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Ich habe in der letzten Zeit oft darüber nachgedacht, ob ich der Leserwelt nicht eine zuverlässige und offenherzige Darlegung meines inneren Menschen schulde. Heutzutage, wo sich die Literatur mehr und mehr zu einer öffentlichen Beichte, einem freiwilligen Pranger für den Schriftsteller und sein Lebensschicksal entwickelt, tut ein Skribent, dem das Urteil des Publikums nicht gleichgültig ist, sicherlich klug daran, alle altmodische Vornehmheit aufzugeben und dem Leser einen ungenierten Einblick in die Geheimkammer seines Herzens zu gewähren.
So bin ich denn zu der Erkenntnis gelangt, daß ich um meiner selbst willen der Leserwelt eine Auseinandersetzung der Gründe schulde, weshalb ich mit bald vierzig Jahren und in einer anständigen Lebensstellung nicht geheiratet habe. Man möchte sich sonst vielleicht die unvorteilhafte Meinung von mir bilden, daß ich keine Frau hätte bekommen können oder – was schlimmer wäre – daß ich ein unglücklich Verliebter bin, kurz, eine tragische Gestalt, die unter der Maske der Sorglosigkeit ein finster verzweifeltes Inneres verbirgt.
Freilich würde ich ganz anders auf die Gewogenheit des bücherkaufenden Publikums und namentlich der Leserinnen zählen können, falls ich – so wie geehrte Kollegen – die Welt ein blutendes Herz ahnen ließe und die Mörderin meines Glückes als himmlische Rosamunde darstellte, unter deren Seidenfüßchen ich wimmerte, oder als dämonische Messalina, deren Wollust und Falschheit ich angesichts des Volkes mit dem Gebrüll eines verwundeten Löwen entschleierte. Dessenungeachtet will ich der Versuchung widerstehen, mich in Positur zu setzen, sei es als Lamm oder als Leu. Ich will es wagen, mich als der zu zeigen, der ich bin, ein ruhig dahinlebender Durchschnittsmensch, ein Philister, wenn man will, dessen Herz nicht nur für den Augenblick ohne wunde Stellen ist, sondern das überhaupt niemals darauf erpicht war, zu entflammen; ein wohlzufriedener, teetrinkender Junggeselle, der in seiner geborgenen Einsamkeit seinen Spaß daran hat, die erotischen Bocksprünge seiner Mitmenschen zu beobachten, und der hin und wieder, wenn Bibliothekdienst, Schulunterricht und die Arbeit an seinem lange angekündigten großen griechischen Wörterbuch es gestatten, sich ein paar nächtliche Stunden abstiehlt, um kleine Beobachtungen und Betrachtungen niederzuschreiben.
Ich will nun hier wahrheitsgemäß und gewissenhaft über ein Geschehnis berichten, das nicht nur bestimmend für mein Verhältnis zu dem andern Geschlecht wurde, sondern überhaupt auf entscheidende Weise dazu beigetragen hat, meine Lebensanschauung zu entwickeln und zu reifen. So wird es denn eine Erzählung werden, mit der ich die Ansprüche der Zeit an die Literatur so einigermaßen zufriedenzustellen hoffe. Nichts ist heutzutage so begehrt wie Lebensanschauungen. Sobald sie auf den Gassen ausgeschrien werden (und man kann ja oft vor prophetischen Verkündigungen sein eigen Wort nicht hören), stürzen die Leute an die Fenster und fragen nach dem Preis. Ich gebe zu, daß ich auch in dieser Beziehung zu lange des Publikums berechtigte Forderung nach Offenherzigkeit überhört habe.
Hiermit breche ich das salomonische Siegel vor meinem Munde und lege unvorbehalten meine persönliche Anschauung über den lieben Gott und seine Weltordnung dar, auf daß ich durch fortgesetztes Schweigen nicht in den Verdacht gerate, überhaupt keine solide Lebensanschauung zu besitzen, oder – was schlimmer ist – ein gärender Geist zu sein, schmerzlich umhergeschleudert von Stimmungsstürmen und Eingebungen des Augenblicks, oder – mir schaudert's! – eine unverstandene, schwergebärende Sphinx, die in der düsteren Wüste der Einsamkeit Weltanschauungen für das kommende Jahrtausend ausbrütet.
Ich weiß sehr wohl, daß ich leichter Anerkennung bei unsern doktorgelehrten Literaturkritikern finden würde, falls ich – wie mehr oder weniger geehrte Kollegen – mich in einen solchen schlaflosen Grübler vermummte, in einen tiefsinnigen Windmacher, qualvoll mit zu großen Gedankenfrüchten geschwängert. Trotzdem will ich auch dieser Versuchung widerstehen und für Zeit und Ewigkeit darauf verzichten, zu einem poetischen Seher von Gottes und der Rezensenten Gnade erhöht zu werden. Offengestanden, ich ziehe es vor, zu sein, was ich bin: ein Mensch, der vor allen Dingen Klarheit des Gedankens und maskulines Gleichgewicht des Gemütes liebt – ein Pedant, wenn man will, für den die Ernährungs- und Erneuerungsprozesse seines geistigen Lebens ruhig und regelmäßig verlaufen ohne irgendeine durch geistige Gärung hervorgerufene Blähung mit dazugehörigem Angst-Geschwängertsein, mit Stimmungskolik und dem unaufhörlichen Wurmkneifen der Reue, und der sich auf alle Fälle nicht erlaubt, das Wort zu ergreifen, ohne sich vergewissert zu haben, daß der Pulsschlag normal und die Zunge nicht belegt ist.
Und hiermit beginne ich nun meine Erzählung.
Verzeihen Sie mir, geehrter Leser, daß ich Sie in eine traurig öde, west-jütische Landschaft versetze, in eine kahle Heide, über die sich schwere Wolken mit feierlich jütischer Bedächtigkeit hinbewegen. Quer durch dieses finstere Land streckt sich in schnurgerader Linie eine Reihe Telegraphenstangen und an diesen entlang eine leere Landstraße, die zu beiden Seiten in die Reiche des Himmels selbst hineinzuführen scheint.
Es ist ein Tag zu Ende Oktober um Sonnenuntergang. Ein einsames Gefährt kriecht auf dem endlosen Wege dahin.
Es ist ein schwerbeladener Frachtwagen. Vorn sitzt der Kutscher auf einem Brett und baumelt mit dem einen Bein draußen über dem Rad. Sein Kopf ist auf die Brust gesenkt. Von Zeit zu Zeit läßt er seine Stimme erschallen und singt von einer schönen Maid namens Gine. Im nächsten Augenblick aber hängt der struppige Kopf wieder vornüber wie bei einem geschlachteten Schaf. Er kommt aus der Kreisstadt, wo Jahrmarkt gewesen ist, und hat ein Dutzend Kaffeepunsche in den verschiedenen Wirtschaften der Stadt eingesackt.
Neben ihm auf dem Wagenbrett sitzt als einziger Passagier ein bleicher, junger Mann und kriecht in einem grauen Mantel zusammen. Es ist ein wunderlicher Bursche von einigen zwanzig Jahren mit dunklem Flaum um den Mund und einem Kneifer auf der sokratischen Nase. Wer er ist, und was dieser fremde Vogel zu einer so rauhen Jahreszeit in einer öden jütischen Heidegegend zu tun hat, soll vorläufig verschwiegen werden. Es wird im übrigen aus der Erzählung hervorgehen. An dieser Stelle muß sich der geehrte Leser an der Aufklärung genügen lassen, daß die geheimnisvolle Persönlichkeit, die ich Herr Petersen nennen will, ein frischgebackener Magister ist, der Kopenhagen, Bücher und Freunde, Cafés und das Menschengewimmel der Osterstraße verlassen hat . . . jedoch nicht, um den Versuchungen der Hauptstadt den Rücken zu kehren und als moderner Anachoret bei in sich gekehrten Betrachtungen Frieden in der Einsamkeit der Wüste zu suchen. Gott bewahre, nein! Er würde kein Kind seiner Zeit sein, wenn er nicht, im Gegenteil, das Leben zwischen den Schieferdächern zu leer und stimmungsverlassen und kleinlich fände, nicht nach mächtigen Erlebnissen und seelenerschütternden Katastrophen zur Begleitung des Rasens der entfesselten Elemente dürstete – nach Himmelreich und Hölle in einem Schluck.
Nun, ganz umsonst hatte er bisher nicht gelebt. Er war sogar verlobt gewesen, hatte die Liebe eines anmutigen jungen Mädchens, eines achtzehnjährigen Rotkopfes, der Tochter eines geachteten Buch- und Papierhändlers in Kristianshafen, gewonnen. Aber von diesem wirklich tragischen Liebesverhältnis, das eine Zeitlang sein Herz mit der süßesten Unruhe und seine Schreibtischschublade mit Gedichten anfüllte, soll später erzählt werden.
Wie er nun so dasaß und vor dem kalten Wind zusammenkroch, während sein melancholischer Blick suchend über die große, trübselige Landschaft streifte, wo man nur selten eine menschliche Wohnung erblickte, rollte ein leichtes Zweispännergefährt von hinten schnell an ihm vorüber. Infolge des Lärms, den der Sturm verursachte, hatte er es nicht kommen hören. Auf dem Kutscherbock saß ein einsamer, pelzgekleideter Herr, ein Mann in mittleren Jahren mit schönen Gesichtszügen und einem dichten, leicht gelockten Vollbart.
»War das ein Geistlicher?« fragte er den Frachtfuhrmann, der mit Mühe die Augen aufgemacht hatte, um das Fuhrwerk zu betrachten. »Nee«, erklärte dieser, während ihm der Speichel am Kinn hinabtrieb. Es sei Gutsbesitzer Lindemark von Großhof. Aber Lindemark gehörte übrigens auch zu den Frommen. Und da sei wohl hauptsächlich die Frau dran schuld, die er bekommen hätt', sagten die Leute.
Ob sie denn sehr gottesfürchtig sei.
Der Kerl grinste über das ganze Gesicht.
Nee, nach der Richtung hin fehlte ihr nichts. Sie hielt' es wohl mehr mit den weltlichen Lüsten, sagten die Leute. Lindemark müßt' seine Augen überall haben.
Ob sie hübsch sei?
Da hätt' er keinen weitern Verstand von, wollt' er man sagen. Übrigens würd' sie immer die schöne Frau Lindemark genannt. Und wenn er seine Meinung sagen sollt', so sei sie, den Deubel auch, wohl wert, daß man einen Knopf aufmachte.
Mit einem sinnenden Blick verfolgte der junge Kopenhagener den davonrollenden Wagen. Zu seinem Ärger konnte er es nicht lassen, diesen Ehemann zu beneiden, der nach einem wohlangewandten Tage zu seinen traulichen Stuben, einem wohlbesetzten Abendbrottisch, seinem guten Bett und seiner schönen Frau mit den »weltlichen Lüsten« heimkehrte, während er selbst die Nacht in irgendeiner elenden Heideschenke zubringen mußte, zwischen feuchten Bettüchern und muffigen Federbetten, die ihm natürlich eine Erkältung auf den Hals schaffen würden. Und in seiner beständig niedergeschlagenen Stimmung begann er, sich selbst voller Hohn zu zerfleischen, weil er einem Einfall nachgegeben und allen Ernstes gemeint hatte, das große Glück, das Märchen selbst, habe ihm hier in diesem entlegenen Winkel des Landes, wo wohl kaum richtige Menschen wohnten, ein Stelldichein gegeben.
Wie der Vogel, wenn es Abend wird, nach seinem Nest fliegt, so kehrten seine Gedanken zurück zu einem Hause am Kristianshafener Marktplatz, wo zwei große Lithographien von dem Kronprinzenpaar im Ladenfenster hingen. Ein halbes Jahr lang hatte er seinen täglichen Gang in diesem Hause gehabt, ward dort stets mit Sehnsucht erwartet und mit Küssen empfangen. Noch vor acht Tagen war er auf dem Flur von zwei zärtlichen Frauenarmen umfangen worden. Er dachte daran, daß die Familie jetzt Dämmerstunde nach dem Mittagessen im Wohnzimmer hielt. Er sah Katharinas Vater mit seiner Zigarre im Schaukelstuhl sitzen und duseln, die Mutter in der Sofaecke mit einem Strickzeug und dort am Fenster Katharina selbst in ihrem dunkelgrünen Kleid mit Schnurbesatz und dem schwarzen Samtkragen, der um ihren weißen Hals lag wie eine zärtliche kleine Schlange. Sie sitzt mit der Hand unter dem Kinn, beleuchtet von der Straßenlaterne da draußen. Die rotgeweinten Augen haben einen leeren Ausdruck, wie bei jemand, der müde vom Denken ist und doch keine Ruhe für seine Gedanken finden kann. Nacht und Tag hat sie gegrübelt, ohne verstehen zu können, was geschehen ist, daß er wirklich von ihr fortgereist ist und niemals wieder zurückkommt.
Zum erstenmal war sie ihm eines Tages aufgefallen, als sie zusammen mit einer Freundin vor dem Schaufenster eines Modenwarenhändlers stand und sich etwas »wünschte«. Ihre allerliebste kleine Gestalt, ihre Grübchen und die frischen Wangen hatten gleich einen so starken Eindruck auf ihn gemacht, daß er so wie die Mädchenjäger in den altmodischen Volkskomödien sie seither auf Straßen und Gassen mit ehrerbietigem Hutabnehmen und feurigen Blicken verfolgte. In seiner zunehmenden Verliebtheit dehnte er schließlich seine Nachstellungen bis in den Laden des Vaters aus, wo er als flotter Kunde auftrat, bis die wilde Jagd in Zucht und Ehren mit einer regelrechten Verlobung und dem Segen der Eltern endete.
Das brave und recht wohlhabende Ehepaar, das keine andern Kinder hatte, zeigte sich sehr glücklich über die Aussicht, einen akademisch gebildeten Mann zum Schwiegersohn zu bekommen. Die Mutter, eine derbe und muntere Kristianshafenerin, machte gar oft das junge Mädchen mit der niedlichsten Schamröte erröten, indem sie in seiner Gegenwart von ihrer Sehnsucht nach der Großmutterwürde redete. Aber auch der würdige Vater erzeigte ihm so viel Freundlichkeit, wie sie ein von seiner Verantwortung stark belasteter Buch- und Papierhändler einem jungen Menschen mit ziemlich buschmannartigen Anschauungen über die höchsten Dinge gegenüber sich gestatten konnte. So gab er auf den Sonntagsausflügen der Familie nach Charlottenlund und dem Tiergarten seine Einwilligung dazu, daß die beiden jungen Leute hin und wieder ein wenig für sich umherschwärmten, wenn sie sich nur nicht weiter entfernten, als daß sie zurückgerufen werden konnten. Ebenso erlaubte er ihnen, des Abends allein in der dunklen Eßstube zu sitzen, wo ein kleines Sofa ohne Lehne stand. Er verlangte nur, daß die Tür zum Wohnzimmer angelehnt stehen sollte. Dafür aber hustete er rücksichtsvoll, wenn es unversehens einmal geschah, daß ein Kuß zu kräftig schallte.
Indessen wurde der junge Magister sich klar darüber, daß seine Verliebtheit nicht die große und tiefe Leidenschaft, die schwindelnde Benommenheit war, die er als das königliche Recht der Jugend vom Leben forderte. Wenn er da drinnen auf dem kleinen Sofa mit Katharina auf dem Schoß saß, fühlte er sich zwar glücklich und legte schmachtend seinen Kopf zur Ruhe auf ihren festen Jungfrauenbusen. Hinterher aber, wenn er gedankenvoll heimwärts schritt zu seiner Mansarde unter den fliegenden Wolken, und namentlich, wenn er dort oben zwischen den phantastischen Schatten an den schrägen Wänden saß und sich gewohnheitsgemäß in sein Seelenleben vertiefte, erwachten die Gewissensbisse und machten ihn schamvoll. Da war es, als wenn der Wind, der in der nächtlichen Stille draußen an seinem Fenster vorüberstrich, mit seinem klagenden Sausen Rechenschaft von ihm forderte für das kleinbürgerliche Alltagsglück, dem er sich ergeben hatte. Da gaukelte seine Phantasie ihm verlockende Bilder vor von großen, stolzen Frauen, deren Liebe war wie ein blitzschwangeres Unwetter von glück- und todbringender Qual – Himmelreich und Hölle im selben Umfangen.
Außerdem wollte er ja Dichter werden, Sänger, der Dolmetscher und Verherrlicher der Leidenschaft selbst. Konnte er es da verantworten, schon jetzt sein Flügelpferd in der Box des Ehestandes anbinden zu lassen? Oft wiederholte er sich die Herausforderung seines Lieblingsdichters Liebmann an den dänischen Spießbürgergeist, diese derben Lieder, in deren Trotz und Jubel so viel von der Jugend der Jetztzeit den glücklichen Ausdruck für sein eigenes stürmisches Sehnen fand. So das Gedicht »Der dänische Parnaß«:
Hurra, mein Pegasus!
Hallo, mein lustig Füllen!
Witterst du bergwürzigen Atem?
Siehst du hier auf der Hochebene grasen
Feierlich Seite an Seite
Die milchweißen Stuten?
Stille, mein brünstiger Brauner!
Fein sollst die Disteln du fressen!
Fromm sollst die Landstraß' du messen,
Erstrebst einen Platz zwischen ehrwürdigen Skalden und Herren du gar!
Wähle, willst einen Schimmer von Ehre du retten, o Gaul,
Mußt abwärts du hinken mit hängendem Maul,
In den Sumpf hinab zu der quakenden Frösche Schar,
Da liegt Dänemarks Parnaß schon manch liebes Jahr!
Nun wollte es außerdem der Zufall, daß einer seiner Freunde, ergriffen von einer unglücklichen Liebe zu einer bereits verlobten Dame, die er in einem Badeorte kennengelernt hatte, von der Sommerreise zurückkehrte. Mit geheimer Ehrfurcht und voller Neid war er Zeuge, wie der Freund von Tag zu Tag mehr von seiner Leidenschaft verzehrt wurde und weder essen noch trinken konnte. Voll Schamgefühl dachte er an seinen eigenen gesunden Schlaf und seinen tadellosen Appetit und empfand es als bittere Demütigung, daß er mit seinen dreißig Jahren noch nicht in das große, heilige Mysterium der Liebe eingeweiht war, sondern außerhalb stand wie jemand, der nicht als würdig befunden war.
Acht Tage war er jetzt umhergereist, um sich dies Schwellen der Seele in Glück oder in Leid, das ihm bisher versagt war, gleichsam mit einem Todessprung zu ertrotzen. Und stets hatte er den Weg verfolgt, woher der Westwind kam – dieser ruhelose Wind, der Nacht für Nacht verlockend vor seinem Fenster geflüstert hatte wie der geheime Gesandte des Märchens. Bisher hatte er jedoch noch nichts weiter erlebt, als was einem jeden Reisenden beschieden sein kann. Und nun saß er hier in der zunehmenden Dämmerung, durcheist von dem Seenebel, und sah die roten Wolken, die sich über dem Sonnenuntergang gelagert hatten, mehr und mehr verblassen. Und immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu dem kleinen traulichen Buchhändlerheim, dem er so undankbar den Rücken gewendet hatte. In Gedanken küßte er seine verlassene Braut, indem er sich bewegten Sinnes des kleinen Gedichts »Geständnis« erinnerte, das er nach einem der Sonntagsausflüge der Familie in den Tiergarten an sie geschrieben hatte:
Weißt du noch, wie tief die Nacht war?
Überm Moor der Mond hinsegelt.
Unterm Dornenbusch des Abhangs
Gabst du mir die Hand zum Küssen.
Reichtest mir die Wang', die weiche –
Gabst des Mundes Blütenschmuck mir,
Preßtest dann mit roten Lippen
Mir des Jugendglückes Siegel auf.
Alles um uns her ward stille,
Hinter Wolken sich der Mond versteckte;
In dem Duft der Heckenrosen
Brachen wir der Liebe erste Blüte.
Nach einer weiteren Stunde Schneckenfahrt erreichte der Wagen eine Heideschenke, und hier mußte der Kandidat übernachten. Es war stockfinster geworden. Und der Sturm hatte mit der Dunkelheit zugenommen. Mit Hui und Ho und Hurrihiriuh warf er sich über den einsamen alten Kasten, der in den Augen des jungen Kopenhageners einer Sammlung baufälliger Viehhäuser, nicht aber einer Herberge für Menschen glich.
Drinnen in dem niedrigen Reisestall beleuchtete eine schläfrige Laterne eine Reihe dampfender Pferderücken. Als er vom Wagen heruntergekommen war, fand er mit Mühe den Weg nach der Schenkstube. Hier saßen außer dem Wirt drei reisegekleidete Heidebauern, die Halstücher ganz bis über das Kinn heraufgezogen. Sie saßen um einen Tisch und spielten Karten. Scheinbar zu sehr von dem Spiel in Anspruch genommen, um ihn zu beachten, sah keiner von ihnen von den Karten auf. Selbst der Wirt, ein hünenmäßiger Graubart in wollenen Hemdsärmeln und Lederweste, antwortete kaum auf sein Guten Abend.
Der Kandidat, der bisher nie in dieser Gegend gewesen war und die westjütische Fähigkeit, seine Neugier zu verbergen, nicht kannte, fühlte sich gekränkt durch diese Gleichgültigkeit. Er räusperte sich stark und fragte, mit Würde in der Stimme, ob er hier übernachten könne.
»Een, twe . . . vier, söben . . . elf, twölf . . . eenundtwintig!« Ohnezu antworten, zählte der Wirt den Wert seiner Stiche nach, löschte eine Kreidezahl auf dem Tisch aus und schrieb eine andere statt dessen. Erst als dies alles gewissenhaft besorgt war, wendete er sich nach dem Fremden um und fragte langgezogen: »Was?«
»Ich wünsche zu wissen, ob ich hier übernachten kann.«
»Ach – so!«
Der Mann wandte sich nach der andern Seite, wo eine Tür nach der Küche angelehnt stand.
»Sidsel-Lone? . . . hier is 'ne Mannsperson, de Loschi hebben will«, rief er. Dann netzte er sein Monstrum von Zeigefinger, um zu einer neuen Runde zu geben.
Der Kandidat blieb an der Tür stehen, seine schwere Reisetasche in der Hand. In hilfloser Erbitterung sah er sich in dem niedrigen, spärlich erleuchteten Raum um, wo es nach Fusel und altem Pfeifentabak stank.
Hätte sich nun wenigstens die Küchentür geöffnet und eine jugendliche Sidsel-Lone mit apfelroten Wangen hereingelassen, ein frisches Schenkmädel, mit dem ein erfahrener Gesell in Ermangelung von etwas Besserem ein flottes kleines Reiseabenteuer hätte erleben können! Statt dessen aber schlurfte in einem Paar ausgetretenen Pampuschen ein altes Frauenzimmer herein mit einer Figur wie ein Teigtrog und einem so mürrischen und runzligen Gesicht wie jene sauertöpfische Hexe im Märchen, bei deren Blick das Bier schal wurde und die Milch in den Brüsten der Frauen gerann.
Sie hatte ein Licht in der Hand, eine dünne Unschlittkerze, die sie am Ofenfeuer anzündete und darauf mit ihren nassen Fingern schneuzte, so daß es spritzelte. Dann latschte sie weiter und ließ ihn durch ein Gemurmel verstehen, daß er ihr folgen solle.
Sie gingen über die Diele zurück und kamen in einen kleinen Verschlag, wo ein Bett, ein hölzerner Stuhl und ein gemalter Tisch standen. Dem Kopenhagener schauderte es. Er mußte an eine Gefängniszelle denken. Die Tapete an der Wand war halb von Feuchtigkeit verzehrt, so daß die rohe Mauer überall hervorgrinste. Ein Ofen war nicht da, und es roch erstickend nach Schimmel und Moder. Außerdem wollte es ihm ganz bestimmt scheinen, daß er in dem Augenblick, als die Tür aufging, etwas Lebendiges in ein Loch unter dem Fenster hatte verschwinden sehen. Beabsichtigte man wirklich, ihn hier unterzubringen?
Er wandte sich an die Alte, um zu protestieren. Aber im selben Augenblick schlug seine verzweifelte Stimme um und wurde zu Galgenhumor. »So! Dies also ist mein Wigwam! Naja! Warum auch nicht? Sehr nett! Wirklich stilvoll! Sagen Sie mir doch, ganz im Vertrauen, sind hier wohl nicht gar zu viele Ratten einquartiert! Eine einzelne kann ja ganz unterhaltend sein. Ich lege jedoch keinen Wert darauf, die lieben Tiere familienweise auftreten zu sehen.«
Die Alte war taub oder tat wenigstens so. Mit ihrem Licht steckte sie eine dünne Kerze an, die in einem Leuchterknecht auf dem Tisch stand, worauf sie wieder hinausschlurrte, ohne auch nur einen Muck gesagt zu haben.
Der Kandidat warf sich auf den hölzernen Stuhl nieder und zerfloß in schwarzer Melancholie. Dies war also das Ergebnis seiner Märchenfahrt! Zum Narren gehalten! Er, der in diesem Augenblick auf dem weichsten Kanapee hätte sitzen können, das entzückendste junge Mädchen um seinen Hals, er saß hier als das elendeste aller Geschöpfe.
