Henrik Pontoppidan
Der Teufel am Herd
Henrik Pontoppidan

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Thora van Deken

Auf einer der hölzernen Bänke im Wartesaal einer kleinen ostjütischen Landstation saßen an einem Herbstabend ein paar Bauern und warteten auf einen Zug, der in einer kleinen Stunde kommen sollte. Der Rauch aus ihren Pfeifen zog sich in langen Streifen durch die naßkalte Luft und sammelte sich gleich einer schläfrigen Wolke um die Petroleumlampe unter der Decke. Sie saßen da und schwatzten über einen, der im Sterben lag. Nämlich über Gutsbesitzer Engelstoft, die Standesperson der Gegend, den Herrn von Sophiehöj und Besitzer eines guten Packens zinsentragender Papiere.

Dieser Mann und seine häuslichen Verhältnisse hatten während der letzten Jahre dem Klatsch der Gegend reichliche Nahrung geliefert. Nach einer achtzehnjährigen Ehe war er von seiner Frau geschieden worden und hatte sich mit einem ganz jungen, sehr bürgerlichen, aber überaus schönen Mädchen, einer Schwester des Realschuldirektors drinnen in der Provinzstadt, verlobt.

Da waren ja einige, die den Gutsbesitzer aus diesem Grunde strenge verurteilt hatten. Aber neben allem offiziellen Ärgernis war man im allgemeinen sehr zufrieden mit dem Ereignis gewesen. Frau Engelstoft hatte sich in der Gegend nicht beliebt gemacht. Die meisten erblickten in ihr ein wahres Ungetüm. Es war und blieb den Leuten ein Rätsel, wie der schöne und lebensfrohe Gutsbesitzer sich mit ihr hatte verheiraten können. Freilich war sie selbst einmal eine Schönheit gewesen, nicht groß von Gestalt, aber doch recht stattlich. Noch immer lag eine gewisse Hoheit über ihrer aschblonden Erscheinung mit dem liniengeraden Rücken. Man mußte ja auch anerkennen, daß es im wesentlichen ihrer Sorgfalt und rücksichtslosen Energie zu verdanken war, wenn Sophiehöj und Engelstofts andere Besitztümer, mit denen sowohl er als auch sein Vater recht nachlässig geschaltet hatten, wiederum in eine blühende Verfassung gebracht waren. Aber sie war so mißtrauisch, zanksüchtig und geizig, daß die Leute von ihr sagten, sie fordere Rechenschaft auch von jedem halben Öre, der im Haushalt draufging.

Sie stammte von väterlicher Seite selbst aus einer Gutsbesitzerfamilie. Ihre Mutter dagegen war aus Bauerngeschlecht, die Tochter eines reichen Hofbesitzers und Pferdehändlers aus der Gegend von Randers, was sie so wenig vor Fremden zu verbergen suchte, daß sie sich im Gegenteil stets ihrer Mutter und deren Familie rühmte, während sie Fremden gegenüber ihren Vater, den Jägermeister van Deken, niemals erwähnte. Mit junkerlicher Freimütigkeit hatte dieser nämlich das Vermögen des Pferdehändlers verzehrt und verpraßt, so daß die Mutter nach seinem Tode mit ihren beiden halberwachsenen Kindern auf der Landstraße stand. Als Engelstoft seine künftige Gattin zum erstenmal sah, war sie recht und schlecht Gouvernante auf einem der Güter in der Gegend und hatte ihren Platz am unteren Ende des Tisches neben den Kindern des Gutsbesitzers.

Aber trotz ihrer märchenhaften Erhöhung von der armen Lehrerin zur Herrin von Sophiehöj war sie von Jahr zu Jahr immer verschlossener und menschenfeindlicher geworden. »Die Kröte« nannten die Bauern in der Gegend sie. Beständig zwang sie ihren friedliebenden Mann zu Rechtsverfolgungen und gerichtlichen Klagen, so daß er bald mit den Behörden wegen Ausbesserung einer Wegestrecke, bald mit einem Nachbarn wegen einer Grenzscheide im Prozeß lag. Bei dem bloßen Argwohn, daß man sie übervorteilen könne, setzte sie lieber ihr ganzes Glück aufs Spiel, als daß sie von einem Vergleich hören wollte.

Es hatte den Ehemann denn auch einen schweren Kampf gekostet, die Scheidung zustande zu bringen. Die Leute begriffen nicht, wie Engelstoft den Mut dazu gefunden hatte. Sein juristischer Vertreter, Rechtsanwalt Sandberg, war in der Woche, in der die Ehescheidungsverhandlungen gepflogen wurden, täglich in Sophiehöj gewesen; und man erzählte, daß die Ehegatten, die sich jeder in seinem Flügel des Schlosses verbarrikadiert hatten, nur in Gegenwart von Zeugen miteinander sprachen, während ihre Tochter, die sechzehnjährige Esther, in ihrem Zimmer eingeschlossen saß und von ihrer Mutter wie eine Geisel bewacht wurde.

Es wurde schließlich vereinbart, daß der Gutsbesitzer selbst Sophiehöj, das der Familie zum gewöhnlichen Aufenthaltsort gedient hatte, behalten sollte, und daß Frau Engelstoft im Namen der Tochter Agersögaard übernahm, das in einer entlegenen Ecke von Vendsyssel lag und ein bedeutend größeres, aber schlecht gehaltenes Gut mit großen unkultivierten Heide- und Moorstrecken war. Sie hatte dies gerade wegen der Einsamkeit der Lage vorgezogen. Außerdem wurden ihr persönlich fünfzigtausend Kronen in barem Gelde zugesprochen.

An demselben Abend, an dessen Nachmittag der Ehescheidungskontrakt vor dem stellvertretenden Amtmann unterschrieben worden war, verließ sie Sophiehöj mit der Tochter, die nicht einmal die Erlaubnis erhielt, ihrem Vater Lebewohl zu sagen. Man erzählte, daß das verwirrte und eingeschüchterte Kind ihm habe zuwinken wollen, der oben von seinem Fenster in Verzweiflung ihren Namen in die Finsternis hinausrief, als der Wagen abfuhr. Die Mutter aber habe ihr das Taschentuch aus der Hand gerissen.

Schon ein paar Wochen später veröffentlichte der Gutsbesitzer seine Verlobung mit dem jungen Mädchen, dessen frische, zigeunerhafte Schönheit ihn verhext hatte. Sie und ihr Bruder, der Realschuldirektor, die beide gleich ungeduldig waren, sich auf Sophiehöj gütlich zu tun, ließen ihm keine Zeit, sich in seinen Kummer über den Verlust der Tochter zu versenken.

Aber das Unglück hatte sich nun einmal auf dem Gute eingenistet. Kaum ein halbes Jahr danach erkältete sich die junge Braut auf einem Weihnachtsball, bekam Lungenentzündung und starb.

Bei ihrem Begräbnis wurde gesagt, daß Engelstoft ihr wohl bald nachfolgen werde. Er war auf einmal ein alter Mann geworden. Von Jugend an hatte er den Keim zu einem Herzleiden in sich getragen, das jetzt aufflammte und seine Lebenskraft verzehrte!

»Es is so, wie ich dir sag, Per!« sagte der eine von den zwei Bauern, die im Wartesaal saßen und aus ihren Pfeifen pafften. »Er hat höchstens noch acht Tage zu leben. Denn is es aus. Das hat der Doktor selbst gesagt.«

»Herrgott!« sagte der andere, der ein älterer Mann mit einem in sich gekehrten Ausdruck war. »Daß es solch schnelles Ende mit ihm nehmen mußt'!«

»Ja, es is sonderbar zu denken – das is sicher und gewiß. Denn das muß man ihm lassen – ein Staatskerl is Engelstoft sein Lebtag gewesen. Und gut gegen arme Leute – soweit das Weib es ihm erlaubte.«

»Herrgott!« wiederholte der andere in Gedanken versunken. »Daß es auch solch Ende nehmen mußt'!«

»Ja, wer hätt' das wohl gedacht! Denn Engelstoft is doch noch ein jüngerer Mann. Laß mal sehen – er kann wohl knapp an die Fünfzig sein. Aber die Jahre allein zählen nich' immer. Das muß man bedenken. Die Sorgen fressen an den Eingeweiden – das is ein altes Wort. Und Engelstoft, der hat nu, weiß Gott, seine Last zu ziehen gehabt. Gott in aller Welt, was hat der arme Mann nich' mit der Kröte durchzumachen gehabt, ehe er das Gespenst los wurd'. Hu! Hu! Die hat ihm mehr als einen Büschel Haar in seinem Schopf weiß gemacht!«

»Ja, sie war 'ne böse Hex'. Das muß man sagen.«

»Hu! Hu! – Und kann man sich wohl was Ärgerlicheres denken, als daß die Braut hingehn und sterben muß, gerad als er sie sicher hatt'. Das muß ihn doch gewaltig gebost haben.«

»Ja, ja, Mads, das war nu mal so Gottes Wille.«

»Das war es natürlich; das is ein wahres Wort, Per! – Aber so'n schönes Mädchen, wie sie doch war. Ich weiß noch – es is nu gerade ungefähr ein Jahr her –, ich kam von dem Limer Moor mit 'ner Fuhre Torf gefahren. Da begegnete ich ihnen im Ostwald. Sie kamen gerade auf mich zu geritten, auf ein paar roten Biestern. ›Tag auch, Mads Iversen!‹ sagt Engelshoft so recht freimütig und schlug mit seiner Reitpeitsch' in die Luft. Und die Braut, die schmunzelt so ein bißchen und ritt auf seine rechte Seite rum. Ihre Backen waren ein bißchen rot – denn sie hatten sich ja ziemlich nah gesessen. Es war ein schöner Anblick.«

»Ach ja . . . das kann wohl sein! Aber . . .«

»Nie zu meinen Lebzeiten hab' ich einen Menschen mit solchen lustigen Augen gesehen wie das Mä'chen. Und wie ihr die Glieder an' Leibe saßen! Das hätt' dazumals, weiß Gott, kein Mensch nich' denken soll'n, daß sie drei, vier Monat' später drei Ellen tief unter der Erd' liegen und sich langweilen müßt'!«

»Ja, das sollt' nu so sein, Mads!«

»Ja, da is wohl nichts zu zu sagen. Und was für ein Begräbnis sie gekriegt hat! Ich glaub' wahrhaftig in Gott, Engelstoft selbst kriegt es nich' feiner.«

»'n Abend!« ertönte es im selben Augenblick aus dem andern Ende des Wartesaals.

Es war der Bahnwärter. Er kam mit einer angezündeten Handlaterne aus dem Bureau.

»'n Abend!« antwortete der ältere von den Bauern nach einer Weile.

»'n Abend!« sagte nun auch der andere, ein großer dicknackiger Mann mit einem rötlichen Bartwuchs, der sich bis ganz auf die Ohren fortsetzte. »Wir sitzen hier und schnacken über Engelstoft.«

Der Bahnwärter schraubte die Lampe unter der Decke in die Höhe – das Zeichen, daß der Zug zu erwarten war.

»Ja, es soll ja ganz dreckig mit ihm stehen, sagen sie.«

»Er hat höchstens noch acht Tage zu leben. Das soll der Doktor selbst gesagt haben.«

»Er muß doch 'ne tüchtige Portion für das Mä'chen übrig gehabt haben, daß er sich so davon unterkriegen läßt.«

»Ja, das sag' man noch mal. Das hat er auch gezeigt, damals, als er sich von der Kröte loskaufte, um sie zu kriegen. Agersögaard und ein halbes Hunderttausend in bar – das is 'ne runde Summe für 'ne Braut. Der junge Kresten Balle, der eben vom Seminar gekommen is', der hat neulich ausgerechnet, daß, wenn sie ihm nich' gestorben wär' und wenn sie man bloß so 'ne Jahre zwanzig verheiratet gewesen wären, denn wären es dreiundneunzig Kronen für jeden Tag gewesen, den Gott werden läßt – mit den Zinsen, versteht sich, 'n schöner Tagelohn!«

»Er – und was hat er nu dafür gekriegt!« bemerkte der alte Bauersmann.

»Das sag' man noch mal, Per. Aber so ist es mit den Art Leuten. Wenn es sich um Frauenzimmer handelt, denn werfen sie es allens aus 'n Fenster raus!«

»Habt ihr übrigens gelesen, was heut in der Zeitung steht?« fragte der Bahnwärter.

»Na, was steht da denn?« riefen beide Bauern gleichzeitig aus und ließen die Pfeifenspitzen aus dem Munde gleiten.

»Engelstoft hat ja Sophiehöj verschenkt. Als Todesgabe, oder wie es sonst heißt.«

»An wen?«

»Es soll, wenn er tot is, zu 'ner Wohltätigkeitsstiftung gemacht werden. Für alleinstehende und schwächliche Frauenspersonen. Das steht da in der Zeitung.«

»Das kann doch nie in' Leben seine Richtigkeit haben«, bemerkte der alte Bauer mit einem ganz bedenklichen Tonfall.

»Ja, es wird sich doch wohl so verhalten!« sagte der Rotbart und schlug sich beteuernd mit der Hand auf das Knie. »Das sieht Engelstoft gerade ganz ähnlich, 'n flotter Mann is er immer gewesen.«

»Ja – denn seht man«, erklärte der Bahnwärter weiter, »es is doch geradezu eine Eigentümlichkeit, daß sie – die Braut nämlich – gerade Sophie heißen mußt'. Das paßt zu Sophiehöj, versteht ihr. Dann wird ja auf die Weise das Ganze eine Art Andenken an sie.«

»Aber kann das nu auch von Rechtswegen zugehen?« sagte der Alte. »Er hat ja doch seine Tochter.«

»Ach, Gott Vater in' Himmelreich! Das Kind kriegt ja Gottes Gaben genug!« krähte sein Nachbar auf. »Agersögaard fällt ihr doch mal zu. Und einen mörderischen Haufen Geld kriegt sie von beiden Seiten. Die Kröte verklackert ihre Schillinge wahrhaftig nich'. Es soll ganz gewaltig sein, was sie da zusammenrackert. Sie sagen, sie hätt' schon über fünfzig Tonnen Heide umgepflügt. Ein Mordsfrauenzimmer!«

Draußen ertönten jetzt drei Schläge auf einer Signalglocke. Der Bahnwärter biß das Ende von einer Rolle Kautabak ab und schlenderte mit seiner Laterne auf den Bahnsteig hinaus.

Gleichzeitig wurde die Tür nach der Landstraße zu geöffnet. Und zugleich mit dem Sturm, der durch den Raum fegte und Sand und Papierfetzen von dem Fußboden aufwirbelte, erschien ein lebhafter, kleiner, hohlbeiniger Mann mit einem großen Wollwarenbündel auf dem Rücken und einem Stab in der Hand.

»Das is ja Wolle«, flüsterte der große Bauer dem andern zu. »Der kleine Schnurrer will mal wieder mit seinem Bündel auf die Wanderschaft.«

»Na – was sitzt ihr beiden da und salbadert?« sagte der Mann, nachdem er das Bündel abgewälzt und neben den andern auf der Bank Platz genommen hatte.

»Wir haben von Engelstoft geredet.«

»Das konnt' ich mir wohl denken. Ja, der schrummt wohl bald ab, der arme Kerl. Habt ihr auch schon das Allerneuste gehört?«

»Meinst du das, was heut' in der Zeitung steht?«

»Ne, ich meine weiß Gott das, was da in' Reisestall steht.«

»Was is das denn?«

»Das ist Engelstoft sein neuer Landauer, den er vergangenes Jahr gekauft hat. Der is eben da reingefahren. Sie erwarten heut' abend hohen Besuch auf Sophiehöj.«

»Denn is es am End' der Amtmann?«

»Ne, höher rauf, Mads Iversen!«

»Doch wohl nich' der neue Bischof?« fragte der Alte ganz benommen.

»Ne – noch höher rauf!«

»Ach was, Unsinn! Du willst uns doch wohl nich' einbilden, daß es der König selbst is'?«

»Ne – noch höher rauf!«

»Hör' mal, Wolle, du willst uns wohl um Michaelis in' April schicken. Wer soll denn heut abend kommen, wenn du es überhaupt weißt?«

»Den Teufel seine Großmutter in eigener Hoheit – wenn ihr mich nu verstanden habt.«

»Die Kröte!« riefen beide Bauern wie aus einem Munde aus und hoben sich förmlich im Gesäß.

»Ja, so is es und nich' anders! Sie und die Tochter kommen nu mit dem Zug. Kutscher Jens hat es mir erzählt. Der Kaplan saß auch in' Wagen. Er soll sie in Empfang nehmen. Und er is ja auch der Nächste dazu, nach allem, was man sich erzählt.«

»Ja, ja – der Tod versöhnt«, sagte der alte Bauer nach kurzem Schweigen und nickte vor sich hin.

»Und das is auch man gut!« fiel ihm der andere in die Rede. »Denn es war eigentlich schrecklich zu denken, daß er dahingehen sollt, ohne daß sie sich vertragen hätten. Aber ich hätt' der Kröte wirklich nich' soviel Herz zugetraut.«

Die Tür nach der Landstraße zu tat sich wieder auf. Der Wegeschmutz und die Papierfetzen führten abermals einen kleinen Rundtanz auf dem Fußboden auf und die Hängelampe steckte eine lange, schwarze Zunge nach der Decke hinauf aus. Einen Augenblick war es fast dunkel im Wartesaal.

Als die drei Männer auf der Bank sahen, daß es der Kaplan war, lüfteten sie ehrfurchtsvoll die Hüte und sagten Gutenabend. Der Kaplan nickte freundlich zu ihnen hinüber, sagte einige Worte über das Wetter und begann eine Wanderung auf und ab, die Hände hinter sich auf dem Rücken.

»Wir können den Zug wohl bald erwarten?« fragte er nach einer Weile.

»Ja, gemeldet is er wenigstens«, antworteten die drei Männer im Chor – sie verfolgten ihn mit starren Augen auf seiner Wanderung durch den Raum, während die Lippen sich vor Fragelust unwillkürlich bewegten.

In Sophiehöj waren dem jungen Geistlichen, der erst neunundzwanzig Jahre alt war, die Türen bisher verschlossen gewesen. In ihrem Verhältnis zur Kirche hatten Engelstoft und seine Frau übereingestimmt, jedoch mit dem Unterschied, daß Frau Engelstoft ihren Bruch mit der Kirche offen bekannt hatte, während der Gutsbesitzer aus Rücksicht auf den alten Propst, der ihn konfirmiert hatte, und überhaupt um nicht Anstoß zu erregen, sich ein paarmal im Jahr in dem geschnitzten Kirchenstuhl blicken ließ, der ihm als Rittergutsbesitzer und Patron der Kirche vorbehalten war. Aber nach dem Tode seiner Braut und namentlich, nachdem er selbst krank geworden war und die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes erkannt hatte, konnte er den Trost der Religion nicht mehr entbehren. Und gerade weil der Kaplan ein Fremder war, den er nur in seiner Eigenschaft als Geistlichen kannte, den er nie an einer wohlbesetzten Tafel oder als Vierten an einem Spieltisch gesehen hatte, ward es ihm leichter, ihm sein Inneres mit Vertrauen zu erschließen, als dem alten Propst, der eine auffällige Schwäche für die Güter dieser Welt hatte.

Der Kaplan hatte denn auch diese Abschiedsbegegnung zwischen dem Gutsbesitzer und seiner Frau zustandegebracht. Mit Engelstofts Einverständnis hatte er ihr einen Brief geschrieben und darin sie und die Tochter eindringlich gebeten zu kommen, »ehe der Tod die endgültige Scheidung – oder die ewige Vereinigung vollzogen habe«. Es war jedoch keine Antwort eingetroffen, jetzt aber um die Mittagszeit hatte sie ihre Ankunft in einem kurzgefaßten Telegramm: »Komme heute mit dem Abendzug« gemeldet.

Auf der hölzernen Bank hatten die drei Landleute gesessen und leise geflüstert. Jetzt faßte der große Bauer Mut und sagte laut:

»Da kommt heut abend wohl noch Besuch nach Sophiehöj.«

Der Kaplan hemmte seine Schritte, schloß die Augen und lächelte.

»Ja – es wird Besuch erwartet.«

»Es soll ja wohl Frau Engelstoft sein, die erwartet wird.«

»Ja, ja! Also das weiß man schon!«

»Ich hätt' der Frau wirklich nich' so viel Herz zugetraut.«

»Ach nein, wir wollen ja am liebsten immer das Schlechteste von unsern Mitmenschen glauben. Warum tun wir das? Christus hat uns ja doch etwas anderes gelehrt.«

Der dicke Bauer schlug beschämt die Augen nieder und schwieg, und um weiteren Fragen über Frau Engelstoft zu entgehen, begab sich der Kaplan bald darauf auf den Bahnsteig hinaus.

Das Gerücht von dem Kommen der »Kröte« hatte sich indessen vom Krug aus verbreitet und die Leute aus den zunächstliegenden Häusern und Höfen aus dem Abenddusel aufgejagt. Von allen Seiten kamen sie in klappernden Holzschuhen nach dem Stationsgebäude hinab, die Knechte mit ihren langen Pfeifen, die im Winde Feuer sprühten, die Mädchen mit Tüchern um den Kopf, grinsend und schwatzend. Als man den Zug endlich da draußen in der großen Finsternis sah und er nach einer Weile an der Station hielt, war der Bahnsteig voll Neugieriger, die sich drängten und einen langen Hals machten, um sie zu sehen.

Der Schaffner öffnete alle Wagentüren und rief den Namen der Station. Aus einem Abteil erster Klasse vorn im Zuge war eine Dame in grauem Pelzmantel bereits ausgestiegen.

»Das is sie!« ertönte es aus dem Gedränge.

Wer sie von früher her kannte, sah sofort, wie sie gealtert war. Das lichte Kraushaar um die Stirn war ergraut und die Haut hing in Säcken unter den großen, hellen, stark ausgewölbten Augen. Aber sie trug den Kopf noch ebenso hoch wie in alten Zeiten und hatte dieselben hastigen, instinktiven Bewegungen.

Der Kaplan trat an sie heran und stellte sich vor. Sie beantwortete seinen Gruß, ohne ihm die Hand zu reichen, und als sie im selben Augenblick auf die zusammengeströmte Menschenmenge vor dem Wartesaal aufmerksam wurde, zog sie mit einer scheuen Bewegung den Schleier vor das Gesicht.

Der Kaplan hatte währenddessen in das Abteil hineingeguckt und es leer gefunden.

»Ist Fräulein Esther nicht mitgekommen?« fragte er erschreckt.

»Nein«, antwortete Frau Engelstoft und wandte sich im selben Moment ab, um ihrer Kammerjungfer, die jetzt aus einem Abteil in einem der andern Wagen herzugekommen war, einen Befehl zu erteilen.

»Aber dann kommt Ihr Fräulein Tochter wohl mit einem späteren Zug, nicht wahr?«

Sie tat, als hörte sie die Frage nicht, raffte das Kleid zusammen und steuerte mit ihren kleinen, sicheren Schritten gerade auf die Tür des Wartesaals zu, wo der neugierige Menschenhaufe unwillkürlich vor ihr zur Seite wich. Einzelne von den Männern lüfteten sogar die Mütze ein wenig.

Der Kaplan folgte ihr mit einem eingeschüchterten Ausdruck in den großen Kinderaugen.

Draußen vor dem Bahnhofsgebäude hielt ein geschlossener Landauer. Auf dem Bock saß stramm und steif der dicke Kutscher Jens, der ängstlich zu seiner früheren Herrin herunterschielte, während er mit der Peitsche grüßte.

Frau Engelstoft, die noch nicht nach dem Befinden des Kranken gefragt hatte, setzte sich mitten auf den Vordersitz, offenbar um zu verhindern, daß der Kaplan neben ihr Platz nahm. Der Kammerjungfer, die zu dem Kutscher hinaufsteigen wollte, gab sie den Befehl, sich in den Wagen zu setzen – in der offenbaren Absicht, jede vertraulichere Unterhaltung unmöglich zu machen.

Während der ungefähr zweistündigen Fahrt wurden denn auch nicht viele Worte gewechselt. Der junge Geistliche saß zurückgelehnt in seiner Wagenecke und wußte nicht, was er glauben sollte. Mit Unruhe und Bekümmerung dachte er daran, wie entsetzlich die Enttäuschung für Engelstoft werden würde, wenn er erfuhr, daß die Tochter heute abend nicht mitgekommen war. Er erinnerte sich des verklärten Ausdruckes von Dankbarkeit und Glück, mit dem der arme, todkranke Mann ihm gesagt hatte, daß sie kommen würde. Aus seinen vielen vertraulichen Unterredungen mit ihm wußte er außerdem, daß Engelstoft sich reichlich so viel bedrückt fühlte von dem Kummer und der Schande, die er über die Tochter gebracht hatte, wie von dem Unrecht der Mutter gegenüber.

Er selber hatte das junge Mädchen niemals gekannt. Er war ihr ein paarmal auf ihren Ritten zusammen mit dem Vater begegnet und von daher erinnerte er sich ihrer als einer blonden, nur erst halb ausgewachsenen kleinen Frauengestalt mit ein paar großen, luftblauen Augen. Aber rings umher in der Gegend hatte er die Leute oft von dem reden hören, was sie ihre Mißhandlung durch die Mutter nannten. Während der Vater sein Kind verstohlen verhätschelte, sollte ihr Frau Engelstoft eine sehr strenge Erziehung gegeben haben und durch allerlei Abhärtungskuren und ein übertriebenes Leben in freier Luft versucht haben, eine Amazone aus ihr zu machen.

