unkraft aus. Und daß er so oft daran denken müsse, wie man wohl hineingelangen möge in die Kraft.
Ja, Werner! dies ist jedenfalls für dich der Weg. Auf diese Weise gelangst du hinein. Und ich sage dir, mein Kind, niemand hat sie, diese Kraft, der nicht freudevoll und bewußt sich mitten hineinstellt in den großen Schöpfungswillen der Welt, den großen Werdewillen, der von unten nach oben strebt. Der nicht, ein williges Werkzeug Gottes, selig mitschafft, an seinem Teil, Erdkraft in Sonnenkraft zu verwandeln!
– Zum Schluß machte Frau Hell Drude ein Zeichen, daß sie noch ein wenig mit Werner allein sein wollte. Drude nickte Werner liebevoll zu und ging hinaus.
– Die beiden sprachen lange nicht. Frau Hell hielt still den Ton der höchsten Feier, der höchsten Freude der Reinheit, in des Jünglings Seele fest.
Bis es über ihn kam, daß er aufstand und mit einer schönen, freien Bewegung, voll Demut und dankbarer Ehrfurcht, vor ihr niederkniete und seinen Kopf in ihren Schoß legte. Du wundervolle! sagte er leise. Sie legte ihm die Hände aufs Haupt.
Es sind nur immer die ersten Jahre so voll Kampf, mein Sohn. Das sollst du wissen: jede Versuchung, die du überwunden, bleibt als befreundete Hilfskraft in dir. Jeder unterworfene Feind wird unser Verbündeter. So wirst du immer stärker werden.
Und das Ziel, dem wir zustreben, zieht uns mit helfender Liebe selbst zu sich hinan. Und je weiter wir kommen, desto stärker wirkt diese Kraft. Darum halte nur unbeirrt den Blick immer auf dieses Ziel gerichtet, Werner. Darauf kommt's an im Leben.
Und nach einer Pause setzte sie hinzu, mit leiser, eindringlicher Stimme: Ein Mensch, der in seiner Veranlagung eine so erdhaft schwere Versuchung mit sich trägt, – er aber geht dran und kämpft und erlöst und verwandelt sie, der wird ganz stark und licht werden. Der wird noch erfüllen, was der Heiland sagt: »Von seinem Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.«
Der Jüngling hob den Kopf und sah die wissende Frau staunend an: Du meinst, daß es gar kein Unglück ist? daß ich diese Veranlagung habe?
Sie ist doch Kraft! Du mußt sie nur emportragen! Kein Mensch braucht überhaupt sich jemals irgendeiner Kraft zu schämen. Im Ursprung ist sie immer von Gott. Kommt sie jetzt im Augenblick aus zu niedriger Sphäre und zieht ihn herab und wird ihm Last, – dann soll er heiß ringen, bis er sie verwandelt und sie ihm ein lichter Flügel wird.
Sieh, das ist es, was Christus meint, wenn er sagt: »Es ist mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, – als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.«
Du! sagte er, du! Lies manchmal mit uns die Bibel! Ich kenne die Bibel fast gar nicht, und das fehlt mir so.
Gut, Werner! Kommt alle acht Tage so wie heute zu mir, du und Drude. Ihr, meine tapferen Lebenskämpfer! Dann wollen wir die Paulusbriefe miteinander lesen. Darin ist so wunderbar viel Wissen und Kraft. Und ich will euch alle die Herrlichkeiten weisen, die sich nur dem anzeigen, der mit arbeitender, mit Gott-atmender Seele seinen Lebensweg geht. Und von Erfahrung zu Erfahrung schreitet. Von einer Klarheit zur andern.
Ach du! wie dank ich dir! sagte Werner glücklich. Und fragte schalkhaft bittend: Frau Hell, muß ich nachher wieder Sie sagen?
Nein, mein lieber Junge, bleibe bei dem du. Zwischen uns ist nun eine gute, feste Freundschaft, die soll halten unser Leben lang.