Draußen auf dem Gange wurden schwere Holzschuhschritte vernehmbar. Die Tür ging auf, ohne daß angeklopft worden wäre, und der flußpferdartige Idiot stampfte auf seinen Hufen herein.
Da packte ihn die Wut. Er fuhr vom Stuhl auf und rief:
»Ist es wirklich Ihre Absicht, daß ich in diesem Loch schlafen soll? Sie müssen doch ein besseres Zimmer haben?«
»Ein besseres Zimmer! Mir deucht doch, daß hier is, was da sein soll! Seh er sich man mal richtig um, mein Freund! Sehn Sie! Da is 'n Spiegel und 'n Waschkumm, sollt' ich meinen. Und auch 'n Nachtpott«, sagte er, nachdem er sich gebückt und unter das Bett geguckt hatte. »Hier fehlt nichts nich. Und das Bett, das lassen Sie man sein. Wenn es auch alt is, so is es doch schön zum Schlafen. Ich mach' manch liebes Mal meinen Mittagsschlaf da in!«
»So – also auch das noch!«
»Wo is der Mann denn eigentlich her?«
»Aus Kopenhagen.«
»Denn sind Sie wohl Handlungsreisender. Wie?«
»Ja, ich bin Probenreiter. Ich reise in Humbug und neumodischen Hirngespinsten. Handgesponnen . . . garantiert waschecht.«
Das Meerungeheuer glotzte ihn dumm an mit seinen großen Wasseraugen.
»Wa–as . . .?«
Jetzt aber hielt der Kandidat mit einem lauschenden Blick inne. Er hatte drinnen von der andern Seite der Wand einen knurrenden Laut aufgefangen. Es war ein tiefes Schnarchen.
»Wer schläft da drinnen?« fragte er.
»Der Leutnant.«
»Ein Leutnant?«
»Ja, der Dünenassistent. Er hat sich reichlich viel eingetüllt. Da hat er sich ein bißchen hingelegt und die Glieder gestreckt.«
»Darf ich mir die Frage erlauben, ist es hier Sitte, daß Ihre besoffenen Gäste sich auf die Betten legen?«
»St! St! Lassen Sie ihn das ja nich' hören. Ich will Ihnen nämlich sagen, er is nich' so ganz richtig in' Kopf. Es burrt ihm hier!«
Er klopfte sich mit dem Mittelfinger gegen die Stirn.
»Na, also auch das noch! Es wird hier ja allmählich ganz gemütlich. Sagen Sie mir doch, soll dieser Mensch mit den Burrkäfern über Nacht auch hier bleiben?«
Der Schenkwirt wollte antworten, aber im selben Augenblick ertönten Stimmen draußen aus der Dunkelheit, wo kurz zuvor ein Wagen in den Reisestall gerasselt war. Die Haustür wurde aufgerissen, und der Sturm fuhr über die Diele und in das Zimmer hinein mit einer solchen Gewalt, daß es einen Augenblick ganz dunkel wurde. In der halbgeöffneten Tür erschien nach einer Weile der Oberkörper eines großen, rotköpfigen Mannes in Reisepelz und mit Hundefellkapuze.
»Seid Ihr hier, Wirt? . . . Ach, langen Sie mir einen Augenblick eine Laterne heraus, Sören Iversen.«
»Soll geschehen, Hansen! Willkommen aus der Stadt! . . . Da is doch nichts passiert?«
»Ich weiß nich' recht! Es war mir beinah, als ob das Handpferd ein bißchen lahmte. Lindemark is wohl hier? Ich sah seine Füchse da drüben stehen.«
»Ja, Lindemark sitzt in der blauen Stube.«
Der Wirt folgte dem Fremden hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Der Kandidat war wieder allein. Er blieb mitten im Zimmer stehen und versank in Gedanken, seinen Kneifer in der Hand. Lindemark. So hieß ja der geistlich aussehende Gutsbesitzer, der in einem leichten Jagdwagen an ihm vorübergefahren war, und von dem der Frachtfuhrmann erzählt hatte. Und der Mann hielt sich hier auf?
Er lebte wieder auf. Sollte doch noch Hoffnung sein, daß er eine menschliche Aufenthaltsstätte für die Nacht ergattern konnte?
Als er den Wirt über die Diele zurückstampfen hörte, setzte er entschlossen den Kneifer an seinen Platz, öffnete die Tür, bestellte eine Tasse Kaffee und fragte dann, ob es eine andere Gaststube gebe als die, in der er schon gewesen war, denn in diesem Falle wünsche er seinen Kaffee dort zu trinken.
»Ja, ja, das ließe sich wohl machen!« sagte der Wirt und zeigte auf eine Tür am Ende des dunklen Ganges, wo das Licht durch ein Schlüsselloch herausschimmerte.
Mit Hilfe dieses Leitsternes gelang es ihm, die Tür zu finden. Er klopfte an und fand ganz richtig einen Herrn da drinnen und erkannte ihn auch sofort an dem dunklen, leicht gelockten Vollbart. Das Zimmer war ziemlich groß, aber so niedrig, daß ein großer Mann so eben aufrecht unter dem Deckenbalken stehen konnte. An der einen schmalen Wand entlang lief eine Bettbank, und davor standen ein runder Tisch unter einer Hängelampe und einige hölzerne Stühle. Das übrige war ein leerer Raum und ein altmodischer Ofen auf einem hohen aufgemauerten Fuß; außerdem ein paar große Spucknäpfe aus Holz.
Gutsbesitzer Lindemark saß auf einem der Stühle am Tisch und las in einer Zeitung. Das Lampenlicht fiel gerade auf sein wettergebräuntes Gesicht. Und dem Kandidaten fiel abermals der milde Ausdruck auf. Er war ein sehr schöner Mann. In seinem Blick lag etwas fast Verklärtes und gleichzeitig schwer Ernsthaftes und Einsames, wie man es wohl bei Leuten vereint findet, die kürzlich einen großen Kummer gehabt haben.
Der Kandidat sagte Guten Abend und setzte sich an die andere Seite des Tisches. Nach einer Weile aber stand er auf und stellte sich vor, worauf der Gutsbesitzer – ein wenig überrascht – ebenfalls seinen Namen nannte.
»Kommen Sie aus Aalborg?« fragte er.
»Ich habe in Aalborg übernachtet. Ich bin aus Kopenhagen.«
Es folgte eine Pause. Der Gutsbesitzer schien sich wieder hinter seiner Zeitung verschanzen zu wollen, und es fiel dem Kandidaten ein, daß er das letzte vielleicht ein wenig zu selbstbewußt gesagt hatte. Um das wieder gutzumachen, warf er eine Bemerkung über die Größe und eigentümliche Schönheit der Gegend hin.
»Sind Sie zum erstenmal hier an der Westküste?«
»Zu meiner Schande muß ich es gestehen. Aber es ist seit vielen Jahren mein höchster Wunsch gewesen, diese merkwürdige Gegend zu besuchen – die Sahara des Nordens, wie unser großer Dichter Liebmann sie genannt hat, ein Name, den ich sehr bezeichnend finde.«
»Sind Sie Journalist?«
»Nein, ich bin Philologe . . . Das heißt . . .«
»Ach, Sie sind Gelehrter!« sagte der Gutsbesitzer plötzlich interessiert und legte die Zeitung hin. »Freilich ist die Gegend schön und eigentümlich. Aber ganz so wüstenartig, wie unsere Schriftsteller sie in ihren Beschreibungen machen, ist sie nun doch nicht. Es ist in den letzten Jahren sehr viel zur Bepflanzung hier an der Westküste geschehen. Falls Sie sich für dergleichen interessieren und auf Ihrer Reise an Großhof vorüberkommen – es ist eine gute Meile von hier nach Westen zu –, so möchte ich Sie bitten, bei mir hereinzusehen. Da wohne ich nämlich, und es soll mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu zeigen, was ich selber in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Wachsen gebracht habe.«
Der Kandidat neigte den Kopf zum Dank, während ihm das Blut vor verlegener Freude in die Wangen schoß. Da hätte ich schon einen Anbiß! dachte er. Jetzt gilt es nur, ruhig zu sein.
Im selben Augenblick sprang die Tür zu der Diele auf. Die Haustür war geöffnet worden, und der Sturm jagte wieder heulend durch das ganze Haus. Der große, dicke Mann mit der Hundefellmütze kam nach einer Weile hereingestampft und sagte in fließendem Jütisch Guten Abend. Er hatte eine Peitsche in der Hand und hängte sie zusammen mit der Mütze und seinem Mantel an einen Riegel neben der Tür.
»Guten Abend, Hansen«, sagte Lindemark. »Ich glaubte Ihre Stimme schon vor einiger Zeit draußen zu hören.«
»Ja, zum Teufel auch! Als ich den Panneruper Hügel hinunterfuhr, konnte ich sehen, daß die Kracke lahmte. Aber was für ein fremder Mensch ist denn das da?«
»Darf ich vorstellen?« fragte Lindemark. »Kandidat Petersen aus Kopenhagen – Gutsbesitzer Hansen auf Sandhof.«
»Kandidat? – Sind Sie Pastor?«
»Herr Petersen ist Gelehrter und ist hierhergekommen, um die Gegend zu studieren. Unter anderm wünscht Herr Petersen, unsere Aufforstungen zu sehen.«
»Dann sind Sie auch gerade an den rechten Mann gekommen. Lindemark, der hat was vorzuzeigen, was sich anzugucken lohnt. Da sollen Sie mal Kulturen sehen!«
»Na, na, Hansen, machen Sie nun nicht zuviel aus der Sache. Dann wird Herr Petersen ja nur enttäuscht.«
»Unsinn, Lindemark. Ich sag' es so, wie es is, junger Mann! Sie können verdammt und verflucht – die ganze Westküste abgrasen, ohne was Ähnliches zu sehen. In zehn, zwanzig Jahren können wir, weiß Gott, hier in den Wald fahren und Feste mit Hornmusik und Singemädchen abhalten, so wie bei Kopenhagen. Das wird 'ne Zeit, wo es sich zu leben verlohnt!«
Er warf sich schwer auf einen Stuhl am Tisch nieder, mitten zwischen die beiden andern Herren, die im selben Augenblick in einen betäubenden Spiritushauch eingehüllt wurden. Obgleich ihm sonst nichts anzumerken war, konnte man doch deutlich merken, daß er nicht ganz unbeschädigt von seinem Jahrmarktsbesuch in der Kreisstadt zurückgekehrt war. Die Augen waren groß und glasig, und über dem Bart glühten die Wangen wie ein paar rote Rübenscheiben.
»Haben Sie denn die Bröndlunder verkauft?« fragte Lindemark und nahm die Zeitung wieder auf.
»Ja, weiß Gott, die bin ich losgeworden!«
»Und was haben Sie denn dafür gekriegt?«
»Darüber woll'n wir lieber nich' reden. Es war keine Fahrt in der Sache heut. Solche Preise, die er einem bot, der Jud'. Er sollt' gehängt werden!«
»Ich sah Sie heut vormittag in munterer Gesellschaft im Hotel sitzen. Simon Nathan war wohl auch dabei. Ich glaube, Sie waren schon beim Grog angelangt!«
»Ja, da waren ein paar Handlungsreisende aus Nathans Bekanntschaft. Und ich hatt' so gottserbärmliches Zahnweh. Es war wirklich nich' zum Aushalten.«
»Verzeihung, kann Grog gegen Zahnschmerz helfen?« fragte der Kandidat interessiert. Er war vor einigen Tagen durch Unruhe in einem Zahn geängstigt worden.
»Ob das helfen kann? Wo sind Sie eigentlich her, mein Lieber, daß Sie das nich' wissen? Ein steifer Grog ist ein unfehlbares Mittel. Ich brauche nie was anderes. Wenn ich nur das leiseste Murren verspür', trink' ich bloß ein Stücker vier, fünf glühheiße Gläser Grog, eins gleich nach dem andern hinter die Binde gegossen – und das Zahnweh is weg, hast mich nich' gesehen!«
»Aber wo bleiben Sie selbst denn ab, Hansen?« fragte Lindemark und sah über den Tisch zu dem Kandidaten hinüber.
»Was –? Wo ich abbleib'? . . . Ach so, Sie woll'n witzig sein, Lindemark. Sie woll'n witzig sein! Da sollten Sie sich lieber nich' 'auf einlassen. Denn dabei kommen Sie doch man immer schlecht weg. Nee, das lassen Sie man, Lindemark! Das lassen Sie man!«
Die Trunkenheit gewann mehr und mehr die Übermacht in ihm. Ihm schwoll der Kamm, aber er mußte jeden Augenblick des Hicksens wegen mit dem Krähen innehalten. Gleichzeitig machte er einen Versuch nach dem andern, eine große hölzerne Pfeife anzuzünden. Er strich Streichholz auf Streichholz an und paffte zwischen jedem Hicksen, ohne zu bemerken, daß der Deckel geschlossen war.
Der Wirt kam jetzt mit Kaffee für ihn und den Kandidaten herein. Unterm Arm hielt er eine Literflasche Kognak, die er mitten auf den Tisch stellte »zur gefälligen Benutzung« – wie er sagte.
»Ja, das mag nu' ganz gut sein«, sagte Gutsbesitzer Hansen und strich ein neues Streichholz an. »Aber wißt Ihr auch, Sören Iversen, daß hier einer sitzt und neidisch is, wenn man 'n Schluck nimmt!«
Im selben Augenblick verstummten alle. Die Tür zum Nebenzimmer hatte sich leise geöffnet, und dort im Dunkeln stand eine sonderbar aussehende Gestalt, die die Hand schirmend vor die Augen hielt, geblendet von dem Schein der Hängelampe. Es war ein Mann in den Vierzigern, groß und mager, fahl wie ein Asiate und wunderlich gekleidet in einen abgetragenen Jagdanzug von ausländischem Schnitt. Die langen Beine waren bis ans Knie mit Gamaschen umwickelt, und um den sehnenstarken Hals lag ein rotes, geblümtes Tuch mit einer Schnippe am Rücken herunter.
Der Mann stand eine Weile da und musterte die Gesellschaft schweigend. Als er den fremden Kopenhagener entdeckte, huschte ein scheuer Ausdruck über sein Gesicht. Dann wandte er sich ab und langte nach einer Flinte, die neben der Tür an der Wand hing.
»'n Abend, Hacke!« sagte der dicke Gutsbesitzer Hansen. »Kommen Sie her und setzen Sie sich zu uns!«
Der Mann antwortete nicht. Den Rücken den Herren am Tische zugewendet, untersuchte er seine Flinte und hängte sie dann über die Schulter.
»Warum so spanisch, Hacke! Kommen Sie doch her, Mensch! Ich spendier' 'ne Runde.«
Der Jägersmann drehte den Kopf herum.
»Aber ich kenne doch den Herrn da nicht.«
»Jetzt werde ich vorstellen. Das da ist Leutnant Hacke –«
»Von Hacke«, verbesserte Lindemark spöttisch hinter seiner ausgebreiteten Zeitung.
»Jawohl . . . von Hacke. Dünenassistent hierorts. Und Geschwisterkind von dem Minister. Daß Sie das wissen! Und das ist Herr Magister . . . äh . . . äh . . .«
Der Leutnant führte seine Hand an seinen großen, buschigen Schnurrbart und verbeugte sich kavaliermäßig mit zusammengeschlagenen Absätzen.
»Ist mir eine Ehre«, sagte er.
»Wirt!« rief Hansen. »Bier über die ganze Linie!«
»Danke, für mich nichts«, sagte Lindemark sehr bestimmt, worauf auch der Kandidat aus Klugheit dankend ablehnte. Er hatte bereits gewittert, daß Lindemark und der Leutnant keine Freunde waren. Gleich beim Eintreten des letzteren hatte er gesehen, daß sich ihre Blicke begegneten wie ein paar sich kreuzende Klingen, die Funken sprühen. Außerdem war Herr von Hacke offenbar der verrückte Kerl, dem es »im Kopfe burrte«, von dem der Wirt erzählt hatte.
»Na, dann könnt Ihr meinetwegen auch dasitzen und Maulaffen feilhalten«, sagte Herr Hansen. »Kommen Sie, Hacke! Setzen Sie sich aufs Sofa und machen Sie sich's bequem. Sie sehen, weiß Gott, so aus, als wenn Sie einen Aufstrammer nötig hätten. Hat es wieder nicht seine Richtigkeit mit dem Schädel? Indianer auf der Dachanlage – wie?«
In ernstem Schweigen ließ sich der Leutnant in die eine Ecke der Bettbank nieder und legte die Flinte von sich auf das Polster. Hier in der Beleuchtung nahm seine Kleidung und seine ganze Gestalt sich so jammervoll aus, daß der Doktor unwillkürlich Mitleid mit ihm bekam. Die scheuen und unruhigen Augen hatten einen geistesabwesenden Ausdruck wie bei einem Kind, das im Dunkeln bange geworden ist. Im übrigen aber fehlte es ihm nicht an Haltung. Es lag eine gewisse Festivitas in der Weise, wie er mit seiner langen, knöcherigen, nervös zitternden Hand jeden Augenblick über seinen Schnurrbart strich, bald nach der einen, bald nach der andern Seite.
»Prost, Euer Königliche Hoheit!« sagte Herr Hansen, als das Bier kam. »›Anstoß!‹, wie der Deutsche sagt. Haben Sie übrigens die letzte Neuigkeit gehört? Der Herr Doktor hier ist herübergekommen, um Lindemarks Aufforstungen zu studieren. Was sagen Sie dazu, Hacke? Spaßig, was? . . . Ich will Ihnen nämlich erzählen, Herr . . . Herr . . . Herr Kopenhagener, daß Herr von Hacke so eine Art Wilder ist. Er ist wutentbrannt über all die Zivilisation, die wir hier machen. Wenn er es bewältigen könnte, dann schüf er ganz Vendsyssel in eine große Wildnis um, in der man umhergehen und Löwen und Hyänen jagen könnte und kleine wilde Mächens! Ich will Ihnen nämlich sagen, Herr von Hacke, der schwärmt für diesen Naturzustand . . . für die Urzeit . . . Sie wissen wohl, damals, als die Damen ohne Hosen gingen!«
Er hatte die ganze Zeit, während er sprach, den Bierkrug an den Mund gehalten, um zu trinken. Aber jetzt, wo er endlich so weit war, mußte er den Krug hinsetzen, um in ein Gelächter loszuplatzen.
Der Leutnant starrte stumm vor sich hin und schien nicht zuzuhören. Aber der Lärm, den die Stimme des Mannes verursachte, war ihm offenbar eine Pein. Es waren noch mehr leidvolle Runzeln auf seiner Stirn zum Vorschein gekommen, und die roten Augenlider zwinkerten nervös.
Nachdem Herr Hansen endlich das Bier gekostet hatte, bekam er von neuem sein Hicksen. Sein dicker Bauch hüpfte auf und nieder, und er konnte kein Wort herausbringen. Währenddessen las Lindemark seine Zeitung, und der Leutnant streckte seine Beine von sich und fing an zu gähnen.
»Zum Teufel auch! Warum sagt Ihr kein Wort«, brachte Herr Hansen endlich halberstickt heraus. »Wollen wir es uns nich' ein bißchen gemütlich machen? Geben Sie uns eine gute Geschichte zum besten, Hacke . . . Nein, lassen Sie das, Leutnant! Lassen Sie das Rollen mit den Guckaugen! . . . Erzählen Sie lieber dem Herrn Doktor die Geschichte von Plevna . . . von ihr, von Ihrer Musecka, die den Krieg als Tamburschläger mitmachte und in der großen Trommel ein Kind zur Welt brachte . . . Können Sie sich das vorstellen, Herr Kopenhagener . . . mitten auf dem Marsch, während Herr Hacke aus Leibeskräften auf das Kalbfell lostrommelte, damit man ihr Schreien nicht hören sollte. Die Geschichte ist gut, wie? . . . Oder auch die aus Asien, Sie wissen ja, als Sie Löwenfrikassee zum Frühstück bekamen. Und Tigerfrikadellen mit gestobten Affenfingern.«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Tassen klirrten, und fiel mit einem brüllenden Gelächter in den Stuhl zurück.
Der Leutnant griff sich verzweifelt mit beiden Händen an den Kopf.
»Sie brauchen so viele Worte, Herr Hansen. ›Zwei sind genug‹, sagt die Schrift. Fragen Sie Gutsbesitzer Lindemark.«
Als er seinen Namen hörte, erhob Lindemark den Kopf. »Wovon reden Sie?«
Der Leutnant verneigte sich mit ironischer Höflichkeit.
»Ich war so frei zu äußern, daß Ihr Freund sicher in der andern Welt wegen Wortvergeudung büßen müsse. Wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich läßt, stehen in einem gewissen Buche bemerkenswerte Worte geschrieben –«
Herr Hansen fiel ihm in die Rede.
»In der andern Welt! Sonderbar, wie Sie sich in letzter Zeit mit der andern Welt beschäftigen, Sie kleiner Hacke! Wo hapert es bei Ihnen?«
Herr von Hacke erhob ablehnend den Krug.
»Herr Gutsbesitzer Hansen! Darf ich Sie bitten, Ihrer Frau Gemahlin meinen Respekt zu vermelden!«
»Meiner Frau?« kicherte der andere und schielte zu Lindemark hinüber. »Da hab' ich mir die Hosen vollgeschissen! Sie wissen wohl nich', mit wem Sie reden, Hacke!«
Aber plötzlich wurde er unsicher. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, und der Unterkiefer sank herab, als sei er auf einmal nüchtern geworden. Mit seinem ganzen Gewicht legte er sich drohend über den Tisch.
»Daß Sie sich unterstehen . . . Das will ich Ihnen aber sagen, Hacke . . . wenn Sie anfangen, mit meiner Frau zu schäkern, dann –«
»Lassen Sie das! Lassen Sie das!« unterbrach ihn der Leutnant mit ausgestreckter Hand. »Schonen Sie meine Trommelfelle, ich bitte Sie darum! Die sind nicht aus Kalbfell, mein Herr!«
Dann wandte er sich nach dem Fremden um.
»Beabsichtigen Herr Kandidat sich hier längere Zeit aufzuhalten?«
»Nein, ich bin im Grunde nur auf der Durchreise hier.«
»Wahrscheinlich gefallen Ihnen die Lokalitäten nicht. Sehr begreiflich. Ich kenne sie aus Erfahrung. Ich will Sie darauf vorbereiten, daß im Bettstroh eine reichliche Einquartierung von Mistkäfern ist. Aber so ist das Leben hier . . . In allen Verhältnissen. Sie verstehen? Man muß sich an den vertraulichen Umgang mit Mistkäfern gewöhnen. Que faire? Il faut être souple avec la pauvreté? – Sie sind Kandidat, nicht wahr?«
»Philologe – ja.«
»Sehr interessantes Studium. Wie alt sind Sie, mit Erlaubnis zu fragen?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ein beneidenswertes Alter! Hat man die Vierzig erreicht, so ist der Rest nur eine Vorbereitung darauf, von den Maden verzehrt zu werden. Trostreiche Aussichten, nicht wahr?«
Er schloß die Augen mit einem schmachtenden Ausdruck. Dann begann er, eine Melodie vor sich hinzuträllern. Der Spiritus fing an, in ihm zu wirken.
Lindemark war von Unruhe befallen. Das konnte man namentlich an seinen Füßen hören, die sich fortwährend auf dem sandbestreuten Fußboden hin- und herbewegten. Dann sah er auch jeden Augenblick nach der Uhr, und schließlich stand er auf und trat ans Fenster, um zu sehen, ob der Mond nicht endlich aufgegangen sei, so daß er weiter kommen konnte.
Als er zurückkam, fragte er den Kopenhagener, ob er ihm nicht das Vergnügen machen und mit nach Großhof kommen und dort übernachten wolle. Sie könnten dann gleich am Morgen zusammen hinausgehen und seine Anpflanzungen sehen und was er ihm sonst zu zeigen habe. Es sei hier in der Schenke ja wirklich nicht gemütlich, und er habe reichlich Platz auf seinem Wagen.
Das war eine Überrumpelung, und der Kandidat war einen Augenblick unschlüssig. Seine Freude über die Einladung würde größer gewesen sein, wenn sie gekommen wäre, ehe Herr von Hacke erschienen war. Er war in Anspruch genommen von diesem eigentümlichen Menschen und fühlte sich in großer Versuchung, hier zu bleiben, um seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er sagte sich, dieser schäbige Weltmann sei doch endlich einmal eine eigenartige Figur, die er vielleicht einmal in einem Roman würde verwenden können. Er hatte Gutsbesitzer Hansens Andeutungen nicht bedurft, um zu verstehen, daß dieser ergrauende Leutnant mit dem kriegerischen Bart kein Leutnant Buddinge aus dem Lustspiel war, sondern wirklich ein abenteuerliches Leben hinter sich hatte.
Die Aussicht, ein trauliches Zimmer und ein Bett ohne Mistkäfer zu bekommen, gab jedoch den Ausschlag bei ihm.
»Aber kann ich es wirklich verantworten, Umstände zu machen?« sagte er pflichtschuldigst.