Welche Absicht konnte nun diese unergründliche Frau damit haben, daß sie allein kam? Es war ihm, als läge in ihrem zugeknöpften Wesen ihm gegenüber etwas, das nichts Gutes verhieß.

 

Gutsbesitzer Engelstofts Schwager, der Realschuldirektor, saß zur selben Zeit im Bibliotheksaal auf Sophiehöj und ordnete einige Papiere. Jede zweite von den Kerzen in dem großen Glasprismenkronleuchter war angezündet und außerdem waren ringsumher auf den Tischen Lampen angebracht. Der wollhaarige und negerlippige Mann, der trotz seiner Häßlichkeit der verstorbenen Schwester glich oder doch auf alle Fälle durch sein südländisches Aussehen an sie erinnerte, hatte es verstanden, sich seinem kranken Schwager immer unentbehrlicher zu machen. Seit dieser das Bett nicht mehr verlassen konnte und nicht länger imstande war, mit Fremden zu sprechen, hatte er die Leitung des Gutes übernommen. Jeden Tag nach der Schulzeit ließ er sich in der besten Equipage dahinaus holen, und hier in der Bibliothek empfing er den Verwalter und den Rechnungsführer, ohne zu verhehlen, daß er jetzt Herr des Schlosses war und daß auch in Zukunft kein anderer Wille als der seine gelten würde.

Die Papiere, die er in diesem Augenblick so eifrig durchblätterte, waren eine Sammlung vergilbter Akten, die er aus dem uralten Archiv des Schlosses herausgesucht hatte. Der Realschuldirektor war ein Mann mit Universitätsbildung und mit einem keineswegs erloschenen wissenschaftlichen Ehrgeiz. Mit einer besonderen Vorliebe hatte er es unternommen, dies staubige Archiv mit seinen jahrhundertealten Briefen, Kaufurkunden, Eingaben zu Rechtsstreitigkeiten und dergleichen Hinterlassenschaften zu ordnen. Er war Historiker von Fach und betrachtete sich in seinen großen Augenblicken als Verkannten, den Bosheit und Dummheit als gemeinen Büchsenspanner in die Provinz vertrieben hatten.

Er war gerade von Tische gekommen, angeregt von vielem Essen und gutem Wein. Eine ringförmige Wolke von Havannarauch schwebte gleich einem Glorienschein über seinem Kopf, und vor ihm stand eine Kaffeeanrichtung mit einer Auswahl von Likören.

Daß Besuch im Schloß erwartet wurde, wußte er nicht, geschweige denn, wer es war. Der Schwager hatte gerade, bevor er kam, einen bösen Anfall von Atemnot gehabt und hatte ihn deshalb nicht empfangen können. Und die wenigen anderen, die Bescheid wußten, hatten strengen Befehl, nichts zu sagen. Engelstoft wollte seinem Schwager selbst mitteilen, was bevorstand.

Es war auch ganz still ringsumher, keine ungewöhnliche Unruhe oder Geschäftigkeit, die seinen Verdacht erwecken konnten. Alle Viertelstunden ließ die große Rokokoschrankuhr draußen auf der Diele mit einem oder mehreren schnellen Schlägen, denen eine kleine Walzermelodie folgte, von sich hören. Und kurz darauf dröhnte ebenso regelmäßig die Jüngstegerichtsstimme der Turmuhr. Sonst war da nur das ewige, schwerfällige Sausen des Herbstwindes draußen in den halbnackten Bäumen des Parks.

Er hatte ein Band um das alte Dokumentenbündel gebunden, und nun lehnte er sich in den Armstuhl zurück, während seine fleischigen Lippen mit einem energischen kleinen Knall einen neuen Rauchstrahl emporsandten.

Er glaubte ja, daß er schon allerlei Funde von bedeutend wissenschaftlichem Interesse gemacht hatte. Wenn er Otium erhielt, das ganze Material zu ordnen und zu sichten, wollte er ein Buch darüber herausgeben, mit Bildern und Faksimiles flott ausgestattet. Ein nationales Prachtwerk, das zu bezahlen die künftige Stiftung hier auf Sophiehöj sich natürlich als Ehre anrechnen mußte.

Seine kleinen, schwarzen Augen, leicht vergoldet vom Wein, wie sie waren, spielten mit lieblichen Bildern oben unter der hohen Stubendecke.

Was für ein Buch das werden würde! Die guten Professoren und Doktoren drinnen an der Universität sollten ihm diesmal nicht unter die Nase reiben, daß seine historischen Untersuchungen nicht neu und nicht auf Quellenstudien begründet waren. Sie sollten jetzt, zum Teufel auch, Quellenstudien bekommen, und zwar derartige, daß sie sich vor Neid die Zunge abbeißen würden! – Welche Galerie von tief interessanten Gestalten aus der Vergangenheit hatten nicht diese fahlen Dokumente für ihn ins Leben gerufen. Und welch ein Leben hatten sie nicht geführt, diese alten Schloßherren, die hier hinter wegelosen Wäldern lebten und gleich eigenmächtigen Königen über Leben und Gut des Nächsten verfügten. Kein Wunder, daß die Leute es in nächtlichen Stunden noch hier auf Sophiehöj spuken hörten! Daß sie blutige Gespenster durch die Zimmer spazieren sahen und Jammern und Schreien von unten her aus den Kellern vernahmen! Hier hatte ein Mann wie jener Ebbe Brok regiert, der einmal einem friedlichen Reisenden, dem reichen und angesehenen Bürger Nils Paaske aus Randers, mit höchst eigener Hand den Leib aufschlitzte, und der ein anderes Mal, als er in Veranlassung eines Streites über die Fischgerechtsame in dem Bach vor das Hardesthing geladen war, den Vogt ergreifen und in die Estruper Mühle schleppen ließ und ihn hier, mit dem Schwert in der Hand, zwang, seine Forderungen zu besiegeln. Ein anderer Besitzer hatte in einer einzigen Nacht in Trunkenheit seine beiden Güter verspielt, und in diesem Saal – vielleicht in demselben goldledernen Armstuhl, in dem er jetzt – saß hatte vor anderthalb Jahrhunderten die böse Frau Elsebe gesessen, sie, die aus Rachgier gegen einen Oheim, der, wie sie glaubte, ihre Familie bei der Erbschaftsabrechnung betrogen hatte, seine Gebeine ausgraben und den Hunden vorwerfen ließ.

Er war so tief in seine historischen Träumereien versunken, daß er ein vorsichtiges Pochen an die Tür nach der Diele hinaus überhört hatte. Jetzt tat sich die Tür auf; es war die alte Mamsell Andersen, die kam, um zu fragen, ob angespannt werden solle.

Sie und die andern Eingeweihten auf dem Schloß waren ängstlich gewesen, weil sein Besuch sich so in die Länge zog.

Sie hielten es für ganz notwendig, zu verhindern, daß er und Frau Engelstoft schon heute abend hier zusammenstießen.

»Ist es schon so spät?« sagte er und sah nach seinem großen goldenen Chronometer – einem Geburtstagsgeschenk des Schwagers. »Ja, ja – aber dann lassen Sie den Landauer anspannen. Es ist heute abend so schlechtes Wetter.«

Die alte Dienerin fingerte unruhig an ihrer Taille auf und nieder.

»Der Landauer ist nicht da, Herr Direktor.«

»Was soll das heißen? Wo ist er denn?«

»Jens ist vorhin damit weggefahren. Ich denke mir, er holt den Doktor.«

»Aber der Doktor wird doch sonst immer in dem alten Landauer geholt. Er war ja auch heute mittag hier.«

»Der Herr hat aber heute nachmittag einen so schlimmen Anfall gehabt, da –«

Die Alte schwieg. Es wurde ihr so schwer, zu lügen, verlegen sah sie zur Seite.

»Nun ja – dann geben Sie mir die Kalesche«, erwiderte der Schuldirektor, ohne Unrat zu ahnen. »Wollen Sie Schwester Bodil fragen, ob der Gutsbesitzer zu sprechen ist?«

»Ja, die Krankenpflegerin hat mich beauftragt zu sagen, daß der Herr den Direktor erwartet.«

»Gut.«

Er nahm einen Bronzehund von einigen zusammengehefteten Bogen herunter und begann mit seinen weiß fetten, wurstrunden Fingern darin zu blättern. Es war ein großes Dokument in korngelbem Umschlag.

Es war das Testament selbst, das die Zeitungen erwähnt hatten, eine Schenkungsurkunde, kraft der Engelstoft das Schloß Sophiehöj und das Gut mit der Bestimmung verschenkte, daß dort ein Ruheheim für Frauen errichtet werden sollte. Seine Augen liefen über die prächtig kalligraphisch geschriebenen Seiten hinunter, über die hundertundvierzehn Paragraphen mit den dazugehörigen Unterparagraphen, die er zum Teil selbst ausgearbeitet hatte. In Wirklichkeit hatte auch er Engelstoft ursprünglich den Gedanken zu diesem großen Wohltätigkeitswerk eingegeben, wenn er auch zu seinem Ärger zu der Hilfe des Kaplans seine Zuflucht hatte nehmen müssen, um den Schwager dazu zu bringen, eine große Anschauung von sich selbst und den Verpflichtungen des Reichtums zu gewinnen.

Glücklicherweise war es ihm jedoch bei der weiteren Ausführung des Planes gelungen, diesen Einfaltspinsel außerhalb der Sache zu halten, während er selbst und Rechtsanwalt Sandberg zu lebenslänglichen Mitgliedern der Direktion des Frauenheims eingesetzt waren. Dieses Amt sollte ja zwar ein Ehrenamt und folglich ungelohnt sein, aber ringsumher in der Unendlichkeit von Paragraphen der Schenkungsurkunde waren eine Menge kleiner Bestimmungen schlau versteckt, die zusammengerechnet eine ansehnliche jährliche Leistung an Naturalien und andere Begünstigungen ausmachten. Außerdem war er im Verein mit Rechtsanwalt Sandberg zum Testamentsvollstrecker des gesamten Nachlasses ausersehen, was ebenfalls ein Erkleckliches abwerfen würde. Alles in allem betrachtete er jetzt seine Zukunft als gesichert und beabsichtigte, nach des Schwagers Tode seine Schulwirksamkeit aufzugeben, um sich ganz der historischen Forschung widmen zu können.

Er legte die Zigarre hin und stand auf. Das Testament in der Hand, ging er nach der Tür, die in das Krankenzimmer führte, und klopfte an.

Der Kranke saß halb aufgerichtet in dem schweren Mahagonibett, auf Kissen gestützt, die so hoch um ihn her aufgestapelt waren, daß auch der Kopf ein wenig Ruhe finden konnte. Das Bett stand von der Wand ins Zimmer hinein, im Schatten eines hohen, dunkelgrünen Bettschirms, der an der einen Seite entlang aufgestellt war und von dem Lichte einer dahinterstehenden Lampe durchschimmert wurde. Mit Ausnahme der hierdurch abgeschnittenen Ecke der Stube, in der ein Kachelofen stand, lag der ganze große, hohe Raum im Halbdunkel da.

In einer andern Ecke stand eine Tür nach einem Nebenzimmer offen, wo die Krankenpflegerin an einem Tisch saß und Patience legte.

Der Schuldirektor näherte sich auf den Zehenspitzen. Der Kranke lag mit geschlossenen Augen da, als schliefe er.

»Nun, lieber Freund! Wie geht es denn?«

»Schlecht! Hör nur, wie es in der Brust pfeift!«

»Sei doch nicht so mutlos. Du siehst heute wirklich ganz munter aus, finde ich. Hast du nicht auch geschlafen?«

Der Kranke wandte den Kopf ab und antwortete nicht.

»Was hast du da?« fragte er nach einer Weile bei dem Geräusch von den Papieren, die der Schwager in der Hand hielt.

»Ja, das ist also das Testament. Es ist jetzt in vorschriftsmäßiger Ordnung, mit Unterschriften, Stempel usw. Ich möchte jetzt nur gern wissen, wo du es aufzubewahren gedenkst. Würde es nicht eigentlich am richtigsten sein, es bei Sandberg zu deponieren?«

»Es soll im Schrank liegen zusammen mit den andern Papieren. Du weißt ja . . . das mittlere Bord. Die Schlüssel liegen hier auf dem Nachttisch.«

»Ja, ja, ganz wie du willst.«

Er öffnete zwei kleine eiserne Türen in der Wand. Sie führten zu einem eingemauerten Schrank.

Als er wieder am Bett stand und das Schlüsselbund auf seinen Platz gelegt hatte, fragte er teilnehmend:

»Bist du sehr müde?«

»Ja – wieviel Uhr ist es?«

»Wieviel Uhr? Die Uhr ist bald acht. Das ist wahr, du erwartest den Doktor?«

»Den Doktor?«

Engelstoft schlug plötzlich seine todesmatten Augen auf und sah den Schwager mit großer Unruhe an. Er hatte vergessen, daß dieser noch nichts wußte.

»Setz dich ein wenig«, sagte er und zeigte auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand.

Als er aber schließlich erzählen sollte, was geschehen war, reichten weder der Mut noch die Kräfte aus. Er wußte, daß der Schwager sich im Geist seiner Schwester gekränkt fühlen würde, und er war auch zu sehr benommen von der Spannung und Erwartung, um sich zu einer Auseinandersetzung sammeln zu können.

Nun kam auch die Krankenpflegerin herein und meldete, daß der Wagen des Schuldirektors vorgefahren sei.

»Ja, ja,« sagte Herr Brandt, »es ist vielleicht auch am richtigsten, unsern lieben Patienten nicht länger zu ermüden. Auf Wiedersehen morgen! Und weitere gute Besserung, lieber Freund!«

»Wollen Herr Engelstoft nicht versuchen, ein wenig zu schlafen?« fragte die Krankenpflegerin, als er gegangen war. »Herr Engelstoft sehen ein wenig angegriffen aus. Und nun können wir ja bald die gnädige Frau und das gnädige Fräulein erwarten.«

»Ja. Wieviel Uhr ist es jetzt?«

»Es hat eben acht geschlagen.«

»Dann fahren sie vom Bahnhof ab. Jens hat doch wohl die Hendriksholmer vorgespannt? Nun – das ist wahr – davon verstehen Sie ja nichts. – Was ist das doch für ein sonderbarer Geruch? Ach ja, das ist sein Tabak. – Sagen Sie doch, Schwester Bodil, haben Sie nachgesehen, ob in den Zimmern meiner Fr . . . – in den Zimmern der gnädigen Frau – eingeheizt ist? Es darf nicht zu warm sein, nur überschlagen. Und dann sind da ein Paar blauseidene Pantoffeln, die meine Tochter damals vergessen hat. Die sollen vor ihrem Bett stehen. Alles soll in ihrem Zimmer genau so stehen wie an dem Abend. Wollen Sie Mamsell Andersen das von mir sagen?«

»Es soll besorgt werden.«

»Sonderbar, daß der Geruch mir so unangenehm sein kann. Und ich war doch selbst ein Raucher. Aber so ist es mit allem, wenn es zu Ende geht!«

»Herr Engelstoft sollten nicht so viel sprechen. Soll ich die Kissen nicht wegnehmen? Dann ruhen Sie besser.«

»Ja, nehmen Sie sie fort. – Aber warum haben Sie mir meine Medizin nicht gegeben, Schwester Bodil?«

»Der Doktor meinte, Sie sollten sie lieber nicht des Abends nehmen!«

»Ja, der Doktor! Der sagt so viel. Er sollte mir lieber ein wenig helfen! – Wenn die Leute wüßten, wie schwer es ist, zu sterben, könnten sie nicht so vergnügt sein.«

Als die Krankenpflegerin sich ein wenig mit ihm beschäftigt und ihm etwas warme Milch gegeben hatte, wollte sie gehen, damit er zur Ruhe kommen sollte. Aber ehe sie noch zu ihren Karten gelangt war, rief er sie zurück.

»Setzen Sie sich ein wenig hier zu mir her, Schwester Bodil«, bat er mit Angst in der Stimme. »Ich kann doch nicht schlafen, obwohl ich so müde bin. – Das ist wahr! Wenn der Kaplan mit heraufkommt, wollen Sie ihm dann sagen, daß ich ihn heute abend nicht empfangen kann. Aber das habe ich übrigens wohl schon gesagt. Man verliert auch das Gedächtnis! Ich bin ganz wirr im Kopf. – Ein wenig Wasser, Schwester Bodil!«

Kaum aber hatte er getrunken, als seine müden Augenlider zufielen. Nach einer Weile versank er wieder in seinen Morphiumdusel.

Er schlief noch, als eine Stunde später plötzlich Unruhe im Hause entstand, weil der Wagen gekommen war. Schwester Bodil konnte es jedoch nicht übers Herz bringen, ihn zu wecken. Sie dachte, es sei noch Zeit genug, und wollte ihm gern unnötige Spannung ersparen. Da erschreckte sie das Geräusch von Stimmen nebenan in der Bibliothek. Die Tür wurde leise geöffnet und die alte Mamsell Andersen erschien mit einem brennenden Armleuchter in der Hand.

Die Alte trat einen Schritt zur Seite und hielt mit verlegener Miene die Tür für Frau Engelstoft offen, die in Reisekleidung, mit Hut und Handschuhen, eintrat.

In der Tür bedeutete sie der Mamsell mit einer Handbewegung, daß sie gehen solle. Ein scheuer Blick glitt dann zum Bett hinüber, und beim Anblick des bleichen Kopfes dort in den Kissen zuckte sie heftig zusammen.

»Herr Engelstoft schläft!« sagte Schwester Bodil und errötete vor Verwirrung.

Frau Engelstoft nickte. Und als Schwester Bodil sich nun von selbst zurückzog, blieb sie stehen, um sich zu überzeugen, daß die Tür auch richtig geschlossen sei.

Sie hatte bisher nur flüchtig über den Zustand nachgedacht, in dem sie ihren ehemaligen Gatten antreffen würde. Ganz andere Gedanken hatten sie sowohl während des nächtlichen Aufbruchs von Agersögaard wie auch auf der tagelangen Reise hierher erfüllt. Erst als sie wieder in ihrem alten Heim stand und die blassen Gesichter der Dienstboten sah, ergriff die Todesstimmung sie. Mit wild pochendem Herzen war sie in das stille Krankenzimmer eingetreten, das in ihrer Erinnerung in dem Dunkel zauberischen Lichtflimmers des Märchens gelebt hatte, weil es ihre Brautkammer gewesen war.

Dann näherte sie sich dem Bett; am Fußende blieb sie aber wieder stehen und schloß die Augen.

War er das wirklich? Dies knochengelbe Gesicht! Dieser arme eingeschrumpfte Körper – war das alles, was jetzt von dem Mann übriggeblieben war, den man den schönsten Gutsbesitzer des Landes genannt und ihr deswegen mißgönnt hatte? Wahrlich! Die ewige Gerechtigkeit hatte die Rache in ihre allmächtige Hand genommen!

Sie öffnete die Augen wieder und sah die traurigen Überreste von dem goldenen Bart, der so weich und lockig gewesen war wie das Fell eines neugeborenen Lammes. Und es schauderte sie von neuem bei dem Anblick der bläulichen Häute um die lange Reihe leichenartig vorstehender Zähne! Waren das wirklich dieselben Lippen, deren Küsse sie einstmals des Verstandes beraubt hatten?

Der Kranke schlug die Augen auf. Eine Weile starrte er sie ohne Bewußtsein an, sah sich dann suchend um und wurde schließlich ganz wach. Als es ihm aber klar ward, wer sie war, senkten sich die schweren Augenlider wieder, und er blieb liegen, ohne sich zu rühren. Er mußte Mut sammeln, um die Augen zu ihr zu erheben, die er so tief gekränkt hatte.

»So bist du denn gekommen, Thora!« sagte er endlich und reichte ihr seine lange, knöcherige Hand. »Hab Dank!«

Es währte eine Weile, bis sie sich überwinden konnte, die ausgestreckte Hand zu nehmen. Nicht so hatte sie sich das Wiedersehen mit ihm gedacht. Aber die Erinnerungen an ihre glücklichen Stunden in diesem stillen Raum strömten auf sie ein und machten sie schwach. Mit abgewendetem Gesicht glitt sie auf einen Stuhl nieder, der neben dem Bett stand, und ließ ihn sogar ihre Hand behalten.

»Wo ist Esther? Laß sie doch hereinkommen.«

Sie schwieg und war in diesem Augenblick nahe daran zu wünschen, daß sie die Tochter mitgenommen hätte. Um ihm den unvermeidlichen Kampf wenigstens bis zum nächsten Tage zu ersparen, dachte sie daran, zu sagen, daß Esther später nachkommen werde. Da aber fiel ihr ein, daß ein Hinausschieben eine Gefahr bedeuten könne. Es konnte ja sein, daß er die Nacht nicht überlebte.

Entschlossen zog sie ihre Hand zurück und sagte:

»Esther? Die ist zu Hause!«

»Zu Hause?«

Der Kranke richtete sich plötzlich durch eigene Hilfe auf die Ellbogen auf und starrte sie an, vor bösen Ahnungen zitternd.

»Zu Hause – sagst du!«

»Ja. Wo sollte sie sonst sein?«

»Warum bist du selbst denn gekommen, Thora?«

»Du hast mich ja darum gebeten. Du schicktest mir auf alle Fälle Bescheid durch einen deiner Augendiener. Du selbst hast also diese Begegnung gewünscht. Was willst du von mir?«

Engelstoft sank wieder ins Bett zurück. Er hob die Arme und ließ sie, alles aufgebend, auf die Bettdecke fallen.

»Ich glaube, du fängst wieder da an, wo du aufgehört hast!«

»Hast du gedacht, daß ich mich verändert hätte? Was für einen Grund hätte ich wohl dazu haben sollen?«

»Daß du es übers Herz bringen kannst, einen sterbenden Menschen zu quälen, Thora! Was willst du denn von mir?«

»Du mußt doch wohl verstehen können, Niels, daß ich nicht um meiner selbst willen diese Reise nach einem Ort gemacht habe, wo ich siebzehn Jahre lang doch eine Art Heim hatte. Du und ich gehen einander ja nichts mehr an. So hast du selbst es gewünscht. Daß ich mich damals fügte, das habe ich Esthers wegen oft bereut.«

»Dann sage mir, warum du gekommen bist. Um deinet- und meinetwillen ist es also nicht geschehen.«

»Ach ja. Auch um deinetwillen, Niels.«

Sie schwieg einen Augenblick, glättete ihr Kleid über dem Knie und fuhr fort:

»Ich las gestern abend etwas von einer Schenkungsurkunde, die du gemacht haben sollst. Das verhält sich wohl so? . . . Du begreifst wohl, daß ich nicht aus Neugier frage. Mich persönlich geht die Sache ja nichts an. Als Esthers Mutter muß ich Bescheid wissen.«

»Du sollst Gelegenheit haben, mein ganzes Testament zu lesen. Dann wirst du sehen, daß ich Esthers Zukunft auf alle Weise gesichert habe, auch mit einem jährlichen Zuschuß hier von Sophiehöj, solange sie lebt.«

»Aber also . . . Sophiehöj selbst soll deiner Bestimmung nach in fremde Hände übergehen . . . soll zu einer Wohlfahrtsstiftung werden, nicht wahr?«

»Ja, Thora. Ich habe bisher nicht hinreichend auf das Wort geachtet, daß man den Zehnten von seinem Gut hingeben soll. Nun habe ich vor meinem Tode meine zu lange versäumte Christenpflicht erfüllen wollen. – Aber ich kann das viele Sprechen nicht aushalten, Thora. Lies selbst! Du kennst ja den Schrank dahinten. Die Schlüssel liegen hier auf dem Tisch. – Du wirst die Schenkungsurkunde auf dem mittleren Bord finden«, erklärte er, als sie geöffnet hatte. »In einem gelben Umschlag.«

Frau Engelstoft ging mit den Papieren an die Lampe hinter dem Bettschirm. Während sie sie eiligst durchflog, stieg und sank ihre Brust in schnellem Wechsel, und die Wangen glühten. Schließlich stimmte sie ein höhnisches Gelächter an.

»Hab' ich mir's nicht gedacht! Auf dies alles bist du ja selbst gar nicht verfallen, Niels! Und ein Blinder kann doch sehen, wer der Meister dafür gewesen ist. ›Es wird Herrn Schuldirektor Brandt die Befugnis erteilt –‹. ›Herr Schuldirektor Brandt im Verein mit Herrn Rechtsanwalt Sandberg haben deswegen allein darüber zu bestimmen, ob –‹. Aber das hab ich ja gewußt! – Es wundert mich nur, daß ich nicht auch den Namen des Kaplans finde.«

Der Kranke hatte abermals den Oberkörper ein wenig aufgerichtet.