»Natürlich können Sie das! Hier in Vendsyssel machen wir niemals viele Umstände. Binnen kurzem haben wir den Mond, dann können wir fahren.«
Der Leutnant, der hingegangen war, um seine kleine Jagdpfeife aus der Tabaktonne zu stopfen, die nach alter, jütischer Schenkensitte zur freien Benutzung für die Gäste auf dem Ofen stand, war von hier aus diesem Wortwechsel mit gespitzten Ohren gefolgt. Er kehrte dem Tisch den Rücken zu, einmal aber drehte er den Kopf herum und betrachtete den Kandidaten mit einem finstern Blick.
Währenddessen benutzte Herr Hansen die Gelegenheit, in aller Unbemerktheit einen Scherz vorzubereiten. Während die andern beschäftigt waren, goß er den Inhalt aus dem halbgeleerten Krug des Leutnants in den Spucknapf, der zu seinen Füßen stand, und füllte ihn mit Kognak aus der Flasche. Dann saß er mit unschuldiger Miene da und machte einen neuen Versuch, seine große hölzerne Pfeife anzuzünden.
Der Leutnant am Ofen trällerte eine Melodie vor sich hin. Es war ein Bruchstück von einem höchst unzüchtigen Lied.
»Kennen Sie das, Herr Lindemark?« fragte er. »Da Sie sich anscheinend hier am Ort als barmherziger Samariter etablieren und sich der Erziehung der Jugend widmen wollen, sollten Sie sich auf die Volksdichtung legen:
Wenn Ludwig auf dem Meer sich wiegt
Sich Lies' in Thorwalds Arme schmiegt.«
Als er an den Tisch zurückkehrte, verriet sein Wesen eine unheimliche Erregung. Mit einem Gelächter warf er sich in die Ecke der Bank zurück und legte ungeniert eins seiner gamaschenbekleideten Beine auf das Polster.
»Verzeihen Sie, Verehrtester!« sagte er und sandte dem Kandidaten einen bösen Blick zu. »Ich sehe, Sie gehen mit einem hohen Kragen. – Ich will nicht gerade behaupten, daß es Sie kleidet, aber es ist eine äußerst praktische Mode für gewisse Leute. Die Vorsehung hat ja ihre ausgelassenen Launen. Sie bringt zuweilen einen lächerlichen Stempel statt eines Halses unter dem Kopf von Leuten an – so wie unter den Kohlköpfen.«
»Jetzt kann es wohl genug sein, Leutnant Hacke«, fiel Lindemark ihm ernsthaft in die Rede. »Sie strengen sich über Ihre Kräfte an, um geistreich zu sein.«
Das Blut stieg dem Leutnant zu Kopf. Aber er beherrschte sich, machte eine Bewegung mit der Hand und sagte:
»Stets zu Diensten! . . . Wahrscheinlich ist es überhaupt höchst vermessen von meiner Person in meiner jetzigen inferioren Stellung, mich in Ihrer Gegenwart, Herr Gutsbesitzer Lindemark, so frei zu äußern. Ein so verdienstvoller Mann! Fast ein Justizrat! Es muß zu meiner Entschuldigung gereichen, daß meine Familie mehr als zweihundert Jahre König und Vaterland in den höchsten Stellungen und mit der allerhöchsten Anerkennung gedient hat.«
Jetzt griff Hansen nach seinem Krug und sagte:
»Laßt uns Frieden halten, Hacke! Laßt uns gemütlich sein und nicht zanken! Warum trinken Sie nichts? Sie sind ja ganz trocken im Halse. Nehmen Sie doch 'n Schluck Bier. Prost!«
Der Leutnant griff um den Henkel seines Kruges.
»Stehe zu Diensten! Haben Sie die Güte, Ihrer Frau Gemahlin meinen respektvollen Gruß zu vermelden. Auf Ehre, ich meine das aus aufrichtigem Herzen. Haben Sie die Güte, Frau Hansen zu sagen, daß ich vor ihrem Seidenfüßchen im Staube liege.«
»So, tun Sie das, Hacke! Dann können Sie das ja beweisen, indem Sie das Glas auf das Wohl meiner Frau leeren. Prost!«
»Prost Herr Hansen! Sie und ich, wir verstehen einander. Da ist kein Grund, die Augen gen Himmel zu erheben. Wir halten die Nase hübsch am Erdboden, so wie die Schweine. Was sind wir Menschen, Herr Hansen? Was ist eine Frau? Vierzehn Ellen Gedärme, die obendrein nicht gut riechen. Prost!«
Er hob den Krug an den Mund. Aber auf halbem Wege hielt er mit einem Ruck inne. Der Kognakgeruch hatte den heimtückischen Anschlag verraten.
Beim Anblick seiner wilden Augen verstand Lindemark sofort den Zusammenhang. Er kannte aus Erfahrung Herrn Hansens tückische Streiche und sandte ihm einen ungehaltenen Blick zu.
Es sah so aus, als ob der Leutnant in seiner Wut ihnen den Krug mit Inhalt an den Kopf werfen wolle. Aber nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte, geschah gerade das Gegenteil. Er setzte ihn an den Mund und goß den Inhalt hinunter.
»Aber Mensch! Sind Sie verrückt!« schrie Lindemark und sprang auf, um ihm den Krug zu entreißen. Es war jedoch zu spät. Er hatte ihn bis auf den Grund geleert. Und nun schlug er ihn mit all seiner Kraft gegen die Tischplatte, so daß er in viele Stücke zersplitterte, die über den Fußboden hinflogen.
Sie waren alle sprachlos. Selbst Herr Hansen hielt in seiner Verdutztheit mit dem Gekicher inne.
»Was wollen Sie denn?« fragte der Leutnant und maß die Gesellschaft mit einem Blick, der vor Verachtung Blitze schoß. »War das etwa nicht die Absicht? Sind die Herren bange davor, einen Betrunkenen zu sehen?«
Im selben Augenblick steckte der Wirt seinen grauen Kopf zur Tür herein, um zu melden, daß es angefangen habe, hell zu werden.
»Heda! Schenkvater! Staatsautorisierter Schnapsschenker!«
Aber der Kopf war wieder verschwunden und die Tür geschlossen.
Lindemark und sein Gast erhoben sich. Auch Herr Hansen hatte es plötzlich eilig, fortzukommen.
»Vergessen Sie nun auch nicht, Ihrer Frau Gemahlin meinen ehrerbietigsten Gruß zu vermelden«, rief von Hacke höhnend hinter ihm drein. »Sagen Sie ihr, ich hätte auf ihre Gesundheit getrunken in Anbetracht dessen, daß sie einen Ehemann von vierzehn Liespfund hat. Möchte sie das überleben! Salut!«
Er hatte, während er sprach, seine Flinte von der Bank genommen und feuerte sie nun mit gestrecktem Arm auf den Ofen ab.
»Salut!« wiederholte er, und abermals knallte ein Schuß, während die Hagelkörner ringsumher auf den Fußboden rasselten und die Stube sich mit Pulverdampf füllte.
Der Wirt stürzte herein. Draußen in der Küche heulte ein Hund, und das ganze Haus kam auf die Beine.
»Was sind das für Geschichten! . . . Treiben Sie hier jetzt wieder Ihre Narrenspossen, Hacke?«
Der alte Graubart war außer sich vor Wut. Herr Hansen, der jetzt wieder völlig zur Vernunft gekommen war, flüsterte ihm zu:
»Schweigen Sie, Sören Iversen! Wir müssen sehen, wie wir ihn an die Seite schaffen. Er wird jetzt ganz kollerig.«
Und zu dem Leutnant selbst sagte er, indem er ihn vorsichtig am Ärmel zupfte: »Seien Sie nun vernünftig, Hacke! Es war ja gar nicht böse gemeint. Kommen Sie jetzt, alter Freund, dann machen wir einen kleinen Spaziergang und lüften uns ein wenig.«
Er wollte ihn unter den Arm fassen. Aber Hacke war jetzt ganz unregierlich und schrie:
»Rühr mich nicht an – du Stinktier! Zur Hölle mit euch allesamt! . . . Wo ist er abgeblieben, dieser junge Seidenaffe? Friede mit ihm! Laßt ihn sich belustigen! Glück auf zur Arbeit! . . . Sagt ihm, meinen Segen hätt' er! Freilich! Meinen Segen!«
Seine Augen waren ohne Blick; und nun sank der Kopf langsam hintenüber, während er mit immer schwächer werdender Stimme die letzten Worte wiederholte. Plötzlich wurde er leichenblaß und brach zusammen.
Der Wirt und Herr Hansen eilten bestürzt herzu. Der letztere sprengte ihm ein wenig Bier ins Gesicht und löste das rote Halstuch. Auch Lindemark kam herbei, um zu helfen, während der Kandidat schreckerstarrt an der Tür stehen blieb.
»Um Gottes willen! Er ist doch nicht tot?« rief Lindemark aus.
»Legen wir ihn aufs Bett«, sagte Herr Hansen. »Dann wird schon Leben in ihn kommen. Habt Ihr nicht ein paar Tropfen, Wirt?«
Sie trugen ihn fort. Der Wirt umfaßte ihn mit den Armen. Aber der lange Körper hing schlaff herab. Herr Hansen mußte den Kopf in die Höhe halten, Herr Lindemark die Beine.
Ein paar Minuten später kam Herr Hansen zurück und meldete dem Kandidaten, der nicht gewagt hatte, mitzugehen, sondern noch dastand und zitterte, daß der Leutnant wieder zum Leben zurückgekehrt sei. Es sei nur eine Ohnmacht gewesen.
»Er ist wohl ein sehr leidenschaftlicher Mensch«, sagte der Kandidat. »Und sehr unglücklich.«
»Er, Feuer und Flamme durch und durch. Und gefährlich für Frauenzimmer, obwohl er kein Jüngling mehr ist. Unter uns . . . da ist namentlich eine gewisse Dame hier in der Gegend . . . St.!«
Im selben Augenblick kam Lindemark von der Diele herein. Er meldete, daß der Wagen jetzt vorgefahren sei.
Bald darauf waren sie alle fort. Der Leutnant hatte Tropfen bekommen und war eingeschlafen. Der Wirt ging in der Stube umher, wo der Pulverdampf noch unter den Deckenbalken hing. Er untersuchte die Wand hinter dem Ofen und fand hier Hagelkorn bei Hagelkorn.
»Den Deubel auch!« fluchte er. »Auch das Bild hat er zerknallt! Das soll ihm ein teurer Spaß werden, wahrhaftiger Gott, das soll es!«
Gutsbesitzer Lindemark und sein Gast hatten eine gute Meile zu fahren. Der Sturm hatte zugenommen, und der Mond, der hinter den Wolken verborgen saß, leuchtete nicht stärker, als daß man so eben den Nebenweg erkennen konnte, auf den die Pferde von selbst eingebogen waren. Wenn Lindemark in der Schenke eingekehrt war, so war das ausschließlich der Dunkelheit halber geschehen und weil man bei dem starken Wind hier nicht mit Laternen fahren konnte.
Er und der Kandidat wechselten im Anfang nicht viele Worte. Dazu waren sie, jeder auf seine Weise, zu sehr erfüllt von der Szene in der Schenke.
»Es tut mir leid, daß Sie Zeuge eines so unheimlichen Auftrittes werden mußten«, sagte Lindemark schließlich. »Gutsbesitzer Hansen hat eine unglückliche Neigung, Skandalszenen zu arrangieren.«
»Ihr Freund, Leutnant von Hacke, ist wohl ein sehr eigentümlicher und höchst exzentrischer Mensch«, äußerte der Kandidat vorsichtig.
Lindemark besann sich eine Weile auf die Antwort.
»Herr Hacke gehört zu den unglücklichen Menschen, die – wie man zu sagen pflegt – auf schlechtem Fuß mit dem Leben stehen oder, richtiger, mit sich selbst. Ich habe aufrichtiges Mitleid mit ihm. Wenn Sie ihn meinen Freund nennen, muß ich Ihnen jedoch widersprechen. Über den gesellschaftlichen Verkehr hinaus, wie ihn die Verhältnisse in einer so entlegenen Gegend einem sozusagen aufzwingen, habe ich absolut nichts mit Herrn von Hacke zu schaffen.«
»Er scheint eine sehr bewegte Vergangenheit gehabt zu haben. Wenn ich eine Äußerung von Gutsbesitzer Hansen richtig verstanden habe, hat er als junger Leutnant an dem Russisch-Türkischen Krieg teilgenommen.«
»So erzählt er selbst, und es verhält sich auch wohl so. Aber Herr Hacke ist im übrigen im Besitz einer Münchhausenschen Phantasie. Es wird ihm oft sehr schwer, seine eigenen Erlebnisse von den Taten anderer zu unterscheiden, und in den meisten Fällen glaubt er sicher selbst an das, was er erzählt.«
»Aber wie ist so ein Mann nur einmal hier gestrandet? Und als Dünenassistent?«
»Ja – was soll man sagen? – das ist eine äußerst untergeordnete Stellung, die im Grunde nirgends hingehört. Der Platz wurde vor zwei Jahren für ihn geschaffen, um ihn unterzubringen. Der ehemalige Ministerpräsident ist sein Onkel. Nun, ich sage ja nichts dazu. Er war damals in jeder Beziehung so weit herunter, wie ein Mensch aus guter Familie nur kommen kann, wenn er nicht ganz zugrunde gehen soll.«
»Wohnt er dort im Krug?«
»Nein, er hat sich bei einem Bauern draußen in den Dünen einquartiert, wo seine Familie für ihn bezahlt. Im übrigen aber glaube ich wohl, daß er meistens in der Schenke abschließt, wenn er den Tag über ohne Ziel und Zweck in der Gegend umhergestreift ist.«
»Es wundert mich«, sagte der Kandidat, »daß ein solcher Mann sich in dies Leben findet.«
»Ich sage Ihnen ja, daß er damals sehr weit herunter war, geistig wie auch körperlich. Es blieb ihm wohl nur die Wahl zwischen dieser ›Verbannung‹ wie er selbst den Aufenthalt hier nennt – und einem Ort, wo er überhaupt jeglicher Freiheit beraubt sein würde.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Irrenanstalt.«
»Hat man daran gedacht, ihn einzusperren?«
»Es würde sicher das Beste für ihn gewesen sein, wenn man Ernst daraus gemacht hätte. Er ist, wie gesagt, ein sehr unglücklich gestellter Mensch, der nie zu Frieden und Einverständnis mit sich selbst – und folglich auch nicht mit andern – kommen wird.«
Der Kandidat schwieg, um keinen Verstoß zu begehen.
Er war ganz empört und dachte: Da sitzst du, zahme Krähe, so jesuitisch nachsichtig, und krächzst über diesen wilden, heimatlosen Vogel, der einsam auf der Heide umherschweift mit seiner Menschenverachtung und seinen finstern Gedanken.
Er ließ den Blick über das heideschwarze Wüstenland hinwandern – doppelt wild und düster jetzt in dem spärlichen Licht des Mondes, der gerade über einem Wolkenrand hervorguckte. Wahrlich! Der Westwind hatte ihn doch nicht genarrt, und er schämte sich seines früheren Kleinmuts. Tod und Teufel! Hier saß er ja mitten im Märchenland, in dem Reich der Verzauberung, wo die Natur selbst die Sprache der Leidenschaft redete und alles endlos groß war, ohne Grenzen.
Er entsann sich Liebmanns »Sturmgesang am Strande« und sagte sich selbst diese Strophen auf:
Gar mancher preiset dein Sankt-Hans,
Wenn du zu kurzem Sommertanz
Aufheftest dir das Nebelkleid
Mit des Südens geborgter Herrlichkeit.
Nein, lieber sing' ich dir zu Ehr',
Wenn des Nordwinds Zuchtrut' braust daher,
Hin über Berg und Tal und Bach
An einem schwarzblauen Wintertag.
Er wurde in seiner Andacht durch Lindemark gestört, der ihn mit der Peitsche auf ein sich drehendes Strahlenrad aufmerksam machte, das in gewissen Zwischenräumen über den nördlichen Himmel hinfegte.
»Das ist das Lögstruper Blinkfeuer«, erklärte er. »Und da haben wir Großhof.«
Er zeigte nach Südwesten, wo man ein einsames Licht gewahrte. In dem Schein des Feuerrades erkannte man auch die erste Dünenreihe, und durch den Sturm konnte man soeben das hohle Dröhnen des Meeres hören.
Dann donnerte es unter den Pferdefüßen. Sie fuhren über eine Brücke. Ein wenig Wasser rieselte durch das Schutzbrett in einem Schleusenwerk, und als es dem Kandidaten klar wurde, daß dies ein Glied in Herrn Lindemarks so hochberühmtem Aufforstungswerk sein müsse, erfaßte ihn eine sanfte Wehmut. Jetzt war er also wieder außerhalb des freien Tummelplatzes der Elemente und fand sie wieder mit Eisen und Riegel gebunden, als Sklaven in der Tretmühle der Zivilisation.
Zehn Minuten später rollte der Wagen über einen großen Hofplatz. Eine Stalltür, die sich auftat, wurde vom Sturm mit einem Knall wie ein Kanonenschuß gegen die Wand geschlagen, und ein Knecht kam mit einer Laterne herbeigeschlendert.
Auf der Diele wurden sie von einem rundbäuchigen Dienstmädchen empfangen, das den Fremden dumm anglotzte, ohne ihm beim Ablegen behilflich zu sein. Irgendwo hinter einer geschlossenen Tür oberhalb der Treppe bellte ein Hund mit grober Stimme. Nach einer Weile erschien eine ältere Haushälterin mit schwarzer Haube und weißer Schürze.
»Ich bringe einen Gast mit«, sagte Lindemark zu ihr. »Das Südfremdenzimmer ist wohl in Ordnung? Sorgen Sie dafür, daß dort geheizt wird. – Ist meine Frau unten?«
»Die gnädige Frau sitzt im Wohnzimmer.«
Er führte seinen Gast in ein Zimmer, das seinen Eingang direkt von der Diele aus hatte. Es wurde Licht da drinnen angesteckt, und als der Kandidat sich umsah, fühlte er sich von aufrichtiger Dankbarkeit gegen seinen Retter erfüllt. Wie einladend war es hier nicht? Ein breites Mahagonibett mit schneeweißen Vorhängen. Ein Teppich auf dem Fußboden. Zwei silberne Armleuchter auf der Spiegelkonsole. Ein kleiner Bücherschrank mit eingebundenen Büchern. – Er drückte Lindemark die Hand.
Nach einer Weile, als er ein wenig ausgepackt und sich zurechtgemacht hatte, kam sein Wirt zurück und führte ihn ins Wohnzimmer.
Hier saß Frau Lindemark in einem niedrigen Lehnstuhl unter einer Lampe mit einem großgeblümten Schirm. Sie war eine blonde Dame Mitte der Dreißiger. Sie hielt ein Buch auf dem Schoß und verbarg nicht ihr Mißvergnügen darüber, in ihrer Lektüre gestört zu sein. Lindemark stellte vor, und seine Frau grüßte schweigend, ohne dem Fremden die Hand zu reichen oder auf seine vielen Entschuldigungen, daß er hier komme und Umstände verursache, zu antworten. Mit ihren großen, grauen Augen maß sie ihn von Kopf zu Fuß mit einem gleichsam verdächtigen Blick.
Es enttäuschte den Kandidaten, daß sie nicht größer war. Er hatte sie sich in grandiosem Stil vorgestellt. Sie war nicht einmal üppig, eher mager. Dabei war sie blaß und hatte blaue Ringe unter den Augen.
Lindemark rollte einen Lehnstuhl heran. Sein Wesen trug das Gepräge starker Nervosität.
»Bitte schön – nehmen Sie Platz!«
Der Kandidat setzte sich, und nach einer längeren Pause bemerkte endlich Frau Lindemark:
»Es ist eine ungewöhnliche Jahreszeit, die Sie zu Ihrem Ausflug gewählt haben. Touristen pflegen den Sommer hier vorzuziehen.«
»Allerdings, meine gnädige Frau – aber – ich rechne meine Reise nicht zu den gewöhnlichen Touristenausflügen.«
»Nein – das ist wahr – Sie sind Gelehrter.«
»Nun, auch gerade nicht in dieser Eigenschaft habe ich mich auf diese Reise begeben.«
»Sind Sie etwa Schriftsteller? Oder Journalist?«
Der Kandidat errötete.
»Journalist bin ich auf alle Fälle nicht.«
»Wie? Sie sind Dichter?« fragte Lindemark und blieb in der Tür zu dem Nebenzimmer stehen. Und es war offenbar kein Freudenausruf.
»Nein – nein!« rief der Kandidat verwirrt. »So war es nicht gemeint!«
Die Haushälterin war währenddessen hereingekommen. Auf eine eigene schüchterne Weise näherte sie sich dem Stuhl ihrer Herrin und richtete flüsternd eine Frage in bezug auf das Abendbrot an sie. Frau Lindemark aber wies sie ab.
»Fragen Sie meinen Mann!« sagte sie kurz.
Worauf die Alte wie ein begossener Pudel Lindemark folgte, der in sein eigenes Zimmer gegangen war, um dort eine Lampe anzuzünden.
Als Frau Lindemark allein mit dem Kandidaten geblieben war, nahm sie das Buch von ihrem Schoß und begann, darin zu blättern. Es war ein gewöhnliches Leihbibliothek-Exemplar mit einem Nummerzettel auf dem Rücken, und es machte einen peinlichen Eindruck auf den künftigen Dichter, das Allerleutebuch in so intimer Berührung mit ihren schönen, weißen Händen zu sehen. Er dachte bei sich, daß so liebreizende Frauenhände beständig eine feine Duodezausgabe mit Goldschnitt oder – am allerliebsten – einen Band seiner eigenen Zukunftswerke in Elfenbein-Maroquin mit handgedruckter Vergoldung umfassen sollten.
»Kennen Sie diesen Roman?« fragte sie.
»Welchen, gnädige Frau?«
»Es ist Bitschkoffs Nathalia.«
»Ja, er ist im vergangenen Jahr bei Schubothe erschienen. Iversen hat ihn übersetzt. Es ist schon die zweite Auflage herausgekommen.«
»Wie finden Sie ihn?«
»Ich habe ihn mit großem Vergnügen gelesen. Da sind namentlich einige ganz vorzügliche Naturbeschreibungen. Aber die Russen sind wohl auch unübertroffen in bezug auf die Wiedergabe der Natur. Da ist eine Szene während eines Gewitters, wo Nathalia den Geliebten in einem verlassenen Bauernhaus erwartet. Wie der Regen gemacht ist!«
»Entsinnen Sie sich auch des Kapitels, das dann folgt?«
»Welches meinen Sie?«
»In der Nacht . . . draußen auf der Steppe. Mein Gott, können Sie sich dessen nicht erinnern?« sagte sie ungeduldig. »Martin Petrowitsch kehrt von seiner Reise heim.«
»Martin Petrowitsch!... Ach ja, ihr böser Stiefvater, freilich! Das ist da, wo er mit seinem Wagen in den Fluß hinabstürzt und ertrinkt. Nathalia und ihr Freund haben die Nägel in der Brücke gelöst, nicht wahr? Jetzt entsinne ich mich der Stelle ganz deutlich. Die unendliche Steppe . . . die Stille in der halbdunklen Nacht mit den Blitzen ringsherum am Horizont . . . das Rummeln des einsamen Wagens. Ja, das ist meisterhaft! Es rieselt einem förmlich kalt den Rücken hinab in dem Augenblick, wo er die Brücke erreicht und die Pferde die Hufe auf die nachgebenden Planken setzen und vornüber stürzen.«
»Ja, und was ist dann das Ganze?« sagte sie mit einem Achselzucken und legte das Buch weg. »Ein Roman! Eine Dichtung? . . . Die Wirklichkeit nimmt sich anders aus. Heutzutage würde eine mißhandelte Frau wie Nathalia sich damit begnügen, an einen so entscheidenden Schritt zu denken . . . vielleicht auch ein paarmal wirklich den Entschluß zu fassen, ihn zu wagen. Aber Ernst daraus zu machen . . . die Verantwortung und die Folgen auf sich zu nehmen . . . Nein, dazu fehlt uns modernen Menschen der große, rücksichtslose Mut.«
»Ich glaube, Sie beurteilen unsere Zeit nicht ganz gerecht. Ich bin überzeugt, daß wir im Begriff sind, in eine große und glänzende Epoche einzutreten, in eine Zeit der Wiedergeburt und Befreiung, wo Schranken gebrochen und Fesseln zersprengt werden. Die Zeit der großen Gedanken und der starken Gefühle ist zweifelsohne im Begriff, zurückzukehren.«
Frau Lindemark betrachtete ihn aufmerksam. Und es lag etwas seltsam Weichendes in ihrem Blick.
»Würden denn Sie es tun können?«
»Was? – gnädige Frau?«
»Falls nun – wie da in dem Roman – Ihr ganzes Glück, die Erfüllung ihres höchsten Wunsches, davon abhinge, ob Sie den Mut besäßen, eine Handlung zu begehen, die im bürgerlichen Urteil als empörend, als abscheulich betrachtet wird –«
Der Kandidat lächelte breit.
»Einen Mord, also.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Vergeltung oder Notwehr. Nathalia wurde ja von dem Stiefvater nachgestellt, der sie eingesperrt hält, um sie an der Flucht zu hindern. Bedenken Sie das!«
»Merkwürdigerweise habe ich gerade jetzt auf der Reise in dem letzten Heft der ›Zukunft‹ eine Abhandlung gelesen, in der eine ähnliche Frage mit wirklicher Überlegenheit und sehr unterhaltend behandelt wird.«
»Eine Abhandlung, sagen Sie. Wo war das?«
»Im Oktoberheft der ›Zukunft‹ – der neuen Monatsschrift. Der Artikel handelt von den konventionellen Vorurteilen und ist – wie gesagt – höchst interessant und sehr lebhaft geschrieben. Ich habe das Heft hier, und wenn Sie Lust haben, es zu lesen –«
»Sie haben es hier?« – –
Sie hatte noch mehr sagen wollen, aber im selben Augenblick kam ihr Mann aus seinem Zimmer. Und es war, als ob der Schall seiner Schritte sie zusammenfahren mache.
Auf seine verlegene Weise rieb Lindemark die Hände und sagte:
»Jetzt soll es guttun, etwas zu essen! Ob wohl bald gedeckt ist, Astrid?«
»Frage die Steensen!« antwortete sie und wandte das Gesicht ab.
Der Kandidat saß schweigend da, während er sie beide verstohlen ansah und seine Beobachtungen machte. Er war nicht im Zweifel darüber, daß er das Glück gehabt hatte, in eine eheliche Tragödie hineinzuplumpsen, die sich der Katastrophe näherte. Nur begriff er nicht, daß ihm Lindemark unter diesen Verhältnissen sein Haus geöffnet und ihn Zeugen des Elends hatte werden lassen.
Jetzt kam die Haushälterin herein und bat zu Tische. Gleichzeitig schlüpfte ein großer, gelbbrauner Pudel durch die halbgeöffnete Tür hinter ihr herein. Beim Anblick des Fremden senkte das Tier den Kopf und begann auf eine unheimliche Weise zu knurren. Die Haushälterin mußte ihn schließlich am Halsband nehmen, damit er nicht auf den Kandidaten losfahren sollte. Lindemark schalt ihn aus. Aber das machte das Übel nur schlimmer. Sobald er sich näherte, zeigte er die Zähne und gab ein grobes Bellen von sich. Erst als Frau Lindemark ihn zu sich rief, wurde er ruhig. Das große, schwerfällige Tier schlich hinter ihren Stuhl, und als sie nach einer Weile ins Eßzimmer ging, folgte er ihr auf den Fersen, boshaft nach beiden Herren schielend, die hinterdreinkamen.
Nie hatte der Kandidat an einer sonderbareren Mahlzeit teilgenommen. Sie setzten sich an einen gutgedeckten Tisch voll von soliden Schlachtereigerichten, und auf ländliche Weise langte man selbst zu. Frau Lindemark aber rührte die Speisen kaum an und zeigte sich auch ganz gleichgültig dafür, ob ihr Gast etwas bekam. In einer eigenartig erhöhten Geistesabwesenheit überließ sie dem Gatten ihre Hausfrauenpflichten und sorgte nur für den Hund, der sich neben sie gesetzt hatte und eine jede ihrer Bewegungen mit den Augen verfolgte. Verschiedene Male im Laufe der Mahlzeit hielt sie mit ihrer Gabel ein großes Stück Fleisch über ihn und ließ es, nachdem sie ihn eine Weile gefoppt hatte, in seinen offenen Rachen fallen, wo es unter gewaltigem Schmatzen seinen Rest bekam.
Während der Kandidat sich den Anschein gab, als sei er davon in Anspruch genommen, dem zu lauschen, was ihm Lindemark von seinen Aufforstungsversuchen erzählte, hatte er sie beständig unter geheimer Beobachtung und ward dabei immer mehr von ihrer Person gefesselt. Er sagte sich selbst, daß, wenn sie auch nicht die Juno war, als die er sie sich vorgestellt hatte, sie doch keine gewöhnliche westjütische Landmannsfrau sei. Er fand sie jetzt sogar hübsch, jedenfalls von höchst interessantem Äußern. Mit ihrem schwarzen, schlichten Gewand, das keinen andern Schmuck hatte als breite Leinenaufschläge um Hals und Handgelenke und dazu eine dicke, silberne Kette, die wie ein Gürtel um die schlanke Taille geschlungen war, erinnerte sie an die düsteren und stolzen Frauengestalten der Sagen, was offenbar auch beabsichtigt war. Auch das Haar war nicht nach der augenblicklichen Mode in Puffen oder in einem Knoten im Nacken aufgesteckt, sondern glatt gescheitelt und in zwei dicken Flechten um den Hinterkopf gelegt. Namentlich aber waren es die Augen und das bleiche Antlitz, die ihrer Person das Gepräge verliehen – diese großen, nebelgrauen, von einem bläulichen Schatten umrandeten Augen mit dem müden Blick.
Nach dem Essen, als sie wieder ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren, bat Lindemark seinen Gast, ihn einen Augenblick zu entschuldigen. Der Verwalter sitze in seinem Arbeitszimmer und warte auf Befehle für den nächsten Tag. Frau Lindemark setzte sich auf ihren früheren Platz an den Tisch mit der Lampe, worauf sich der Kandidat hinter einen Lehnstuhl ihr gegenüber an der andern Seite des Tisches stellte.
Sobald Lindemark gegangen war, begann er vorsichtig davon zu reden, wie mit Arbeit überlastet ihr Mann zu sein schien, und bedauerte sie, weil sie seine Gesellschaft sicher oft entbehren müßte.
Als sie nichts erwiderte, wurde er kühner und sprach nun von ihr selbst, fragte, ob sie das Leben hier in den Dünen nicht ein wenig beengt und einsam empfinde.
»Ich habe erwartet, daß Sie danach fragen würden«, sagte sie in geringschätzigem Ton und wandte sich ab. »In den zehn Jahren, die ich hier gewohnt, haben mir alle Menschen die gleiche Frage gestellt. Das wirkt auf die Dauer ein wenig komisch.«
Der Kandidat wurde verlegen.
»Verzeihen Sie, meine gnädige Frau! Aber ist das nicht auch eine Frage, die einem hier sozusagen auf die Zunge gelegt wird? Trotz der Schönheit der Gegend – die niemand mehr bewundern kann als ich – würde ich mir denken können, daß die Barschheit der Natur und der beständige Wind auf die Dauer ein wenig niederdrückend wirken können. Wenn ich eine Äußerung Ihres Herrn Gemahls bei Tische nicht mißverstanden habe, stammen Sie selbst nicht hier von der Westküste, sondern sind in der fruchtbaren Gegend von Vejle mit den herrlichen Waldungen und dem weithin berühmten Grejstal beheimatet.«
»Ich verabscheue Wälder! Ich hasse das Grejstal. Wenn ich nur den Namen höre, wird mir schon übel!«
»Gnädige Frau geben den weiten Aussichten . . . dem freien Horizont den Vorzug.«
Sie hörte nicht nach ihm hin.
»Sie reden vom Sturm. Aber ich liebe gerade den Sturm . . . und am meisten, wenn er so recht wild tobt. Ich entbehre das gewaltige Orchester, wenn es nur eine einzige Stunde schweigt. – Aber das verstehen Sie natürlich nicht.«
»Ach ja, gnädige Frau. Ich versichere Sie –«
»Einsam sagen Sie. Aber hier ist man ja gerade niemals allein. Der Wind und das Meer haben dem, der zu hören versteht, immer genug zu erzählen. Und die Rede ist bedeutend mehr wert als das Geschwätz der Menschen über die kleinen Begebenheiten des Tages. Und die Wolken? Warum spricht man niemals von denen? Sind sie nicht prächtig, wenn sie über die Heide dahergejagt kommen gleich Riesen mit flatternden Mänteln?«
»Auf Ehre, meine gnädige Frau! Ich teile ganz Ihre Ansicht. Und – gestatten Sie mir, es zu sagen – ich finde nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen in dieser Gegend bedeutend interessanter als in unserm seeländischen Idyll. Hier draußen auf den freien, weiten Strecken – das zu erfahren hatte ich bisher nie Gelegenheit – erhalten die Persönlichkeiten schärfere und eigentümlichere Konturen.«
Frau Lindemark sah mit einem forschenden Ausdruck zu ihm hinüber.
»Denken Sie an Gutsbesitzer Hansen? Mein Mann erzählte, Sie hätten ihn in der Bjirgstedter Schenke getroffen.«
»Ach – nein – nicht gerade an ihn. Aber wir trafen bei derselben Gelegenheit einen andern Herrn hier aus der Gegend – Leutnant von Hacke, den Dünenassistenten.«
Sie wurde schweigsam. Und ohne die Stellung zu verändern, wandte sie den Blick nach oben, wie jemand, der lauscht. Der Kandidat, der sie mit Augen, die ihm wie auf Stengeln aus dem Kopfe standen, beobachtete, sagte sich selbst, daß ihr Mann ihr diese Begegnung also gänzlich verschwiegen hatte.
»Ja, der Ärmste hat wohl eine Art Zuflucht dort bei den Wirtsleuten«, sagte Frau Lindemark schließlich.
»Es war ein sehr eigentümlicher Mensch«, fuhr der Kandidat fort. »Ich halte es für ein wirkliches Erlebnis, seine Bekanntschaft gemacht zu haben.«
»Freilich, Leutnant von Hacke ist etwas ganz für sich. Aber das Leben hat ihm übel mitgespielt. Unsere Zeit ist nicht günstig für dergleichen Persönlichkeiten.«
»Er hat sich wohl ein gut Teil in der Welt herumgetrieben?«
»Ja, freilich! Der Trieb nach Abenteuern hat ihm von Kindesbeinen an im Blut gelegen. Schon als er noch zur Schule ging, rannte er von Hause fort, um in fremde Kriegsdienste zu gehen. Noch nicht zwanzig Jahre alt, bekam er die Tapferkeitsmedaille. Wohl wenige Männer haben so viele wunderbare Dinge erlebt wie er.«
»Ihr Herr Gemahl meint ja freilich, daß man ein wenig vorsichtig sein und nicht alles glauben soll, was er erzählt.«
»Nun ja! Leutnant von Hacke ist wie ein Kind. Die Phantasie geht zuweilen mit ihm durch. Aber was macht das? Geträumt oder erlebt? Im Grunde kommt es ja auf dasselbe heraus. Und es gibt ja im voraus schon genug Menschen von der langweiligen Art.«
In diesem Augenblick kam die verzagte Haushälterin aus dem Eßzimmer hereingeschlichen.
»Was wollen Sie, Steensen?« fragte Frau Lindemark, und ihre Stimme wurde laut und herrisch.
Die alte Person zuckte zusammen.
»Ich wollte ein paar Stücke Torf aufs Feuer legen.«
»Machen Sie sich keine Mühe.«
Die Alte kehrte verlegen um, und als er ihre in die Höhe geschobenen Schultern von hinten sah, kam dem Kandidaten der Gedanke, daß sie gewiß draußen gestanden und ihre Unterhaltung belauscht hatte und nur hereingekommen war, um sie zu stören. Er entsann sich der Empörung, mit der Frau Lindemark vorhin, bei Besprechung des russischen Romans, Nathalias Einsperrung durch den Stiefvater zur Verhinderung ihrer Flucht erwähnt hatte, und er fragte sich selbst, ob dieser Zorn vielleicht eine persönliche Veranlassung habe. Der Gedanke versetzte seine dichterische Phantasie in lebhafte Erregung. Umgab Lindemark seine Frau mit betrauten Spionen? Saß hier ein lauerndes Ohr hinter jedem Türspalt, ein spähendes Auge an jedem Schlüsselloch? – –
Er bekam keine Gelegenheit, weitergehende Betrachtungen darüber anzustellen. Lindemark kam jetzt aus seinem Arbeitszimmer herein. Er hatte eine Papprolle in der Hand, die er auf den Tisch legte.
Im selben Augenblick, als seine Frau ihn hörte, erstarrten die Muskeln in ihrem Gesicht. Ein aufflammender Strahl von Haß, der an ein gehetztes Tier erinnerte, zuckte in ihren Augen auf. Als er sich näherte und sie vorsichtig auf die Schulter klopfte, indem er sagte: »Liebe Astrid, wir bekommen heute Abend zu Ehren unseres Gastes wohl einen Grog« – da machte sie keinen Versuch, das kalte Entsetzen zu verbergen, das sie bei seiner Berührung empfand.
Lindemark breitete seine Rolle auf dem Tisch aus und sagte, zu dem Kandidaten gewendet:
»Wollen Sie mir den Gefallen tun und sich dies ein wenig ansehen. Es ist ein Plan von meinem Gut. Ich glaube, es wird am besten sein, wenn Sie sich ein wenig damit bekannt machen, ehe wir morgen auf das Terrain hinauskommen. Es wird Ihnen den Überblick erleichtern. – Sehen Sie, hier unten in dieser Ecke liegt also Großhof, und diese bunte Linie bezeichnet die Grenzen des Gutes. Und nun muß ich Sie gleich daran erinnern, daß die ganze Gegend einstmals in längst entschwundenen Zeiten üppiges Ackerland mit Dörfern, Kirchen und großen Eichenwäldern gewesen ist, von denen man an einzelnen Stellen mehrere Fuß unter der Sandschicht noch Überreste finden kann. Mit dem bedauerlichsten Leichtsinn hat man damals diese Wälder abgeholzt, die der Gegend Schutz gegen die Zerstörungen des Sturmes und des Sandtreibens gewährten. Schließlich hat die Bevölkerung notgedrungen die Gegend verlassen und sie gänzlich der Herrschaft der wilden Naturkräfte überlassen. Nicht wahr? Es liegt etwas Niederschlagendes in dem Gedanken, daß hier in diesem Sandmeer, wo wir jetzt nur mit der äußersten Sorgfalt und dem angestrengtesten Fleiß die widerstandsfähigsten Strauchgewächse zum Wachsen bringen können – daß hier einstmals Bauern singend hinter dem hölzernen Pflug hergegangen sind – daß hier große Kornäcker gewogt – vielleicht auch Nachtigallen gesungen und Nester gebaut haben . . . Nun, mit Gottes Hilfe wird wohl einmal eine Zeit kommen, wo die milden und freundlichen Mächte des Lebens wieder Wohnung in diesen Gegenden nehmen werden.«
Er fügte dies letztere mit gedämpfter Stimme und in verändertem Tonfall hinzu, als richtete er in Gedanken die Worte an einen andern Zuhörer.
Frau Lindemark hatte sich währenddessen von ihrem Stuhl erhoben. Während der langen Auseinandersetzung ihres Mannes ging sie unruhig im Zimmer hin und her, berührte bald diesen, bald jenen Gegenstand, als werde sie von Unentschlossenheit gequält. Schließlich setzte sie sich an das offen stehende Klavier, klimperte ein wenig und begann dann den ersten Vers von Liebmanns »Sturmgesang am Strande« zu der bekannten Begleitung vor sich hin zu summen:
»Ein Hünengrab am Meer,
Der Himmel wolkenschwer,
Ein schaumumkränzter Möwenstrand –
Mein Heim, mein Vaterland!«
»Kennen Sie das Lied?« unterbrach sie jetzt ihren Mann und drehte den Kopf nach dem Kandidaten um.
»Ich kenne es nicht nur, gnädige Frau, sondern durch einen besondern Zufall ist es mir noch vor wenigen Stunden durch mein Gedächtnis gezogen. Liebmann ist mein Lieblingsdichter.«
»Auch der meine!«
Sie wandte sich wieder dem Klavier zu und sang nun mit voller Stimme alle Verse. Ihr Gesang war gänzlich ungeschult, und der Kandidat fühlte sich anfänglich ein wenig wunderlich berührt durch ihre Mißhandlung der schönen Melodie. Es währte aber nicht lange, bis ihn die Verwegenheit fesselte, mit der sie sich von dem Pathos der Worte hinreißen ließ:
»Gar mancher preiset dein Sankt-Hans,
Wenn du zu kurzem Sommertanz
Aufheftest dir das Nebelkleid
Mit des Südens entliehener Herrlichkeit.
Nein, lieber sing' ich dir zu Ehr',
Wenn des Nordwinds Zuchtrut' braust daher,
Hin über Berg und Tal und Bach
An einem schwarzblauen Wintertag.
Noch lieber aber grüßte ich
Am herbstlichen Abend im Boote dich,
Wenn der Tag verglimmt, und des Meeres Flut
Tiefrot wird gefärbt von der Sonne Glut.
Umbrause, du salzige nordische See,
Das Hünengrab dort auf dänischer Höh',
Und ein Hünengeschlecht, gewaltig wie du,
Erweck uns noch einmal aus unsrer Ruh'!«
Der Kandidat sah verstohlen zu Lindemark hinüber, der auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Er saß hier mit gesenktem Kopf, die Hände auf den Knien, als wäre er in Hoffnungslosigkeit versunken.
Als der Gesang beendet war, erhob sich Frau Lindemark mit trotziger Haltung und ging auf die Tür zu.
»Gehst du schon hinauf, Astrid?« fragte Lindemark flehend.
Sie antwortete ihm nicht, nickte dem Kandidaten Gute Nacht zu und verließ das Zimmer.
Der Kandidat schlug die Augen nieder, als sie gegangen war. Lindemark tat ihm leid, und er konnte sich nicht entschließen, ihn anzusehen, als dieser seinen Plan nun wieder ausbreitete, um seine Erklärung fortzusetzen.
Dies geschah nun auch auf eine sonderbar springende Weise, die seine Geistesabwesenheit verriet. Ein paarmal hielt er völlig inne und erhob den Kopf, als horche er nach etwas. Als die Haushälterin mit der Groganrichtung hereinkam, wandte er sich an sie und sagte:
»Es war mir, als wenn meine Frau geschellt hätte.«
»Ja, Rolf soll hinaufkommen. Er war unten in der Küche, und gnä' Frau wollten –«
»Es ist gut!« unterbrach er sie schnell und errötete bis über die Stirn. »Ach, sehen Sie doch, bitte, gleich einmal nach dem Ofen.«
Noch eine Stunde saßen die beiden Herren allein in dem großen Zimmer und rauchten. Aber trotz des Grogs schleppte sich die Unterhaltung nur langsam hin. Als die Uhr auf dem Sekretär zehn schlug, sagte Lindemark:
»Ja, jetzt müssen Sie verzeihen. Hier an der Westküste gehen wir früh zur Ruhe. Sie zürnen mir ja nicht, weil ich das so gerade heraussage.«
Er leuchtete seinem Gast selbst in das Fremdenzimmer am andern Ende der Diele hinüber und sagte Gute Nacht. Aber mochte nun die Gemütsbewegung schuld daran sein oder die ungewohnte westjütische Kost, der Kandidat wurde plötzlich von einer Unruhe in seinem Magen aufgeschreckt und sah sich gezwungen, seinen Gastfreund zu bitten, ihm den Weg zu dem verborgenen Ort zu zeigen, der in jedem wohlgeordneten Hause der Einsamkeit geweiht ist.
Lindemark rief eine Magd herbei – begleitet von dem rundbäuchigen Küchenmädchen, das eine Laterne trug, mußte er eine abenteuerliche Wanderung über den Hofplatz und durch eine finstere Gasse zwischen Stallgebäuden vornehmen, wo die Gewalt des Sturmes nahe daran war, ihn umzureißen, dann weiter, vorüber an einem großen Schuppen und einem Dunghaufen, über dem eine Reihe von Schubkarren lag, die sich mit ihren in die Höhe gestreckten Armen im Mondschein ganz gespensterhaft ausnahmen.
Als er endlich seinen Bestimmungsort erreichte, dankte er seiner Begleiterin und verschwand in dem Verschlag.
In ihrer ländlichen Treuherzigkeit blieb die Magd mit der Laterne in der Hand draußen stehen und wartete, und diese Aufmerksamkeit hatte zur Folge, daß er sich auf dem Rückwege in eine Unterhaltung mit ihr einließ, soweit der Sturm es gestattete. Es waren jedoch äußerst mundfaule Antworten, die er auf seine Fragen nach Großhof und seinen Bewohnern erhielt. Namentlich war die Magd gänzlich abgeneigt, sich über ihre Herrin zu äußern. Jedesmal, wenn er versuchte, sie über die Familie auszuforschen, antwortete sie unabänderlich: »Dat weet ik nich'.« – »Dor weet ik nichts nich' von.«
Weiter kam er auf diesem Wege nicht mit ihr. Und nun waren sie auch wieder beim Wohnhaus angelangt, wo Lindemark auf der Diele stand und wartete. Der Kandidat dachte das Seine dabei, als er sah, wie Lindemark sich persönlich vergewisserte, daß die Haustür sicher verschlossen und die eiserne Stange davorgelegt war.
Niemals hatte der Kandidat eine fürchterlichere Nacht verbracht. Obwohl das Bett weich war wie ein Vogelnest, konnte er nicht einschlafen infolge des Sturmes, der sich um Mitternacht mit einer Gewalt erhob, so daß er schließlich aufstand und zum Fenster hinausguckte, um zu sehen, ob nicht die Welt im Begriff sei, unterzugehen. Ein heulender, brüllender und röchelnder Chor ertönte rings um ihn her. Es war, als befände er sich auf dem Boden der Hölle. Wenn er von Zeit zu Zeit, überwältigt von seiner Müdigkeit, einschlummerte, wurde er im Traum von allen Schrecken des Todes erschüttert. Er phantasierte von wilden Urwaldbestien, die sich um das Haus scharten, um ihn zu zerreißen. Er träumte von fauchenden Riesentigern, die vom Dachfirst herabgeschlichen kamen, von fabelhaften Elefanten, die in ihrer Wut die breiten Stirnen gegen die geschlossenen Türen des Hauses rammten; von großen Horden von Flußpferden, die in einer Wolke von aufgewirbeltem Sand draußen vom Meer her über die Dünen gestampft kamen und ein schreckliches Kampfgebrüll aus ihren rosenroten Schlünden ausstießen.
Am nächsten Morgen, als er zum Frühstück hereinkam, fand er die Stuben leer. Nur die alte Haushälterin schlich mit dem Staubbesen umher. Als er sie fragte, ob die Herrschaften schon auf seien, antwortete sie, der Herr sei in den Stall hinübergegangen.
»Und die gnädige Frau?«
Die Alte sah ihn mit ein paar guten, traurigen Augen unsicher an.
»Gnä' Frau steht erst später auf . . . nich' vor Mittag«, sagte sie auf eine Weise, als habe sie es eigentlich nicht sagen wollen. »Das hat der Doktor ihr verordnet, glaub' ich«, fügte sie auch schnell hinzu.
»Ist die gnädige Frau krank?«
»Ach nein – so eigentlich krank –« murmelte sie und schickte sich an, eifrig die Bücher auf Lindemarks Schreibtisch zu ordnen, als sei sie bange, daß sie sich wieder verplappern könne.
Im selben Augenblick steckte ein Mädchen den Kopf zur Tür herein und rief mit Angst in der Stimme:
»Steensen, schnell . . . Gnä' Frau klingelt!«
Die alte Person warf sofort die Bücher, die sie in der Hand hatte, hin und eilte hinaus. Draußen auf dem Gang lief sie in der Eile gegen eines der andern Mädchen des Hauses, das ebenfalls rief: »Schnell, Steensen . . . Gnä' Frau hat geklingelt.« Es war, als verbreiteten sich auf einmal Unruhe und Entsetzen über das ganze große Haus.
Nach einer Weile kam Lindemark vom Hof herein. Er begrüßte seinen Gast herzlich und schien erfreut, ihn zu sehen. Und doch wollte es dem Kandidaten scheinen, als sei er noch ernsthafter als am vorhergehenden Tage. Es sah so aus, als sei auch für ihn die Nacht ein Kampf mit bösen Träumen gewesen.
Gleich nach dem Frühstück machten sie zusammen eine Wanderung über das Gebiet von Großhof. Der Sturm war noch immer sehr heftig, und sie hatten ihn gerade in den Augen. Im Südwesten, von woher der endlose Zug von schmerbäuchigen Wolken sich über das Land hereinwälzte, begann es, sich ein wenig aufzuklären. Das bedeute, sagte Lindemark, daß sich der Wind gegen Abend legen werde.
Um einen Überblick über die Gegend zu gewinnen, bestiegen sie zuerst einen länglichen Dolmen, der auf dem nächsten Felde lag, nicht weit von der umfangreichen Gruppe der Wirtschaftsgebäude. Sie befanden sich hier am Rande einer großen Wiesenstrecke, durch die ein Bach floß. Die Wiese war die Kreuz und die Quer von Gräben durchzogen, die durch ein verwickeltes System von Schleusenwerken miteinander in Verbindung standen. In der Ferne sah man die weißgrauen Dünen.
Dann machten sie sich auf den Weg nach der Anpflanzung, die im Westen längs der Dünengrenze lag. Es war eine lange und beschwerliche Wanderung über sandige Felder und aufgebrochene Heide. Sie mußten sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Wind anstemmen, und ein paarmal blieb der Kandidat stehen, weil ihm der Atem ausging.
»Das ist wahr!« rief Lindemark, der die ganze Kraft seiner Stimme anwenden mußte, um den Sturm zu übertönen. »Ich darf ja nicht vergessen, Ihnen zu sagen, daß heute morgen ein reitender Bote von Gutsbesitzer Hansen auf Sandhof hier war – Sie erinnern sich seiner wohl noch von gestern abend. Morgen ist Frau Hansens Geburtstag, und meine Frau und ich sind schon lange dazu eingeladen. Der Bote brachte den Bescheid, daß Sie natürlich herzlich willkommen wären, falls Sie sich uns anschließen wollten.«
Der Kandidat dachte ein wenig über die Sache nach. Er hatte im Grunde wohl Lust, Gebrauch von der Einladung zu machen. Wenn Frau Lindemark mitfuhr, so geschah das sicher, weil auch Leutnant von Hacke da sein würde, und die Aussicht, einer Begegnung zwischen den beiden beizuwohnen, wirkte verlockend. Aber er fand es unbescheiden, so lange hier zu bleiben. Auch hatte er schon gesagt, daß er gleich nach Tische aufbrechen wolle.