»Du hast dich wirklich nicht verändert, Thora! Gleich mißtrauisch allen gegenüber! Gleich gehässig! Aber jetzt will ich dir ein Wort sagen, bevor ich sterbe. Und nun kannst du mich wohl nicht länger im Verdacht haben, verborgene Absichten mit dem zu haben, was ich sage. Du bist krank, Thora! Dein Gemüt ist krank. Du hast immer allein mit dir selbst und mit deinen eigenen Gedanken gelebt. Daher bist du so bitter und so bissig gegen alle. Möchtest du doch ein wenig mehr mit Leuten zusammenkommen. Dann würdest du sie anders ansehen. Und das Leben würde glücklicher für dich wie auch für Esther werden.«

Er konnte es nicht vertragen, mehr zu sprechen. Atemlos und schweißbedeckt sank er mit geschlossenen Augen in die Kissen zurück.

Während seiner Rede war Frau Engelstoft hinter dem Bettschirm hervorgetreten. Sie stand am Fußende des Bettes, die Papiere in der Hand. Und sie war wieder beherrscht und ihre Antwort war ohne Bitterkeit.

»Weißt du noch, Niels, den Morgen, als du mir sagtest, daß du eine andere liebgewonnen hättest, und mich um deine Freiheit batest? Ich konnte es dir ansehen, daß du dich darüber wundertest, wie ruhig ich es aufnahm. Jetzt will ich dir den Grund erzählen. Ich war darauf vorbereitet. Gleich von unserer Hochzeitsreise an, daß heißt von der Zeit an, wo ich dich und mich selbst wirklich kennenlernte, hatte ich gewußt, daß, wenn die Versuchung einmal an dich herantrat, du unterliegen würdest. Du sollst mir nicht widersprechen. Es verhält sich so. Du warst schön, reich, leichtsinnig, und die Frauen verhätschelten dich. Und was war ich? Eine arme Erzieherin, die du in einer Liebeslaune auf den Thron gesetzt hattest. Du weißt selbst, daß ich dich trotzdem nicht mit Eifersucht gequält habe. Aber eins habe ich getan. Ich strebte, soweit ich konnte, danach, Esthers und meine eigene Zukunft zu sichern. Ich wollte nicht zum zweitenmal als verachtete Bettlerin auf die Landstraße geworfen werden und das Schicksal meiner Mutter erleiden.«

»Das zu befürchten, hatte ich dir doch auf alle Fälle keinen Grund gegeben, Thora.«

»Das weißt du nicht. Du hast dich nie selbst gekannt. Du hattest immer im Überfluß gelebt – daher ist viel von unserm Unglück gekommen. Du hattest dich daran gewöhnt, mit Geld zu spielen wie mit so vielem andern. Du wolltest meine ›Gespensterfurcht‹ vor der Armut, wie du es nanntest, nicht verstehen. Aber ist man einmal in den Kot getreten worden und hat man sich um des trockenen Brotes willen demütigen müssen, so lernt man es, auch die Brosamen zu beachten. Hast du vergessen, wie es meinem Bruder drüben in Amerika ergangen ist? Der arme Junge ist Hungers gestorben. – Mißtrauisch nennst du mich. Ach ja! Das zu sein, hat mich das Leben wohl gelehrt. Du hast um deiner Bequemlichkeit willen vorgezogen, dich nicht belehren zu lassen. Das ist der ganze Unterschied zwischen uns beiden.«

»Jetzt kann ich nicht mehr, Thora. Du mußt mich in Frieden lassen.«

Aber sie war nun ganz in ihre eigenen Angelegenheiten versunken und hörte ihn nicht.

»Nur einmal vergaß ich mein Mißtrauen. Das war an dem Johannisabend, Niels, als wir beide uns verlobten. Das Vergessen habe ich teuer genug bezahlen müssen.«

»Ach, Thora! Daß du fortfahren kannst! Bist du denn gekommen, um mich zu töten? – Hatte ich vielleicht allein die Schuld, daß es so ging, wie es ging? Nein. Du weißt selbst, daß ich stets derjenige war, der nachgab. Ich suchte immer Versöhnung. Aber du wolltest Unfrieden und Streit. – Höre jetzt, was ich sage. Es ist die Bitte eines Sterbenden, Thora! Versprich mir, daß du dich nicht weiter da oben in die Einsamkeit und die Ungemütlichkeit auf Agersögaard vergraben willst. Denke doch an Esther. Sie ist erst siebzehn Jahre alt. Laß deine bitteren Gedanken dein und ihr Leben nicht länger vergiften. Sie haben Unglück genug angerichtet!«

»Willst du mir sagen, Niels – hättest du wirklich den Mut gehabt, Esther selbst zu erzählen, daß du nun auch sie erblos gemacht hast?«

»Ich habe dir zugesagt, daß Esthers Zukunft vollkommen gesichert ist. Sie bekommt nicht nur alles, worauf sie dem Gesetze nach Anspruch hat, sondern noch viel mehr.«

»Das brauchtest du mir nicht zu erzählen. Daß du das Gesetz auf deiner Seite hättest, konnte ich mir selber sagen. Das pflegt man zu haben, wenn man eine Niederträchtigkeit begeht. Das hattest du auch damals, als du mich mit Schimpf aus deinem Hause jagtest und mein Kind vaterlos machtest. Aber es gibt ein anderes Gesetz, Niels! Und ich sage dir, du hast kein Recht zu dem, was du hier tun willst. Esthers Zukunft ist hinreichend gesichert, sagst du. Woher weißt du das? Sicher ist nichts. Wohin ging das Geld meiner Mutter? Wir lebten sorglos in dem Glauben, daß wir reich genug seien für Zeit und Ewigkeit, und die Leute sahen zu uns auf wie zu höheren Wesen. Und eines schönen Tages stand Mutter wie eine Bettlerin mit Jean und mir vor dem Tor ihres eigenen Heims. Gesichert! Ja, das weiß Gott! In einer Welt voll von Schurken und Gesindel. – Aber gleichviel! Wenn dem auch so wäre. Sophiehöj ist Esthers Kindheitsheim. Hier hat sie ihre ersten sechzehn Jahre verlebt. Hier in diesem Zimmer, Niels, wurde das arme Kind geboren! Und ich selbst? – Ja, ich weiß es wohl. Damals, als wir zuletzt miteinander sprachen und du deinen Rechtsanwalt zum Beistand herbeigerufen hattest, da zwanget ihr mich, das lumpige Papier zu unterschreiben. Es sei der Befehl des Gesetzes, sagtet ihr. Aber jetzt sind wir allein, Niels. Sie, die uns damals trennte, ist nicht mehr. – Ach, Niels!«

Sie legte sich plötzlich auf die Knie neben dem Bett, warf das Testament hin und ergriff seine Hand.

»Niels! Tue es nicht! Schwöre mir, daß du es nicht tun willst! Du hast mich doch einmal lieb gehabt, Niels. Erinnerst du dich noch unseres Hochzeitstages? Erinnerst du dich, was du mir feierlich versprachest, damals, als wir allein hier in diesem Zimmer blieben?«

»Thora! So steh doch auf! Es könnte jemand kommen!«

»Denke daran, Niels, wieviel Herrliches wir miteinander gemeinsam gehabt haben. Du kannst gern sagen, daß ich dir eine schlechte Frau gewesen bin. Ich will gern alle Schuld auf mich nehmen, wenn du nur nicht neue Schuld über mich und Esther bringen willst. In allem andern wollen wir uns nach dir richten. Nur das eine verlangen wir . . . nein, wir bitten dich darum, Niels –«

»Halte ein! Halte ein! Du tötest mich! . . . Meine Medizin! Rufe Schwester Bodil!«

Sie richtete sich auf und erhob sich. Sie war leichenblaß geworden in ihrer Erregung, und es zitterte um ihren Mund.

»Verbrenne das schmutzige Papier!« sagte sie und stieß mit steigender Wildheit gegen das zierlich kalligraphierte Dokument des Schuldirektors, das auf den Fußboden geglitten war. »Wirf es in den Ofen! Verstehst du denn nicht, wie es uns verhöhnt? Daß deine Tochter vor Scham über dich erröten muß! Was glaubst du, daß sie von einem Vater denken wird, der sie bestiehlt, um ein Ehrendenkmal für die – die Dame zu errichten, um deretwillen ihre Mutter verstoßen wurde? Du hast ihr einen jährlichen Unterhalt aus Sophiehöj zugesichert. Wie hübsch! Und du kannst glauben, daß Esther das annehmen wird? Daß sie sich als Almosen bieten lassen wird, was ihr nach dem Recht der Geburt zukommt? Aber das sieht dir ähnlich. Bei all deiner Vornehmheit und Adelsehre – Stolz des Herzens hast du niemals gekannt!«

Der Kranke hatte sie unterbrechen wollen, aber es war nur zu einem heisern Stöhnen geworden. Jetzt begann er mit den Armen zu fechten, unter vergeblichen Versuchen, sich aufzurichten. Aus der Kehle drang ein tief röchelnder Laut.

Als Frau Engelstoft endlich auf sein verändertes Aussehen aufmerksam wurde, ward sie bange und beeilte sich, die Krankenpflegerin zu rufen. Schwester Bodil nahm gleich eine kleine Flasche, die auf dem Nachttisch stand, und zählte einige grüne Tropfen in einen Löffel hinein. Der Schweiß brach in klaren Blasen aus seiner sich blau färbenden Stirn hervor. Die Finger krümmten sich und erstarrten.

»Schnell! Schnell!« rief Frau Engelstoft. Der Anblick seiner Leiden hatte sie auf einmal verwandelt.

Schwester Bodil führte den Löffel an seinen Mund, aber es war zu spät. Die Lippen waren krampfhaft zusammengeklemmt. Aus dem einen Mundwinkel quoll ein wenig Schaum.

Nach einem Kampf von einigen Minuten sank sein Körper in ihren Armen zusammen und der Kopf fiel auf ihre Schulter herab.

Frau Engelstoft hatte sich scheu hinter das Fußende des Bettes zurückgezogen. Hier stand sie während des Todeskampfes, die Hand gegen die Augen gepreßt. Sie hatte es nie ertragen können, Menschen und Tiere leiden zu sehen. Noch eine Weile, nachdem der Kampf beendet und er unwiderruflich ihrer Liebe und ihrem Haß entrückt war, blieb sie still und verzagt stehen, ohne Mut, dem Anblick des Toten zu begegnen. Während Schwester Bodil hinausstürzte, um Leute herbeizurufen, begleitete ihre schwärmerische Seele ihn hinein in das große Dunkel. Bis der Gedanke von einem Schwindel erfaßt wurde und ihn loslassen mußte.

Da nahm sie sich zusammen und betrachtete die Leiche, die noch mit halbgeöffnetem Munde und weit offenen Augen auf der Seite lag. Schnell näherte sie sich, um dem einstmals Geliebten das letzte Lebewohl zu sagen und ihm die Augen zuzudrücken, so wie sie es ihm einstmals in ihrer glücklichen Zeit gelobt hatte. Da entdeckte sie das Dokument, das unter dem Nachttisch lag, und dieser Anblick hielt sie zurück. Durchzuckt von einer dämonischen Eingebung, die im Nu zum Entschluß aufflammte, riß sie das Papier an sich und barg es in einer Tasche unter dem Kleiderrock.

Sie hatte eben ihre Kleider wieder in Ordnung gebracht, als die Krankenpflegerin mit der bestürzten Mamsell Andersen zurückkehrte. Einen Augenblick später kamen auch der Gutsverwalter und der Inspektor und nach und nach noch andere von den Leuten des Gutes. Die ganze Nacht hindurch umstanden weinende Menschen das Sterbebett, bis sich gegen Morgen die Diener des Gerichts einfanden und Siegel auf die Behälter des Verstorbenen setzten.

 

Einige Tage später wurde Gutsbesitzer Engelstoft von dem Gotteshause der Gemeinde aus unter großem Zulauf von Neugierigen aus Stadt und Land begraben. Obwohl in der Bekanntmachung des Todesfalles ausdrücklich gestanden hatte, daß die Beerdigung »in aller Stille« vor sich gehen solle, waren um die Mittagszeit alle Wege in der Nähe der Kirche oben vom Turm aus, wo der Küster saß und Ausguck hielt, wie Ameisensteige zu sehen. Fuhrwerke und Fußgänger wimmelten in dem herbstlichen Sonnenschein gleichsam aus der Erde auf. Alle Hofplätze unten im Dorf waren schließlich vollgepackt von allerlei Wagen. Die flotten Landauer der Honoratioren aus dem Städtchen standen hier Seite an Seite mit den ungemalten Häuslerkarren; und draußen auf den noch grünen Wiesen liefen die fremden Pferde angepflockt an ihren Leinen herum und wieherten einander zu wie auf einem Tierschauplatz.

Es hatte überall eine große Erregung hervorgerufen, daß »die Kröte« an das Sterbelager des Gutsbesitzers gerufen worden war. Und die Überraschung über ihr Kommen war zur Verblüffung geworden, als Frau Engelstoft nach dem Tode des Gutsbesitzers ruhig auf Sophiehöj wohnen blieb und die Leitung ergriff wie diejenige, die dort wieder Macht und Gewalt besaß. Gleich am Morgen nach dem Todesfall hatte sie den Gutsverwalter, den Inspektor und den Vogt zu sich beschieden und ganz wie in alten Tagen Befehle erteilt und Abrechnung von ihnen gefordert. Gleichzeitig verlautete es im Schloß, daß es zu einer Versöhnung zwischen den geschiedenen Eheleuten gekommen sei und daß der Gutsbesitzer schließlich die Schenkungsurkunde vernichtet habe, so daß Frau Engelstoft jetzt im Namen der Tochter wirklich rechtmäßig über all seinen hinterlassenen Besitz verfügte.

Die Geschichte klang glaubwürdig genug. Es war kein Geheimnis, daß der Gutsbesitzer ein Ja-Bruder gewesen war. Und »die Kröte« hatte ja früher gezeigt, daß sie es verstand, Nutzen aus seiner Schwäche zu ziehen. Das böse Teufelsweib! All die Furcht und der Abscheu, die sie in vergangenen Jahren den Leuten in der Gegend eingeflößt hatte, quoll wieder in den Gemütern auf. Namentlich auf Sophiehöj selbst war die Erregung groß, hatte man doch den Versuch gemacht, sie mit Gewalt zu vertreiben. Am selben Abend, als die Leiche des Gutsbesitzers, begleitet von reitenden Knechten mit brennenden Fackeln, zur Kirche gebracht war, wurden ein paar faustgroße Steine durch die Fensterscheiben in dem Flügel, in dem sie sich aufhielt, hineingeworfen. Und am Abend darauf hatten Scharen von den Leuten auf dem Gut, Knechte wie Mägde, sich unter ihren Fenstern aufgestellt und geheult und geschrien.

Jetzt saß sie da oben im Chor der Kirche neben dem Blumenhügel, der den Sarg verdeckte, in herkömmliche Witwentracht gekleidet, mit einem langen, dichten Schleier vor dem Gesicht. An ihrer Seite saß die Tochter, das blasse kleine Fräulein Esther, mit vom Weinen geschwollenen Augen. Der menschenfreundliche Küster hatte ihre hochlehnigen Stühle so weit nach vorne zu angebracht, daß der Anwesenden so viele wie nur möglich sie in ihrer Trauer beschauen konnten. Auf gewöhnlichen Rohrstühlen hinter ihnen saßen einige von den entfernten Verwandten des Verstorbenen, und drüben auf der andern Seite des Sarges war ebenfalls eine Reihe von Stühlen aufgestellt, für die Honoratioren der Gegend und für die nächsten Freunde des Hauses bestimmt.

Frau Engelstoft saß unbeweglich mit hochgetragenem Kopf und geradem Rücken. Ihre Hände ruhten wie gefesselt im Schoß. Es lag etwas Versteinertes über ihr. Aber hinter ihrem langen Witwenschleier war sie lauter Aufmerksamkeit. Wie durch ein Helmgitter starrte sie dadurch hinaus und betrachtete aufmerksam die langen Reihen Gesichter da unten in dem Halbdunkel der Kirche, die Hunderte von Augen, die alle auf sie gerichtet waren. Da war auch nicht einer, der sich räusperte, ohne daß sie aufmerksam wurde, nicht zwei, die zusammen flüsterten, ohne daß sie sie mißtrauisch beobachtete. So tief sie auch diese Menge verachtete, unterschätzte sie ihre Macht doch nicht. Sie kannte ihre Bosheit, ihre Schadenfreude und ihr unbezwingbares Zusammenhalten, in denen die Kraft der Gemeinheit besteht.

Allmählich, als sich die Kirche füllte und die Honoratioren sich einfanden – die Beamten in Uniform und mit weißen Handschuhen –, mußte sie an das Begräbnis ihres Vaters vor bald dreißig Jahren denken. Es waren dieselben offiziellen Ehrenbezeigungen. Es war eine ähnliche Horde von übersättigten Herren mit oder ohne Uniform, wie sie damals als Ehrenwache um den Sarg saßen, die »Freunde« ihres Vaters, die gute Miene zu seiner närrischen und verbrecherischen Selbstvergötterung gemacht hatten, solange nur Hoffnung auf noch ein üppiges Mittagessen auf seine Kosten war. Drei Wochen später, als das Heim bis auf die kahlen Wände geplündert wurde, hatte die ganze Bande den Rücken gekehrt. Nicht einer von diesen Schmarotzern hatte auch nur einen Finger gerührt, um das Unglück abzuwenden. Sie war selbst zugegen gewesen, als die Diener des Gerichts kamen und die Mutter ihnen ihr Schlüsselbund übergeben mußte. Sie war damals zwölf Jahre alt, aber bis an ihren Tod würde sie sich des Auftritts erinnern. Ohne recht zu verstehen, was hier vor sich ging, hatte sie sich mit einem Schrei dem Hardesvogtassistenten in den Weg gestellt, als er die Schatulle der Mutter, das Heiligtum des Hauses, öffnen wollte. In ihrer kindlichen Einfalt hatte sie ihm mit der Polizei gedroht.

Jetzt schwieg die Kirchenglocke. Es wurde ein kirchliches Lied gesungen, und der alte Propst stellte sich zu Häupten des Sarges auf.

Mit den gefalteten, auf seinem vorspringenden Bauch wie auf einem Betpult ruhenden Händen starrte er hinaus über die Versammlung, die da unten in der Kirche jeden Platz bis zu den Armenbänken an der Eingangstür füllte. Ja, auch draußen vor der Tür drängten sich die Leute Kopf an Kopf bis weit hinaus auf dem sonnenbeschienenen Kirchhof, wo ein Verein mit seinem Banner und vier Messingbläsern, die einen Choral über das Grab blasen sollten, aufgestellt war.

Der Propst hatte noch nicht lange gesprochen, als es schon allen klar war, daß das, was das Gerücht von der Schenkungsurkunde des Verstorbenen berichtet hatte, wirklich eine Tatsache war. Seine einfältige Rede formte sich zu einer feierlichen Wiedereinsetzung von Frau Engelstoft in alle ihre ehemaligen Würden. Freilich erkühnte er sich nicht, seine gewöhnliche Begräbniswendung, »die untröstliche Gattin des Entschlafenen«, anzubringen, um so fleißiger aber benutzte er Ausdrücke wie »die lieben, ehrwürdigen und tiefbetrübten Hinterbliebenen« und machte dabei eine alleruntertänigste Verbeugung nach Frau Engelstoft hinüber.

Unten in der Kirche wurde aus dieser Veranlassung ein wenig getuschelt. Aber der Propst war ein schuldenbelasteter Mann, seine Pfarre war nicht groß. Das Feiertagsopfer aus Sophiehöj durfte nicht verscherzt werden.

Nach seiner Rede wurde wieder ein Kirchenlied gesungen. Und dann trat der Kaplan vor, um die Feierlichkeit zu beschließen. Sein blondlockiger Knabenkopf nahm sich sonderbar aus über dem langen, schwarzen Talar mit dem mittelalterlichen Tollenkragen.

Kaplan Bjerring gehörte der »Jugendmission« an, einem dieser Wirbelwinde, die sich mit jeder neuen Generation in dem geschlossenen Hause der Kirche durch Druck von außen her erheben, den Staub da drinnen ein wenig umherbewegen und für eine kurze Weile die schläfrigen Altarkerzen aufflammen oder schwelen machen. Sein Wort hatte namentlich den Weg zu der Jugend gefunden und zu denen von den Älteren, die nicht so alt waren, daß sie sich noch erinnern konnten, wie auch der Propst seinerzeit als ein solch froher und hoffnungsvoller Bote dort erschienen war, mit Glauben an die glückliche Wiederbelebung des Gemeindelebens. Daß der religiöse Eifer und der Glaubensmut des Kaplans nicht leere Worte waren, dafür hatte er übrigens kürzlich einen Beweis geliefert, indem er sich erboten hatte, einen gefahrvollen Missionsposten im östlichen Asien zu übernehmen, von wo noch kein Missionar lebend zurückgekehrt war. Zu seinem großen Kummer hatte der Plan aufgegeben werden müssen, weil es der Missionsgesellschaft an Geld fehlte.

Seine Gedanken waren recht gewöhnliche Sonntagsgedanken, aber er entwickelte sie in einer frischen und lebenden Sprache, und es herrschte Totenstille in der Kirche, während er sprach. Selbst das junge Fräulein Esther wurde aufmerksam und hielt inne mit ihrem heftigen Weinen, um zu lauschen.

Frau Engelstoft hingegen hörte und sah nichts. Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf zwei Männer gerichtet, die im letzten Augenblick auf der äußersten Stuhlreihe drüben auf der andern Seite des Sarges Platz genommen hatten. Den einen kannte sie nur zu gut aus früheren Zeiten. Es war Rechtsanwalt Sandberg. Und sie erriet, daß der andere mit der Negerfratze Schuldirektor Brandt war. Die ganze Zeit während der Rede des Propstes hatten sie dagesessen und miteinander geflüstert und sie dabei ununterbrochen beobachtet. Jedesmal, wenn sie dahin sah, leuchteten diese beiden verschlagenen Augenpaare ihr entgegen wie die Mündungen von blanken Büchsenläufen, die aus einem Hinterhalt auf sie zielten.

Nach der Feierlichkeit in der Kirche fand die Bestattung draußen unter ein paar hohen Hängeeschen statt, wo sich die Familiengrabstätte befand. Dem Wunsch des Verstorbenen gemäß verrichtete der Kaplan das Erdaufwerfen. Und kaum hatte er mit seiner starken Stimme die Worte »Aus der Erde sollst du wieder auferstehen« gesprochen, als auch schon die vier Messingbläser des Wählervereins mit einem Choral einfielen, der die Hunde unten im Dorfe heulen machte.

Durch eine Allee von verlegen grüßenden Menschen gingen Frau Engelstoft und ihre Tochter zu dem wartenden Wagen mit den florumhüllten Laternen hinaus. Auch draußen vor der Kirchhofspforte wimmelte es von Neugierigen, die sich auf beiden Seiten aufgestellt hatten, um sie zu sehen. Sobald sie Platz genommen hatte und die Wagentür geschlossen worden war, zog sie daher die Gardinen vor die Fenster.

Während der Heimfahrt nach Sophiehöj war sie sehr unruhig. Rechtsanwalt Sandbergs und Schuldirektor Brandts lauernde Augen verfolgten sie unaufhörlich. Sie hatte wieder einen Schimmer von den beiden Schurken erhascht, als sie den Kirchhof verließ; und wenn sie sich nicht irrte, hatte der Vogt von Sophiehöj selber mit ihnen zusammengestanden und boshaft in seinen roten Bart gelächelt. War es ein Komplott? Und was führten sie im Schilde?

Sie war ärgerlich über sich selbst, weil sie sich von einer so törichten Verschwörung beunruhigen ließ. Was hatte sie zu fürchten? Solange die Toten nicht zum Reden gebracht werden konnten, sollten weder List noch Gewalt ihr irgendein Geständnis entlocken. In bezug auf ihr Gewissen war sie sicher. Das hatte sie freigesprochen. Sie hatte nur getan, was die Mutterpflicht ihr befahl, wenn sie Betrug mit Betrug vergalt, um das heilige Geburtsrecht ihres Kindes zu schirmen. Im übrigen war sie davon überzeugt, daß Niels schließlich sein Unrecht eingesehen und es wieder gutgemacht haben würde, falls er gelebt hätte. Sie hatte also in Wirklichkeit nur getan, was selbst auszuführen ein unglücklicher Zufall ihn gehindert hatte.

Bei einer Biegung des Weges ward plötzlich Sophiehöj über den rostbraunen Wäldern sichtbar. Sie schob die Gardine zurück. Die untergehende Sonne schien auf den kleinen weißgetünchten Turm mit der blauen Uhrscheibe und den vergoldeten römischen Ziffern.

Und sie erinnerte sich jenes Herbsttages vor zwanzig Jahren, als sie denselben Weg von der Kirche nach dem Schloß fuhr, als glückliche Braut. Auch damals hatten die Glocken der Kirche geläutet, und die Leute hatten sich um den Wagen gedrängt, um sie zu sehen. Und in ihrer Einfalt hatte sie an ihr Lächeln und ihre Glückwünsche, an den Schwulst der Festreden und die Treuegelöbnisse ihres schönen Bräutigams geglaubt. Sie wußte damals noch nicht, daß das Wort eines Menschen, selbst das feierlichste, eine Redensart war und daß Ja und Nein in Wirklichkeit dasselbe bedeuteten.

Das aber hatte sie in diesen achtzehn Jahren gelernt, daß das Leben in der Lüge und in dem Betrug seine schönsten Triumphe feierte. Die Welt wollte ihre eigene Schande. Wie der Mensch schon im ungeborenen Zustande seinen naturbestimmten Platz zwischen dem Kot hatte, so gedieh der größte Teil von ihnen auch später am besten in Schmutz und Fäulnis. Wenn sie an die vereinzelten Menschen dachte, die sie um ihrer Güte und Treue willen geliebt hatte, an ihre Mutter, an ihren armen Bruder Jean, an ein paar Spielgefährten – was war aus ihnen geworden? Niedergetreten, zermalmt! Während alle diejenigen, die sie verabscheut und verachtet hatte – Meineider und Frauenschänder, Falschspieler und offenbare Verbrecher sich jetzt als leitende Männer der Nation rings umher im Lande an der Festtafel breit machten, betitelt und bekränzt. Der Ruhm des Volkes und des Landes! – –

Der Wagen bog in die lange Allee ein, die zum Schloß hinaufführte. Esther, die während der ganzen Fahrt, das Taschentuch vor den Augen, dagesessen und geschluchzt hatte, warf sich mit einem Ausbruch von Angst und Verzweiflung vor der Leere, zu der sie zurückkehrte, an die Brust der Mutter.

Frau Engelstoft zog sie an sich, machte aber keinen Versuch, sie zu trösten. Sie strich ihr über die Wangen und sagte:

»Du bist glücklich, Kind! Du kannst noch weinen!«

 

Es war eine Woche seit dem Begräbnis vergangen, und Frau Engelstoft hielt sich noch immer auf Sophiehöj auf. So sehr sie sich auch nach der Einsamkeit in Agersögaard sehnte, dachte sie vorläufig nicht daran, zu reisen. Sie mußte hier bleiben, um Ordnung in die vernachlässigte Leitung des Gutes zu bringen. Sie wollte persönlich alles in Gang setzen, wollte wieder Sparsamkeit im Betrieb, Pünktlichkeit der Rechnungsführung einführen, ja, sie dachte auch daran, einen alten Prozeß mit der Wegebaubehörde wieder aufzunehmen, den Niels nach der Scheidung auf sich hatte beruhen lassen.

Bei alledem vermied sie jedoch jegliche unnötige Herausforderung der Volksstimmung. Sie wollte ihren Feinden Zeit lassen, sich zu beruhigen nach der großen Enttäuschung, die sie ihrer Raubgier verursacht hatte. Gegen ihre Gewohnheit ließ sie sich weder im Stall noch in der Meierei blicken, sondern blieb in ihren Stuben. Sie hatte den Gartensaal zu ihrem Arbeitszimmer eingerichtet und leitete den Betrieb hauptsächlich durch schriftliche Befehle. Es herrschte noch viel Unruhe unter den Leuten. Jeden Abend versammelten sich johlende Knechte und Mägde vor ihren Fenstern, und fast täglich erhielt sie anonyme Drohbriefe, in denen geradeheraus gesagt wurde, daß sie die Schenkungsurkunde gestohlen habe, nachdem sie Niels durch Ersticken umgebracht hatte.

An einem Nachmittag stand sie in Gedanken versunken an einem der hohen Fenster in ihrem Arbeitszimmer, als sie unten im Garten Esther und den Kaplan entdeckte. Der letztere war auf eine Leiter in einen Apfelbaum geklettert, Esther stand unten mit einem Korb und zeigte ihm, wo die Äpfel saßen.

Der junge Pfarrer war der einzige von den Leuten aus der Gegend, der noch auf Sophiehöj verkehrte, da Frau Engelstoft eingesehen hatte, daß seine Freundschaft für den Verstorbenen ganz uneigennützig gewesen war. Auch benutzte sie ihn ohne sein Wissen als eine Art Späher. Jugendlich offenmündig, wie er war, und ganz ohne Mißtrauen, erzählte er ihr kopfschüttelnd alles, was er ringsumher in der Gegend hörte. So wurde sie beständig genau davon unterrichtet, was man gegen sie plante.

Diesen Augenblick war sie jedoch nahe daran zu bereuen, daß sie ihm freien Eintritt zum Hause gewährt hatte. Wie sie Esther dort am Fuße der Leiter stehen und die Äpfel auffangen sah, die der Kaplan ihr hinabwarf, ward sie von einer großen Unruhe ergriffen. Sie konnte sich kein größeres Unglück denken, als wenn sich Esther, das unentwickelte Kind, das sie war, schon jetzt in die Arme eines Mannes warf.

Sie gelobte sich selbst, auf ihrem Posten zu sein. Freilich wurde es ihr schwer, sich vorzustellen, daß der Kaplan einer Frau gefährlich sein könne, am allerwenigsten Esther, die in ihren Träumen beständig in von Königssöhnen und Prinzessinnen bevölkerten Wolkenschlössern lebte. Ein dünnbeiniger Theologe, dessen einzige Schönheit das blonde, lockige Haar war! Und doch! Vielleicht war er eine gefährlichere, berechnendere Person, als sie geglaubt hatte. War er nicht schön, so hatte er dafür ein lebhaftes, draufgängerisches Wesen, das einen unbefestigten Sinn wohl verwirren konnte. – – Es war ja das Verzweifelte mit Esther, daß sie nie wirklich erwachsen werden konnte. Es war, als wenn der Kummer und die Schande über die Treulosigkeit des Vaters sie sowohl körperlich als auch geistig im Wachstum gehemmt hätten. Fast den ganzen Tag hielt sie sich draußen im Garten auf, und man konnte es ihr anmerken, daß sie wieder in ihre kindischen Schwärmereien zurückgefallen war, draußen auf den alten Spielplätzen, wo die Blumen und die Vögel ihre Kameraden gewesen waren. Obwohl sie jetzt neunzehn Jahre zählte, kam es ihr niemals in den Sinn, aus eigenem Antrieb etwas Nützliches vorzunehmen.

Frau Engelstoft wandte sich plötzlich nach dem Zimmer um und lauschte. Sie hatte einen Wagen in den inneren Schloßhof fahren hören.

Nach einer Weile kam die Mamsell herein und meldete, daß der Hardesvogt gekommen sei und bitte, mit der gnädigen Frau sprechen zu dürfen.

Der Hardesvogt? – Einen Moment wurde es ihr schwarz vor den Augen. – Was wollte der hier?

»Bitten Sie ihn, hereinzukommen!« sagte sie und ging mit ihren kleinen, schnellen Schritten an den Arbeitstisch, von dem sie sich jedoch erhob, als der Hardesvogt in der Tür erschien.

Er war ein langer, schlotteriger Mann Ende der Vierziger, sehr elegant und mit einem kavaliermäßigen Wesen, aber nach einer Mode gekleidet, die zehn Jahre alt war und schon abstechend wirkte. Er selbst war außerdem auffallend durch seine Häßlichkeit. Er hatte ein affenartiges, blaurotes und gleichsam hautloses Gesicht, dessen flache Züge er durch einen aristokratischen Backenbart zu verbessern gesucht hatte.

Übrigens war er ein Kindheitsbekannter und Jugendanbeter von Frau Engelstoft. Das Gut ihrer Eltern lag in demselben Kirchspiel, in dem sein Vater Pfarrer gewesen war. Er war denn auch der einzige hier gewesen, der ihr während der Scheidung Teilnahme erwiesen hatte; und dann mußte gerade er durch einen sonderbaren Zufall diese Scheidung während der Abwesenheit des Amtmannes vollziehen.

Bei all seiner äußeren Narrenhaftigkeit war er eine ritterliche Persönlichkeit und gewissermaßen ein Charakter; freilich nur ein mäßiger Polizeibeamter, aber ein redlicher und warm fühlender Mensch, der sich noch über ein Verbrechen empören konnte. Unter seinen Standesgenossen und andern Gleichgesinnten wurde er deswegen als komische Figur betrachtet, und die roten Äderchen in seinen Augen und auf seinen Wangen verrieten denn auch, daß er geneigt war, den Trost zu suchen, dem redliche und rechtlich denkende Männer in ihrer tiefen Einsamkeit so leicht verfallen.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Hardesvogt?« fragte Frau Engelstoft, nachdem sie ihm Platz geboten hatte.

Ein etwas verlegenes Lächeln entblößte sein falsches Raubtiergebiß.

»Verzeihen Sie, liebe gnädige Frau! Ich wollte mir gerade erlauben, dieselbe Frage an Sie zu richten.«

»An mich? Wie meinen Sie?«

»Gestatten Sie, daß ich mein Anliegen ganz ohne Umschweife vortrage?«

»Ja, das ist mir gerade das liebste.«

»Also – in meiner Eigenschaft als örtliche Polizeiobrigkeit und Handhaber der Ordnung habe ich um diese Unterredung gebeten. Es ist uns nämlich Nachricht über gewisse Demonstrationen und förmliche Unruhen zugekommen, die hier auf dem Gut stattgefunden haben sollen. Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, meine gnädige Frau, daß es der Polizeiobrigkeit – und speziell mir persönlich – eine Ehrensache sein wird, Ihnen und Ihrem Hause allen Schutz gegen die Belästigung des Publikums zu gewähren.«

Worauf will er nur hinaus? dachte Frau Engelstoft.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte sie kühl.

»Am liebsten wäre ich schon längst gegen die Tumultanten eingeschritten. Aber – ehrlich gestanden, Frau Engelstoft – habe ich auf eine Anzeige von Ihnen selbst gewartet. Ohne eine solche können wir schwerlich eingreifen. Da ich mich nun heute in andern Geschäften hier in der Gegend aufhielt, fand ich es am richtigsten, die Gelegenheit zu benutzen, um mit Ihnen über die Angelegenheit zu reden und Ihre Erlaubnis einzuholen, die Sache in die Hand zu nehmen. Ich gehe nämlich von der Annahme aus, daß auch Sie – am allerwenigsten Sie, meine gnädige Frau – es billigen können, daß solche Pöbelhaftigkeiten ungerügt hingehen.«

»Sie haben mein Schweigen gänzlich mißverstanden, Herr Hardesvogt. Wenn ich mich nicht beklagt habe, so geschieht es, weil ich keine Veranlassung sehe, die Polizei solcher Bagatellen wegen zu bemühen.«

»Bagatellen, gnädige Frau? . . . Steinwürfe! Eine Menge zertrümmerte Fensterscheiben!«

»Nun ja! Solange man Sophiehöj nicht gerade mit Kanonen beschießt, gönne ich meinen Leuten gern das Vergnügen.«

»Wie soll ich eigentlich diese . . . diese wirklich überraschende Äußerung verstehen?«

»Ganz buchstäblich, Herr Hardesvogt! Vielleicht finden Sie es undankbar von mir, daß ich die Fürsorge der Polizei für meine armen Fensterscheiben nicht besser zu schätzen weiß. Aber ich habe von Kindheit an eine Angst vor dem Gericht und seinen Handhabern gehabt. Auch wenn es Schutz anbot.«

»Bedaure das sehr! Bedaure das aus innerstem Herzen! . . . Gestatten Sie mir trotzdem, Ihnen zu sagen, daß eine fortgesetzte Nachgiebigkeit den Tumultanten gegenüber meiner Ansicht nach höchst verkehrt sein würde. Sie kann so leicht gewisse . . . gewisse . . . hm, es klingt ja ganz beleidigend . . .«

»Genieren Sie sich, bitte, nicht! Reden Sie nur ganz offen heraus!«

»Sie werden sicher von diesen törichten Gerüchten gehört haben, die im Umlauf sind. Es ist meine Überzeugung, daß die Bewegung einen solchen Umfang angenommen hat, daß sie nicht länger ignoriert werden kann. Namentlich nicht, nachdem die gemeinen Beschuldigungen – wie Sie vielleicht gesehen haben – auch den Weg in eine der Zeitungen der Umgegend gefunden haben.«

»Was schreibt man denn?« fragte sie, indem ihr das Blut in die Ohren stieg.

»Nichts Direktes – natürlich –, aber um so mehr zwischen den Zeilen – so wie das in unsern Schmutzblättern Gebrauch ist. Diese Blattschmierer werden ja zu blutdürstigen wilden Tieren, sobald sie die geringste Möglichkeit wittern, Sensation und Skandal zu schaffen.«

»Was wollen Sie mir denn raten zu tun?«

»Ich halte es für notwendig, unverzüglich zur Handlung zu schreiten. Ich bin überzeugt, daß Ihre Passivität – gerade weil sie nicht erwartet war – zu Ihren Ungunsten ausgelegt worden ist. Und ich brauche wohl nicht zu sagen, wen Sie in dieser Sache gegen sich haben. Es gibt ja gewisse Personen, denen Ihre Rückkehr nach Sophiehöj höchst ungelegen gekommen ist. In Anbetracht des Charakters dieser Personen liegt Grund zu der Befürchtung vor, daß das Unwesen um sich greifen wird, falls man ihm nicht rechtzeitig Einhalt gebietet.«

»Ja, freilich! Ich glaube, Sie haben recht! Verhaften Sie die Leute! Und schaffen Sie mir Frieden!«

»Darf ich mir nun noch gestatten, Ihnen zu sagen, Frau Engelstoft, daß es mir wirklich eine Freude sein würde, wenn es mir gelingen sollte, den ungünstigen Eindruck von unserer Gerichtsordnung auszulöschen, den Sie – das gebe ich zu – bei unserm letzten Zusammentreffen zu bekommen einigen Grund hatten. Es gehört zu den schwersten Erinnerungen meines Lebens, daß es mir beschieden sein mußte, bei dieser Gelegenheit Henkerdienste zu verrichten.«

Frau Engelstoft schlug die Augen nieder und wurde still.

»Ich will glauben, daß es nicht mit Ihrem guten Willen geschah. Ich danke Ihnen auch, daß Sie gekommen sind und mir Rat erteilen wollen.«

Der Hardesvogt beantwortete diese Worte mit einer ehrerbietigen Neigung des Kopfes.

»Sie wissen wohl, gnädige Frau, daß ich eine alte Schuld im Namen meiner Eltern an Sie abzubezahlen habe. Sowohl mein lieber Vater als auch meine liebe Mutter waren so entzückt von Ihnen, jedesmal, wenn Sie als Kind in unserm Hause gewesen waren.

Es war den beiden Alten ein wirklicher Herzenskummer, als Ihre Frau Mutter aus der Gegend verzog. Vielleicht entsinnen Sie sich noch, daß man von dem Wohnzimmer im Pfarrhaus eine schöne Aussicht über den Schmiedeteich hatte, auf dem wir im Winter Schlittschuh liefen. Meine Eltern pflegten am Fenster zu sitzen und dem Schlittschuhlaufen zuzusehen, und ich glaube wohl, daß dies hauptsächlich geschah, um einen Schimmer von Ihnen und Ihrem Bruder zu erhaschen. Das Gesicht meines seligen Vaters strahlte, wenn er Sie über die Schneefelder daherkommen sah, mit Ihrer roten Kappe, Ihren kleinen Bruder treulich an der Hand haltend. Er nannte Sie immer Rotkäppchen. Bis an seinen Tod nannte er Sie nie anders.«

Frau Engelstoft unterbrach ihn. Sie liebte es nicht, an ihre Kindheit erinnert zu werden. Und die gemeinsamen Erinnerungen verliehen der Rede des Hardesvogtes eine Vertraulichkeit, die ihr peinlich war.

»Um auf das zurückzukommen, worüber wir sprachen: Sie meinen also, daß ich eine Klage einreichen soll.«

»Ja, ich halte es für notwendig. Eine Polizeiuntersuchung ist und bleibt das einzige wirksame Mittel, um den pöbelhaften Klatsch niederzuschlagen. Im Gerichtssaal – vor der Schranke – verstummt die Verleumdung. Die Vereidigung ist eine mächtige Waffe in der Hand eines Richters. So mit seiner ewigen Seligkeit für jedes Wort einstehen zu sollen, das man sagt, das veranlaßt in den meisten Fällen die Leute, vorsichtig mit der Wahrheit umzugehen. Ich bedaure nur, daß ich schwerlich werde vermeiden können, Sie, gnädige Frau, persönlich in die Sache hineinzuziehen. Hoffentlich brauche ich Sie aber nicht zu versichern, daß es mit Schonung und mit der Rücksicht auf Ihre Gefühle geschehen wird, auf die Sie in so hohem Grade Anspruch machen können.«

Frau Engelstoft wandte das Gesicht ab und lächelte, um ihre Unruhe zu verbergen.

»Offen gestanden, ich finde, es ist ein zu unsinnig großer Apparat, um dieser Sache wegen in Bewegung gesetzt zu werden. Und voraussichtlich ohne den geringsten Nutzen.«

»Gnädige Frau! Jetzt spricht wieder Ihr Mißtrauen zu der Handhabung des Gesetzes hierzulande.«

»Nun ja! Geschieht das vielleicht ohne Grund? Damals, als wir zuletzt miteinander sprachen, Herr Hardesvogt, stellte ich mich unter Ihren Schutz. Da aber galt kein Recht für mich und mein Kind. Und damals handelte es sich doch um etwas mehr als um ein paar eingeworfene Fensterscheiben!«

»Ich sagte Ihnen bereits vorhin – und ich bitte Sie, mir zu glauben –, daß ich mit schwerem Herzen die Handlung vornahm, auf die Sie anspielen.«

»Aber Sie taten es trotzdem im Namen des Gesetzes und des Königs!«

»Meine traurige Amtspflicht!«

»Ja. Und wenn Sie nun meinen, daß ich meine bürgerliche Ehre verteidigen soll, darf ich Sie dann daran erinnern, daß der Mann, der das Haar meiner Mutter weiß machte, ehe sie vierzig Jahre alt war, und der den letzten Rest ihres Vermögens mit einer Dirne durchbrachte, daß dieser Mann nichtsdestoweniger die volle Achtung seiner Mitbürger genoß. Er war bis zu seinem Tode hochangesehen in der besten Gesellschaft, vom König selbst mit einem Titel und einem Orden geehrt, während Jean, der arme Junge, nach Amerika reisen und vor Hunger und Scham sterben mußte, weil er zwei armselige Kronen aus der Kasse seines Prinzipals genommen hatte. Mißtrauen zu der Gerechtigkeit in diesem Lande! Ja – Gott sei Dank – das habe ich! Mögen die Leute mich des einen oder des andern beschuldigen. Mögen Sie mich Diebin und Betrügerin, Mörderin und Giftmischerin nennen. Es rührt mich nicht.«

»Das verstehe ich nur zu gut, Frau Engelstoft. Aber Sie wünschen trotzdem in Frieden zu leben, nicht wahr; und daher müssen Sie mir gestatten, die Ehrabschneider zum Schweigen zu bringen. Es verhält sich mit dergleichen Angelegenheiten wie mit der Lawinenbildung. Ein ursprünglich ganz unschädlicher Schneeball, der ins Rollen gerät, kann unglaublichen Schaden anrichten, wenn er nicht rechtzeitig angehalten wird. – Aber ich ermüde Sie. Ich habe Sie schon zu lange mit dieser elenden Sache gequält.«

Er erhob sich und nahm zeremoniell Abschied. Frau Engelstoft reichte ihm die Hand. Mit ein paar gemurmelten Worten dankte sie ihm auch für seine Teilnahme, und dieser Dank rührte den alten Anbeter, so daß er sich erkühnte, einen ehrerbietigen Kuß auf ihre weiße, noch formschöne Hand zu drücken.

Lange, nachdem sein Wagen aus dem Schloßhof gerollt war, saß Frau Engelstoft auf ihrem Stuhl am Schreibtisch und sah mit einem grübelnden Ausdruck vor sich hin. Es dunkelte bereits ringsumher in den Ecken des Zimmers. Die Fensterscheiben hatten große Tauflecke, die einen rötlichen Schimmer von der untergehenden Sonne erhielten und einen Witterungsumschlag verhießen.

Sie bereute jetzt, daß sie ihn empfangen hatte. Es war eine Unvorsichtigkeit. Sie hätte von vornherein jede fremde Einmischung zurückweisen sollen. Um sein Mißtrauen nicht wachzurufen, war sie gezwungen gewesen, auf seinen törichten Vorschlag einzugehen, und nun mußte die Sache ihren Gang gehen. Verhör – hatte er gesagt. Und Eidesleistung. – Nun ja, dann mußte sie auch durch das Feuer hindurch! Sie hatte ja auch nicht erwartet, daß ihr irgend etwas erspart bleiben würde!

Sie nahm sich zusammen, als sie Esthers und des Kaplans Stimmen draußen auf der Diele hörte. Mit einer gewaltigen Willensanspannung schüttelte sie die schweren Gedanken ab und empfing die beiden jungen Leute mit einem festen und aufmerksamen Blick.

Es wollte ihr scheinen, als liege ein Schimmer von verstohlenem Glück über der Tochter. Ihr Wesen war wie immer still, aber die Wangen hatten Farbe, die Augen Glanz erhalten. Auch der Kaplan erschien ihr verdächtig aufgeräumt, und sie gelobte sich selbst, daß die geistlichen Besuche ein Ende haben sollten.

Sie war in diesem Augenblick fast überzeugt davon, daß er mit all seinem Diensteifer ein gefährlicher Mensch war, ein falscher Freund, der seine Angel nach dem unerfahrenen Kind ausgeworfen hatte. Wie hatte sie doch nur so töricht sein können, diesen Wolf in Schafskleidern frei im Hause ein und aus gehen zu lassen! Sie mußte sich zusammennehmen. In der kommenden Zeit würde selbst die geringste Schwäche verhängnisvoll werden können. Nicht eine Fiber in ihrem Herzen durfte jetzt zittern, wo die Hundekoppel ihrer Feinde mit den blutdürstigen Zungen bereitstand, sich über sie zu stürzen.

»Hier ist ja Besuch gewesen, Mutter!« sagte Esther mit ihrer kleinen Stimme, die selbst in Freude schwermütig klang wie abendliches Vogelgezwitscher. »Ist es wahr, daß es der Hardesvogt gewesen ist?«

»Ja, er war in einer Erbschaftsangelegenheit hier.«

»Dann hoffe ich in Ihrem Interesse, Frau Engelstoft, daß er einen seiner klaren Tage gehabt hat«, sagte der Kaplan. »Man sagt, daß er etwas reichlich pichelt.«

»Man sagt so viel. Es ist am besten, so wenig wie möglich davon zu glauben. – Wo bist du gewesen, Esther?«

»Ich war draußen und habe Äpfel abgenommen. Das weißt du ja, liebe Mutter! Pastor Bjerring ist so liebenswürdig gewesen, mir zu helfen.«

»Nun, mit meiner Hilfe war es gerade nicht weit her. Aber das gnädige Fräulein hat mich über mancherlei Dinge belehrt. Ich sehe jetzt ein, daß ich bisher als Pomologe unkundiger gewesen bin, als es selbst ein Kopenhagener sein darf. Aber nun kenne ich ein Dutzend verschiedener Apfel- und Birnensorten am Geschmack. Das ist wirklich ein Studium. Und denken Sie nur, jeder Baum hier im Garten trägt den Namen eines Heiligen – frisch aus dem Kalender geholt – das habe ich wahrlich auch nicht gewußt.«

Esthers Wangen glühten. Sie sah scheu zu der Mutter hinüber, deren Blick beständig mißtrauisch zwischen ihnen hin und her wanderte. Aber diese war von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen und faßte nur wenig von dem auf, was gesagt wurde.

»Was sagen Sie da?« erwiderte sie. »Sie sind Kopenhagener?«

»Ich bin zwanzig Schritt vom Kongens Nytorv geboren. Kann mich also mit unbestrittenem Recht Kopenhagener mit KK bedeutet Zentrum von Kopenhagen. nennen.«

»Und Sie sollten eigentlich Jurist werden. Davon haben Sie doch schon einmal gesprochen?«

»Ja, es war der höchste Wunsch meiner Eltern, mich in einer goldgestickten Uniform zu sehen. Aber in dem Punkt war es mir unmöglich, mich ihnen zu fügen.«

»Darin taten Sie recht. So eine Uniform hätte Sie gewiß nicht recht gekleidet. – Aber warum wurden Sie eigentlich Geistlicher?«

»Die Frage haben Sie mir schon einmal gestellt, Frau Engelstoft. Und ich antworte Ihnen jetzt wie damals: weil ich mich zu diesem Amt berufen fühlte.«

Frau Engelstoft zuckte die Achseln.

»Berufen? Eine Redensart! Von oben erhalten wir keine Berufung. In Gutem wie in Bösem werden wir, wozu uns der Zufall des Lebens macht.«

»Sie wissen, daß ich auch hierin ganz und gar uneinig mit Ihnen bin. In alledem, was ein launenhaftes und zweckloses Spiel des Zufalls zu sein scheint, herrscht eines allwaltenden Gottes Wille.«

»Nun, und es war also Gottes Wille in bezug auf Sie, daß Sie Geistlicher werden sollten?«

»Das glaube ich. Darauf fuße ich. Seit ich zum Einsegnungsunterricht ging, ist es mein einziger Wunsch gewesen, teilzunehmen an der Arbeit für den Fortschritt des Reiches Gottes.«

Frau Engelstoft hatte den jungen, selbstbewußten Geistlichen mit einem unwilligen Blick angesehen. Jetzt erhob sie sich und trat an eines der hohen Fenster, wo sie stehen blieb, als betrachtete sie den Sonnenuntergang über dem herbstlichen Garten.