Indessen kam Lindemark allen Einwendungen zuvor, indem er erklärte, daß sowohl seine Frau als auch er selber es als Beweis dafür auffassen würden, daß er sich auf Großhof wohlfühle, wenn er sich entschlösse, seine Abreise hinauszuschieben; und als der Kandidat dessen ungeachtet ein wenig mit der Antwort zögerte, drang er so kräftig in ihn, daß dem jungen Manne ganz wunderlich dabei zumute wurde. Er fragte sich selbst, welchen Gedanken Lindemark wohl dabei haben könne, daß er ihn unter den augenblicklichen unglücklichen Verhältnissen in seinem Hause behalten wollte. Geschah es in der Hoffnung, daß er als Blitzableiter wirken würde? Oder war es jene Absicht, ihn als kleinen Harfenspieler David zu verwenden, der durch seine Unterhaltung den schwermütigen, finstern Sinn seiner Frau erheitern sollte?
Er dankte für die Freundlichkeit und versprach zu bleiben. Und nun gingen sie eine Weile nebeneinander her, ohne zu sprechen. Der Weg wurde immer beschwerlicher. Sie wateten bis über die Knöchel in Sand. Und immer deutlicher hörte man durch den Sturm das tiefe, gleichsam unterirdische Dröhnen des Meeres.
Endlich erreichten sie die »Plantage« und stiegen auf einen Hügel hinauf, um die ganze Anpflanzung übersehen zu können. Es war, als stünden sie mitten in einem kriegerischen Verhau. Überall im Heidekraut waren Löcher von Spatentiefe gegraben, und in einem jeden stand eine kleine Fichtenpflanze, die nicht weit über dem niedrigen Wall von aufgegrabenem Sand aufragte, der an der West- und Nordseite des Loches lag, um Schutz zu gewähren. Nur draußen, der See zunächst, wo die großen Dünen den Wind abfingen, war die Anpflanzung an einigen Stellen wie ein zwergartiger kleiner Nadelwald aufgeschossen.
Lindemark kehrte dem Wind den Rücken zu und zeigte mit dem Stock in die Runde, nannte Zahlen und erklärte. Da draußen, fern im Osten schwebten die vielen Gebäude von Großhof und sein minarettartiger Meiereischornstein gleich einer Luftspiegelung über der großen, kahlen Wüstenlandschaft.
»Sehen Sie die Senkung im Terrain vor Großhof? Denken Sie sich dies natürliche Bassin mit dem Ablaufwasser aus dem Überrieselungswerk angefüllt. Es entsteht, mit andern Worten, ein See, der so zu liegen kommt, daß das Wohnhaus sich darin spiegelt. Stellen Sie sich dann vor, daß die Bepflanzung um den See zu einem Wald herangewachsen ist . . . Das kann ganz hübsch werden, nicht wahr? Der größte Teil von dem, was jetzt Heide ist, wird zu der Zeit unter dem Pflug sein. Das übrige wird bepflanzt werden. Der Fichtengürtel hier längs der Düne wird einmal imstande sein, die Macht des Westwindes zu brechen. Bisher bin ich noch nicht sehr weit gekommen – wie Sie sehen. Ich hatte ja freilich von Anfang an geglaubt, daß es bedeutend schneller vorwärtsgehen würde. So habe ich das ganze Stück hier nicht weniger als viermal umpflanzen müssen. Es geht mit der Urbarmachung in der Natur wie mit jeglicher andern Erziehung: Es gilt in erster Linie, die Gabe der Geduld zu besitzen.«
Auf seine stille Weise fuhr er fort, seine Zukunftshoffnungen zu entwickeln. Während ihnen der Sturm höhnisch in die Ohren pfiff und das dumpfe Dröhnen der Brandung sich wie eine finstere Drohung in seine Rede mischte, stand er hier so zuversichtlich und bekannte seinen Glauben an den endlichen Sieg der guten und lebenbewahrenden Mächte.
Aber sein Ton klang wehmütig. Er sagte es geradeheraus, daß er die Hoffnung aufgegeben habe, seine Träume vollkommen verwirklicht zu sehen. Aber für die Nachwelt zu arbeiten, sei auch eine große Freude.
»Wie lange ist es her, seit Sie anfingen?« fragte der Kandidat.
»Gut zehn Jahre. Gewissermaßen schulde ich meiner Frau die Idee zu dem Unternehmen.«
»Ihrer Frau?«
»Wie ich Ihnen gewiß erzählt habe, stand die Wiege meiner Frau in einer der berühmtesten Waldgegenden Dänemarks. Als wir uns verlobten, kam mir der Gedanke, den Versuch zu machen, ihr einen Ersatz für die Schönheit zu schaffen, auf die sie um meinetwillen verzichtete. Mit der Vertrauensseligkeit, die ein junges Glück zeitigt, bildete ich mir damals ein, daß ich im Handumdrehen ein Ergebnis würde hervorzaubern können.«
»Auf die Weise ist die ganze Anlage also eine Art Morgengabe für Ihre Frau Gemahlin?«
»So können Sie es gern nennen. Ich habe die Plantage auch nach ihr benannt.«
»Ich habe übrigens den Eindruck gewonnen, daß Ihre Frau sich allmählich ganz in die Verhältnisse hier eingelebt hat und das Idyll ihrer Heimatgegend gar nicht mehr entbehrt.«
Lindemark wurde aufmerksam.
»Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Die gnädige Frau erwähnte es gestern. Sie liebe die Gegend hier, sagte sie, und gerade um ihrer wilden Rauheit willen.«
Lindemark schlug die unruhig fragenden Augen nieder und verstummte. Dann stiegen sie den Hügel hinab und begaben sich auf den Heimweg.
Der Kandidat bereute jetzt, was er gesagt hatte. Er hatte auf diesem Spaziergang eine andere Anschauung über den Charakter seines Wirtes bekommen. Dieser sanfte, melancholische Mann konnte sicher kein Haustyrann sein, geschweige denn ein Henkersknecht, der aus Eifersucht sein Heim zu einem Gefängnis machte. Der Kandidat fing an, den Umfang seines Unglücks zu verstehen und Mitleid mit ihm zu empfinden.
Sie kehrten rechtzeitig zum Mittagessen zurück, aber als sie zu Tische gingen, stellte es sich heraus, daß der Stuhl der Hausfrau leer stand und ihr Gedeck weggenommen war. Lindemark machte eine Entschuldigung in ihrem Namen. Sie habe diese Nacht nicht gut geschlafen, erklärte er, und sei deswegen in ihrem Zimmer geblieben.
Gleichzeitig brachte er eine Entschuldigung vor, weil er gleich nach Tische fort müsse. Zwischen seinen vielen Vertrauensposten war auch der des Taxators des Kreditvereins, und er müsse notgedrungen bei einem Visitationsgeschäft auf einem eine Meile entfernten Gute zugegen sein.
So war denn der Kandidat den ganzen Nachmittag sich selbst überlassen. Und da er zu müde war, nun wieder hinauszugehen, verbrachte er die Zeit in seinem Zimmer, wo er in einem großen Lehnstuhl saß und las.
Er hatte den Bücherschrank untersucht und zu seiner Überraschung ein Originalausgabe-Exemplar von Bentsens Märchendrama »König Tag und Königin Nacht« gefunden. Es war ihm eine Wonne, dieses Hauptwerk dänischer Literatur in seiner ursprünglichen, spartanischen Ausstattung in der Hand zu halten, in der alten Frakturschrift gedruckt, wie man sie jetzt nur noch in volkstümlichen Kalendern sieht. Und während er sonst fast alle Poesie geringschätzte, die vor Liebmann lag, ließ er sich allmählich von dem Wohlklang der Verse hinreißen.
Die lange Personenliste versetzte ihn sofort in Stimmung: »König Tag, 20 Jahre; Königin Nacht, 15 Jahre; Wind, Hofmarschall; Dämmerung, ein Herold; Sternendeuter, Opferpriester, ein Hofnarr, ein alter Mann mit einem Buckel; Meister Schmiedehammer, Geselle Blasebalg; eine erhängte Frau; eine tausendjährige Eiche, Luftgeister, Erdgeister; ein blasser Mann; Nymphen, drei Nachtigallen, Chor der Wellen, eine Stimme von oben, ein Henker, zwei Henkersknechte usw.« – das war eine Speisekarte, bei der einem literarischen Feinschmecker schon das Wasser im Munde zusammenlaufen konnte in Erwartung gewürzter Genüsse.
Er genoß mit Kennermiene die wirkungsvolle Einleitung, wo zwei Waldnymphen in einer stürmischen Mondscheinnacht am Ufer eines klingenden Baches eng umschlungen im Gebüsch sitzen. Sie zittern vor Kälte, obwohl sie sich ganz in ihr langes, aufgelöstes Haar gehüllt haben, das die nackten Leiber wie ein Mantel bedeckt. Die eine ist blond, die andere dunkel; und die erstere ist ebenso sanft und wehmütig, wie die andere schlagfertig und derb ist. In mustergültigen Versen schütten sie einander ihre Herzen aus und klagen über die prosaische Zeit, die sie zu trauriger Einsamkeit und zu Vergessenheit verurteilt hat. In einem Wechselgesang erzählen sie einander überlieferte Sagen aus den Tagen ihrer Urgroßmütter, als selbst die Götter um die Gunst der Nymphen warben und die Wälder zu ihrer Ehre von den frohen Gesängen der Jugend widerhallten.
Die Unterhaltung stockt, als ein Notschrei durch das Sturmgesause bis zu ihnen dringt. Die Blonde zuckt zusammen und fragt ängstlich, was das sein kann.
»Oh, das ist die Eulenmutter in Kindesnot.
Ihr Liebesgetändel sie jetzt wohl bereut!«
Also tröstet die dunkle Nymphe ihre erschreckte Freundin, und diese ziemlich gewagten Worte, die anstößig gewesen sein würden, wenn sie einer Sudelmagd in den Mund gelegt worden wären, werden den jungen Mädchen in den Erziehungsanstalten vorgelesen, weil es Nymphensprache und Poesie ist.
Jetzt gibt sich die Blonde ganz ihrer Verzweiflung hin, wirft sich der Freundin um den Hals und vertraut ihr ihr Unglück an.
Dies besteht bekanntlich darin, daß sie sich in den jungen König Tag verliebt hat, der in wechselnden Verkleidungen einsam und unbekannt in seinem Reich umherwandert, um Heilung für sein krankes Gemüt zu finden. Er ist ein verschlossener, träumerischer Geist. Er leidet an dem, was man in der romantischen Dichtung feierlich Melancholie und Weltverachtung nennt, in der Sprache des täglichen Lebens aber korrekter als Magenkatarrh und Mangel an Pepsin bezeichnet. Er wird von der fixen Idee verfolgt – die auch die des Dichters zu sein scheint –, daß er durch seine Forschungen in den Werkstätten der Natur und der Weisheit zu hellsehend geworden ist, so daß er die Leere aller Dinge durchschauen kann.
Deswegen hat er jetzt seinen gelehrten und glänzenden Hof, sein alchimistisches Laboratorium, seine Sternendeuter und seine adeligen Geliebten verlassen, um zum Volk hinabzusteigen und aus der Quelle der heiligen Einfalt zu trinken, von der man in der Welt der Poesie stets eine ähnliche Wirkung erwartet wie in der wirklichen von einer Karlsbader Kur.
Die blonde Waldnymphe erzählt ihrer Freundin, daß sie vor kurzem dem König begegnet ist, als er eines Tages, als junger Bauer verkleidet, durch den Wald gewandert kam. Auf den allerersten Blick hatte sie sich in seine schöne Person verliebt, was, wenn es einem gewöhnlichen Frauenzimmer geschehen wäre, totsicher anstößig gewesen sein würde, wohingegen es in der höheren Poesie und zwischen Rangpersonen der Geisterwelt gerade das Zeichen der erhabensten Liebe ist.
Der vermummte König ist unglücklicherweise in seine eigenen, finstern Gedanken vertieft gewesen und hat sie gar nicht gesehen.
»Ach, nicht schaut er die bleiche Maid der Nacht.
– was so zu verstehen ist, daß der Blick des Königs noch geblendet ist von dem falschen Schein des Tages, sein Sinn ist noch zu sehr nach außen gewendet, um das dunkle Innere des Daseins zu fassen, jene mystische Nachtseite der Menschenseele, von der so manch ein Dummkopf in der Vergangenheit und der Gegenwart fabuliert und fistuliert und sich dadurch einen dauernden Ruf für Tüchtigkeit geschaffen hat.
Jetzt ergreift – zur Überraschung uneingeweihter Leser – eine alte Eiche das Wort, jedoch erst, wie es scheint, nachdem sie sich rücksichtsvoll geräuspert hat (»Wie seltsam kracht es in dem Baum!«).
Die alten Eichen treten in der Poesie immer als Sprachrohr des weitschauenden Geistes, der graubärtigen Weisheit, auf:
»Hell blitzt aus der Erinnerung Nacht
Des Glückes Gold in tiefem Schacht,
Niemand es sich dienstbar macht!
Zu der Hoffnung blauen Höhen
Junge Herzen pochend flehen.
Kennen nicht des Lebens dunkle Pfade.
Fürcht dich nicht in der Not,
Bitter nur ist Wintertod –
Und im Hoffen hegt noch Gnade!«
So beginnt sie ihren berühmten Gesang, in dem, wie man sagt, eine tröstliche Lebensphilosophie für den enthalten sein soll, der so glücklich ist, zu verstehen. Aber nun mischt sich ein Chor von jubelnden Naturgeistern in die dunkle Rede der Eiche. Es tönt aus der Luft, aus den Wolken, aus dem Walde, und die Wellen des Baches summen:
»Wir Wellen gehn
Auf Silberzehn
Wir gleiten
Und schreiten
Den Blümlein zur Seiten«
Währenddessen sind die herzzerreißenden Notschreie immer näher gekommen. Und nun stürzt ein schreckgelähmtes Bauernmädchen – die Martha des Personenverzeichnisses – mit wirr aufgelöstem Haar auf die Bühne. Sie ist auf dem Wege zu dem großen Bauernfest, das im zweiten Akt des Dramas dargestellt wird, hat sich aber im Walde verirrt und ist vor Angst wahnsinnig geworden. Einen Augenblick steht sie zitternd da und lauscht. Sie glaubt sich verfolgt und redet wirre Worte von schwarzen Gestalten mit blutroten Augen. Dann stößt sie abermals einen Schrei aus und will weiterlaufen, strauchelt aber über eine Baumwurzel und fällt in eine todähnliche Ohnmacht.
Orchester.
Unter sanfter Musik kommen die beiden Nymphen, die hinter einem Busch Zeuge dieses Auftritts gewesen sind, wieder zum Vorschein. Sie umkreisen sie tanzend, bestreichen sie mit Mohnsaft. Plötzlich ruft die Dunkle aus:
»O Schwester, sieh der goldnen Locken Flut,
Sie strömen nieder, teilen in zwei Lager sich,
Und diese bleiche Wang', den schlanken Hals,
Das Grübchen in des Kinnes weicher Rundung –
Es ist, als sähe ich dein eignes Bildnis,
O Schwester, in des Baches Wasser abgespiegelt.«
Mit welchen Worten sie – kurz und gut – ausdrücken will, daß sie eine auffallende Ähnlichkeit zwischen ihrer Freundin und dem verunglückten Bauernmädchen findet. Hiermit wird bekanntlich die Handlung des Dramas in Bewegung gesetzt. Sie macht der bleichen Maid der Nacht den Vorschlag, die Kleider des Mädchens anzulegen. In dieser Verkleidung, mit der sie auch dem ungeöffneten Menschenauge sichtbar wird, soll sie sich nach der Dorfschenke begeben, wo das vorhin erwähnte ländliche Fest gefeiert wird und wo sich auch der junge König einfinden soll.
Während sich das Mädchen entkleidet und der blonden Nymphe dessen Kleider anzieht, tönt es wieder aus der Luft, und die musikalischen Wellen des Waldbaches fallen ein:
»Wir Wellen gehn
Auf Silberzehn,
Wir gleiten,
Wir schreiten
Den Blümlein zur Seiten.«
Hier unterbrach der Kandidat die Lektüre. Ein Wagen war auf den Hof gefahren, und nun hörte er Lindemarks Stimme draußen auf der Diele. Gleich darauf wurde er zum Abendessen gerufen. Frau Lindemark war jetzt aus ihrem Zimmer heruntergekommen, und in der großen, kalten Eßstube wiederholte sich nun genau dieselbe Szene vom vorhergehenden Tage. Ohne sich um den Gast zu kümmern, fütterte sie ihren Hund und belustigte sich damit, ihn nach den guten Bissen schnappen zu lassen, die sie ihm auf ihrer Gabel hinhielt.
Nach Tische kehrten sie und der Kandidat ins Wohnzimmer zurück, während Lindemark mit dem Verwalter in seinem Arbeitszimmer nebenan eine Besprechung hatte.
Frau Lindemark nahm ihren Platz in ihrem niedrigen Lehnstuhl unter der Lampe, und so wie am vorhergehenden Abend stellte sich der Kandidat hinter einen Stuhl auf der andern Seite des Tisches. Mit einiger Mühe kam eine Unterhaltung in Gang.
Frau Lindemark erinnerte ihn an die begeisterten Worte, die er über ihre Heimat geäußert hatte, und fragte, ob er sich dort längere Zeit aufgehalten habe.
»Ich muß gestehen, gnädige Frau, daß ich selbst niemals da gewesen bin. Aber ich hatte eine alte Tante, die in ihrer Jugend dort gelebt hat. Sie war voll Lob über Vejle, über die Umgebung des Städtchens wie auch über seine Bewohner.«
»Dann hat sie sicher auch von meinem Großvater erzählt. Er war zu jener Zeit der Mann, von dem in Vejle am meisten geredet wurde.«
»Darf ich fragen . . . wie war der Name Ihres Herrn Großvaters?«
»Kapitän Junge. ›Der Kaperkapitän‹ wurde er übrigens meist genannt.«
»Der Großvater der gnädigen Frau war nicht Offizier?«
»Nein, er war Kapitän auf seinem eigenen Schiff – ›der Seeadler‹ hieß es. Haben Sie nicht davon gehört?«
»Ich entsinne mich nicht –«
»Es war wohl nur eine kleine Schute – aber zweimal hat er damit die Erde umsegelt, und ich glaube wohl, daß er ringsumher auf der Welt viele galante Abenteuer erlebt und auch allerlei mysteriöse Dinge auf diesen Reisen unternommen hat. Ich entsinne mich, daß von einer Verbindung mit Sklavenhändlern an der Goldküste geflüstert wurde. Ein Wagehals war er auf alle Fälle. Ein Mann mit Temperament. Es hat mich oft belustigt, an die entsetzten Mienen zu denken, die die Leute aufsetzten, wenn sie von ihm sprachen.«
Der Kandidat ertappte sich darauf, daß auch er große Augen zu ihrer Erzählung machte. Er war nicht wenig überrascht über den Familienstolz, der hier zu Worte kam. Aber jetzt kam Lindemark aus seinem Zimmer herein, und nach einer Weile erhob sich seine Frau und sagte Gute Nacht.
Bald darauf brachen auch die andern auf. Mit ländlicher Ungeniertheit sah Lindemark nach seiner Uhr und erinnerte daran, daß es Schlafenszeit sei. Ringsumher im Hause war es still geworden. Man hörte nicht mehr das Holzschuhgeklapper der Küchenmägde unten im Keller. Ein paar Türen waren mit schwerem Dröhnen geschlossen worden. Die Leute waren zur Ruhe gegangen.
Als der Kandidat in seinem Zimmer Licht angezündet hatte und das Rouleau herunterlassen wollte, verfiel er in Sinnen und betrachtete den Mond, der über einer Wolkenbank am östlichen Himmel stand. Das Fenster lag nach einer Ecke des Gartens hinaus, wo einige armselige Sträucher hinter einem Erdwall im Schutz gegen den West- und Nordwind aufgewachsen waren. Lindemarks Voraussagung in bezug auf das Wetter hatte Stich gehalten. Der Sturm war im Begriff, sich zu legen. Vorläufig spukte er jedoch noch mit vielen sonderbaren Geräuschen um den Giebel herum.
Plötzlich spitzte er die Ohren und wandte sich um. Von der Treppe zur oberen Etage, wo die Schlafzimmer lagen, klang grobes Hundegebell herab, das ihm zu erkennen nicht schwer wurde. Es war der große Köter der Gnädigen. Auch Lindemarks Stimme konnte er von einer Stelle ganz am andern Ende des Hauses hören. Lindemark schien das Tier durch Drohungen zum Schweigen bringen zu wollen, aber je mehr er es beschwichtigte, um so rasender wurde es. Da hörte man dort oben eine Tür hart ins Schloß werfen, und nach einer Weile beruhigte sich der Hund.
Der Kandidat dachte das Seine dabei. »Ach ja«, sagte er zu sich selbst, indem er anfing, sich zu entkleiden. »Dies ist wirklich ein großer Jammer.«
Mit einem wahrhaft unheimlichen Gefühl kroch er unter das Deckbett und versuchte, einzuschlafen. Und als ihm das nicht gelang, weil sein Sinn zu unruhig war, zündete er wieder ein Licht an und machte sich daran, in »König Tag und Königin Nacht«, das er auf dem Nachttisch liegen hatte, weiter zu lesen.
Er war zu dem komischen Intermezzo gelangt, das in den ersten Akt des Dramas nach der großen Umkleidungsszene der Nymphen eingeschoben ist. Die blonde Maid ist in den Kleidern des Bauernmädchens fortgegangen, und hereinhumpelt jetzt, eine Laterne in der Hand, der Vertreter der Philisterei und der stumpfsinnigen Vernunft im Stück, Herr Literat Klexmeier, ein jämmerlicher Krüppel, der sich auf die Beschäftigung gelegt hat, seiner Zeit Moralpredigten zu halten, Ungerechtigkeiten zu rügen, Mißbräuche aufzudecken, Torheiten zu geißeln und allerlei spießbürgerliche Tugenden zu preisen.
Auch er befindet sich auf dem Wege nach dem ländlichen Fest und hat sich in dem Märchenwalde verirrt. Er schäumt vor Wut und schwört, daß er nie wieder einen Fuß über das Straßenpflaster hinaussetzen will. Obwohl der Hintergrund-Vorhang im selben Augenblick aufgeht und eine mondbeschienene Wiese erblicken läßt, in deren Nebeln ein anmutiger Elfentanz aufgeführt wird, verflucht er die Dunkelheit und gelobt sich, einen Band Satiren über die wieder ins Leben gerufene Stimmungspoesie und Mondscheinlyrik schreiben zu wollen.
Die Vergeltung für diese poetische Ketzerei bleibt denn auch nicht aus.
Als er sich am Fuße der philosophischen Eiche niederlegen will, um ein mitgebrachtes Brot zu verzehren, gewahrt er beim Schein der Laterne das ohnmächtige, schlafende Bauernmädchen, das nackend im Gras ausgestreckt liegt. Anfänglich glaubt er, daß es eine Leiche sei, und flieht entsetzt. Die Neugier treibt ihn aber zurück, und als er sieht, daß das Mädchen atmet, geht eine Verwandlung mit ihm vor. Der ehemalige Materialist und Leugner kniet andachtsvoll neben seinem Fund nieder und ist plötzlich nicht mehr im Zweifel darüber, daß er das Glück gehabt hat, eine schlafende Waldnymphe zu überraschen.
Jetzt folgt die Szene in der Dorfschenke, bei Vater Ister, wo die Klarinetten klingen und die Jugend tanzt. Von Liebe entbrannt, verfolgt der König im Gedränge eine bleiche und schüchterne Maid und befreit sie schließlich aus der zudringlichen Umarmung eines betrunkenen Bauernburschen, dem Bräutigam der richtigen Martha, der Forderungen an sie und sein Bräutigamsrecht macht. Es kommt zu einer Prügelei. Ein Messer blitzt in der Luft, und der König stürzt zu Boden.
Weiter kam der Kandidat nicht. Er war aufmerksam auf einen leisen, dumpfen Laut geworden, auf ein Pochen, das er anfänglich vom Sturm hervorgerufen glaubte, weshalb er nicht weiter darauf geachtet hatte, das ihn aber jetzt beunruhigte, weil es sich auf eine Weise wiederholte, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, daß es von Menschenhand herrührte.
Er richtete sich auf dem Ellbogen auf und starrte nach dem Fenster hinüber, wo er das Rouleau herabzulassen vergessen hatte. Von dort her war der Laut gekommen. Und plötzlich fühlte er, wie sein Herzschlag stockte und die Haare ihm zu Berge standen. Er gewahrte draußen ein Antlitz, ein bleiches Oval, das wie an die Fensterscheibe gepreßt wirkte.