»Das Reich Gottes«, sagte sie. »Das ist wieder eine von diesen leeren Redensarten. Das Reich existiert ja nicht. Die Menschen haben es abgeschafft. Wir haben es durch das Räubernest ersetzt, das man den zivilisierten Rechtsstaat nennt. Wer jetzt Gottes Gesetz folgen will, würde im selben Augenblick ein Landflüchtiger hier auf Erden werden.«

»Was verstehen Sie unter Gottes Gesetz, Frau Engelstoft?«

Sie wandte sich um und begegnete herausfordernd dem bekümmerten Blick des Kaplans.

»Es steht ein Gesetz in unserm eigenen Innern geschrieben, Herr Pastor junior! Wußten Sie das nicht?«

»Ich habe davon gehört. Weiß natürlich auch aus mir selber, daß es sich richtig verhält. Aber, offen gestanden, ich glaube, daß das Gesetz in vielen Fällen ebenso schwer zu deuten ist wie der Entwurf zu einem neuen Wechselgesetz, von dem ich neulich in einer Zeitung las. Da stand, es sei so verwickelt, daß niemand daraus klug werden könne, ohne den Verstand zu verlieren. Ich will gestehen, daß ich zu der ›inneren Stimme‹, auf die der Unglaube immer hinweist, als auf einen unwandelbaren Kompaß nur ein stark bedingtes Vertrauen habe. Wer sagt uns, daß nicht unsere fromm maskierte Eigenliebe, Eitelkeit oder Begierde den Beichtvater für uns spielt? Die Stimme des Gewissens ist auf alle Fälle so vielzüngig. Sie spricht zu einem Menschen in einem ganz verschiedenen Ton, je nachdem die Sonne scheint und er Geld in der Tasche hat oder der Himmel grau ist und Schmalhans oder Krankheit im Hause regieren. In seinem herrlichen Buch vom Sündenfall hat Propst Magnussen auf seine bestimmte Weise ausgesprochen, daß das Gewissen der ewigen Weisheit gegenübergestellt werden muß, ehe wir sicher sein können, daß es nicht eine falsche Gottesstimme, ja selbst die Lockstimme des Teufels ist, der uns hinterlistig zu Sünde verleiten will.«

Frau Engelstoft, die fürchtete, daß eine Anspielung in diesen Worten liegen sollte, zuckte die Achseln.

»Wie jung Sie sind!« sagte sie und ging an ihren Arbeitstisch zurück. Hier begann sie in einigen Abrechnungen zu blättern, und indem sie ihm über den Rand der Papiere einen bösen Blick zusandte, fügte sie in gleichgültigem Tone hinzu:

»Lassen Sie mich doch hören! Wo suchen Sie denn das Gesetz Gottes?«

»In seinen Worten. In seinen klaren, offenbarten Worten, die niemals zweideutig sind, niemals Platz für Mißverständnis oder Juristerei übriglassen. In der Heiligen Schrift stehen seine Gebote mit einer Deutlichkeit geschrieben, daß selbst der Einfältigste sie begreift. Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten, du sollst nicht begehren, was deines Nächsten ist. Diese Gebote bilden die Grundlage für die Gesellschaftsordnung aller christlichen Staaten, daher kann man nicht ohne eine starke Verdrehung der Wahrheit sagen, daß das göttliche Gesetz nicht mehr für die Menschen existiert. Der Kampf gegen das Chaos ist freilich keineswegs zu Ende. Gottes Ordnungsreich ist hier auf Erden nur erst in seinen Worten begriffen. Aber mit jedem Tag, der vergeht, wächst es im Dunkeln wie ein Küchlein im Ei, und einmal wird das Licht siegreich über die Welt hereinbrechen. Vielleicht ist der Tag gar nicht mehr so fern. Und auf alle Fälle – ja, Sie müssen verzeihen, daß ich das so geradeheraus sage, Frau Engelstoft – wenn man, so wie Sie, sich außerhalb der kämpfenden Kirche und der Gemeinde der Gläubigen gestellt hat, so ermangelt man einer wesentlichen Bedingung, gerecht über Sieg und Niederlage urteilen zu können.«

Frau Engelstoft warf die Papiere hin und nahm einen gestrickten Schal, der über der Rücklehne des Schreibtischstuhles hing. Es fror sie. Mit ihren kleinen, schnellen und sichern Schritten ging sie durch das Zimmer, indem sie die Arme in den Schal wickelte, um die Kälteschauer zu bekämpfen, die sie durchrieselten. Daß der Kaplan ein paarmal nach dem Sofa hinübergesehen hatte, wo Esther saß, und daß seine Rede überhaupt ebensoviel an die Tochter wie an sie gerichtet war, hatte sie trotz ihrer Geistesabwesenheit wohl bemerkt. Aber seine Worte drangen aus der Ferne zu ihr wie über einen tiefen Abgrund.

Plötzlich aber blieb sie stehen, warf den Kopf zurück und rief:

»Wie mögen Sie nur alle diese schäbigen Phrasen in Ihren Mund nehmen! Sehen Sie denn nicht, Mensch, wie Gottes Gebote jeden Tag verhöhnt werden, und zwar in der Kirche selbst und von den eigenen Männern der Kirche! Du sollst nicht töten! Nein, aber wenn die Könige und die Börsenmatadoren Krieg wollen, flehen die Geistlichen freudig Segen auf die Mordwaffen herab. Da steht auch geschrieben, du sollst nicht schwören, deine Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein. Und du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus oder Gut, und wer einen Geschiedenen ehelicht, wird zur Ehebrecherin. Aber was tun die Geistlichen? Stehen sie nicht vor dem Altar und segnen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes die erste beste unanständige Verbindung? – Ich sage Ihnen, daß von dem Tage an, wo ein Geistlicher ein Menschenpaar traute, obwohl er wußte, daß, was er segnete, nur ein Mietskontrakt mit soundso viel Monaten Kündigung war, von dem Tage an entzog Gott der menschlichen Gesellschaft seinen Geist. Da ward das Allerheiligste des Lebens entheiligt! Der letzte Altar war der Schande preisgegeben! – Das Reich Gottes! Nein, ein Teufel regiert die Welt, und wer am gewissenlosesten stiehlt, lügt und tötet, den sättigt er mit seinem Segen!«

Der Kaplan antwortete nicht. Er wußte, daß, wenn Frau Engelstoft auf die Scheidungsfrage kam, die Leidenschaft mit ihr durchging. Aus Rücksicht auf die Gegenwart der Tochter schwieg er, um nicht Anlaß zu mehr von diesen gehässigen Worten zu geben, die herausgeschleudert wurden wie glühende Steine aus einem Krater. Verlegen sah er wieder zu dem jungen Mädchen hinüber, das bei dem Ausbruch der Mutter weiß vor Angst geworden war.

Armes Kind! – dachte er – sie hat es schwer hier!

Frau Engelstoft kehrte nun an ihren Schreibtisch zurück, setzte sich im Stuhl zurecht zu ihren Berechnungen, um dem Kaplan zu bedeuten, daß er gehen solle.

Da verbeugte er sich und entfernte sich mißmutig.

Als der Nachtwächter auf Sophiehöj in der dunklen Regennacht seinen dritten Rundgang um die großen Scheunen, vorüber an den Ställen und den langen, offenen Warenschuppen, gemacht hatte und nach dem Schloß zurückkehrte, stieg er mit seinem gewöhnlichen mürrischen Gebrumme und Fluchen in den Keller unter dem Wirtschaftsflügel hinab, um seine Nachtmahlzeit zu verzehren und ein wenig heißes Bier zu trinken, das für ihn in der Gesindestube hingestellt war.

Es war Gebrauch geworden, daß, wenn er hier unten an dem langen Tisch in dem großen, düstern Raume saß, die Laterne vor sich auf der Tischplatte, er eine kleine Unterhaltung mit den Mägden machte, die in der Kammer dahinter lagen und von denen in der Regel die eine oder die andere von dem Schein seiner Laterne oder dem Stampfen seiner schweren Holzschuhstiefel geweckt wurde. Um Luft zu schaffen, stand die Tür zwischen den beiden Räumen während der Nacht immer offen. Nachtwächter Sören war ja ein alter Kerl, vor dem man sich nicht zu genieren brauchte, und trotz all seines Brummens und Fluchens war er ein Spaßmacher, mit dem die Mägde gern ein wenig Scherz trieben.

Der Anfang wurde gewöhnlich dadrinnen aus den Betten mit einer Frage nach dem Wetter, einem langen Gähnen oder einem schlaftrunkenen Fluchen über »das verdammte Rumoren, das er betrieb«, gemacht. Und Sören, dessen Ruf als Witzbold daher stammte, daß er ein größeres Mundwerk hatte als selbst der Großknecht, beantwortete unweigerlich jede noch so unschuldige Bemerkung auf eine Weise, daß sie eine unanständige Bedeutung erhielt. So entstand denn ein Kichern und Quietschen da drinnen unter den dicken, wollenen Betten, und eine Magd nach der andern erwachte.

Als Sören in dieser Nacht aus dem Regen herunterkam, hörte er schon draußen auf dem Gang, daß die Mägde wach waren. Das Geplapper ging da drinnen wie in einer Spinnstube. Kaum daß sie es merkten, als er hereingetrampelt kam, und niemand antwortete auf sein »guten Abend«. Der Besuch des Hardesvogts und die Gerüchte, die dies auf dem Hofe erzeugt hatte, hielten sie in Atem. Verdrießlich setzte er sich an den Tisch und begann stumm mit seiner Mahlzeit. Mit einem Taschenmesser schnitt er einen Happen von dem fingerdicken Butterbrot ab und stopfte ihn mittels eines Drucks seines Daumens gut in die rechte Backentasche hinab.

Als er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß man Notiz von ihm nehmen sollte, sagte er mit barscher Stimme:

»Was für Narrenspossen habt ihr da eigentlich vor, ihr Dirnen? Ihr habt wohl nich' gar Mannsleute bei euch?«

»Du kannst ja reinkommen und unter das Oberbett gucken«, sagte eine.

»Hm, ja! Das bist du, Lotte, mein süßes Snuteken. Du kannst es wohl gar nich' mehr aushalten. Ja, wart nur einen Momang, denn bin ich gleich da.«

»Weißt du am Ende, Sörensen, warum der Hardesvogt heut oben bei der Kröte war?« fragte eine andere.

»Das is nichts nich', wo die kleinen Mädchens sich reinzumischen brauchen. Das is nich' gut für euch. Setzt ihr euch man auf eure eigenen vier Buchstaben, Kinners. Da is Platz genug.«

»Kutscher Jens sagt, da soll Verhör sein«, sagte ängstlich eine dritte.

»Ei, guten Abend, kleine Ellen! Was red'st du von Kutscher Jens? Ja, das is'n Kerl, der seine Sachen in Ordnung hat. Frag man bloß Sine, ob es nich' wahr is, was ich sag.«

Es entstand ein fürchterliches Gekicher da drinnen unter den Federbetten. Aber eins von den Mädchen richtete sich mit einer solchen Kraft auf, daß das Bett krachte. Beleidigt fragte sie:

»Was meinst du damit, Sören?«

»Was ich mein'? Ja, wenn ich bloß wüßte, wovon sie so rundlich geworden is, wie der Küster in Vadum sagte, als er Amen sagen wollt'.«

So fuhren sie eine Weile fort, bis eine mit sehr bestimmtem Ton sagte:

»Verschon uns gefälligst mit dem Gequatsch. Halt du dich an dein Butterbrot, Sören, und laß uns Ruh zum Schlafen.«

»Ei, ei! Maren Bählamm! Du hast dir ja das Mundwerk gewaltig geschmiert. Wann hast du den kleinen Peter Kniff zuletzt in' Himmelreich gesehen?«

Aber die Mägde waren jetzt müde geworden. Eine nach der andern drehten sie sich auf die Seite herum und strichen das Federbett glatt, um zu schlafen.

»Gute Nacht, mein Schatz!« sagte die eine.

»Grüß deine Großmutter, Sören!« sagte eine andere.

»Ja, und laß dir Tee kochen!« rief eine dritte.

Sören brummte, die Backentasche von einem neuen gehörigen Happen ausgeweitet:

»Ja, ja, nu komm ich gleich und will euch zeigen, was 'ne Harke is. – Was sagst du, Lotteschnut'.«

Aber es antwortete ihm niemand mehr. Bald ertönte von da drinnen ein mehrstimmiges Schnarchen, begleitet von dem trübseligen Flötenlaut einer verstopften Nase.

Nach einer Weile klappte Sören sein Messer zusammen, wischte sich mit der Hand über seinen fettigen Mund, trank noch einen tüchtigen Schluck aus dem Bierkrug, stieß ein paarmal mit tiefem Wohlbehagen auf und erhob sich endlich.

Draußen hatte der Regen aufgehört, aber der Himmel war noch bedeckt. Sören sah zu der Wetterfahne auf der hohen Scheune hinauf. Er prophezeite gutes Wetter nach Sonnenaufgang. Dann hängte er die Laterne in seinen Gürtel, um von neuem seine einsame Nachtwanderung zu beginnen.

Da blieb er mit einem Ruck stehen. Er sah, daß in ein paar Fenster des ersten Stockwerkes am Ende des Schlosses Licht gekommen war, dort, wo Frau Engelstoft und die Tochter ihre Privatwohnzimmer und Schlafstuben hatten.

»Nu spukt sie wieder!« sagte er zu sich selbst, und es war ihm ganz unheimlich zumute.

Jede Nacht seit dem Tode des Gutsbesitzers hatte er dieselben Fenster erleuchtet gesehen, zuweilen ein paar Stunden hintereinander. Sören war nicht abergläubisch, aber er hatte in dieser Zeit doch oft daran denken müssen, was er von solchen bösen und ruchlosen Weibern gelesen hatte, daß sie des Nachts Besuch von dem Gottseibeiuns bekamen und sich von ihm mit Macht und Reichtum bezahlen ließen. Na! Ihn ging es ja nichts an! Er verrichtete hier sein gesetzmäßiges Amt, und er hatte nichts zu befürchten – –

Die beiden erleuchteten Fenster gehörten zu einem Kabinett, das vor Frau Engelstofts Schlafzimmer lag. Zu ihren übrigen Heimsuchungen waren auch die Qualen der Schlaflosigkeit gekommen. Stunde auf Stunde konnte sie wach liegen. Unruhig drehte sie sich von der einen Seite auf die andere, und wenn das Bett schließlich wie ein glühender Ofen geworden war, mußte sie aufstehen und ein wenig im Zimmer hin und her gehen oder sich an ihre Arbeit mit den Rechnungen setzen, um die Gedanken zu betäuben und die Nerven zu beruhigen.

In einen roten Tuchschlafrock gehüllt, ging sie lautlos auf dem Teppich auf und nieder. Das dicke, aschblonde Haar hing ihr lose über die Schultern. Trotz eines starken Schlafpulvers hatte sie noch keine Ruhe gefunden. Die Unterredung mit dem Kaplan hatte ihr Selbstvertrauen erschüttert. Sie war so zermartert, daß sie nahe daran war, jetzt zu wünschen, sie könne das Geschehene ungeschehen machen. Auf alles andere war sie vorbereitet gewesen; aber daß sie gezwungen werden könne, sich einem Verhör zu unterziehen und ihre Erdichtung zu beeiden – daran hatte sie nicht gedacht und davor wich sie unwillkürlich zurück.

Sie ging einen Augenblick in die Schlafstube hinein und kam mit ihrem Schlüsselbund zurück. Dann stellte sie die Lampe auf eine Schatulle, die zwischen den Fenstern stand, und entnahm einem Geheimfach hinter einem der vielen kleinen Schubfächer einige zerknitterte Papiere in einem korngelben Umschlag. Obwohl sie seine hundertundvierzehn Paragraphen längst auswendig wußte, nahm sie immer wieder ihre Zuflucht zu diesem Dokument wie zu einem Trostbuch. In seiner Schamlosigkeit suchte sie ihre Rechtfertigung. Gegenüber diesem Zeugnis menschlicher Gemeinheit ward sie bestärkt in ihrer Überzeugung, gehandelt zu haben, wie das Gewissen es ihr befahl. Daher hatte sie es auch nicht vernichten wollen. Wenngleich sie sehr wohl einsah, wie gefährlich es für sie war, daß es noch existierte, wollte sie sich nicht davon trennen. Es war doch in letzter Instanz der Beweis, der sie freisprechen sollte. Auf alle Fälle Esther gegenüber. Sie wollte es daher bis an ihren Tod bewahren. Vielleicht würde dann auch eine Nachwelt gerechter über sie urteilen.

Die Türen rings um sie her waren sorgfältig geschlossen und verriegelt. Nur die Tür zu ihrer Schlafstube stand offen, und von hier war ebenfalls die Tür zu Esthers Schlafzimmer daneben offen. Sie wußte nicht, daß die Tochter wach war, und ahnte auch nicht, daß Esther sie von ihrem Bett aus in dem großen Spiegel beobachten konnte, der in ihrem Schlafzimmer hing. Daher gab sie sich schließlich ihrer Verzweiflung gänzlich hin. Sie warf sich vor die herausgezogene Schreibklappe der Schatulle nieder und legte den Kopf mit einem stummen Schluchzen auf ihren Arm.

Esther hatte lange da drinnen im Dunkeln gelegen, die Hände unter der Wange, wachgehalten von ihren eigenen, unruhig träumenden Gedanken. Jetzt richtete sie sich auf dem Ellbogen auf, entsetzt beim Anblick der weinenden Mutter. Sie hatte sehr wohl gehört, daß sich die Mutter im Bett hin und her geworfen hatte und schließlich aufgestanden war. Aber sie war so an ihr nächtliches Treiben gewöhnt und außerdem so erfüllt von ihren eigenen Angelegenheiten, daß sie nur hin und wieder einen Blick in den Spiegel geworfen hatte, um sich gegen eine Überrumpelung zu sichern.

Dies Weinen weckte sie aus ihren Träumereien. Es war das erstemal, daß sie die Mutter hatte weinen sehen. Arme Mutter! Immer mußte sie es so schwer haben! Was konnte nur geschehen sein? Sie war so sonderbar verändert nach dem Besuch des Hardesvogts. Auch Kaplan Bjerring gegenüber. Warum war sie so böse auf ihn geworden? Das war Unrecht, denn er selber dachte immer so schön von allen Menschen und wollte nur ihr Bestes. – Er hatte da draußen im Garten zu ihr gesagt, sie solle versuchen, ihre Mutter ein wenig von ihren Berechnungen ab- und in die Natur hinauszubringen, da würde sie sicher zufriedener werden. Ja, wenn sie das nur könnte! Ach, diese Berechnungen, diese entsetzlich langen Zahlenreihen, die sie zuweilen selbst zusammenzählen mußte – die waren ihr Schrecken! Tag und Nacht saß die Mutter über ihnen und wurde immer blasser vor Erregung. Was für Papiere mochten es nun wohl sein, mit denen sie da saß und die sie so verzweifelt machten? Es war nicht das erstemal, daß sie sie mitten in der Nacht an der Schatullenklappe hatte sitzen und darin blättern sehen. Sie konnte sie an dem gelben Umschlag erkennen.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie hatte im Spiegel die Mutter die Hände vom Gesicht entfernen und sich erheben sehen; und es ward ihr klar, daß sie in Selbstvergessen sich geräuspert hatte. Still kroch sie unter die Bettdecke, und als die Mutter nach einer Weile in die Tür trat, tat sie so, als schliefe sie.

Und wieder lag sie, die Hände unter der Wange, da und dachte an den Kaplan. Obwohl sie zu sich selbst sagte, daß sie jetzt schlafen wolle, hörte sie zweimal die Turmuhr die Viertelstunde schlagen, ehe sie einschlief. Aber das war ihr gar nicht unangenehm. Es war so wunderschön, dazuliegen und an ihn zu denken und alles, was er gesagt hatte, so recht zu durchdenken. Und sie schlief ein mit dem innigen Wunsch, daß die Mutter sich ihm gegenüber wieder freundlich erzeigen möge, so daß sie ihn kennenlernen konnte, wie er wirklich war, wohl der beste Mensch auf der Welt. –

 

Währenddessen hatte Nachtwächter Sören von neuem seinen Rundgang um die großen Scheunen, vorbei an den Ställen und dem langen Vorratsschuppen beendet. Er stand nun wieder unten vor dem Schloß und schielte hinauf zu den beiden erleuchteten Fenstern im linken Flügel. Mit einem Grunzen ging er weiter.

Oben bei der Meierei setzte er sich auf die Deichsel eines alten Göpels, stopfte eine kleine hölzerne Pfeife und zündete sie in seiner Pelzmütze an. Er konnte von dem Platz aus die ganze weitläufige Gebäudegruppe übersehen, bis hinab zu dem Eiskeller und der Schmiede. In der stillen Nacht konnte er auch jeden Laut von dort bis zu dem Piepsen der jungen Mäuse auffangen.

Da lag nun das alte Schloß vor ihm mit seinem kleinen dicken Turm, der sich von dem dunklen Himmel abhob. Bald vierzig Jahre hatte er hier jede Nacht gesessen und sein Heiligtum bewacht. Er konnte bis zu dem alten Geheimrat zurückdenken, der immer »Esel« zu seinen Dienstboten sagte und mit dem Stock nach ihnen schlug, wenn ihm der Kopf schlecht stand. Er hatte in der frohen Zeit des Etatsrats hier gesessen, wo des Nachts rings um den Schloßgraben Fackeln brannten, wenn ein Fest gefeiert wurde, und wo der Park von bunten Lichtern schimmerte wie ein Paradies. Er entsann sich des großen Tages, als der König in höchsteigener Person mit allen seinen Generalen hierherkam und ein Goldstück in seinen Hut warf, als er durch das Tor fuhr. – Aber dann kam die traurige Zeit der Kröte. Das waren böse Jahre! Ranziges Schmalz auf dem Brot und saure Milch! Wahrer Schweinefraß! Und kein Vesperbrot! Pfui Teufel!

An dem Abend hier neulich, als der junge Gutsbesitzer starb, hatte er gerade seine zweite Runde gemacht und stand im Schloßtore. Da auf einmal sah er den Schreiber ganz verstört barhäuptig drüben aus dem Kontor gelaufen kommen. Nie würde er den Augenblick vergessen! »Der Gutsbesitzer ist tot!« rief er. – Ja, ja! Das Gute ist nie von langer Dauer! Aber er wollte seinen Hals darauf in die Schlinge legen, daß das böse Teufelsweib da oben dem Gutsbesitzer was eingegeben hatte. Möchte die Strafe Gottes sie treffen! Aber der Hardesvogt, dieser Narr, der würd' sie sicher nie zum Eingestehen bringen.

 

Frau Engelstoft saß am nächsten Vormittag zusammen mit Esther am Frühstückstisch, als der Kaplan gemeldet wurde. Sie warf einen Blick auf die Tochter und erteilte dann den Befehl, den Geistlichen in die Gartenstube zu weisen. Um sich dagegen zu sichern, daß die jungen Leute sich später im Park begegneten, sagte sie hinterher zu Esther, als sie vom Tische aufstanden, sie solle auf ihr Zimmer gehen und die wöchentliche Abrechnung von Agersögaard revidieren.

Esther sah ihre Mutter verwundert an. Aber wie immer gehorchte sie ohne Widerspruch.

Der Kaplan stand am Fenster, als Frau Engelstoft hereinkam. Er drehte sich auf dem Absatz herum und grüßte mit seiner unbeholfenen Verbeugung.

»Sie haben nach mir geschickt«, sagte er. »Ich stehe zu Ihren Diensten.«

»Nehmen Sie, bitte, Platz. – Entsinnen Sie sich noch, Pastor Bjerring, daß Sie mir neulich versprachen, zu Ihrem Freund, dem Maurermeister Jörgensen zu gehen, wenn Sie dort vorüberkämen, und ihm von mir zu sagen, daß ich über einen Umbau der Molkerei hier mit ihm sprechen möchte? Ich weiß nicht, ob Sie es vergessen haben. Der Mann ist jedenfalls nicht hier gewesen.«

Der Kaplan rieb verlegen seine Hände.

»Vergessen habe ich es nicht. Aber Jörgensen antwortete mir, daß er nicht die Absicht habe, ein Gebot auf diese Arbeit zu machen. Ich würde Ihnen das gestern gesagt haben, aber ich fand keine Gelegenheit dazu.«

»Soll ich seine Antwort so verstehen, daß er in Zukunft überhaupt keine Arbeit hier auf dem Hofe zu übernehmen wünscht?«

»Die Wahrheit in Ehren, Frau Engelstoft! Ich glaube, es soll so zu verstehen sein.«

»Und der Mann ist einer Ihrer kirchlichen Freunde, Herr Pastor! Das nimmt sich ein wenig sonderbar aus!«

»Die Volksstimmung ist gegen Sie, Frau Engelstoft. Das habe ich Ihnen nicht verhehlt. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so sollten Sie sowohl Bauunternehmungen als auch andere von Ihnen geplante Veränderungen hier auf Sophiehöj hinausschieben, bis sich die Gemüter ein wenig beruhigt haben.«

»Ich habe Sie nicht gebeten, mir Ratschläge zu erteilen.«

»Das haben Sie freilich nicht getan. Aber Sie haben mir bisher gestattet, offen mit Ihnen zu sprechen, Frau Engelstoft. Ja, Sie haben ausdrücklich gesagt, daß Sie Wert darauf legen würden, wenn ich mit nichts hinter dem Berge halten wollte. Und nun ist es meine Überzeugung, daß Sie im Augenblick nicht leicht jemand bewegen werden, hier Arbeit zu übernehmen. Wenn ich recht unterrichtet bin, haben mehrere von Ihren Leuten den Hof bereits verlassen.«

Hierauf erwiderte Frau Engelstoft nichts. Sie hatte seinen Ausdruck wieder beobachtet, um Klarheit darüber zu erhalten, ob seine Naivität echt war oder ob er mit jesuitischer Hinterlist heimlicher Teilnehmer an dem Komplott gegen sie war. Jetzt wandte sie sich ab und sagte:

»Die Molkerei soll umgebaut werden, und zwar sofort. Wollen die Banditen hier mich boykottieren, so hole ich Arbeitskraft von auswärts. Mir kann es einerlei sein, wer den Verdienst einsteckt.«

Der Kaplan schwieg mißmutig.

»Wollen Sie mir gestatten, Ihnen eine Frage zu stellen, Frau Engelstoft?« sagte er schließlich.

»Bitte schön!«

»Ich habe mir erzählen lassen, daß, wenn Sie sich zu diesem Umbau der Molkerei entschlossen haben, es geschieht, um sie nach einem neuen Prinzip einrichten zu lassen, wie Sie es bereits auf Agersögaard eingeführt haben. Sie sollen dadurch ein Prozent mehr Butterertrag gewinnen können, sagt man.«

»Nun – und was weiter?«

»Ich kenne ja Ihre bewunderungswürdige Energie. Aber – wenn Sie dann der Erde auch das Prozent abgerungen und vielleicht den Wert von Sophiehöj um eine kleine Tonne Goldes erhöht haben – werden Sie sich dann auch nur ein ganz klein wenig glücklicher fühlen?«

»Ach, verschonen Sie mich, bitte, mit Ihrer Seminaristenweisheit! Ich habe mir ein für allemal Predigten hier im Hause verbeten. Sammelt nicht in die Scheuern! Euer Schatz soll im Himmel sein! Sie hören, ich kenne die Lektion.«

»Ich höre, daß Sie spotten, Frau Engelstoft. Aber ich will Ihnen sagen, ich glaube nicht, daß ich hochmütig bin. Ich bilde mir auch nicht ein, daß ich viel Lebenserfahrung habe. Niemand weiß besser als ich selbst, daß mir noch viel zu lernen übrigbleibt. Aber hier ist gerade etwas, was ich nicht verstehe, und deswegen frage ich. Wenn ich die Kürze dieses Lebens bedenke, begreife ich nicht, daß jemand Beruhigung darin finden kann, seine Wurzeln so tief in das Irdische zu versenken. Das ist ja, als wollte der Schmetterling seinen Wintervorrat sammeln, obwohl er nur einen einzigen Tag lebt.«

»Sie vergessen, Herr Pastor, daß sich unser Leben in unsern Kindern fortsetzt.«

»Ja – verzeihen Sie – aber ist das viel mehr als eine schöne Redensart?«

»Eine schöne Redensart?«

»Ja, geht es nicht in der Regel hier im Leben so, daß, wenn die Kinder heranwachsen und selbständig werden, sie ihr Glück weit ab von den Wegen suchen, die die Eltern mit so viel Fürsorge und oft unter so vielen Entbehrungen für sie bereitet haben? Ich glaube das. Und ich kenne nicht so gar wenig von dieser Sache aus schmerzlicher Erfahrung. Ich habe Ihnen gewiß erzählt, Frau Engelstoft, daß meine Eltern ganz andere Pläne für meine Zukunft hatten, als mich zum Geistlichen zu machen. Es war ihre Hoffnung, mir eine der hochangesehenen Stellungen in der Gesellschaft zu sichern, die mein Vater einstmals selbst erstrebt hatte. Und dann geschah es, daß alle meine eigenen Wünsche und Hoffnungen in eine ganz andere Richtung gingen und ich meine teuren Eltern betrüben mußte, indem ich ihre aufopfernde Fürsorge verwarf. Aber einem solchen wirklich tragischen Schicksal setzt sich jeder aus, der das Lebensziel außerhalb des Ewigen und Unwandelbaren sucht.«

»Sie wurden also Pfarrer«, erwiderte sie trocken. »Aber wie war es doch? Dachten Sie nicht daran, Missionar zu werden? Drüben in Asien, nicht wahr? Einer der Apostel des Ostens! – Warum haben Sie das im Grunde aufgegeben?«

»Die Verhältnisse zwangen mich.«

»Ja – jetzt entsinne ich mich, daß Sie es mir erzählt haben. Es fehlte der Missionsgesellschaft an Geld, nicht wahr.«

»Allerdings.«

»Um eine wie große Summe handelte es sich?«

»Fünf- bis sechstausend.«

»Ja, da sehen Sie. Und trotzdem sprechen Sie so verächtlich von dem Gut und Gold dieser Welt. Selbst der liebe Gott kann ja nicht ohne Geld fertig werden. Die armen Chinesen müssen nun auf ihre Bekehrung warten, bis wieder etwas in der Kasse ist.«

Der Kaplan schüttelte den Kopf.

»Da spotten Sie wieder, Frau Engelstoft. Wir Christen fassen dergleichen nicht so äußerlich auf. Wir begreifen, daß Gott, der seine verborgenen Pläne mit allem hat, was geschieht, auch in einem Falle wie diesem hier eine Absicht damit hatte, wenn er ein Hindernis in den Weg legte.«

»Ach so. Freilich, bequemer ist es ja auf alle Fälle, hier in der Heimat Mission zu treiben. Hätten Sie aber nicht Ihre Eltern bewegen können, die Summe zuzuschießen, die fehlte? Es sind ja doch wohlhabende Leute!«

»Meine teuren Eltern würden lieber das Zehnfache geben, um mich zurückzuhalten. Das Klima da drüben ist ja nicht gerade gesund. An Sumpffieber sind die früheren Missionare gestorben. Die Verhältnisse sind wohl überhaupt etwas schwierig für Europäer.«

»Ach, dergleichen wird wohl immer übertrieben.«

»Das ist auch mein Glaube. Und auch das Klima schreckt mich nicht ab. Ich bin immer gesund gewesen und kann Kälte wie auch Hitze vertragen.«

»Dann werden Sie vielleicht dennoch dem Ruf folgen, wenn die Missionsgesellschaft einmal wieder zu Kräften gelangt und das Reisegeld erübrigen kann?«

»Das werde ich unbedingt. Ich habe Gott mein Gelübde gegeben, und das halte ich.«

Frau Engelstoft hatte dagesessen und unruhig mit einem Quast gespielt, der von dem Armpolster des Lehnstuhles herabhing. Jetzt aber erhob sie sich und ging mit ihren kleinen, festen Schritten nach dem Fenster, als fliehe sie plötzlich vor ihren eigenen Gedanken.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, und als Esther sich noch immer nicht zeigte, fiel es dem Kaplan ein, daß er sie vielleicht so wie am vorhergehenden Tage draußen im Garten treffen könne. Er war nicht nur von Teilnahme für das einsame junge Mädchen erfüllt, sondern er hatte in letzter Zeit auch große Hoffnung für die Errettung ihrer schwermütig schwärmerischen Seele gefaßt. Daß sie als Heidenkind aufgewachsen war, als kleine Wilde, unwissend und verhext, das wußte er ja freilich. Aber in ihrem kindlichen Zusammenleben und in ihrer Abgötterei mit Blumen und Vögeln sah er ein irregeleitetes religiöses Sehnen, einen schlummernden Gottesdrang, der – einmal erweckt – die Pforten des Himmels stürmen würde.

Er ging auf Frau Engelstoft zu und sagte ihr Lebewohl, sie gab ihm die Hand, ohne ihn anzusehen. Sie konnte sich nicht entschließen, seinem Blick zu begegnen. Obgleich sie sich noch immer nicht klar darüber war, ob seine Freimütigkeit naiv war oder frech, sollte jetzt Ernst daraus gemacht werden, ihm die Tür zu verschließen.

Hinterher stand sie wieder am Fenster und ließ die fieberhaften Finger auf das Fensterbrett trommeln. Mit einem eigenen schwindelnden Machtgefühl dachte sie daran, daß sie, wenn sie sechstausend Kronen opferte, den Mann, der in diesem Augenblick vielleicht ihr gefährlichster Feind war, in den gewissen Tod senden konnte. Auf alle Fälle so weit weg, daß er unschädlich wurde. Wozu sich bedenken? Sollte eine Mutter vor einem fremden Mann zurückweichen, wenn er das Leben ihres Kindes zerstören wollte? Was sie begonnen hatte, mußte jetzt vollendet werden. Ein Rückzug war nicht mehr möglich.

 

Eine gute Woche später erschienen die Gerichtsdiener in Sophiehöj und luden Frau Engelstoft am dritten Tage darauf zum Verhör in das Gerichtsgebäude der Kreisstadt. Das polizeimäßige Einschreiten des Hardesvogts aus Anlaß der Unruhen auf dem Hofe hatte die erstrebte Wirkung nicht gehabt. Statt den Verdacht niederzuschlagen, hatte es im Gegenteil bewirkt, daß die unheimlichen Gerüchte in Umlauf gekommen waren und daß mehrere anonyme Einsender in den Zeitungen der Umgegend eine gerichtliche Untersuchung der Geschehnisse am Sterbebett des verstorbenen Gutsbesitzers gefordert hatten. In verschleierten Wendungen war Frau Engelstoft sogar des Mordes beschuldigt worden.

An dem festgesetzten Tage hielt des Morgens um zehn Uhr die altmodische Kutsche, die von früher her »der Wagen der gnädigen Frau« genannt wurde, an der Treppe im inneren Schloßhof. Hinter allen Kellerfenstern und hinter den Fenstern der Gutsschreiberei im Seitenflügel sah man flachgedrückte Nasen und schadenfrohe Blicke. Es waren die Küchenmägde und Schreiber, die hofften, einen Schimmer von dem Gesicht der »Kröte« zu erwischen, wenn sie in den Wagen stieg. Und es kribbelte so süß in ihnen bei dem Gedanken, daß die stolze Dame jetzt vor die Polizeischranke gezerrt werden sollte wie ein gewöhnlicher Bettler und daß man sie zwingen würde, auf alles zu antworten.

Kaum zwei Minuten nachdem die Turmuhr gedröhnt hatte, erschien Frau Engelstoft auf der obersten Treppenstufe. Zur großen Enttäuschung für die Neugierigen war sie tief verschleiert, die ganze Gestalt von dem langen schwarzen Witwenschleier verhüllt. Mamsell Andersen und die Kammerjungfer geleiteten sie an den Wagen hinab, während der dicke Kutscher Jens auf dem Bock seine vorschriftsmäßigen Honneurs machte.

Oben am Fenster im Kabinett stand Esther, von der Gardine verborgen. Als der Wagen abgefahren war, starrte sie ihm unverwandt nach, während ihre großen luftblauen Augen sich mit Tränen füllten. Sie war voller Besorgnis um die Mutter. Wieder hatte sie sie in dieser Nacht in ihren Gemächern hin und her gehen hören, hatte sie auch im Spiegel wieder an der Schatullenklappe sitzen und in die Papiere mit dem gelben Umschlag hineinstarren sehen. Jetzt, am Morgen, war sie wunderlich zerstreut gewesen. Sie war ganz entsetzt, als sie sah, wie alt und müde sie ausschaute.

Die alte Mamsell Andersen kam herein, um nach dem Ofen zu sehen. Obwohl die Mutter ihr verboten hatte, sich mit dem Gesinde zu unterhalten, und sie namentlich vor der Mamsell gewarnt hatte, die sie beschuldigte, an den Türen zu horchen und zu lügen, ging Esther geradeswegs auf das alte Mädchen zu und fragte, was denn eigentlich los sei.

Mamsell Andersen zuckte zusammen.

»Was los ist? Was meinen gnä' Fräulein?«

»Warum seid ihr heute alle so sonderbar? Und warum ist Mutter weggefahren? Wollte sie nach der Stadt?«

»Ja, das glaube ich. Gnä' Frau hat wohl Geschäfte da.«

»Aber was sollte Mutter bei der Polizei? – Ja, es kann nicht nützen, daß Sie es leugnen wollen, Mamsell Andersen. Ich hörte heute morgen, wie Anna und Maren-Sophie draußen auf dem Gange standen und darüber flüsterten. Hat irgend jemand gestohlen?«

»Daß gnä' Fräulein sich daran kehren wollen, was so ein paar dumme Mädchen klatschen!«

»Da ist etwas, was Sie mir nicht sagen wollen, Mamsell Andersen. Was ist es?«

Die Alte lag vor dem Ofen auf den Knien und legte ein paar Holzscheite auf das Feuer.

»Na, ja, wenn gnä' Fräulein so viel gehört haben, können Sie das Ganze wissen. Es ist sonst übrigens was, womit gnä' Fräulein sich nich' zu befassen brauchen.«

»Was ist es denn?«

»Es ist, glaube ich, ein wichtiges Papier von dem seligen Herrn, das weggekommen is'. So hab' ich es wenigstens verstanden. Aber ich weiß von nichts.«

»Ein Papier?«

»Ja, so was, was man Dokument nennt.«

»Aber was hat Mutter damit zu tun? Sie kann doch nicht wissen, wo es abgeblieben ist.«

»Ja, die Sache is vielleicht die, daß das Erbteilungsgericht das doch meint«, sagte die Alte und begann eifrig in die Kohlen zu blasen, als habe sie schon zuviel gesagt.

»Dann war das auch wohl die Veranlassung, weswegen der Hardesvogt neulich hier war.«

»Das kann wohl möglich sein«, sagte sie und stand von dem Ofen auf. »Aber nu is es wirklich an der Zeit, daß gnä' Fräulein ihr Frühstück kriegen. Die Uhr is über zehn.«

Esther setzte sich auf das Sofa, wo sie in die eine Ecke hineinkroch, ganz benommen von einer Angst, die sie bei jedem Laut zusammenfahren ließ. Sie hielt die Hand unter den Kopf, und wieder quollen die Tränen aus ihren Augen hervor. Sie konnte sie nicht zurückhalten. Beständig war es ihr, als hörte sie die Fußtritte ihres Vaters da drinnen in dem großen Saal. Es war dies ein Gefühl, das sie während ihres Aufenthaltes hier häufiger gehabt hatte. Auch die Stimme des Vaters glaubte sie zuweilen da drinnen hören zu können.

Wenn doch Pastor Bjerring heute kommen wollte, dachte sie. Sie begriff nicht, was mit ihm vorging. Eine ganze Woche war er nicht hier gewesen. Konnte er krank sein? Sie hatte in diesen Tagen so recht gemerkt, wie gern sie ihn hatte. Sie empfand in seiner Nähe etwas von derselben Geborgenheit, die sie stets bei ihrem Vater gefühlt hatte. War das vielleicht, weil seine tiefe Stimme sie an die des Vaters erinnerte, die sie so oft froh gemacht, wenn sie sie draußen auf der Diele hörte? Wenn sie doch nur die Mutter dahin bringen könnte, ihn gern zu haben! Aber nicht mit einem Wort hatte die Mutter ihn alle diese Tage erwähnt oder sich merken lassen, daß sie ihn vermißte.

Hastig trocknete sie die Tränen von der Wange. Mamsell Andersen kam mit ihrem Frühstück auf einem Teebrett herein.

»Hier is was, was gut für gnä' Fräulein is. Ein extra Beefsteak. Und zwei Eier.«

»Ach, kann ich heute nicht damit verschont bleiben, Mamsell Andersen? Ich habe gar keinen Appetit. Und dann habe ich solch Kopfweh.«

»Nein, essen muß man, weiß Gott, unter den Umständen. Sonst wird es bloß noch schlimmer.«

»Aber was kann das nützen? Ich muß es doch nur wieder herausbrechen, so wie neulich.«

»Ach, es wird schon runtergleiten, das sollen gnä' Fräulein mal sehen! Denken Sie auch daran, was gnä' Frau so oft gesagt hat. Gnä' Frau wird sehr böse werden, wenn sie zu wissen kriegt, daß gnä' Fräulein ihr Beefsteak nich' gegessen hat.«

Die letzte Warnung machte Esther fügsam. Sie setzte sich an den Tisch und zwang sich zu essen, obwohl allein der Anblick der blutigen Fleischstücke ihr Übelkeit erregte.

Währenddessen stand Mamsell Andersen hinter einem Stuhl auf der andern Seite des Tisches und betrachtete sie mit mitleidigem Blick. Es schnitt ihr ins Herz, zu sehen, wie blaß sie geworden, seit der Kaplan zur Tür hinausgejagt war.

Trotz der kalten Sturzbäder und der andern Abhärtungskuren, mit denen ihre Mutter sie geplagt hatte, waren niemals viele Blutstropfen in ihrem schmächtigen kleinen Körper gewesen, und in der letzten Zeit sah sie aus, als sollte sie ihrem Vater bald ins Grab folgen.

Deswegen konnte die Alte es auch nicht übers Herz bringen, ihr zu erzählen, was sie gerade gehört hatte, nämlich, daß der Kaplan nun doch zu den Chinesen hinüberreiste. Er sollte es am vorhergehenden Abend selbst im Versammlungshaus gesagt haben. Der liebe Gott habe ihm Reisegeld geschenkt, hatte er gesagt. Es sei in einem Brief ohne Namen an die Missionsgesellschaft angekommen. Wie traurig das war, zu denken, daß der prächtige junge Mann, der es hier in der Heimat so gut haben konnte, nun vielleicht von den abscheulichen Chinesen gemordet und aufgefressen werden sollte.

Esther hatte noch nicht viele Bissen hinuntergezwungen, als sie das Teebrett beiseite schob und erklärte, jetzt könne und wolle sie nicht das geringste mehr essen. Wenn sie in dem Ton sprach, wußte Mamsell Andersen, daß es nichts nützte, zu versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. So sanft und fügsam sie im allgemeinen war, konnte hin und wieder einmal ein Kobold in sie fahren, so daß man merkte, sie war die Tochter der »Kröte«.

Dann zog Esther ihren hellgrauen Ulster an, um in den Park hinabzugehen. Obwohl sie jetzt die Hoffnung aufgegeben hatte, daß der Kaplan kommen würde, stand sie doch draußen auf der Diele lange vor dem Spiegel, während sie eine kleine schwarzkarierte wollene Mütze aufsetzte und die Löckchen an den Schläfen ordnete. Sie hatte ihm einmal ansehen können, daß er fand, die Mütze kleide sie. Auch rieb sie die Wangen kräftig mit der flachen Hand, als sie entdeckte, wie blaß sie war.

Die Sonne schien, aber trotzdem schlug sie den Kragen um die Ohren in die Höhe und steckte die Hände tief in die Manteltaschen. Ihre Ellenbogen bewegten sich aus und ein, so zitterte sie vor Kälte.

Die letzten Blätter waren gefallen. Der Nachtfrost hatte den Park entkleidet, der noch vor wenigen Tagen in seiner ganzen Farbenpracht des Herbstes stand. Auch ihre Kindheitsfreunde, die Vögel, waren weg. Beim Anblick ihrer leeren Nester hier und da in den kahlen Baumkronen fühlte sie sich doppelt einsam und verlassen. Nur die Schwarzdrosseln waren noch da. Aber sie saßen nicht wie im Sommer oben auf den Zweigen und sangen. Sie liefen stumm unten am Erdboden umher und erschreckten sie, wenn sie plötzlich wie schwarze Ratten in dem roten Laubboden zum Vorschein kamen und ebenso schnell wieder hinter den Baumstämmen verschwanden.

Am äußersten Ende des Parks machte sie halt an einer Pforte und blieb dort einige Augenblicke stehen, die Arme über dem Gitterwerk. Die Pforte ging nach der alten Lindenallee hinaus, die von der Landstraße nach dem Vorwerk führte, und man hatte von hier eine Aussicht über die Felder bis hinab nach dem Dorf mit der weißen Kirche. Am Wegesrande, drüben auf der andern Seite der Allee, entdeckte sie den alten Anders, der hinter seinem Strohschirm saß und Steine klopfte. Da kam ihr der Gedanke, daß sie vielleicht von ihm erfahren könne, ob Pastor Bjerring krank sei. Sie wußte, daß der alte Anders zu den »Heiligen« gehörte, die jeden Sonntag zur Kirche gingen und Verbindungen im Pfarrhaus hatten.

Mit einem schnellen Entschluß öffnete sie die Pforte und balancierte von einem Stein zum andern über den aufgeweichten Weg, dessen tiefe Wagenspuren voller Wasser waren. Sie begann diplomatisch über das Wetter zu sprechen und sich nach seiner Frau und ihm selbst zu erkundigen. Aber der alte Anders, der wohl eine gottesfürchtige Seele, aber trotzdem ein großer Schelm war, bemerkte mit zugekniffenem Auge und einem verständnisvollen Lächeln, daß, wenn sie nach dem jungen Pfarrer ausgucke, sie nur einen kleinen Augenblick warten solle. Vor einer knappen halben Stunde, sagte er, sei der Kaplan in Talar und Halskrause vorübergekommen auf dem Wege nach dem Vorwerk, um einem der Knechte, der über Nacht krank geworden war, das heilige Abendmahl zu reichen.

Esther wurde blutrot und verließ ihn sofort, empört und verwirrt. Der Gedanke, daß die Leute auf dem Hofe angefangen hatten, über sie und den Kaplan zu reden, und daß das Gerede der Mutter zu Ohren kommen konnte, flößte ihr große Angst ein. Und nun geschah es, daß, als sie auf ihrem hastigen Rückzug einen Blick die lange Allee mit den großen Wasserlachen hinabwarf, in denen sich der blaue Himmel spiegelte, eine ornatgekleidete Person im selben Augenblick aus der Tür des Vorwerks trat.

Ihre erste Eingebung war, aus seinem Gesichtskreis zu verschwinden, indem sie in den Park hineineilte. Als sie es sich aber klarmachte, daß er sie wahrscheinlich schon gesehen hatte, entschloß sie sich, an der Pforte stehenzubleiben und auf ihn zu warten. Er konnte sonst leicht denken, daß sie ihn persönlich meiden wolle. Der alte Anders mochte denn über sie denken, was er wollte.

Allmählich faßte sie auch Mut, ihm auf der Graskante neben dem Fahrwege ein paar Schritte entgegenzugehen.

»Sind Sie verreist gewesen, Herr Pastor?« fragte sie, sobald sie einander begrüßt hatten. »Es ist so lange her, seit wir Sie gesehen haben.«

Sich selbst vergessend, behielt er ihre Hand in der seinen, während er sie verwundert betrachtete.

»Dann wissen Sie also nicht, Fräulein Esther, daß Ihre Mutter mich nicht mehr auf Sophiehöj zu sehen wünscht!«

»Mutter!« sagte sie erschreckt und erblaßte.

»Hoffentlich ist nur eine vorübergehende Mißstimmung schuld daran«, fuhr er fort und gab endlich ihre Hand frei. »Ich weiß wenigstens nicht, daß ich etwas Verkehrtes getan habe. Daher will ich Ihnen jetzt auch noch nicht Lebewohl sagen. Sobald Ihre Mutter wieder nach mir schickt, komme ich. Aber das ist wahr! Sie wissen wohl gar nicht, daß ich weggehe?«

»Nach Kopenhagen?«

»Nein, viel weiter weg. Sie erinnern sich wohl, daß ich Ihnen von dem Missionsposten in China erzählt habe, der lange unbesetzt gewesen ist. Es ist ja immer mein Wunsch gewesen, Missionar zu werden. Namentlich da drüben in dem großen Reich der Unwissenheit, das sich das himmlische nennt. Durch eine unerwartete Schickung ist es mir möglich geworden, fortzukommen. Meinen innigsten Wunsch hat der Herr jetzt erfüllt.«

Esther schwindelte es. Was sagte er da? Sie starrte ihn an in der Hoffnung, einem scherzenden Lächeln in seinem Antlitz zu begegnen. Aber der Ausdruck war tief ernsthaft, ebenso wie seine Stimme. Es war also wahr!

Aus Angst, ihre grenzenlose Enttäuschung zu verraten, versuchte sie nun selber zu lächeln, scherzhaft zu sein.

»Ach, wirklich! Dann muß man Ihnen also Glück wünschen!« sagte sie.

»Ja, das müssen Sie! So leid es mir auch tut, meine Freunde hier – und meine teuren Eltern in Kopenhagen – verlassen zu müssen, bin ich doch glücklich und voller Hoffnung!«

Ein rotes Gesicht guckte in diesem Augenblick unbemerkt hinter dem Strohschirm drüben auf der andern Seite des Weges hervor.

Was er weiter sagte, hörte Esther nicht.

Dann reichte er ihr die Hand. Sie nahm sie wie im Traum und hörte ihn sagen:

»Gott segne Sie!«

Ehe sie wieder zu sich gekommen, war er weg.