Viele Sekunden währte es jedoch nicht, bis er den mächtigen Schnurrbart und das blutrote Halstuch des Dünenassistenten erkannte. Großer Gott! dachte er. Was will der verrückte Mensch hier? Schnell stieg er aus dem Bett, zog einige Kleidungsstücke über und öffnete das Fenster mit großer Vorsicht, um niemand im Hause zu wecken.
Ein sausender Wind fuhr ins Zimmer, löschte das eine Licht im Armleuchter auf dem Nachttisch und füllte die weißen Gardinen, so daß sie sich blähten wie ein paar Segel.
»Hab' ich Sie erschreckt, Verehrtester?« sagte der Leutnant mit gedämpfter Stimme. »Pardon! Ich kam ganz zufällig hier vorüber und sah, daß noch Licht bei Ihnen war. Hab' ein bißchen promeniert bei dem schönen Wetter. Da fiel mir ein, daß ich die Gelegenheit benutzen könnte, um Ihnen eine Entschuldigung wegen meines gestrigen Benehmens zu machen. Offen gestanden, ich hatte ein bißchen zuviel getrunken . . . Das kann ja dem Besten passieren, nicht wahr? Und ich glaube nicht, daß ich meiner Ehre etwas damit vergebe, wenn ich einem Gelehrten – einem philosophischen Forscher – eine Entschuldigung ausspreche. Sie lagen, wie ich sah, gerade da und studierten. Irgendein sehr gelehrtes Werk natürlich. Ich hoffe, wie gesagt, Sie werden mich, einen älteren Kavalier, pardonieren.«
Der Kandidat war verwirrt. Er wußte nicht, was er tun sollte, um ihn zum Gehen zu bringen.
»Nun, wie gefällt Ihnen der Aufenthalt hier, Verehrtester? Die Gnädige ist eine höchst einnehmende Dame, nicht wahr? . . . Ach, Ihre Augen strahlen ja förmlich, junger Mann. Mein Kompliment! . . . Natürlich! Ihr Mund ist mit sieben Siegeln geschlossen! Die Ehre einer Dame! – Aber Sie haben sich hier doch häuslich niedergelassen, nicht wahr? . . . Ja, was vermag nicht ein vertrauliches Lächeln, ein heimlicher Händedruck . . . Nur ganz ruhig! Es ist undelikat von mir, Sie zu Indiskretionen verleiten zu wollen. Außerdem – offen gestanden –, ich habe das Interesse für dies ziemlich einförmige Katz- und Maus-Spielen zwischen den Menschen verloren. Die Frauen gehören der Jugend. Wenn man mein Alter erreicht hat, so hat man wichtigere Materien zu bedenken. Dann kommt die große Lebensfrage und fordert Lösung. – Gestatten Sie mir, Sie sind Theologe, nicht wahr?«
»Ich? . . . Ich bin Philologe.«
»Freilich, ja. Aber auch als Philologe studieren Sie die Religion . . . philosophische Religion, natürlich. Sie verstehen? – Sagen Sie mir doch, sind in den letzten Jahren eigentlich neue philosophische Systeme entstanden? Zu meiner Zeit war es dieser – ja, wie hieß er doch gleich? – Hegel, nicht wahr? Sie kennen ihn natürlich. Vorzüglicher Philosoph! Aber wie war es doch gleich? Glaubte Hegel eigentlich an die Unsterblichkeit . . . ich meine an die Auferstehung, an das Leben im Jenseits und all dergleichen?«
Der Kandidat fühlte sich absolut nicht aufgelegt zu einer philosophischen Diskussion hier mitten in der eiskalten Zugluft, die nun auch das zweite Licht ausgeblasen hatte. Der Kopf des Leutnants, der Hut mit der Auerhahnleier und der Flintenlauf, der ihm über die Schulter ragte, zeigten sich jetzt auf dem Hintergrund der weißen Mondnacht.
»Ich verstehe! . . . Die Wissenschaft entwickelt sich. Die Unsterblichkeit. Was ist das? Pfaffengewäsch! Wenn man tot ist, so ist die Rechnung quittiert. Wir dürfen zwischen unsern Tannenbrettern liegen und auf eine Auferstehung in Form von Wasserdämpfen, Kalkstoffen und andern Düngemitteln warten. Wir werden das Leben hier auf der Erde vielleicht als blühender Busch, als Wolke, als fruchtbarer Regen fortsetzen. Im Grunde ein ganz erhabener Gedanke, nicht wahr?«
Der Kandidat unterbrach ihn und bat ihn zu bedenken, daß es Nacht sei und daß er leicht die Bewohner des Hauses oder die Hunde wecken könne.
»Die Hunde kennen mich . . . sie sind meine Freunde. Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Tun Sie mir nur den Gefallen, diese kleine Störung der Familie gegenüber nicht zu erwähnen. Das könnte Veranlassung zu Mißverständnissen geben. Wie gesagt, es war ganz zufällig, daß ich hier vorüberstrich. Versprechen Sie mir Diskretion?«
»Ich verspreche es.«
»Ich danke Ihnen. Gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zum Abschied zu drücken! Glauben Sie um Gottes willen nicht, Verehrtester, daß ich irgendwie neidische Gefühle in bezug auf Sie hege. Gestatten Sie mir, mich Ihren Freund zu nennen. Ich versichere Ihnen, ich bin es.«
Der Kandidat fand in der Dunkelheit die knochige Hand des Leutnants, die dieser über das Fensterbrett hereingereicht hatte.
»Darf ich Ihnen nur noch einen Rat erteilen, Herr Kandidat . . . einen avis d'ami. Ich sah, daß Sie dalagen und lasen, als ich kam. Geben Sie acht, daß Sie sich dieser Beschäftigung nicht allzuviel hingeben. Das macht die Lenden schlapp . . . und Frauen gegenüber gilt es vor allen Dingen, stets en vigueur zu sein. Zeigen Sie auch keine Nachsicht! Bewahren Sie die Kontenance, mein Herr! Wie der Pole sagt: Man soll sich nie weiter von seiner Leidenschaft fortreißen lassen, als daß man die Sommersprossen der Geliebten zählen kann. Sie finden diese Ratschläge vielleicht unritterlich, nicht wahr? Glauben Sie mir aber, ich rede aus Erfahrung. Sie werden selbst sehr bald zu dem Eingeständnis gelangen, daß sich die Frauen nicht gerade dazu eignen, das Ansehen des Menschengeschlechts zu erhöhen. Ich grüße Sie! Gute Nacht!«
»Gute Nacht«, erwiderte der Kandidat erleichterten Herzens.
»Ach, hören Sie mal! . . . Nur noch ein Wort!« sagte der Leutnant und kehrte zurück, nachdem er sich ein paar Schritte entfernt hatte. »Sie sollten wohl nicht zufällig im Besitz irgend eines stärkenden Mittels sein . . . eines narkotischen Medikaments, Sie verstehen? Ich leide zur Zeit arg an Schlaflosigkeit. Das Meer da draußen bei mir ist ein unruhiger Schlafgefährte. Es schnarcht so verdammt in diesen Herbstnächten.«
»Es tut mir leid, aber ich habe nicht das geringste.«
»Sind Sie ganz sicher? Tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie einmal nach. Reisende pflegen doch irgend etwas von der Art mitzunehmen für etwa eintretende Krankheitsfälle . . . ein wenig Opium oder dergleichen.«
»Ich habe wirklich nichts.«
»Dann scheren Sie sich zum Teufel!« murmelte er und schlenderte von dannen.
Der Kandidat schloß das Fenster. Eine kleine Weile blieb er stehen und folgte ihm mit den Augen, während die gebeugte Gestalt langsam über die Heide verschwand. Dann ließ er das Rouleau herunter und kroch in das warme Bett.
Als Lindemark und sein Kopenhagener Gast am nächsten Vormittag von einem Rundgang durch die Ställe zurückkehrten und auf der Diele standen, wo sie ihre Mäntel aufhängten, kam die alte Mamsell Steensen aus den Wirtschaftsräumen herein. Der Kandidat konnte ihr ansehen, daß sie dem Gutsbesitzer eine wichtige Mitteilung zu machen hatte. Er begab sich deswegen sofort in sein Zimmer, ließ aber aus Neugier die Tür angelehnt stehen, so daß er horchen konnte.
»Haben der Herr das Neuste schon gehört?« hörte er die Haushälterin sagen.
»Was für Neustes?«
»Von dem Leutnant?«
»Von Leutnant Hacke? Was ist's mit ihm?«
»Der Herr kennen doch Kren Pilegaard?«
»In Tomerup?«
»Ja, sein Hof liegt hier südlich vom Dorf, gerade am Wege.«
»Na – und was weiter?«
»Da ist der Leutnant über Nacht eingebrochen. Er ist wohl duhn gewesen. Als Kren Pilegaard den Lärm hörte und herauskam, soll der Leutnant mit seinem Gewehr auf ihn gezielt und gesagt haben, er wollt' ihn totschießen.«
»Woher haben Sie die Geschichte?«
»Die Fischbirthe war eben hier. Sie saß in der Küche und erzählte es. Sie hatte selbst mit Kren Pilegaard gesprochen. Aber da kommt der Verwalter. Er hat es auch in der Mühle gehört.«
Die Haustür ging auf. Ein Mann trat schnell herein und fragte, wann die Herrschaften fahren wollten.
»Wie verhält sich die Sache, Petersen?« fragte Lindemark. »Haben Sie auch von dem Skandal gehört, den Leutnant Hacke über Nacht angestellt haben soll. Ist das denn ganz zuverlässig?«
»Es ist garantiert. Ich habe selbst mit Kren Pilegaards Frau gesprochen.«
»Dann ist er also mit andern Worten jetzt ganz unzurechnungsfähig geworden. Aber was ist denn eigentlich geschehen? Wie hat es sich zugetragen?«
»Der Leutnant hat wohl zu den Mädchen 'rein gewollt. Er hat an ihr Fenster geklopft, und als sie anfingen zu schreien, rief er ihnen zu – ja, was Hübsches war das nun gerade nicht.«
»Dann sollen Sie Ihren Mund nicht damit besudeln! Sorgen Sie nun dafür, Petersen, daß der geschlossene Wagen nachgesehen und gut geschmiert wird. Wir fahren um fünf!«
Es war kurz vor Tische. Frau Lindemark saß im Wohnzimmer, und hier kam es nun zu einem erregten Wortwechsel zwischen ihr und ihrem Mann, der ihr sofort von dem nächtlichen Abenteuer des Dünenassistenten berichtete.
Frau Lindemark sagte:
»Ich weiß nicht, was du damit beabsichtigst, mir dies alles zu erzählen. Es geht mich ja gar nichts an. Geh zu der Steensen! Sie ist ja deine Vertraute. Und sie pflegt sich ja für Weiberklatsch zu interessieren.«
»Hier ist keine Rede von Weiberklatsch. Petersen, der eben nach Hause gekommen ist, bestätigt den Bericht der Fischbirthe Wort für Wort.«
»Also dem Verwalter vertraust du dich an. Ich fürchte, du fängst an, unsere Dienstboten mit deiner Familiarität zu ermüden. Amüsement haben sie wohl schon lange davon gehabt.«
»Das überlasse du nur mir! Von der Seite hat meine Ehre nichts zu befürchten. Aber ich wollte, daß du ausnahmsweise einmal erfahren solltest, was für eine Art von Mensch dieser Herr von Hacke ist. Ein Kerl, der sich damit brüstet, daß er die Unzuchtshäuser in Aalborg besucht, und der nun durch fremder Leute Fenster einbricht, um wehrlose Frauen zu vergewaltigen. Was sagst du dazu, Astrid?«
»Nichts! Aber daß – gerade du! – mir das erzählen willst . . . Ja, das sieht dir ähnlich! Vergewaltigen sagst du. Wenn du durchaus meine Meinung wissen willst, so verzeihe ich zehntausendmal lieber dem Mann, der eine Frau mit Gewalt nimmt, als dem, der so lange bettelt und bittet und vor ihr kriecht, bis sie schließlich aus Mitleid nachgibt.«
»Ach, diese hochtrabenden Redensarten! So weit ist es mit dir gekommen! Sage mir doch, Astrid, wie soll dies enden? Wenn du keine Rücksicht auf mich nehmen willst – und das erwarte ich nicht mehr: Du gibst mich ohne Schonung dem Spott und dem Gelächter der Leute preis – aber denke doch wenigstens an unsere Kinder. Sollen Kay und die kleine Ingeborg wirklich –«
»Nenne sie nicht!« schrie sie fast.
»Ja . . . denn da regt sich doch dein Gewissen, Astrid.«
»Du irrst! Ich hab' es dir zehntausendmal gesagt, daß ich keine Verantwortung für sie habe. Ich habe mir nie gewünscht, sie zu bekommen. Es sind deine Kinder . . . nicht meine.«
»Was willst du damit sagen?«
»Du hast mich angefleht, dich zu heiraten . . . hast mich angefleht, hier heraufzuziehen . . . hast mich angefleht, Mutter zu werden. Du wolltest Erben für das Gut haben. Du kauftest mich, so wie du deine andern Zuchttiere kauftest.«
»Astrid! So wagst du zu reden! Fühlst du denn nicht, wie du sowohl dich selbst als auch mich entwürdigst?«
»Nein, sondern du hast mich entwürdigt. Statt daß ich meine Kinder in Freiheit hätte gebären können . . . mich aus eigenem Antrieb und freiem Willen hingebend . . . hast du . . . pfui! Mir ekelt, wenn ich an damals denke!«
»Willst du mir eines sagen, Astrid? An dem Tage – du entsinnst dich dessen wohl noch –, als ich dich zum letztenmal vor unserer Hochzeit in Vejle besuchte, und du mich am Morgen nach der Bahn begleitetest – da sprangst du zu mir ins Abteil hinein und schlangst die Arme um mich und flüstertest mir ins Ohr, ich sollte dich auf der Stelle entführen – weißt du das noch?«
»Ach – Kindereien!«
»Und weißt du noch, daß du dann mitfuhrst, und daß wir auf der nächsten Haltestelle ausstiegen und den Tag zusammen im Walde verbrachten? . . . Du nanntest dich Danae und mich Zeus. Und du küßtest die Blätter der Bäume, als wir uns trennten und nanntest den Wald das Heim unserer Liebe und danktest ihm.«
»Schweig still! . . . Du lügst!«
»Warum sagst du das? Du weißt ja, daß jedes Wort Wahrheit ist.«
Sie wurden durch Mamsell Steensen unterbrochen, die aus dem Eßzimmer hereinkam und fragte, ob angerichtet werden könne. Einen Augenblick darauf tat sich die Tür nach der Diele auf, und der Kandidat trat ein, sonderbar verlegen und mit rotem Kopf. Er hatte draußen gestanden und das Ganze gehört. Es war durch einen Zufall geschehen, und im Grunde schämte er sich nicht wenig, daß er stehengeblieben war, statt in sein Zimmer zurückzukehren. Aber es war zu interessant gewesen, heimlicher Zeuge dieses ehelichen Zusammenstoßes zu sein. Er hatte sogar einen Versuch gemacht, durch das Schlüsselloch zu gucken.
Sie setzten sich zu Tische, und die Mahlzeit war noch unheimlicher als an den vorhergehenden Tagen.
Frau Lindemark war im Grunde diejenige, die bei dieser Gelegenheit am meisten sprach. Zum Erstaunen des Kandidaten schien sie in geradezu angeregter Stimmung zu sein. Ein paarmal lachte sie sogar, wenn auch recht unmotiviert. Auffallend war auch die Aufmerksamkeit, die sie ihm plötzlich erwies. Im Gegensatz zu bisher trat sie als Wirtin auf und sorgte dafür, daß er bedient wurde. Obwohl er kaum Appetit verspürte, zwang sie ihn, seinen Teller zu füllen.
Dabei vernachlässigte sie jedoch ihren Hund nicht. Und gerade als sie ein Stück Fleisch in die Höhe hielt und ihn foppte, indem sie ihn danach schnappen ließ, sah sie verstohlen über den Tisch zu ihm hinüber, mit einer Vertraulichkeit im Blick, die nicht ohne Süße war und ihn verwirrt machte.
»Sie haben vergessen, mir den Zeitschriftenartikel zu geben, den sie mir neulich zu lesen empfahlen«, sagte sie. »Er ist ja so interessant.«
»Einen Zeitschriftenartikel?« fragte er.
»Ja, über die konventionellen Vorurteile, glaube ich. Sie haben ihn ja hier.«
Dem Kandidaten stand das Herz still. Was beabsichtigte sie damit? Ihre Unterhaltung neulich abends über den russischen Roman und ihre kühne Verteidigung des Mordes, den die Heldin an dem Stiefvater verübte.
Und ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, ob sie wohl irgendeine Untat im Schilde führte und versuchen wollte, ihn zum Bundesgenossen zu werben?
»Sie haben mich mißverstanden«, sagte er. »Ich habe das Heft nicht bei mir . . . es liegt in Kopenhagen.«
Sie senkte den Blick und ließ jetzt das Stück Fleisch in den geifernden Schlund des Tieres fallen.
»Das ist schade! Ich hätte wohl Lust gehabt, den Artikel zu lesen. Die konventionellen Vorurteile – das ist gerade das, worunter die Menschheit leidet. Kennen Sie den Verfasser? Wie heißt er?«
»Karl Herda. Es ist wohl ein Pseudonym.«
»Ist er ein Däne?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nein, er ist sicher kein Däne! Hierzulande sind wir alle brave und dem Gesetz gehorsame Bürger.«
»Mahlzeit!« unterbrach Lindemark sie und schob seinen Stuhl zurück. Als er dem Gast die Hand drückte, versuchte er zu lächeln. Aber seine Lippen waren weiß.
Auch diesen Nachmittag verbrachte der Kandidat in seinem Zimmer. Statt aber die Lektüre von »König Tag und Königin Nacht« fortzusetzen, ging er in der Stube auf und nieder und wartete in tiefer Unruhe darauf, daß die Uhr fünf werden sollte. Nie war ihm das Rad der Zeit so mühlsteinschwer erschienen wie in diesen Stunden. Er war überzeugt, daß etwas Entscheidendes bevorstand. Aber was? Eine Flucht? Eine nächtliche Entführung? Oder wirklich ein Mord? . . . Unsinn! Eine Dame wie Frau Lindemark konnte vielleicht mit dem Gedanken spielen. Konnte sich vielleicht auch zuzeiten davon versuchen lassen, aber ernst damit zu machen – nein. Das hatte sie auch selbst neulich Abends geäußert, als sie über Bitschkows Roman sprachen.
Präzise fünf Uhr hielt der Wagen vor der Treppe. Es war ein geschlossener Wagen von veraltetem Aussehen mit hohen Rädern, Klapptritt und S-förmigen Federn. Er wurde von den Leuten auf dem Gut »der Wagen der gnädigen Frau« genannt, weil er nur zum Vorschein kam, wenn sie, was selten geschah, an der Geselligkeit der Gegend teilnahm. Wetter und Wege mußten außerdem einigermaßen gut sein, da es sonst nicht für ratsam erachtet wurde, sich in einem geschlossenen Wagen hinauszuwagen, hier, wo die Nebenwege so schlecht waren und der Sturm ihn auch leicht umwehen konnte.
Lindemark und der Kandidat standen beide reisefertig im Wohnzimmer. Die Gnädige ließ jedoch auf sich warten. In der Küche wurde behauptet, sie habe die letzten beiden Stunden vor ihrem Spiegel gesessen. Mamsell Steensen war ein Mal über das andere zu ihr hinaufgerufen worden, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und man konnte die Mädchen umhergehen und kichern hören.
Beim Anblick von Lindemark in Frack und weißer Halsbinde war es dem Kandidaten fatal, daß er in seinem täglichen Anzug erscheinen mußte, der obendrein von der Reise ein wenig mitgenommen war. Lindemark aber beruhigte ihn, indem er von einer ähnlichen Gesellschaft erzählte, wo ein auf der Reise befindlicher Gast in hohen Stulpstiefeln und einer Lederweste erschienen war, ohne daß jemand Anstoß daran genommen hatte. Überhaupt dürfe er sich keine Erwartungen in bezug auf eine wirkliche Festlichkeit machen. So etwas kenne man hier in dieser Gegend nicht. Man kam wesentlich zusammen, um gemeinsam die Freuden der Tafel zu genießen.
Endlich erschien Frau Lindemark, und der Kandidat sperrte die Augen auf. Er konnte sie kaum wiedererkennen. Die Burgfrau aus dem Mittelalter in der düsteren Kleidung war in eine ärmellose Weltdame in hellblauem Seidenkleide mit gewelltem Stirnhaar und Karmin auf den Lippen verwandelt. Sie ging schnellen Schrittes durch das Zimmer und hinterließ einen Duft von Brennschere und Parfüm.
Draußen auf der Diele half Mamsell Steensen ihr in einen großen Pelzmantel hinein, den sie zuvor am Ofen erwärmt hatte. Dann stiegen sie in den Wagen, und nachdem sie alle drei gut eingepackt waren, rollten sie von dannen.
Die Fahrt währte ungefähr eine Stunde, und während der ganzen Zeit wurde fast gar nicht gesprochen. Frau Lindemark, die allein auf dem Vordersitz saß, damit das Kleid nicht zerknittert werden sollte, hatte sich gleich zurückgelehnt mit einer Unnahbarkeitsmiene, die dem Kandidaten den letzten Rest von Mut benahm, eine Unterhaltung zu versuchen. Und wie sie so dasaß in dem schwindenden Tageslicht, den Pelzkragen um die Ohren, offenbar ausschließlich in Anspruch genommen von ihrer Erwartung, ward es ihm klar, an welches Raubtier sie ihn die ganze Zeit erinnert hatte. Ihr bleiches, scharfes Gesicht, der rote Mund und diese runden, grauen Augen riefen in ihm die Erinnerung an die Wölfin im Zoologischen Garten wach, wenn sie im Hintergrund des Bauers ausgestreckt lag, den spitzen Kopf auf den Vorderpfoten ruhend – und unbeirrt durch das neugierige Publikum – ihre wilden und blutigen Waldträume träumte.
Lindemark saß mit erkämpfter Ruhe da und sah zum Fenster hinaus. Aber der Kandidat spürte seine Nervosität an der Weise, wie er seine Hände beständig hin- und herbewegte.
Welch ein Elend! dachte er und hatte ein unheimliches Gefühl, als ob eine vierte Person im Wagen zugegen sei, ein unsichtbarer Passagier – der Tod. Und all dieser entwürdigende Jammer um eines Helden von so trauriger Gestalt willen wie Leutnant von Hacke!
Er wandte sich ab, trocknete den Tau von der Fensterscheibe mit dem Fensterriemen und starrte auf die Landschaft hinaus. Sie waren in die Dünen hineingekommen. Riedgrasbekleidete Abhänge umgaben sie von allen Seiten. Schritt für Schritt arbeiteten sich die Pferde den mit Heidekraut belegten Weg entlang, der sich zwischen graugrünen oder aschgrauen Sandhügeln hinschlängelte. An einigen Stellen hatten die Dünen ein wildzerrissenes Aussehen – wie eine Brandung, die erstarrt und verstummt ist. An andern Stellen erhoben sie sich zu mächtigen, sanft anschwellenden Wogen, völlig nackend, so vom Leben entblößt, als seien sie im selben Augenblick aus dem Schoß des Meeres aufgestiegen. Und so wunderlich grabesstill war es in diesen Schluchten, wohin der Wind nicht gelangte. Man hörte nur das Knarren des Wagenleders und den unterirdischen Laut der Brandung, die gegen den Strand donnerte.
An einer Stelle öffnete die Dünenreihe sich nach Westen zu, und man sah das Meer mit seinen drei weißen Schaumverbrämungen ganz nahe. Hier setzte der Wind wieder ein und schüttelte die alte Karosse, so daß die Fensterscheiben klirrten. Der Kandidat aber saß da, versunken in die Anschauung der schwer daherrollenden Tiefe, die ihn mit beängstigender Macht ergriff. Er hatte sich den Anblick nicht so erdrückend gedacht. In der Gemütsstimmung, in der er sich befand, wirkte er auf ihn wie ein Bild von der Unerbittlichkeit und dem Grauen des ganzen Daseins, beängstigte ihn wie eine böse Vorahnung von unabwendbarem Unglück, das auch sein eigenes Leben bedrohte. Und ihn erfaßte ein tiefes Mitleid mit sich selbst und mit der ganzen Menschheit, die um ihrer Leidenschaften willen zu Selbstvernichtung und Erniedrigung vorausbestimmt war.
Die Gesellschaft war eine Stunde versammelt gewesen. In allen Zimmern brannten Lampen und Kerzen. Im Wohnzimmer saßen die Damen noch beim Empfangstee und den Schalen mit Eingemachtem, während sich die meisten Herren in dem Zimmer des Wirts niedergelassen hatten und Zigarren rauchten oder aus Pfeifen pafften. Sie saßen hier und debattierten über die nächtlichen Streiche des Leutnants bei Kren Pilegaard und die möglichen Folgen, die diese neue Äußerung seiner Zügellosigkeit für ihn haben konnte.
Er selbst war noch nicht gekommen, was übrigens nur den Kandidaten in Erstaunen versetzte. Zu den aristokratischen Freiheiten, die Leutnant von Hacke sich nahm, gehörte auch die, daß er sich zu den Gesellschaften einfand, wann es ihm paßte. Selbst, wo er erwarten konnte, Frau Lindemark zu treffen, kam er oft erst spät am Abend und war dann nicht ganz nüchtern.