 

Hinter der Schranke in dem düstern Gerichtssaal, der mit einer Reihe schmutziger Fenster nach dem Marktplatz der Stadt hinaus lag, saß der Hardesvogt in goldbestickter Uniform, und zu seiner linken Hand hatte der Gerichtsschreiber mit dem großen Protokoll seinen Platz. An der Tür, durch die die Zeugen herein- und hinausgeführt wurden, saß ein riesengroßer Schutzmann mit blauroten Wangen und nickte im Halbschlaf, während die Gerichtszeugen – ein paar alte Pensionisten – ihren Sitz unter einem Fenster hinter der Schranke hatten.

Es waren mehrere Zeugen vernommen, und die Luft da drinnen, die schon im voraus schwer von altem Staub und Kohlendunst aus dem Ofen gewesen, war bereits erstickend geworden. In diesem Augenblick saß der Realschuldirektor Brandt vor der Schranke und gab seine Erklärung ab. Er sagte aus, daß er wenige Stunden vor dem Tode seines Schwagers lange mit ihm geredet habe, und zwar über die Schenkungsurkunde, die er auf seine Aufforderung hin in den eingemauerten Geldschrank gelegt habe. Falls der Schwager wirklich später seine Einwilligung dazu gegeben habe, daß sie vernichtet werde, könne er zu dem Zeitpunkt sicherlich sich seiner Handlungen nicht klar und voll bewußt gewesen sein. Im übrigen aber glaube er nicht an die Erklärung.

Auf die Frage des Hardesvogts, ob er denn jemand in Verdacht habe, die Schenkungsurkunde unterschlagen zu haben, antwortete er mit einem klaren und bestimmten Ja.

»Ist Ihr Verdacht gegen eine bestimmte Person gerichtet?«

Hierauf weigerte er sich zu antworten. Dahingegen erinnerte er daran, daß Frau Engelstofts längst verstorbener Bruder nach dem, was jetzt in Erfahrung gebracht sei, sich als junger Mensch an der Kasse seines Prinzipals vergriffen habe, was auf verbrecherische Familienanlagen hinzudeuten scheine.

Dieser Giftstich versetzte den Hardesvogt in Raserei. Puterblau im Gesicht rief er:

»Hier ist nicht der Ort, mit losen Vermutungen aufzuwarten. Ich habe Sie gefragt, ob Ihre Bezichtigung eine bestimmte Adresse hätte.«

»Und ich muß wiederholen, daß ich mich nicht für verpflichtet halte, Gewissensfragen zu beantworten.«

Damit war der Hardesvogt abgeführt.

»Haben Sie noch weiter etwas zur Aufklärung der Sache vorzubringen?« fragte er.

»Nein.«

»Dann sind wir miteinander fertig.«

Der nächste Zeuge war die Krankenpflegerin Schwester Bodil. Der Hardesvogt bat sie, Platz zu nehmen, und sagte:

»Sie kannten den verstorbenen Gutsbesitzer recht genau. Sie haben ihn während seiner letzten Krankheit längere Zeit gepflegt.«

»Ja.«

»Und Sie waren im Augenblick seines Todes zugegen?«

»Ja. Das heißt – während der Unterhaltung des Gutsbesitzers und der Frau Engelstoft hielt ich mich in meinem Zimmer auf – aber ich wurde hineingerufen.«

»In welchem Zustand fanden Sie da den Sterbenden vor?«

»Der Todeskampf hatte bereits begonnen.«

»War er imstande zu sprechen?«

»Ich glaube das nicht.«

»Hatten Sie den Eindruck einer veränderten Gemütsstimmung bei ihm, als Sie hineingerufen wurden?«

»Ich hatte nur den Eindruck eines sterbenden Menschen.«

»Aber ein Anzeichen von einem unmittelbar vorausgehenden heftigen Wortstreit oder einer gewaltsamen Überredung fanden Sie also nicht?«

»Nein.«

»Wie erklären Sie sich denn den plötzlich eingetretenen Todesfall?«

»Ich glaube wohl, daß die Gemütsbewegung anläßlich von Frau Engelstofts Kommen den Tod beschleunigt haben kann. Aber der Gutsbesitzer war so schwach, daß wir jeden Tag eine Katastrophe erwartet hatten.«

»Sehr wohl. Das stimmt mit der Aussage des Doktors überein. Jetzt nur noch dies eine: Nach dem Eintreten des Todes verließen Sie das Krankenzimmer, nicht wahr?«

»Ich ging durch das Nebenzimmer und rief Mamsell Andersen, die im Eßzimmer saß.«

»Waren Sie so lange fort, daß während Ihrer Abwesenheit Schubladen oder Schränke im Krankenzimmer geöffnet werden konnten?«

»Nein, das halte ich für unmöglich.«

»Sehr wohl. Und gleich darauf kamen ja mehrere Personen herzu. Der Verwalter und der Gutsschreiber, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sehr wohl.«

Nachdem ihr der Hardesvogt noch einige Fragen gestellt und die ganze Verhandlung zu Protokoll gegeben hatte, wurde ihr dies vorgelesen, worauf sie die Erlaubnis erhielt, zu gehen.

Aber sie blieb sitzen und sagte, daß sie gern noch etwas sagen wolle.

»Was denn noch?« rief der Richter ungeduldig aus.

In starker Erregung versicherte sie, daß sie keinem Menschen etwas Böses wünsche. Aber um ihres eigenen Gewissens willen müsse sie etwas sagen, das sie – und wahrscheinlich sie allein – mit Bestimmtheit wisse.

»Ja, dasselbe haben auch alle die andern gesagt. Und wenn man die Sache bei Licht besah, so war das Ganze nur Klatsch und dummes Gerede. Was wollen Sie denn sagen?«

Sie habe gehört, sagte sie, daß das bewußte Testament oder die Schenkungsurkunde im Schlafzimmer des Gutsbesitzers im Ofen verbrannt worden sei. Aber das könne nicht der Fall sein.

»Warum denn nicht?«

»Weil an dem Abend gar kein Feuer im Ofen war. Der Ofen wurde überhaupt nicht benutzt.«

»Was soll das heißen? Als ob man nicht ein Stück Papier in einem Ofen verbrennen könnte, ohne daß Feuer darin ist. So ein Unsinn! Wenn Sie, um Ihr Gewissen von dergleichen törichten Skrupeln zu befreien, das Gericht aufhalten, so –«

»Herr Hardesvogt haben mich mißverstanden. Es kann an jenem Abend überhaupt nichts in dem Ofen verbrannt sein, weder Papier noch sonst etwas.«

»Woher, zum Kuckuck auch, können Sie das wissen?«

Sie erklärte, das Ofenloch sei voll von Wattestückchen gewesen, die benutzt worden waren, um die Arme und die Brust des Gutsbesitzers mit Spiritus einzureiben. Die hatten noch am Tage nach dem Tode des Gutsbesitzers dagelegen, und es sei doch einleuchtend, daß ein so brennbarer Stoff bei der geringsten Berührung mit Feuer in Brand geraten sein würde.

Der Hardesvogt lehnte sich in seinen Thronsessel zurück und kreuzte die Arme über der Brust. Ei, ei! dachte er und fixierte sie scharf. Diese anständig aussehende Person gehört also mit zum Komplott. Nun! Sie sollte ebenso wie die andern schnell entlarvt werden!

»Was Sie da erzählen, klingt sonderbar! Wie kamen Sie auf den Gedanken, umherzugehen und in die Öfen zu gucken? Es verlautete ja damals nichts davon, daß die Schenkungsurkunde vernichtet, geschweige denn verbrannt worden sei.«

»Es ist meine mir vorgeschriebene Pflicht, ehe ich ein Haus verlasse, in dem Zimmer, in dem sich mein Patient aufgehalten hat, rein zu machen und alles zu entfernen, was mit dem Kranken in Berührung gekommen ist.«

Die Gesichtsmuskeln des Hardesvogts wurden auf einmal schlaff. Er mußte sich selber einräumen, daß hier ein Punkt war, der genauer hätte untersucht werden müssen.

»So – und dann entfernten Sie also die Wattestückchen?«

»Ja, ich habe sie verbrannt.«

»Hm . . . Sie sind sich wohl klar über die Bedeutung, die Ihre Mitteilung möglicherweise für die Sache haben kann, die es hier aufzuklären gilt? Ich muß Ihnen deswegen anheimgeben, ernsthaft zu bedenken, was für Folgen für Sie daraus erstehen können, wenn es sich herausstellen sollte, daß sie nicht mit der Wahrheit übereinstimmt.«

»Das tut sie«, versicherte sie mit Tränen in den Augen.

»Bedenken Sie, daß Sie in der Zeugenschranke stehen und daß Sie nötigenfalls verpflichtet sind, mit Ihrem Eid zu bekräftigen, was Sie hier gesagt haben. Sind Sie dazu bereit?«

»Ja.«

»Dann habe ich Sie im Augenblick nichts mehr zu fragen. Haben Sie aber die Güte, hier zu bleiben, da ich wahrscheinlich später gezwungen sein werde, näher mit Ihnen zu sprechen.«

Er verfolgte sie mit den Augen, während sie fortging. Dahinter steckt etwas! – dachte er. Stand sie nicht da und log und weinte zugleich!

Nach kurzer Erwägung erteilte er nun dem langen Schutzmann den Befehl, Frau Engelstoft aus dem besonderen Wartezimmer, das ihr aus Galanterie angewiesen worden war, hereinzurufen. Der Schutzmann öffnete die Tür und rief ihren Namen.

Mit stolzer Haltung trat sie über die Schwelle, blieb dann stehen und sah sich ein wenig unsicher um. Gleich darauf aber setzte sie mit ihren kleinen, festen Schritten den Weg nach der Schranke fort. Der Hardesvogt begrüßte sie mit so viel von der ihm in Fleisch und Blut übergegangenen Höflichkeit, wie die Heiligkeit und die Würde des Richterstuhls gestatteten. Mit einer Neigung des Kopfes und einer Handbewegung bat er sie, auf dem Stuhl vor der Schranke Platz zu nehmen.

Und er begann das Verhör mit dem Bedauern, daß er gezwungen gewesen sei, sie zu bemühen. »Da es sich aber hauptsächlich darum handelt, festzustellen, inwiefern Gutsbesitzer Engelstoft damals, als er sich entschloß, seine Schenkungsurkunde zu vernichten, sich der betreffenden Handlung und ihrer Folgen klar bewußt war, so werden Sie gewiß verstehen, daß Ihre Zeugenaussage von besonderer Bedeutung ist.«

Frau Engelstoft nickte. Mit einer vornehmen Handbewegung hatte sie den Schleier von ihrem blassen Antlitz zurückgeschlagen und sah dem Richter, ohne zu blinken, in die Augen. Sie kannte ihre Macht über diesen Mann und war entschlossen, sie auszunutzen.

Sie hatte im voraus genau überlegt, was und wieviel sie ohne Risiko sagen konnte, und ließ sich auch nicht einen Augenblick aus der Fassung bringen. Dahingegen zeigte sich der Hardesvogt ziemlich verwirrt. Erst nach einem planlosen Hinundherreden von ungefähr zehn Minuten und einem umständlichen Zuprotokollgeben richtete er die entscheidenden Fragen an sie.

»Die Vernichtung der Schenkungsurkunde geschah also auf den ausdrücklich ausgesprochenen Wunsch des Verstorbenen? Mit seiner vollen und freiwilligen Billigung?«

»Ja.«

»Und der Grund war, daß er infolge der Unterredung mit Ihnen zu der Überzeugung gelangt war, daß die Personen, die ihm den Gedanken an das geplante Erholungsheim eingegeben und das Schriftstück ausgefertigt hatten, ein selbstsüchtiges Ziel damit verfolgt hatten?«

»Ja.«

»Was ist aus dem Dokument geworden? Ich meine, auf welche Weise wurde es vernichtet?«

»Es wurde verbrannt.«

»Im Ofen?«

»Ja.«

»In dem Ofen, der im Schlafzimmer des Verstorbenen stand?«

In der Weise, wie diese Frage gestellt wurde, wie auch in dem gespannten Ausdruck, mit dem der Schreiber und die Gerichtszeugen sie plötzlich mit den Augen verschlangen, lag etwas, das sie veranlaßte, ihr Ja zurückzuhalten. In einem Nu wurde es ihr voller Angst klar, daß hier eine Falle war.

»Ist das nicht gleichgültig?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Es ist erforderlich, gnädige Frau, daß wir auch diesen Punkt aufklären.«

»Nein, es geschah nicht im Schlafzimmerofen«, sagte sie; und als sie sah, wie sich das Gesicht des Hardesvogts erhellte, während der Schreiber seine boshaften Augen mit einem enttäuschten Ausdruck senkte, fuhr sie fort: »Ich fürchtete, daß der Rauch infolge des Sturms herausschlagen und das Atemholen des Kranken belästigen könne.«

»Ganz natürlich! Eine anerkennenswürdige Bedachtsamkeit . . . Wo fand denn die Verbrennung statt?«

»In der Bibliothek nebenan. In dem großen Kamin da drinnen.«

»Sehr wohl.«

Der Hardesvogt begann wieder zu Protokoll zu geben; und nachdem ihr dieses vorgelesen und von ihr gutgeheißen war, fügte er mit einer ehrerbietigen Verbeugung, die die Freimütigkeit der Worte entschuldigen sollte, hinzu:

»Es ist nun meine vorgeschriebene Amtspflicht, Sie zu fragen, ob Sie Ihr Gewissen genau erforscht und die Folgen bedacht haben, falls Sie später zu einer andern Erkenntnis gelangen sollten. Und ob Sie schließlich ohne Furcht die abgegebene Erklärung mit Ihrem Eid bekräftigen können.«

»Ja.«

Es folgte eine neue Hinzufügung zum Protokoll und eine neue Verlesung und Gutheißung. Dann wandte sich der Hardesvogt ganz belebt nach den Gerichtszeugen um und sagte:

»Dann wollen wir zur Eidablegung schreiten!«

Er war während des Verhörs mit sich selbst einig darüber geworden, daß nur eine beeidigte Aussage Macht haben würde, den boshaften Klatsch zu Boden zu schlagen.

»Wollen Sie mir das Formular reichen, Hansen? Es liegt wohl in Ihrem Schubfach.«

Obwohl Frau Engelstoft während der ganzen Zeit gehofft hatte, daß ihr der Eid nicht abverlangt werden würde, bewahrte sie ihre ruhige und stolze Haltung. Aber ihr Herzschlag stand einen Augenblick still. Und mit Scheu betrachtete sie das schwarz eingebundene Buch, das der Schreiber aus dem Schubfach genommen hatte.

Der Hardesvogt erhob sich und gab ihr mit einer Handbewegung zu erkennen, daß sie dasselbe tun solle. Auch die andern Anwesenden standen von ihren Stühlen auf und blieben während der Verlesung stehen.

»Der Schwörende versichert, daß er die Wahrheit ausgesagt hat, die reine, volle Wahrheit, so daß er nichts erklärt hat, was er nicht wußte, und nichts verhehlt hat, was er wußte, zur Aufklärung betreffs dessen, über das seine Erklärung abgefordert wurde, und daß er auch keinen Vorbehalt gebraucht hat, sondern aufrichtig die Worte in der Meinung gebraucht hat, in der er wußte, daß sie verstanden würden. Er steht vor dem Gericht der Menschen, das strenge den Meineidigen strafen wird, wenn Gott die Wahrheit ans Licht kommen läßt, und aller Herzen werden sich demjenigen verschließen, der mit dem entsetzlichen Namen eines Meineidigen gebrandmarkt ist.«

Während der Hardesvogt schnell und gewohnheitsgemäß diese Drohworte herleierte, umfaßte Frau Engelstoft wie zufällig den Rand der Schranke mit ihrer einen Hand. Obwohl sie sich Mühe gab, nichts zu hören, begann es ihr schwarz vor den Augen zu werden, so daß sie sich stützen mußte.

»Der Schwörende steht vor dem Antlitz des allwissenden Gottes, der in das Verborgene sieht und offenbarlich bezahlt; der den Fluch ausgehen ließ, daß er über das Haus des Diebes kommen soll und über das Haus dessen, der fälschlich bei seinem Namen schwört. Der Schwörende erhebt deswegen nach alter Sitte die drei Finger seiner rechten Hand, daß dieses sichtbare Zeichen ihn daran erinnern soll, daß er den dreieinigen Gott zum Zeugen anruft und daß, falls er fälschlich schwört, er sich der Gnade, des Schutzes und des Segens Gottes des Vaters begeben hat; er den Erlöser der Welt verleugnet hat und keine Zuflucht in den Ängsten des Lebens oder am Tage des Weltgerichts bei ihm suchen kann; er sich den Weg zu Gottes Geist verschlossen und auf allen Trost von Gottes Wort in der Not des Lebens und des Todes verzichtet hat. Während er auf der Erde weilt, wird sein Herz beben und sein Fuß keine Ruhe finden; darauf gehet er hin, wo ein jeder nach seinen Werken bezahlt werden wird. Denn was ein Mensch säet, das soll er auch ernten. Mit dieser Ermahnung und Warnung haben wir das Unsrige getan. Ein jeder, der bei der Wahrheit bleibet, lege mit Freimütigkeit seinen Eid ab, jeder aber hüte sich, bei dem Namen des Höchsten fälschlich zu schwören.«

Der Hardesvogt warf das Formularbuch hin und berührte respektvoll Frau Engelstofts Arm.

»Die Schwörende erhebe die drei Finger der rechten Hand mit diesen Worten: Daß die von mir abgegebene Erklärung mit der Wahrheit übereinstimmt, bekräftige ich hierdurch mit dem Eid meiner Seligkeit, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort.«

Nichts in ihren Zügen verriet etwas anderes als eine natürliche Gemütsbewegung bei der Ausführung einer feierlichen Handlung. In Wirklichkeit aber war sie kaum bei Bewußtsein. Mit Anstrengung erhob sie die bleischwere Hand und wiederholte mechanisch die Worte:

»Daß die von mir abgegebene Erklärung mit der Wahrheit übereinstimmt, bekräftige ich hierdurch mit dem Eid meiner Seligkeit, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort.«

Der Hardesvogt verneigte sich; und mit lauter Stimme erklärte er darauf das Gericht für aufgehoben.

Wenige Minuten später saß Frau Engelstoft unten in ihrem Wagen, der einen kleinen Auflauf auf der Treppe des Gerichtsgebäudes verursacht hatte. Sie hörte jemand aus der Menge »Mörderin« hinter ihr dreinrufen, als der Wagen fuhr. Aber das machte keinen Eindruck auf sie. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen mit einem wollüstigen Gefühl der Befreiung. Jetzt war dies überstanden! Sie hatte das Ungeziefer abgeschüttelt! Gleichzeitig empfand sie ein unwiderstehliches Bedürfnis zu schlafen. Sie hatte mehrere Nächte keinen Schlaf gefunden. Einige Minuten lang war sie ganz bewußtlos. Gleich einem Ertrinkenden sah sie in diesen Augenblicken einen Zug von flimmernden Erinnerungsbildern an sich vorüberjagen. Bis sie von Kälteschauern und einem aufsteigenden Bedürfnis zu weinen geweckt wurde.

 

Bei der Rückkehr nach Sophiehöj bemerkte Frau Engelstoft sogleich auf der Diele, daß sich in ihrer Abwesenheit etwas zugetragen hatte. Esther, die ihr sonst einen stürmischen Empfang zu bereiten pflegte, wenn sie nur ein paar Stunden von ihr entfernt gewesen war, ließ sich nicht blicken. Mamsell Andersen, die ihr den Mantel abnahm, war sichtlich nervös und schien geweint zu haben.

»Wo ist meine Tochter?« fragte sie.

»Gnä' Fräulein mußten zu Bett gehen. Gnä' Fräulein fühlten sich nicht wohl.«

»Was fehlt ihr?«

»Ja – ich muß es gnä' Frau ja so sagen, wie es is. Gnä' Fräulein bekam so eine Art Anfall.«

»Einen Anfall?«

»Ja, es kam ganz auf einmal. Gnä' Fräulein war nach dem Frühstück im Park spazierengegangen. Ich stand gerade am Fenster, als gnä' Fräulein zurückkam. Ich konnte sehen, daß sie so sonderbar ging und ganz weiß im Gesicht war. Da lief ich schnell runter – ja – und da, gerade als gnä' Fräulein hereingekommen war, wurde ihr schlecht und sie fiel in Ohnmacht.«

»Wann war das?«

»Es war wohl eine gute Stunde, nachdem gnä' Frau gefahren waren . . . Gnä' Fräulein is es selbst so unangenehm gewesen. Sie sagte, ich solle gnä' Frau nichts davon sagen.«

»Meine Tochter ist wohl durch irgend etwas erschreckt worden. Kann sie jemand im Park getroffen haben?«

Die Alte strich verlegen an ihrer Schürze herunter.

»Nein – davon hat gnä' Fräulein nichts gesagt.«

»Stehen Sie nun nicht da und machen Geschichten! Wissen Sie irgend etwas?«

»Ja, wenn gnä' Frau wünschen, daß ich es sagen soll, so glaub' ich ja, daß gnä' Fräulein den Kaplan getroffen hat. Er war hier auf dem Hof und hat einem der Knechte das heilige Abendmahl gereicht. Der alte Anders soll sie zusammen in der Allee gesehen haben.«

Frau Engelstoft senkte den Blick.

»Hm, ja«, beeilte sie sich zu sagen. »Meine Tochter ist in diesen Tagen ein wenig unpäßlich. Das wußte ich übrigens sehr wohl. Gehen Sie zu ihr hinauf und sagen Sie ihr, ich würde bald hinaufkommen und mich nach ihr umsehen.«

Sie ging in ihr Zimmer und sank in einen Lehnstuhl, todmüde und wie vernichtet. Sie blieb dort fast eine halbe Stunde sitzen, weil sie sich in diesem Zustand nicht vor Esther sehen lassen wollte. Daß das Kind einen Ohnmachtsanfall gehabt hatte, beängstigte sie auch nicht so sehr. Das gehörte mit zu ihrem Alter. Weit mehr beunruhigte sie sich über diese Begegnung mit dem Kaplan. Der heuchlerische Hund! Soweit war es also schon mit ihr gekommen, daß sie ihre Abwesenheit benutzt hatten, um ein Stelldichein abzuhalten! . . .

Gut, daß sie nicht davor zurückgeschreckt war, ihn aus dem Wege zu schaffen! Alle ihre Opfer – auch dies letzte – könnten sonst vielleicht vergebens gebracht sein. Es war die höchste Zeit, daß er von hier fortkam. War er erst drüben auf der andern Seite der Erdkugel angelangt, so würde Esther ihn schon vergessen.

Sie wollte sich erheben, sank aber schreckgeschlagen wieder nieder und begann zu zittern. Sie hatte zufällig auf ihre rechte Hand niedergesehen, die auf der Stuhllehne lag, und es wollte ihr scheinen, als sei sie sandgrau und welk geworden. Außer im ersten Augenblick war sie freilich nicht im Zweifel darüber, daß es eine durch ihren erregten Gemütszustand hervorgerufene Einbildung war. Trotzdem starrte sie unverwandt auf die Hand hinab mit einer Angst, als sei sie wirklich verändert. »Was geht eigentlich mit dir vor?« dachte sie und schloß schließlich die Augen vor dem Anblick.

Und sie erinnerte sich ihrer Mutter, die sie so oft vor sich selbst gewarnt und sie mit dem Irrenhause bange gemacht hatte. »Hüte dich, mein Kind!« hörte sie sie mit ihrer gebrochenen Stimme sagen. »Dein streitbarer Sinn wird einmal dein Unglück werden! Nur das sanftmütige Herz hat Frieden im Leben und im Tode. Bedenke das! Beuge dich gehorsam dem unerforschlichen Willen des Herrn. Erwecke nicht seinen Zorn, denn er ist ein eifriger Gott, der strenge straft.«

Warum hatte sie nicht den demütigen Sinn ihrer guten Mutter geerbt? Jetzt hatte die göttliche Rache sie ereilt. Aus dem eigenwilligen kleinen Mädchen hatte der Himmel eine Leichenräuberin und eine Meineiderin gemacht. Sollte sie nun auch ihren Verstand verlieren? Das Leben in Wahnsinn enden? . . .

Schwer schleppte sie sich nach einer Weile die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf, indem sie die Hand auf dem Geländer hielt, um nicht umzusinken. Sie fürchtete diese Begegnung mit der Tochter und wünschte gleichzeitig, daß sie sie an ihr Herz schließen und ihr alles anvertrauen könne. In ihrer grenzenlosen Einsamkeit bedurfte sie eines Mitwissers, der sie nicht verachten würde. Aber der Gedanke, daß Esther selbst der Wahrheit auf die Spur kommen könnte, beängstigte sie mehr als alles andere.

Esther lag im Bette, das Gesicht der Wand zugekehrt. Sie blieb, auch nachdem die Mutter hereingekommen war und sich auf den Rand ihres Bettes gesetzt hatte, in derselben Stellung liegen. Sie wollte verbergen, daß ihr die Tränen an den Wangen herabliefen.

Frau Engelstoft strich ihr liebevoll übers Haar, indem sie unwillkürlich ihre linke Hand benutzte und die rechte im Schoße hielt. Armes Kind! Sie hatte wirklich ihre erste Verliebtheit durchzumachen!

Daß sie einem Pfarrer galt, war nicht so wunderlich. Das gehörte ja auch mit zu ihrem Alter.

»Was fehlt dir, Kind? Tut es dir irgendwo weh?«

Esther schüttelte den Kopf.