Die meisten älteren Herren waren sehr bedenklich bei der Sache und meinten, der gute Leutnant komme diesmal wohl kaum umhin, Bekanntschaft mit dem »Loch« zu machen. Ein jüngerer Agrarier vom Kurzhalstyp, der in bezug auf den Schnurrbart offenbar den Leutnant zum Vorbild genommen hatte, nannte dahingegen Hacke einen famosen Kerl. Zum Teufel auch, eine Mannsperson müsse doch Erlaubnis haben, hin und wieder mal auf den Hinterbeinen zu gehen. Übrigens sei Hacke mit Grund gereizt gewesen. Es sei kein Sinn darin, hierher zu reisen und ihm ins Gehege zu kommen.
Bei den letzten Worten sah er herausfordernd zu dem Kandidaten hinüber, der allein für sich an einen Türpfosten gelehnt stand, wo er Gegenstand einer zudringlichen und recht peinlichen Aufmerksamkeit war. Gleich bei seiner Ankunft hatte der Wirt, der dickköpfige Gutsbesitzer Hansen, ihn draußen auf der Diele beiseitegenommen und ihm mit einem Grinsen ins Ohr geflüstert: »Na, Kopenhagener, da haben Sie eine schöne Bescherung angerichtet!«, und als er ins Wohnzimmer hineinkam und vorgestellt wurde, hatte er die Leute die Köpfe zusammenstecken und flüstern sehen.
In einem kleinen Zimmer neben dem Herrenzimmer, der Schulstube des Hauses, die in Veranlassung des Tages ausgeräumt war, stand Lindemark und unterhielt sich mit einem großen, graubärtigen Mann, dem Schullehrer Johansen. Auch sie sprachen über den Leutnant.
»Wahrhaftig, ich finde, daß dies eine Geschichte ist, die zur Sprache gebracht werden soll und muß«, sagte Herr Johansen und bohrte Lindemark einen großen, torfbraunen Zeigefinger in die Brust hinein. »Unter uns gesagt – aber was ich Ihnen hier erzähle, Herr Lindemark, das bleibt unter uns –, der Pfarrer ließ mich heute mittag rufen – er ist ja leider heute durch sein Magenleiden behindert –, aber dann kamen wir dahin überein, daß wir jetzt das Einschreiten der Behörden fordern müssen. Diese schädliche Nachsicht darf nicht länger obwalten. Es ist unsere unabweisbare Pflicht, als Christenmenschen zu verlangen, daß diese Untat nicht ungerügt hingeht oder mit einer geringen Geldstrafe abgemacht wird.«
»Beabsichtigen der Pfarrer und Sie, eine Klage gegen den Dünenassistenten einzureichen?« fragte Lindemark mit gespanntem Ausdruck.
»Hm . . . wir haben die Frage in Erwägung gezogen und sind zu dem Ergebnis gelangt, daß wir unsere Namen nicht mit solch einer schmutzigen Sache in Zusammenhang bringen dürfen. Aber indem wir hoffen und glauben, daß wir uns in Übereinstimmung mit allen rechtdenkenden Elementen in der Bevölkerung befinden, haben wir heute dem Hardesvogt unter der Hand Mitteilung über das Vorgefallene zugehen lassen.«
»Dann ist es also schon geschehen!«
Herr Johansen sah nach beiden Seiten, um sich zu vergewissern, daß sie allein waren. Und als er den Kandidaten dort am Türpfosten stehen sah, dämpfte er die Stimme.
»Ein Mann hier aus der Gemeinde, einer unserer zuverlässigsten Freunde – seinen Namen zu verschweigen, habe ich versprochen –, wollte gerade heute in einer andern Angelegenheit zum Hardesvogt – und da bat ich ihn, im Laufe der Unterredung die Aufmerksamkeit des Betreffenden auf die Sache zu lenken und von dem Ärgernis zu reden, das sie hier in weiten Kreisen erregt hat, und ihm in dieser Veranlassung Vorstellungen zu machen.«
»Erwarten Sie wirklich ein Ergebnis von einer solchen Einwendung?«
»Ja – ich hoffe das Beste. Und wahrlich, es ist hohe Zeit, daß der heidnischen Wildheit, die hier seit bald zwei Jahren ihr Spiel getrieben hat, ein Riegel vorgeschoben wird. Die Jugend ist auf bedenkliche Weise davon angesteckt worden. Selbst die Frauen. Ja, ja, das wissen Sie am besten, Lindemark!«
Die Aufmerksamkeit des Kandidaten wurde in diesem Augenblick dadurch abgelenkt, daß ein paar Herren vor ihm stehenblieben und ihn begrüßten. Mit dem einen hatte er kurz zuvor gesprochen. Es war ein Herr Langer, ein Mann zwischen dreißig und vierzig Jahren, der sich gleich vorgestellt und sich lustig einen akademischen Mitbürger invite Minerva genannt hatte. Er war Gutsbesitzer Hansens Hauslehrer, ein Typ von der Art verunglückter Studenten, wie man sie damals ringsumher auf den großen Gütern in den entlegenen Gegenden von Jütland treffen konnte. Leute, die nach ein paar mißglückten Universitätsjahren auf Grund von Hunger und Schulden aus der Hauptstadt hatten auswandern müssen, und die dann in einer solchen Gutsbesitzersfamilie eine Zufluchtsstätte fanden, von deren materiellen Gütern sie sich seither nicht loszureißen vermochten. Dort hatten sie gutes Essen, eine warme Ofenecke und ein für Freunde und Gläubiger unaufspürbares Versteck, in dem sie sich mit ihrem Mißgeschick verbergen konnten.
Kam dann vielleicht noch eine unglückliche Verliebtheit in irgendeine Gutsbesitzerstochter hinzu, so erhielt das Selbstgefühl seinen letzten Knacks. Jahr für Jahr sank so ein ehemaliger Akademiker tiefer hinab in ein erbärmliches Dasein, in dem das Essen, die Tabakspfeife und die dicken Daunenbetten das einzige waren, was Wirklichkeit für ihn bedeutete – bis er schließlich als Schreiber auf einem Gutskontor oder als Insasse des Armenhauses gänzlich versumpfte.
Herrn Langers großer brauner Bart hatte bereits angefangen, an den Spitzen zu ergrauen, und seine hohe, ein wenig schwer vornübergeneigte Gestalt in dem blankgetragenen Frack, der an den Ärmeln zu kurz war, machte einen äußerst verkommenen Eindruck. Von selbst würde der Kandidat niemals auf den Einfall gekommen sein, daß dieser Mann einstmals eine Berührung mit der Wissenschaft gehabt hatte.
Nur eine gewisse, verschleierte Melancholie in seinen kleinen, dunklen Augen ließ ahnen, daß sich hinter all diesem trägen Fett Überbleibsel von geistigem Leben regten, und außerdem gefiel sich der Mann in einer trocknen humoristischen Ausdrucksweise, die an den Ton im Studentenverein und in der RegensStiftung aus dem Mittelalter, Freiwohnungen für Studenten. zu früheren Zeiten erinnerte.
Sein Begleiter, den er als Leuchtturmwärter Enevoldsen vorstellte, war eine seemannsartige Erscheinung in blauem Jackenanzug, mit Tätowierungen an den Händen.
»Ich höre, der Herr Kandidat ist hierhergekommen, um Kulturzustände zu studieren«, sagte dieser Mann mit einer gewissen Feierlichkeit. Sollte Ihr Weg Sie am Lögstruper Feuer vorüberführen, so sollen Sie herzlich willkommen sein, falls Sie eingucken wollen.«
Der Kandidat neigte den Kopf zum Dank.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich auch für Hühnerzucht interessieren. In dem Fall könnte ich Ihnen einen Bestand zeigen, der, wie ich wohl sagen darf, einer der besten in Vendsyssel ist. Meiner Ansicht nach, Herr Kandidat, hat die Hühnerzucht hierzulande keineswegs die Anerkennung gefunden, die sie verdient. Ich unterschätze unsern Butterexport und unsere Fleischproduktion durchaus nicht. Gott bewahre! Aber ich sage: eine rationell betriebene Hühnerindustrie – das ist Dänemarks Zukunft! Diese Sache muß aber als Volkssache aufgenommen werden, Herr Kandidat. Mit Ernst und mit Liebe, nicht wahr?«
»Ich verstehe mich nicht auf dergleichen«, erwiderte der Kandidat ziemlich ablehnend.
»Hö, hö, hö!« grunzte Herr Langer. Er stand mit den Händen in den Hosentaschen da und wiegte sich auf seinen schiefen Absätzen, und seine Stimme klang, als spräche er in eine leere Tonne hinein. »Ich meinerseits sage aus gänzlichem Herzen Ja und Amen, Leuchtturmwärter! Ein anmutiges Zukunftsbild, das Sie da entrollen! Ein Huhn in jedermanns Kochtopf – wie er sagte –, dieser hochselige, verrückte König. Alle Trübseligkeiten des Lebens auf Kückensorgen reduziert! Gott gebe, daß diese Sache gedeihen und unserm alten Dänemark zu Glück und Segen gereichen möge! Kükerükü!«
Im selben Augenblick vernahm man einen lauten Lärm hinter ihnen. Es war der Wirt, der in die Hände klatschte und zu Tische rief und die Herren bat, die Damen aufzufordern. Es hatten sich bereits Zeichen von Ungeduld zwischen den Gästen gezeigt, die nach dem Essen verlangten. Er wollte deswegen nicht länger warten, weder auf Herrn von Hacke noch auf den Kreisarzt, der ebenfalls noch nicht gekommen war.
Die Tischdame des Kandidaten war eine impertinente kleine Erzieherin von einem der andern Güter in der Gegend, die ihre Stumpfnase in die Luft steckte und das Gesicht abwandte, um ihrem Mißvergnügen darüber, ihn zu Tische bekommen zu haben, Ausdruck zu verleihen. Dies kam ihm gerade sehr gelegen. Er konnte sie nun mit gutem Gewissen dem Herrn an ihrer rechten Seite überlassen und zu seinen eigenen trübseligen Betrachtungen zurückkehren.
Lange war es ihm jedoch nicht beschieden, ungestört dazusitzen. Allmählich, als das Essen und der Wein die Stimmung steigerten, rief ihn bald dieser, bald jener von den Herren an, um ihm zuzutrinken. Als sich nun auch der junge, kurzhalsige Agrarier mit dem von Hackeschen Schnurrbart die »Ehre ausbat« und gleichzeitig auf drohende Weise verlangte, daß ausgetrunken werde, da ward er sich klar darüber, daß man beabsichtigte, ihn unter den Tisch zu trinken, und er erhob von jetzt an nur das Glas, ohne zu trinken. Obwohl mehrere von den Herren aus diesem Grunde unangenehm wurden, sich gekränkt stellten und versuchten, ihn durch höhnische Zurufe herauszufordern, ließ er sich nicht anfechten. Es war ihm völlig gleichgültig, was diese brüllenden Ochsen von ihm dachten. Je lauter der Lärm und die Wildheit um ihn her wurden, um so nüchterner ward seine eigene Gemütsstimmung, um so weniger imponierte ihm diese heldenmäßige Großmäuligkeit, die ringsumher am Tische aufkam.
Sein Blick schweifte ständig zu Frau Lindemark hinüber, die auf dem Ehrenplatz neben dem Wirt saß. Auch sie schien so ziemlich außerhalb des Ganzen zu sein. Mit einem formellen Lächeln tat sie so, als lauschte sie den Witzen ihres schwadronierenden Tischherrn, während ihre runden, nervösen Augen mit einem angespannten Ausdruck in die Luft hinausstarrten, als horchte sie quer durch den Lärm nach Fußtritten in weiter Ferne. Aber als die Zeit verging, ohne daß Herr von Hacke kam, veränderten sich ihre Züge sichtbar. Die Enttäuschung machte sie erstarren. Der Zorn verwandelte schließlich die Augen in lauter Pupille.
Nach mehrstündigem, kannibalischem Essen und Trinken erhob man sich von Tische mit glühenden Gesichtern, die Augen in Gelee. Unter brüderlichen Umarmungen und mit gewaltigen Handschlägen zerstreuten sich die Gäste ringsumher in den Zimmern. Von den Herren waren außer dem Kandidaten nur Lindemark und Schullehrer Johansen völlig nüchtern. Die beiden letzteren hatten sich in eine Fensternische zurückgezogen und wandten der lärmenden Gesellschaft den Rücken zu. Um seinen trunkenen Verfolgern zu entgehen, ging der Kandidat in das Schulzimmer, das im Augenblick leer war. Hier stand er und betrachtete die Anschauungsbilder an der Wand, als plötzlich schwere Schritte hinter ihm erschallten. Er wandte sich um und befand sich von Angesicht zu Angesicht mit Herrn Langer.
»Hö, hö, hö! Also hier haben Sie sich ›förtillfället‹, wie der Schwede sagt, auf Eier gelegt, Verehrtester!« begann er mit seiner Bauchrednerstimme. »Gestatten Sie mir, in aller Naseweisheit eine gewisse Frage an Sie zu richten?«
Er stand mit einer brennenden Zigarre in der Hand da und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Der Bart um den Mund war noch naß von dem letzten Glas. Eine Atmosphäre von Speisen und Spiritus entströmte seinem großen, schwammigen und schweißigen Körper, so daß dem Kandidaten beinahe übel wurde.
»Eine Gewissensfrage? Wie meinen Sie? Ich kenne Sie ja gar nicht.«
»Na, na, man immer sachte mit die jungen Pferde, mein Herr! Übrigens ist es aber keineswegs meine Absicht, Sie von meiner eigenen Großmächtigkeit zu unterhalten. Gerade herausgesagt – wie lange gedenken Sie, die Gegend noch mit Ihrer Anwesenheit zu beehren?«
»Ich muß gestehen, daß das eine höchst auffallende Frage ist.«
»Verehrtester! Ich traue Ihnen hinreichend Scharfblick zu, um bemerkt zu haben, daß ein gewaltiges Gewitter an dem ehelichen Himmel des Ehepaares Lindemark heraufzieht.«
»So?«
»Und Sie werden vielleicht auch kapiert haben, mein Lieber, was für eine Mannsperson es ist, der sich die Gnädige, leider Gottes, an den Hals geworfen hat – in effigie, natürlich. Ich weiß zufällig, daß Sie den Betreffenden neulich Abends im Bugstädter Krug getroffen haben.«
»Aber weswegen erzählen Sie mir das alles?«
»Ja, denn dann kennen Sie Hacke wohl zur Genüge, um den Skandal begreifen zu können, den er über Nacht gemacht hat.«
»Nein – ich muß gestehen, ich begreife kein Wort.«
»Herr Gott, Mensch! Haben Sie denn gar keine Einsicht? Können Sie denn nicht verstehen, daß Hacke rasend, wahnsinnig eifersüchtig ist?«
»Eifersüchtig? Auf wen?«
»Auf Sie natürlich. Auf wen denn sonst?«
»Auf mich . . . Aber das ist doch so irrsinnig!«
»Ja, weiß Gott, es ist irrsinnig! Das ist es absolut. Aber deswegen können Sie sich doch darauf verlassen, daß es sich so verhält. Sie kennen wohl noch nicht recht viel vom Leben, Herr Kandidat! Und am allerwenigsten von der Li-a-be! Miau-Miau! Sehen Sie, Hacke kann es nun einmal nicht vertragen, daß auch nur der Geruch einer fremden Mannsperson in Frau Lindemarks Nähe kommt. Und Sie haben sich jetzt ganze zwei Tage in Großhof aufgehalten, Mensch!«
Der Kandidat gestand nun, daß er allerdings eine Mißstimmung zwischen seinen Wirtsleuten bemerkt habe, und daß er das sehr bedauerlich finde.
»Aber Frau Lindemark hat ihren Mann wohl nie geliebt?«
»Die! Die ist so vergafft in ihn gewesen wie ein Spatz in einen warmen Pferdeapfel. Die ersten Jahre, als sie hier war, trug sie lange Männerstiefel unter den Röcken und storchte mit dem Gemahl draußen auf den Feldern herum – sie mußte ja immer die erste an der Spritze sein. Lindemark war damals ein mörderlicher Pfadfinder in ihren Augen – ein wahrer Apostel. Die Frauen müssen den Geliebten nun absolut zu einem Helden machen. Das ist das Verteufelte dabei!«
»Aber ich begreife wirklich nicht . . . Ein Mensch wie Herr von Hacke – ein armseliges Wrack.«
»Sagen Sie, was können Sie eigentlich nicht begreifen? Es ist, weiß Gott, alles unbegreiflich hier in dieser Welt, folglich kann man sich ebensogut die Mühe sparen, darüber nachzugrübeln. – Also das, worauf Sie aufmerksam zu machen ich mir erlauben wollte, ist, daß Hacke ja nicht so ganz zuverlässig ist. Wenn er sich als Kavalier und Krieger in Positur stellt, so kann man nie wissen, wozu er sich verpflichtet fühlt. Er ist in letzter Zeit arg herunter gewesen. Er soll auch davon geredet haben, daß er jetzt ein Punktum hinter sich machen will . . . so ein kleines rundes Punktum hier oben in die Schläfe, Sie verstehen wohl. Und sollte etwas dergleichen geschehen, so wäre es ja nicht angenehm für Sie, die Veranlassung dazu gewesen zu sein.«
»Davon kann auch gar nicht die Rede sein. Ich reise nämlich morgen – ganz bestimmt.«
»Es freut mich sehr, das zu hören, will ich Ihnen sagen. Denn trotz aller seiner Faxen und Gebärden ist Hacke doch – na ja, ein armseliges Wrack, wie Sie vorhin so schön bemerkten. Herr Gott, erst in einem solchen Zustand kommen wir flachgebauten Jollen an einen solchen Ozeanflieger nahe heran. Solange der sich draußen auf dem blauen Meer unter vollen Segeln tummelt, oder wenn er mit ein paar Lappen einen fliegenden Sturm abwettert . . . sehen Sie, der Anblick wird uns Landkrabben nie vergönnt! Erst wenn die Masten über Bord gegangen sind und die Schute leck geworden ist und an Land treibt . . . ja, dann dürfen wir beim Begräbnis lamentieren. Aber jetzt will ich Ihnen was sagen, Verehrtester: So ein armer zersplitterter Schiffsrumpf, der in der Nacht an Strand geworfen worden ist und wie ein Aas daliegt – ja, das kann schlimm genug aussehen, wenn man am Morgen von daheim aus den schwülen, heißen Federbetten dahergeschlendert kommt. Aber – Tod und Teufel, Brüderchen! So ein Anblick packt einen trotzdem wunderlich süß. Es singt so sonderbar um die Masten so eines hilflosen Wracks, das auf den großen Dünungen des Meeres geschaukelt hat. Sie können auch Gift darauf nehmen, daß der Leutnant einen netten kleinen See ganz hier in unserer kleinen Mistlache angerichtet hat. Ehe er selbst gekommen war, hörten wir ja von seiner Tapferkeitsmedaille und seinen Weibereroberungen und andern tollen Streichen. Frau Lindemark war wahrlich nicht die einzige von unsern Damen, die in ihn weg waren, ehe sie sich das wilde Tier erst einmal ordentlich angesehen hatten.«
»Hat sie sich denn wirklich gleich in ihn verliebt?«
»Ja, bis über beide Ohren.«
»Das ist ja sonderbar. Ein Adonis ist er doch nicht.«
»Gott, wie wenig Sie sich auf die Li–a–be verstehen, glücklicher junger Mann! Wenn das Herz einer Dame frei ist, ist es verflucht gleichgültig, wer die nächste Einquartierung wird. Übrigens haben sie und Hacke bis auf den heutigen Tag wohl nicht viele Dutzend Worte miteinander gewechselt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach, Freundchen! So sonderbar es klingen mag, wenn es sich um einen Mann von Welt wie Hacke handelt – er ist verlegen wie ein Konfirmand. Er versteht sich gar nicht darauf, mit Damen zu plaudern. Er kleistert sich an einen Türpfosten fest und steht da und dreht seinen Bart und blitzt mit den Augen und sieht andächtig und leidenschaftlich aus. Eine verrückte Schraube! Er kommt nicht zu Wort, ehe er zwischen uns Mannsleuten sitzt und trunken wird und unangenehm sein kann.«
»Aber sagen Sie mir, bitte – wenn sie ihre gegenseitigen Gefühle doch kennen, was man ja annehmen muß, warum machen die Menschen der Sache da nicht ein Ende? Warum lassen Lindemark und seine Frau sich nicht scheiden? Und wenn Lindemark nicht will, warum springt sie nicht zum Fenster hinaus zu dem andern und läßt sich von ihm entführen?«
»Das verhüte Gott! Womit sollten wir andern uns hier denn wohl in Zukunft unterhalten? Nee, es ist gut so, wie es ist. – Was helfen einem auch die vollen Herzen, wenn das Portemonnaie leer ist? Und Hacke erinnert, weiß Gott, nicht an den Keller der Nationalbank. Offengestanden, ich glaube nun auch nicht, daß Frau Lindemark, wenn es zum Klappen käme, das Risiko laufen würde. Danach ist sie nicht. Sie ist doch nicht wenig verhätschelt, bemeldete Dame. Sie würde sich gewiß schönstens dafür bedanken, auf Lebenszeit zu Liebe und Quellwasser verurteilt zu werden. Nee, Verliebtheit, das ist bloß so was, was unsere Damen zum Zeitvertreib haben. Es hat keinen Zweck, die Sache zu feierlich zu nehmen. Das ist nun meine Erfahrung.«
Meine nicht – dachte der Kandidat bewegt. Er hatte im Laufe des Tages seiner verlassenen kleinen Freundin in Kristianshafen mehrmals einen reuevollen Gedanken hinübergesandt.
Laut fragte er, ob Frau Lindemark denn nicht selbst Mittel habe. Sie sei ja die Enkelin eines Abenteurers, der an der Goldküste gefahren und sagenhafte Schätze heimgebracht habe.
»Also die Geschichte hat sie Ihnen auch aufgetischt? Ja, die ist gut!«
»Wieso? Ist das eine Unwahrheit?«
»Na, das Wort ist ja reichlich kraß, wo es sich um eine Dame handelt. Die Geschichte ist gut, sage ich. Es sind die bekannten Adlerträume des Kanarienvogels. Ihr Großvater war wirklich ein braver Schiffer, der mit Kohlen nach England fuhr. Ich bin selbst aus Vejle, folglich kenne ich die Familie. Ihr Vater war ein armer Lehrer, und die Mutter und ein paar Schwestern leben noch drüben in dem Städtchen. Sie haben ein Stickereigeschäft. Nee, reich kann sie, verdammt und verflucht, nicht werden, ehe sie den Gemahl nicht ins Jenseits befördert hat. Aber dahin wird sie es schließlich auch noch bringen.«
Der Kandidat fühlte gleichsam einen Stoß in die Herzgrube.
»Halten Sie sie wirklich zu so etwas imstande?«
»Wieso? Allen Ernstes? . . . Hö, hö, hö!« lachte Herr Langer mit seinem tiefsten Tonnengelächter, das die Fettschichten auf seinem großen Körper erbeben machte. »Lasset uns alle beten! . . . Sind Sie verrückt, Mensch! . . . Übrigens war da im vergangenen Jahr ein Bauernweib, das ihrem Mann mit einem Strumpfband den Atem abschnürte, um sich mit dem Knecht zu verheiraten. Aber sie war daran gewöhnt, Hühnern und Lämmern und dergleichen den Hals abzuschneiden. Das macht einen gewaltigen Unterschied.«
Sie wurden von einem jungen Herrn unterbrochen, der aus dem Herrenzimmer hereinstürmte. Sie hatten beide nicht die eigentümliche Stille bemerkt, die während ihrer Unterhaltung die übermütige Munterkeit in den andern Stuben abgelöst hatte. Jetzt rief der junge Mann erregt:
»Stehen Sie hier, Langer? Haben Sie das Neueste gehört?«
»Was?«
»Hacke soll in Zwangsverwahrung genommen werden. Er sitzt in seiner Wohnung unter Bewachung. Morgen kommen sie und holen ihn. Wollen wir uns darein finden?«
»Das sind doch wohl Lügen?«
»Da kommt Dr. Brammer. Nun können Sie selber hören.«
Der Kreisarzt in eigener Person hatte die Nachricht mitgebracht. Er kam jetzt ins Herrenzimmer, und von allen Seiten strömten die Gäste um den kleinen, dicken Mann zusammen, der mit Fragen bestürmt wurde.
»Unsinn!« sagte er, zu ein paar jungen Herren gewendet, die sich erlaubt hatten, Einspruch zu erheben. »Ich habe Hacke längst reif fürs Irrenhaus gehalten. Er ist ganz unzurechnungsfähig. Wie denken Sie über die Szene, die er neulich abends in der Bjergstedter Schenke gemacht hat. So ganz unmotiviert mit einer Flinte innerhalb der vier Wände loszuknallen. Dergleichen Einfälle hat nur ein Wahnsinniger. Ich übernehme nach jeder Richtung hin die Verantwortung.«
»Es ist wirklich ein Jammer um ihn!« erklärte einer der Zurechtgewiesenen von neuem. »Hacke ist ein famoser Kerl!«
Aber nun ergriffen andere das Wort, um dem Kreisarzt beizustimmen. Es entstand eine Zänkerei für und wider den verunglückten Leutnant, der, ohne es zu wissen oder sich darum zu kümmern, die Bevölkerung bereits in zwei kämpfende Lager geteilt hatte.
Die Nachricht von der unheimlichen Begebenheit hatte sich bald in den Zimmern verbreitet und überall große Bestürzung hervorgerufen. In der Eßstube, aus der bereits alle Möbel mit Ausnahme des Klaviers herausgeräumt waren, hatten schon einige junge Paare mit dem Tanze begonnen. Aber jetzt gelangte das Gerücht auch da hinein; die Musik verstummte, und die Paare strömten heraus. Aller Augen sahen sich verstohlen nach Frau Lindemark um. Sie hatte zwischen den andern Damen im Wohnzimmer gesessen, war aber gleich unter irgendeinem Vorwand in das Damenzimmer gegangen. Ringsumher in den Ecken flüsterte man, daß sie weiß wie ein Tischtuch gewesen sei.
An einem der Fenster saß ihr Mann und trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett. Seine andre Hand, die das Knie umfaßte, hielt sich ebenfalls keinen Augenblick ruhig. Der sonst so besonnene und willensstarke Mann kämpfte mit einem krampfhaften Zittern, das er nicht zu beherrschen vermochte.
Mitten im Zimmer stand Schullehrer Johansen und strich sich den Bart mit unschuldiger Miene. Als einer der andern Gäste vor ihm stehenblieb und über die Begebenheit sprach, schüttelte er wehmütig den Kopf und bedauerte herzlich, daß es ein solches Ende mit dem Leutnant nehmen müsse.
»Jetzt kommt es nur darauf an, ob Hacke sich ruhig dareinfinden wird, sich einsperren zu lassen«, sagte der andere. »Ich meinerseits zweifle sehr daran.«
»Das wird sich ja nun zeigen.«
In der Nähe standen einige junge Mädchen eng umschlungen und flüsterten. Sie waren ganz in Anspruch genommen von dem Geschehenen. Während die meisten von den älteren Leuten dort in der Gegend, namentlich die Frauen, den Stab über Frau Lindemark gebrochen, ja sogar geäußert hatten, daß sie nicht mehr mit ihr zusammenkommen wollten, war die weibliche Jugend schwärmerisch betört von ihrem und des Leutnants tragischem Liebesverhältnis.
Eines der Dienstmädchen des Hauses trat zu Lindemark heran und brachte ihm einen Bescheid. Er antwortete mit einem Kopfnicken, erhob sich dann und ging suchend in den Zimmern umher, bis er den Kandidaten fand.
»Sie haben wohl nichts dagegen, jetzt nach Hause zu fahren? Meine Frau fühlt sich müde. Und es ist ja auch nicht mehr früh.«
Auch andere Gäste schickten sich an, aufzubrechen. Die Stimmung war ja doch unwiederbringlich gestört für diesmal, und mehrere von den Familien hatten einen Heimweg von ein paar Meilen. Obwohl Gutsbesitzer Hansen und seine Frau sie mit aller Gewalt zurückzuhalten suchten, ließen sie sich nicht überreden, sondern baten, das Anspannen bestellen zu lassen.
Frau Lindemark war die erste, die in ihrem Pelzmantel hereinkam, um sich zu verabschieden. Sie war noch sehr blaß, und unter den Augen lagen blaue Schatten. Trotzdem mußte der Kandidat unwillkürlich denken, daß sie gewiß nicht gefühllos sei für das feierliche Schweigen, das sie auf dem Wege durch die Zimmer begleitete. Es lag etwas Theatralisches in ihrer Haltung, etwas in hohem Grade Bewußtes in ihrem Wesen. Die strengen Mienen der älteren Damen und die Teilnahme in den jungen Augen schien sie zu bemerken, nach der unterschiedlichen Weise zu urteilen, mit der sie ihnen die Hand reichte. Als sie schließlich an den Kreisarzt herankam, blieb sie einen Augenblick stehen und maß seine rundliche Person von Kopf bis zu Fuß. Dann wandte sie ihm verächtlich den Rücken, ohne Lebewohl zu sagen. –
Bald darauf saßen sie alle drei wieder im Wagen und fuhren den mühseligen Weg heimwärts nach Großhof. Sie hatten sich jeder in seine Ecke zurückgelehnt, und es wurde kein Wort geredet. Der Kandidat saß da mit einem beklemmenden Gefühl und wagte kaum zu atmen aus Angst, seine Gemütsstimmung zu verraten. Er hatte gesehen, wie Frau Lindemark, als ihr Mann ihr beim Einsteigen hatte behilflich sein wollen, seine Hand weggestoßen hatte; und als sie dann saßen, hatte sie dafür gesorgt, daß die Entfernung zwischen ihnen so groß wie möglich wurde. –
Anfänglich war es dunkel im Wagen. Der eine konnte kaum die Umrisse des andern unterscheiden. Aber bei einer Biegung des Weges fiel der Mondschein plötzlich auf Frau Lindemark, ohne daß sie selbst es merkte. Sie saß wie auf der Hinfahrt, den Pelzkragen in die Höhe geschlagen. Es war nicht viel weiter von ihr sichtbar als ihre runden Wölfinnenaugen. Weit geöffnet und fast grün in dem weißen Licht, starrten sie mit einem Ausdruck vor sich hin, der den Kandidaten schaudern machte. Es war ihm, als könnte er ganz in ihre Seele hineinsehen, könnte ihre Gedanken verfolgen, wie sie ohnmächtig mit wilden Mordplänen spielten, Rache und blutige Tat umkreisend wie die Katze den warmen Brei.
Eine Stunde später fuhren sie auf Großhof vor, und als der Kandidat – totmüde und zermartert – in seine Stube kam, fand er zu seinem Erstaunen einen Brief auf dem Tisch liegen. Der mußte mit der Post gekommen sein. Es war eine Briefmarke darauf. Aber er war nicht aus Kopenhagen, und die Handschrift war ihm unbekannt.
Er schnitt den Umschlag auf, und es durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl, als er den Brief mit von Hackes Namen in großen Schnörkeln und Bogen unterschrieben sah.
»Mein Herr!
Es wird Sie hoffentlich nicht verwundern, diese Zeilen von meiner Hand zu empfangen. Wie ich mir über Nacht erlaubte, Ihnen gegenüber zu äußern, habe ich mich vom ersten Augenblick an von Ihrer Persönlichkeit angezogen gefühlt, und es muß mir daher gestattet sein, Ihnen von neuem meinen Glückwunsch darzubringen. Ich nenne keinen Namen. Ich wiederhole nur: Glück und Erfolg in jeder Beziehung!
Ich vermute, daß Sie heute abend zusammen mit der Ungenannten an der Gesellschaft bei Gutsbesitzer Hansen in Sandhof teilnehmen werden. Auch ich bin eingeladen, ziehe aber die Freiheit vor, wobei ich mich jedoch aus gewissen Gründen nicht weiter aufhalten will.
Die eigentliche Veranlassung zu diesem Schreiben ist, daß ich zu unserer Diskussion über das Unsterblichkeitsproblem noch eine kleine Bemerkung hinzufügen will. Was ist eine Menschenseele? Ein Instrument, auf dem uns unbekannte Mächte spielen. Wohlan. Also gibt es doch etwas außerhalb des Individuums, etwas Überirdisches, wie wir zu sagen pflegen, von dem das Individuum abhängig ist, und was wiederum von dem Individuum abhängig ist. Dies muß feststehen. Aber wenn dem nun so ist, kann da die Seele also nicht aufhören zu existieren, solange das Überirdische oder sogenannte Ewige besteht, was mit andern Worten bedeutet, daß sie unsterblich ist. Hiervon bin ich jetzt auch völlig überzeugt.
Dies habe ich nicht unterlassen wollen, Ihnen im Vertrauen mitzuteilen.
Alexander von Hacke.«
Am nächsten Tage verließ der Kandidat Großhof. Er hatte abermals eine unruhige Nacht verbracht. Sobald es hell geworden war, stand er auf und machte sich reisefertig. Der Sturm hatte seine Stimme wiedergefunden. Es tönte und pfiff durch jeden Spalt im Hause. Er hatte ein Gefühl, als befände er sich im Innern einer alten, verstimmten Orgel. Jedesmal, wenn eine Tür irgendwo im Hause geöffnet wurde, fuhr der Wind quer durch das ganze Gebäude, schlug andere Türen auf und verstärkte alle klagenden, fauchenden und heulenden Laute, als hätte jemand auf das Pedal des Orgelwerks getreten.
Welch ein Schreckensreich! dachte er, als er am Fenster stand und über die endlose Heidelandschaft mit der einsamen Landstraße hinaussah, die der Weg zur Hölle sein zu müssen schien. Hier kannte man nicht einmal die Abwechslung, die der Wechsel der Jahreszeiten an andern Orten hervorruft. Hier waren keine Wälder, die grünten und gelb wurden, auch keine winterlichen Freuden, keine Schlittenbahn und Schellengeklingel. Lindemark hatte ihm erzählt, die Temperatur sei zu allen Zeiten des Jahres so ziemlich die gleiche, und wenn Schnee käme, so fegte der Sturm ihn wieder weg. Hier herrsche ewiger Herbst, eine schwere und düstere Novemberstimmung ohne Hoffnung und ohne Abschluß.
Auf dem Wege nach den Zimmern hinüber traf er Mamsell Steensen, die auf der Diele stand und Lindemarks Wagenpelz bürstete.
»Will der Gutsbesitzer ausfahren?« fragte er.
Die Alte sah ihn mit ihren einfältig bekümmerten Augen an.
»Der Leutnant ist über Nacht gestorben.«
»Gestorben?«
»Ja – oder wie man es nun nennen will. Der Amtsvorsteher und der Kreisarzt sitzen im Herrenzimmer.«
Als er dahinein kam, fand er die fremden Herren auf Lindemarks Sofa sitzen. Trotz des frühen Morgens stand da vor ihnen auf dem Tische ein Teebrett mit Portwein, wie es dort in der Gegend bei allen Gelegenheiten Gebrauch war. Sie saßen da und pafften ihre Zigarren und waren in mitteilsamer Stimmung. Hacke habe sich erschossen. Trotz der angeordneten Bewachung, die Befehl gehabt habe, ihn nicht zu verlassen, habe er Gelegenheit gefunden, seine Reiterpistole herauszuholen und sich eine Kugel durch den Unterkiefer zu schießen. Die beiden Herren kamen gerade von der Leichenschau. Alles deute daraufhin, sagten sie, daß er sich seit längerer Zeit mit dem Gedanken getragen habe, sich das Leben zu nehmen, die Entscheidung aber immer wieder hinausgeschoben habe. Bei der gerichtlichen Haussuchung habe man unter seinen Papieren einen Taufschein gefunden, auf dem er außen am Rande die Worte: »Und gestorben am 3. September« hinzugefügt und später wieder ausgestrichen habe.
Lindemark war tief erschüttert. Er ging im Zimmer auf und nieder und wiederholte fortwährend dieselben klagenden Worte.
Gleich nachdem der Kreisarzt und der Amtsvorsteher vom Hofe heruntergefahren waren, machte er sich fertig, um zu fahren. Auch in dieser Veranlassung hatte er irgendein öffentliches Amt auszufüllen. Er verabschiedete sich von dem Kandidaten, der ihm zuvor mitgeteilt hatte, daß er notgedrungen abreisen müsse, und auf dessen Bemerkung, daß er so früh am Tage wohl keine Gelegenheit haben würde, der gnädigen Frau Lebewohl zu sagen, erwiderte er schnell, er werde nicht vergessen, ihr seinen Gruß zu überbringen.
»Sie werden wohl begreifen, daß die traurige Nachricht einen gewissen Eindruck auf meine Frau gemacht hat. Hacke war ja doch ein Freund des Hauses. Und bei allen seinen Fehlern war er ein Mensch, den man liebhaben mußte. Wir haben beide große Teilnahme für ihn.«
Eine Stunde, nachdem er gefahren war, hielt ein anderer Wagen vor der Tür, der den Kandidaten nach der Bjergstedter Schenke zurückbringen sollte, von wo aus er am Nachmittag mit der Post weiter kommen konnte.
Er hatte gerade seinen Mantel angezogen, als die alte Steensen die Treppe vom Schlafzimmer herunterkam und mit Zeichen großer Unruhe den Bescheid überbrachte, daß die gnädige Frau ihn vor seiner Abreise gern sehen und mit ihm sprechen wolle.
Er war nicht sonderlich erfreut über diese Aufforderung. Übernervös, wie er war, ängstigte er sich vor dem Eindruck, den ihr Zustand auf ihn würde machen können.
Er wurde in ein kleines Zimmer geführt, das neben Frau Lindemarks Schlafstube lag. Hier saß sie am Fenster, das weiche, blonde Haar über einem lose sitzenden, dunkelroten Morgenrock aufgelöst. Als er hereinkam, erhob sie sich, ging ihm sonderbar automatisch entgegen, ergriff seine Hand, bat ihn, Platz zu nehmen und setzte sich wieder in ihren Stuhl.
Freilich sah sie sehr angegriffen aus, aber es war nichts von der Wildheit an ihr, vor der er sich gefürchtet hatte. Sie war erstaunlich ruhig und beherrscht. Allerdings hatten ihre Worte einen etwas singenden Klang, wie das in der höchsten Ekstase unwillkürlich der Fall zu sein pflegt. Aber ihre Rede war gedämpft und still, und sie saß mit der Hand unter der Wange da wie jemand, der in einem großen und erhebenden Gefühl ausruht. Der Gedanke durchzuckte ihn, ob ihr hier nicht ein herrlicher Traum in Erfüllung gegangen war. Ein Mann, obendrein ein Krieger, ein Edelmann, der sich um ihretwillen das Leben nahm! . . .
Sie fragte ihn, ob er gehört habe, was geschehen sei, und wie er darüber denke. Er habe Leutnant von Hacke ja getroffen, nicht wahr? Herr Hacke sei ein sehr ungewöhnlicher Mensch gewesen. Aber das Leben sei nicht gut gegen ihn gewesen. Die Zeit sei nicht für großangelegte Persönlichkeiten. Deshalb habe man ihm auch nichts Besseres wünschen können, als was jetzt geschehen war. Keine wirklichen Freunde. Und so arm – ach, so grenzenlos arm trotz seiner vornehmen Geburt und seiner vielen reichen Verwandten. Nein, es sei nur gut, daß er neuen Demütigungen überhoben war. Man habe gesagt, er sei exzentrisch, und das war er auch gewesen. Aber er hatte ja so viele Wunden im Krieg davongetragen. Auch am Kopf. Aber nun habe er Frieden. Und er habe einen schönen Tod gefunden. Oh, es sei etwas Stolzes um den Tod, wenn er so das freiwillige Werk des Menschen sei!
Als sich der Kandidat nun erhob, um Lebewohl zu sagen, nahm sie wie in Zerstreutheit seine ausgestreckte Hand und betrachtete ihn eine Weile stumm.
»Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Dreiundzwanzig.«
»Leben Sie in Kopenhagen?«
»Ja.«
»Und nun wollen Sie fort? Lassen Ihre Geschäfte Ihnen keine Zeit mehr?«
»Nein, ich muß notwendigerweise nach Kopenhagen.«
»Ja, ja!«
Sie gab seine Hand frei und wandte sich nach dem Fenster um, während er sich mit einer Verbeugung nach der Tür zurückzog.
Wenige Minuten später saß er im Wagen und fuhr durch das Tor hinaus. Vor ihm lag die große, leere Heide.
Und was nun? – fragte er sich selbst. Was nun? Und wohin?
Zurück zu Katharina? Zurück zu ihren Umarmungen auf dem kleinen Sofa im Kabinett? Zu ihres Vaters Moralpredigten und ihrer Mutter Fleischtöpfen? In Wirklichkeit zweifelte er nicht daran, daß sie ihm verzeihen würde, wenn er ihr reuevoll beichtete und seine Verirrung eingestand. Wahrscheinlich hatte sie seines Abschiedsbriefes noch niemand gegenüber Erwähnung getan, so daß das alte Verhältnis ohne peinliche Erklärungen andern gegenüber wiederhergestellt werden konnte. Binnen kurzem konnten sie vielleicht heiraten, wodurch ihm ein ruhiges und angenehmes Leben bereitet wurde, das es ihm ermöglichte, sich ganz der Ausübung seines Dichterberufes zu widmen. Katharina war ja nämlich nicht nur ein liebes und häusliches Mädchen, das so wie ihre Mutter eine tadellose Hausfrau werden konnte; sie war auch nebenbei eine gute Partie. Hierüber hatte er sich seinerzeit vergewissert, indem er in der Steuerliste nachgeschlagen hatte.
Zu seiner eigenen Verwunderung fühlte er sich dennoch nicht ganz befriedigt von diesen Zukunftsaussichten. Trotz allem, was er in diesen Tagen erfahren hatte, war da bei einem solchen Vaudeville-Idyll beständig etwas, das ihm zuwider war – ja, es war fast, als ob er jetzt weniger denn je imstande sein würde, sich bei dem ehelichen Glück zu beruhigen. Während er hier auf dem Wagen saß und der Sturm um ihn her heulte, fühlte er mit Angst und stillem Beben, daß er für die bürgerliche Gesellschaft unwiderruflich verloren war. So traurig leerhändig er auch von dieser Entdeckungsreise in das Wunderreich des Glücks zurückkehrte, er hatte nun einmal den Teufel im Nacken und mußte bis an seinen Tod seinem Sporn gehorchen, Hopp! Hopp! Im Galopp! – – – – –
Hier endet dieser Bericht von dem tragischen Liebesverhältnis eines alternden Romeos und Julias. Es bleibt nur noch übrig, dem geduldigen Leser einige zerstreute Mitteilungen über die späteren Lebensschicksale der auftretenden Personen zu machen.
Einige Zeit nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen erhielt der Kandidat einen (unfrankierten) Brief von Herrn cand. phil. Hauslehrer Langer, den er um ein wenig Nachricht über die weitere Entwicklung der Verhältnisse in Großhof gebeten hatte. Der alte Studentenvereinler sandte ihm zehn engbeschriebene Seiten mit einer humoristischen Schilderung von der Beerdigung des Leutnants. Er erzählte von dem großen Gefolge, das die ganze Kirche gefüllt habe, und von den anwesenden jungen Damen, die während der Rede des Pfarrers so ergriffen waren und so herzlich schluchzten, daß man eine Korsettstange nach der andern ringsumher in den Stühlen habe springen hören.
Von Frau Lindemark erfuhr der Kandidat mehrere Jahre später auf anderm Wege, daß sie überraschend schnell ihre große Liebe vergessen habe, um derentwillen sie Großhof in Verruf gebracht und Mann und Kinder heimatlos gemacht hatte. Nach Herrn von Hackes Tode war die Mutterliebe in ihr erwacht, und sie hatte die Kinder wieder nach Hause kommen lassen. In dem Verhältnis zu ihrem Mann trat indessen keine Veränderung ein. Sie schämte sich seiner nach wie vor, fühlte sich schmählich an eine Sklavennatur gefesselt, die durch Verschlagenheit und hinterlistige Verstellung Macht über sie gewonnen hatte. Eine Zeitlang war sie religiös beeinflußt gewesen. Sie, die früher die Geistlichen verachtet hatte, versäumte niemals, den langen Weg nach der Kirche zu fahren, mochte das Wetter sein, wie es wolle. Da der alte Propst durch Schwächlichkeit behindert war, den Gottesdienst zu verrichten, predigte ein junger, rotwangiger Kaplan von bäurischer Abstammung, in dem sie durchaus einen Heiligen sehen wollte, der vorausbestimmt sei, Märtyrer für die Sache der Kirche zu werden; und es fehlte nicht viel, daß sie auch dem Manne selbst diesen Glauben an seinen erhabenen Beruf beigebracht hätte. Es wurde überhaupt ringsumher in der Gegend allerlei über die beiden geredet. Bis er eines schönen Tages zu ihrer bittern Enttäuschung eine wohlhabende Hofbesitzerstochter heiratete und statt den Tod auf dem Felde der Mission zu suchen, eine fette Buchweizenpfarre auf Fünen antrat. Seit dieser Zeit versank sie in einen Zustand des Stumpfsinns, der mehr und mehr den Charakter der Geisteskrankheit annahm. Man erzählte, sie sitze fast immer oben in ihrer kleinen Stube am Fenster und starre mit einem leeren, gleichsam erloschenen Blick auf die Heide hinaus.
Bessere Gelegenheit hatte der Kandidat, das Schicksal der kleinen Katharina aus eigener Anschauung beobachten zu können. Kopenhagen ist ja freilich eine große Stadt, aber doch nicht so groß, als daß man nicht in Straßenbahnen und ähnlichem stets der Gefahr ausgesetzt ist, Leute zu treffen, die man am liebsten vermeiden möchte. Übrigens galt es auch von ihr, daß sie sich schnell tröstete. Nach einer Trauerzeit von kaum drei Monaten verlobte sie sich mit einem Krämer in der Hauptstadt. Viele Jahre tat sie, wenn sie einander begegneten, als kennte sie ihn nicht. Und wenn sie von ihrem Mann begleitet war, so schmiegte sie sich lächelnd an ihn in einem erheuchelten Zärtlichkeitsanfall. Später, als sie eine Frau in den Dreißigern geworden war, matronenhaft von Gestalt und Auftreten wie ihre Mutter, erwiderte sie eines Tages – wenn auch mit großer Feierlichkeit – seinen ehrerbietigen Gruß. Einige Zeit darauf, am Vormittag des Heiligen Abends, als sie sich zufällig in einem überfüllten Laden begegneten, wechselten sie einige Worte über das Wetter und den schrecklichen Schmutz auf der Straße, worauf sie ihm die Hand gab. Er begriff, es sollte bedeuten, daß sie verziehen hatte.
Was nun schließlich den Kandidaten selbst anbetrifft, so ist es an der Zeit zu offenbaren, was der denkende Leser im übrigen wohl schon verstanden haben wird, daß er es ist, der diese kleine Erinnerung aus jungen Tagen niedergeschrieben hat. Gestatten Sie mir also, meine Vermummung abzunehmen und mich als Verfasser der Erzählung vorzustellen, als der unwürdige Magister Glob, vierzig Jahre alt, Privatlehrer und Verfasser von Schulbüchern, mit einer kleinen Anstellung an einer der Kopenhagener Bibliotheken.
Daß ich mich daneben in die schöne Literatur eingedrängt und dadurch das Unglück gehabt habe, Unwillen bei verschiedenen der wirklichen, langhaarigen Poeten von Gottes (und Rezensenten) Gnaden zu erregen, wird einem Teil der Leserwelt vielleicht bekannt sein. Ich erwähne das in aller Bescheidenheit und fühle sehr wohl, daß es einer Entschuldigung bedarf, wenn ich mich jetzt wieder erkühne, nach der wohlwollenden Aufmerksamkeit des Publikums zu angeln und die Kritik mit dieser Unbedeutendheit von meiner Hand zu belästigen.
Was übrigens mich selbst und meinen wenig interessanten Lebenslauf betrifft, so brauche ich kaum mehr hinzuzufügen. Falls meine geehrten Leser in Kopenhagen ansässig sind und eines Morgens gegen neun Uhr zufällig eines bebrillten Herrn ansichtig werden sollten, der in größter Eile um die Ecke der Klosterstraße schlüpft, einen Regenschirm in der Hand und ein Päckchen Hefte unterm Arm – so bin ich das und befinde mich auf dem Wege nach der Schule. Oder, wenn Sie um die Mittagszeit nach der Kgl. Bibliothek kommen, um ein Buch zu leihen, so wird der Konfuseste von den zwei, drei Konfusen, die hier von Amts wegen das Publikum anschnauzen, wie – zu meinem Bedauern – behauptet wird, auch meine Wenigkeit sein. Und wenn Sie endlich in einer späten nächtlichen Stunde durch die öde, widerhallende Norderstraße gehen und in einem sonst dunklen Hause hoch oben unterm Dach ein erleuchtetes Fenster sehen, so bin ich das abermals, ich, Magister Glob, der, eine Feder in der Hand, dort oben am Schreibtisch steht und träumt . . . von einer neuen Zeit und einer neuen Generation träumt, die Temperament und Leidenschaft nicht mit Hysterie verwechselt, die nicht gedankenlos mit den großen Passionen spielt wie Kinder mit Streichhölzern, sondern sich ihnen in Angst und Beben hingibt und sich von ihnen emporheben läßt wie die kleinen Vögel, die auf dem Rücken der Adler über hohe Bergzinnen reiten . . . träumt, während ich über das Pult gebeugt stehe, die Teetasse vor mir, und meinen bescheidenen Beitrag zu dem Erstehen eines solchen Zukunftsgeschlechts beisteure, indem ich Aufgaben verbessere, Bücherkataloge verfasse und hin und wieder, als Tintenkleckser, solche kleinen belehrenden und moralisierenden Erinnerungen aus meinem eigenen Leben niederschreibe . . . gar nicht zu reden von meinem lange angekündigten griechischen Wörterbuch für Schulgebrauch und häusliche Übungen, das sich jetzt wirklich seiner Vollendung nähert und im voraus allen Interessenten ehrerbietigst empfohlen sein soll.