»Warum weinst du denn?«

»Ich weine nicht«, sagte sie und suchte sich der Liebkosung der Mutter zu entziehen.

Da fiel es Frau Engelstoft ein, daß Esther natürlich von dem Kaplan erfahren hatte, warum er nicht mehr hierher kam, und sie beschloß, offen ihre Ansicht über diesen Mann zu äußern. Sie sagte ihr, daß, selbst wenn sie ihre Handlungsweise nicht verstehen könne, sie sie nicht verkennen dürfe, sondern sich darauf verlassen müsse, daß, was sie von ihr fordere, stets zu ihrem eigenen Besten sei. Sie sagte, sie sei noch zu unerfahren, um beurteilen zu können, wieviel für sie auf dem Spiele stehe, und daß der Mann, von dem sie sich habe überlisten lassen, entweder ein Phantast sein müsse, der sich selbst und sie ins Unglück stürzen würde, oder ein Abenteurer, der mit ihrer Einfalt spekuliere. Sie erinnerte sie an ihr eigenes Schicksal und sprach von ihrer Mutter, die an den Bettelstab gekommen sei, weil sie nicht die Kraft gehabt hatte, sich dem verbrecherischen Leichtsinn eines Mannes zu widersetzen.

»Du mußt dich zusammennehmen, Esther, und bedenken, daß du kein Kind mehr bist. Ich will nichts mehr von deinem Müßiggang wissen. Du fängst nur Grillen und wirst krank davon. Ich habe daran gedacht, daß du anfangen sollst, mir ein wenig bei der Beaufsichtigung zu helfen. Es ist nicht zu früh, daß du dich daran gewöhnst, auf eigene Verantwortung zu handeln. Aber darüber wollen wir ein andermal reden: trockne nun deine Augen und zeige, daß du ein vernünftiges kleines Mädchen bist, damit ich keine Schande an dir erlebe.«

Sie küßte sie auf die Stirn und ließ sie dann in Ruhe. Den ganzen Nachmittag verbrachte sie in ihrem Arbeitszimmer, wo sie mit ihren aufgehäuften Berechnungen die Gedanken von den wilden Wegen zurückzwang und sie festhielt. Nach und nach beruhigte sich auch ihr Gemüt. Um den Leuten auf dem Hofe keinen Anlaß zu weiterem Gerede zu geben, ließ sie nacheinander den Inspektor, den Oberknecht und den Meiereiverwalter rufen und hatte wie gewöhnlich stundenlange Verhandlungen mit ihnen, entwarf Pläne und erteilte Befehle.

Dann war aber auch ihre Widerstandskraft gebrochen. Sobald der letzte sie verlassen hatte, sank sie zusammen. Es war dieselbe totenähnliche Mattigkeit, die sie auf dem Heimwege aus der Stadt befallen hatte. Sie schwankte nach dem großen Lehnstuhl am Fenster, und während die Dämmerung und die Abendstille rings um sie her wuchsen, saß sie in einen Schal gehüllt, in einen Halbschlummer versunken, in dem sie beständig von neuem den gelbgetünchten Gerichtssaal vor sich sah und die Schreckensstunde vor der Schranke wie einen bösen Traum wieder durchlebte.

Daß es an dem Morgen dieses Tages war, als sie sich in den Wagen setzte und nach der Stadt fuhr, begriff sie nicht. Es war ihr, als müßten Jahre zwischen diesem Augenblick und ihrer Heimkehr liegen, mit einer solchen Summe von seelischen Leiden waren diese Stunden angefüllt gewesen. Sollte sie noch einen Tag wie diesen erleben, so würde sie der Versuchung, dem Ganzen ein schnelles Ende zu machen, nicht länger widerstehen können. Das Leben war ihr lange genug ein Grauen und eine Qual gewesen. Nur um Esthers willen hatte sie die Schande und die Demütigung der letzten Jahre ertragen. Dies hilflose Kind allein hatte sie in einer Welt zurückgehalten, die ihr zur Hölle geworden war.

Wäre jetzt nur dieser Heuchler von einem Pfarrer glücklich aus dem Wege! Nichts quälte sie so wie die Angst, daß sie ihr Kind verlieren und alles, was sie in zwanzig Jahren des Kampfes und der Selbstverleugnung für sie zusammengescharrt hatte, ja, was ihr jetzt den Frieden ihrer Seele gekostet und sie halbwegs um ihren Verstand gebracht hatte, einem Fremden preisgegeben sehen sollte.

Plötzlich schallte die Grabesstimme der Turmuhr durch das Haus. Sie konnte diese finstern Glockentöne niemals hören, ohne daß ihr Herz einen Augenblick stillstand. Sie trugen so viele Erinnerungen mit sich aus den zwanzig Jahren, als sie hier mit Niels gelebt hatte. Sie hatten sich in das Glück und Unglück ihres Zusammenlebens hineingewoben, gleich von der Brautnacht an, als sie zum erstenmal darüber erschrak, sie durch die Stille dröhnen zu hören.

Sie zählte die Schläge – sechs. Und sie mußte an eine andere Nacht denken, an die, in der Esther geboren wurde. Früh am Morgen war sie durch einen heftigen Stich geweckt worden, und gerade als sie sich klar darüber wurde, was der Schmerz bedeutete, schlug die Uhr sechs. In ihrer Angst fühlte sie diese schweren Glockenschläge als eine übernatürliche Verheißung, daß ihre Stunde gekommen war. Und doch sollte sie noch zwanzigmal die Grabestöne der vollen Stundenschläge durch ihre eigenen Schreie hindurch hören, ehe das Kind zur Welt kam. »Die junge Dame hat auf sich warten lassen«, hatte der Arzt gesagt, als er endlich mit dem kleinen halbtoten Wesen in seinen blutigen Händen dastand. Sie selbst empfand keine Freude darüber, die Stimme ihres Kindes zu hören. Sie ahnte ja schon damals, zu welcher Schande sie geboren war. Und Niels gab dem armen Kinde auch gerade kein besonders herzliches Willkommen, weil er sich einen Sohn gewünscht hatte. War es da zu verwundern, daß Esther niemals so recht hatte gedeihen wollen?

 

Eine Woche später hielt Pastor Bjerring seine Abschiedspredigt in einer überfüllten Kirche, und nicht lange darauf verließ er das Land, ohne die gewünschte Gelegenheit gehabt zu haben, Frau Engelstoft und ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Sophiehöj blieb ihm bis zuletzt verschlossen. Solange er sich noch in der Gegend befand, hatte Frau Engelstoft außerdem dafür gesorgt, daß Esther niemals allein ausging, selbst in den Park durfte sie nicht ohne Begleitung gehen.

Anfangs hatte sich Esther dem mütterlichen Willen mit gewohntem Gehorsam unterworfen. Allmählich aber, als die Zeit verging und ihre Hoffnung, daß Pastor Bjerring Erlaubnis erhalten werde, wenigstens einen Abschiedsbesuch zu machen, sich nicht erfüllte, stieg der Kobold in ihr auf. Sie wollte nicht essen, nicht schlafen, wollte der Mutter nicht antworten, wenn diese sie fragte. Alle diese Bewachung hatte außerdem eine Ahnung in ihr erweckt, wer es gewesen, der der Missionsgesellschaft die mysteriöse Geldsumme gesandt hatte und in welcher Absicht das geschehen war. An dem Tage, als sie erfuhr, daß Pastor Bjerring abgereist war, fiel sie der alten Mamsell Andersen ganz außer sich um den Hals und weinte verzweifelt.

Von diesem Tage an setzte sie der Mutter offenbaren Trotz entgegen. Sie wollte, daß die Mutter verstehen sollte, daß sie Pastor Bjerring nie, nie vergessen würde. Er hatte sie einmal einen kleinen Gesangbuchvers gelehrt und ihr empfohlen, ihn sich jeden Abend aufzusagen, ehe sie einschlief, was sie auch ganz im geheimen getan hatte. Jetzt sagte sie ihn laut und mit gefalteten Händen auf, auch wenn die Mutter in der Nähe war und es hören konnte. Und statt ihre Schreibereien zu verrichten, setzte sie sich zuweilen mit einer Bibel hin, die sie in der Bibliothek gefunden hatte, und schrieb Stellen daraus ab, um sie auswendig zu lernen.

Frau Engelstoft ließ sich nichts merken. In der Hoffnung, daß das Kind bald zur Vernunft kommen würde, zeigte sie sich nachsichtig ihr gegenüber, ja, verhätschelte sie gegen ihre Gewohnheit nicht wenig in dieser Zeit. Als Esther eines Abends außergewöhnlich elend aussah und Frostschauer hatte, gab sie Befehl, daß künftig eine Wärmflasche in ihr Bett gelegt werden solle, etwas, dem sie sich früher auf das bestimmteste widersetzt hatte. Ebenso erließ sie ihr das Frühstücksbeefsteak aus halbrohem Fleisch, das ihr seit ihrer Kindheit eine tägliche Qual gewesen war.

Alle diese ungewohnte Nachgiebigkeit steigerte jedoch nur Esthers Unsicherheit der Mutter gegenüber. Und dann geschah es, daß sie eines Tages ein abgerissenes Stück von einer Zeitung auf ihrem Tische fand. Eine der Mägde hatte es aus Bosheit in einem unbewachten Augenblick hingelegt. Da stand eine drohende Erklärung von Schuldirektor Brandt und Rechtsanwalt Sandberg, die »im Namen vieler angesehener Mitbürger« den Hardesvogt aufforderten, die Untersuchungen anläßlich der auf Sophiehöj verschwundenen Schenkungsurkunde, die der verstorbene Gutsbesitzer nach Frau Engelstofts zu allgemeiner Überraschung eidlich erhärteter Aussage hatte vernichten lassen, wieder aufzunehmen.

Sie würde früher ein solches Papier in den Ofen geworfen haben, ohne es zu Ende zu lesen. Solange sie denken konnte, hatten die Leute schlecht von der Mutter gesprochen und sie mit Verleumdungen verfolgt. Aber jetzt war ihr Mißtrauen wachgerufen. Außerdem stand da, das Dokument habe aus acht vollbeschriebenen Bogen in einem gelben Umschlag bestanden. Daher packte sie eine böse Ahnung.

»Mamsell Andersen!« sagte sie am Tage darauf zu der Alten. »Das Papier . . . das Dokument, Sie wissen ja . . . das ist doch nicht gefunden, wie?«

»Gefunden! Nein, wie sollte das wohl gefunden sein? Der Gutsbesitzer hatte ja bestimmt, daß es nich mehr existieren sollt'. Auf seinem Sterbebett hat er gnä' Frau gebeten, es zu verbrennen. Sonst säß gnä' Fräulein wohl nich' hier. Aber wie kommen gnä' Fräulein auf solche Gedanken? Haben die dummen Dirns hier wieder auf dem Gang gestanden und geklatscht?«

Esther wandte sich um, ohne zu antworten. Sie trat an das Fenster und blieb dort stehen, den Rücken der Stube zugewendet, um ihre angstvolle Unruhe nicht zu verraten. – –

Frau Engelstoft brachte diese Tage in ununterbrochener, rastloser Arbeit zu. Und wie sie sich selber keine Schonung erwies, schonte sie auch ihre Untergebenen nicht mehr. Trotz aller bösen Blicke mußten sich der Verwalter und der Großknecht mehrmals täglich bei ihr einfinden, um Befehle entgegenzunehmen; und weder die Küchenmägde noch die Leute in den Ställen und auf den Feldern waren mehr sicher, nicht von ihr überrascht zu werden.

Alle diese Wachsamkeit hinderte jedoch nicht, daß der Besitz fast täglich von Unglücksfällen heimgesucht wurde. Den einen Tag waren es die Kühe, die krank wurden und die Kälber verwarfen; den nächsten war es ein Dreschwerk, das zersprang, oder ein junges Pferd, das sich losgerissen und das Bein gebrochen hatte. Lange wollte sie in dieser Reihe von Zerstörungen nur eine neue Äußerung der Bosheit der Leute sehen. Als aber der Sturm eines Nachts einen Schafstall umwarf, wodurch ein paar Lämmer vom vergangenen Sommer getötet wurden, mußte sie an die Worte denken, die ihr im Gerichtssaal vorgelesen waren, die Worte von dem allwissenden Gott, »der in das Verborgene sieht und offenbarlich bezahlt; der den Fluch ausgehen ließ, daß er über das Haus des Diebes kommen soll und über das Haus dessen, der fälschlich bei seinem Namen schwört«.

Nach jeder neuen Unglücksbotschaft sah sie unwillkürlich hinab auf die drei Finger der rechten Hand. Obgleich sie sehr wohl fühlte, wie sie hiermit das Wahnsinnsgespenst hervorlockte, das in ihr lag und lauerte, so konnte sie es nicht lassen. Wie oft sie auch zu sich selber sagte, daß es eine Torheit sei, konnte sie sich nicht von der Einbildung befreien, daß die drei Finger täglich kleiner würden, hinwelkten.

Eines Tages mußte ein Wagen in die Stadt geschickt werden, um den Arzt zu holen. Esther war plötzlich krank geworden. Sie erwachte am Morgen mit Fieber und klagte über Schmerzen im Kopf und im Rücken. Als sie aufzustehen versuchte, wurde sie ohnmächtig.

Der Arzt, der die Krankheit für eine heftige Erkältung hielt, sagte jedoch nichts darüber. Aus Rücksicht auf das Honorar saß er lange mit einem grübelnden Ausdruck an ihrem Bett, stellte die sonderbarsten Fragen und zog mit wiederholten Untersuchungen die Zeit in die Länge. Schließlich verordnete er eine Menge Medizin und sagte, er würde am nächsten Tage wiederkommen.

Sein bedenklicher Ausdruck hatte Frau Engelstoft besorgt gemacht. Als sie auf den Gang hinausgekommen waren, bat sie ihn, ihr unverhohlen zu sagen, was er über den Zustand der Tochter denke.

»Ich kann mich heute nicht näher darüber äußern. Ich kann nur sagen, daß keine dringende Gefahr vorhanden ist. Sie müssen sich nicht ängstigen, gnädige Frau! Hoffentlich werden wir das Übel überwinden!«

Als er gegangen war, kehrte Frau Engelstoft in das Schlafzimmer der Tochter zurück und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. Esther hatte sich nach der Wand umgedreht, als sie sie kommen hörte, sie hatte eine unüberwindliche Furcht vor der Mutter bekommen, nachdem sie sie noch einmal in der Nacht mit den Papieren in dem gelben Umschlag an der Schatullenklappe hatte sitzen sehen. Bei der bloßen Berührung ihrer Hand fing sie an zu zittern.

»Friert dich? Dann will ich eine Decke holen. – Willst du nicht versuchen, ob du etwas schlafen kannst?«

»Ja – Danke.«

»Könntest du dir nicht denken, daß du etwas essen möchtest?«

»Nein. Willst du aber nicht Mamsell Andersen rufen?«

»Laß mich dir doch helfen, Kind!«

»Nein, ich möchte am liebsten, daß Mamsell Andersen kommt.«

»Nun ja – wie du willst. Jetzt werde ich schellen.«

Erst als Esther mit der Mamsell allein geblieben war, drehte sie sich wieder nach dem Zimmer herum.

»Was hat der Doktor gesagt?« fragte sie.

»Er hat wohl nichts gesagt. Gnä' Fräulein müssen sich nicht ängstigen.«

»Das tue ich auch nicht. Ich möchte am allerliebsten sterben«, sagte sie und brach in Tränen aus.

»Na, wissen gnä' Fräulein was! Nu müssen wir ganz still liegen und versuchen, ob wir nicht ein bißchen schlafen können.«

»Ja, das will ich auch. Können Sie mir mein Kopfkissen ein wenig zurechtlegen, Mamsell Andersen?«

»So – is es nu so, wie es sein soll?«

»Ja, wenn ich jetzt nur etwas so recht Gutes träumen könnte!«

»Was soll das heißen, liebes gnä' Fräulein?«

»Ich träumte über Nacht so häßlich. Als ich aufwachte, war ich am ganzen Körper naß vor Angst.«

»Ja, das ist das Fieber.«

»So sollte es aber nicht sein, Mamsell Andersen. Wenn man krank ist, sollte man gerade das Allerschönste träumen.«

»Wovon möchte gnä' Fräulein denn am liebsten träumen?«

Esther wandte das Gesicht wieder der Wand zu und schloß die Augen über den von neuem hervorbrechenden Tränen.

»Von meinem Erlöser!« sagte sie so leise, als sei das etwas, was sie eigentlich nicht laut hatte sagen wollen.

Die Mamsell dachte das Ihre bei dieser Antwort. Sie war selbst einmal in einen Pfarrer verliebt gewesen. Und die Erinnerungen aus jener Zeit machten ihre eigenen alten Augen feucht. –

Frau Engelstoft war in ihr Arbeitszimmer hinuntergegangen und saß schon bei ihren Berechnungen. Sie wagte nicht, müßig zu sein. Friedlos, wie sie selbst in ihrem eigenen Heim geworden war, mußte sie beständig in Tätigkeit sein. Sie war seit vier Uhr aufgewesen, hatte Arbeit auf Arbeit, Anstrengung auf Anstrengung gehäuft als Schutz gegen ihre verworrenen Gedanken.

Aber jetzt wollten die Kräfte auch nicht mehr ausreichen. Wieder und wieder mußte sie den schwindelnden Kopf auf ihren Arm niederlegen und ihr Gehirn ruhen lassen. Die Gerichtsdiener waren am vorhergehenden Tage abermals bei ihr gewesen. Der Hardesvogt war von der Volksstimmung gezwungen worden, ein neues Verhör abzuhalten. Daher brannte es in ihren drei Fingern wie von einem verzehrenden Feuer, und beständig glaubte sie in der Stille Stimmen um sich her zu hören, ein Murmeln von finstern, drohenden und höhnenden Stimmen.

In solchen Augenblicken, wo ihre Gedanken umnebelt wurden, wünschte sie fast, daß Esther sterben möchte. Denn dann schlug die Stunde der Befreiung auch für sie selber, und sie konnte endlich ihre Zuflucht zu dem Revolver nehmen, der sie überall begleitet hatte wie ein Freund, der ihr die letzte Handreichung geben sollte.

 

Als der Arzt zum dritten Male nach Sophiehöj kam, fand er zu seiner Überraschung den Zustand der Patientin ernstlich verschlimmert. Das Fieber war gestiegen und das Atmen wurde ihr sehr schwer. Bei einer abermaligen Untersuchung konnte er eine schon weit ausgebreitete Lungenentzündung feststellen. Sie war bisher seiner Aufmerksamkeit entgangen, aus dem natürlichen Grunde, weil er mit dem einen Ohr nur schwer hörte und auf dem andern taub war.

Um die Patientin nicht zu beunruhigen, ließ er sich nichts merken, solange er am Krankenbett stand.

»Es geht ja beständig gut vorwärts«, sagte er. »In ein paar Tagen haben wir das kleine Fräulein sicher wieder außer Bett.«

»Warum bin ich denn so müde?« fragte Esther mit ihrer heiseren Stimme.

»Das hat nichts zu sagen. Das ist so, wie es sein soll«, versicherte er und bat sie, guten Mutes zu sein.

Er konnte sich ebenfalls nicht entschließen, Frau Engelstoft die ganze Wahrheit zu sagen, als sie sich hinterher draußen auf dem Gang aufhielten. Aber sein auffallender Eifer, fortzukommen, ließ sie Unrat ahnen.

»Ich wünsche nicht hinters Licht geführt zu werden. Glauben Sie, daß Gefahr für das Leben meiner Tochter besteht?«

Er hatte das Geständnis auf den Lippen, hielt es jedoch zurück, weil er im selben Augenblick bemerkte, wie sich Frau Engelstofts Aussehen in den letzten Tagen verändert hatte. Sie war mit einem Male gealtert, ihr Gesicht war graubleich vom Nachtwachen, und es lag eine wilde Aufgescheuchtheit in ihrem Blick, der ihm zu Herzen ging.

»Lassen Sie sich doch nicht beängstigen, Frau Engelstoft! Ihre Tochter hat freilich keine starke Konstitution . . . und eine Lungenentzündung ist ja immer eine ernste Sache . . . Aber es liegt durchaus kein Grund vor, die Hoffnung aufzugeben, daß sie durchkommen wird. Sie dürfen überzeugt sein, gnädige Frau, daß ich auf alle Fälle mein Bestes tun werde.«

Noch vier Tage kämpfte Esther still mit dem Tode. Meistens lag sie in einem Halbschlummer. In ihren Fieberträumen wurde sie in ferne Länder geführt, bewegte sich in paradiesesschönen Gegenden mit blauenden Bergen und blühenden Magnolienwäldern . . . mit großen finstern Sümpfen, wo wilde Büffel lagen und sich im Schlamm kühlten . . . mit chinesischen Bambushütten . . . mit Flußufern, an denen rosenrote Flamingos herumstolzierten . . . mit alten Landstraßen . . . Ochsenkarren . . .

In ihren Träumen flüsterte sie hin und wieder Worte, die ihre Phantasiebilder verrieten.

Tag und Nacht saß Frau Engelstoft am Bette, aber sie begriff sehr wohl, daß, wenn Esther auch noch lebte, sie sie doch schon verloren hatte. Ein anderer hatte ihr ihr Herz geraubt. Jedesmal, wenn Esther erwachte und sie dasitzen sah, wandte sie das Gesicht ab. Einmal sagte sie es geradezu, daß sie sich von hier fortsehne, »heim zu Jesus«.

Am Abend des vierten Tages glitt sie in den Tod hinein. Unmittelbar zuvor hatte sie in Unruhe ihre Augen mit einem eigenartig flehenden Blick auf die Mutter gerichtet. Es war, als wollte sie ihr etwas anvertrauen. Als die Mutter sich aber über sie beugte, um zu hören, kam dieselbe Angst in den Blick, die ihr während der ganzen Zeit dort entgegengetreten war.

»Ach Mutter!«

Mit diesem Notschrei sank ihr Kopf auf die Brust herab.

Die ganze Nacht saß Frau Engelstoft allein bei der Tochter, deren Hände Mamsell Andersen sich zu falten erkühnt hatte, als sie den toten Körper im Bett zurechtlegte und ihn ausstreckte. Nur eine Nachtlampe brannte. Der Arzt, den man geholt hatte, war wieder weggefahren, und das Gesinde hatte sich zur Ruhe begeben.

Sie saß da in ihrem roten Schlafrock und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Der Kummer hatte ihre Züge erstarrt, aber sie war bei vollem Bewußtsein. Der Anblick der Leiche ihrer Tochter wirkte ganz anders auf sie, als sie selbst erwartet hatte. Ihre Gedanken brüteten Rache. Wenn Esthers Tod die Strafe des Himmels war, weil sie ihr Kind gegen Diebe und Räuber hatte schützen wollen, so war der Gott des Himmels ein Ungeheuer. Und war es das nicht, sondern nur ein Zufall, ein launenhafter Einfall des Schicksals – was für eine Weltenordnung war das denn, die so etwas möglich machte?

Da drinnen in einem der Schubfächer der Schatulle lag der Revolver mit vier Patronen bereit. Aber sie wollte nicht sterben. Sie gönnte ihren Feinden den Triumph nicht. Sie wollte jetzt gerade leben, damit der Haß gegen sie so recht aufflammen und die Heuchelei und das Ärgernis sich ausbreiten konnten. Von diesem Tag an sollte die Hölle über Sophiehöj losgelassen werden, damit alles zerstört werden konnte.

Während der folgenden Tage ließ sie sich nicht außerhalb ihrer Zimmer blicken. Sie erteilte die notwendigen Befehle in bezug auf das Begräbnis, empfing aber niemand. Weder der Verwalter noch der Großknecht erhielten Vortritt. Sie bekamen den Bescheid, die Wirtschaft auf eigene Verantwortung zu leiten.

Am Tage nach dem Begräbnis, das ohne vorherige Bekanntmachung in den Zeitungen stattfand, hielt sich Frau Engelstoft im Kabinett neben dem Schlafzimmer auf, als Mamsell Andersen anklopfte und bestürzt meldete, der Hardesvogt sei vorgefahren.

»Ich habe ihm gesagt, daß gnä' Frau nicht empfängt. Aber er sagt, gnä' Frau hätten selbst nach ihm geschickt.«

»Das verhält sich so. Bitten Sie ihn, ins Wohnzimmer zu gehen, ich werde in einem Augenblick kommen.«

Der Hardesvogt war unruhig und verlegen. Er glaubte, sie habe ihn rufen lassen, um sich ihm gegenüber Luft zu machen in Anlaß der neuen Vorladung zum Verhör. Als sie nun hereinkam, sah er zu seinem Erstaunen, daß sie in Reisekleidung war, sogar einen Hut auf dem Kopf und eine Tasche in der Hand hatte. Auch ihr Aussehen machte ihn stutzen. Sie war fast weißhaarig geworden. Und die hellen, gewölbt vortretenden Augen hatten allen Glanz verloren.

Ohne ihm die Hand zu reichen, nahm sie ein Papier aus der Tasche und reichte es ihm.

»Jetzt habe ich keine Verwendung mehr dafür«, erklärte sie ruhig.

Es war ein Schriftstück in gelbem Umschlag, das Testament ihres Mannes.

Der Hardesvogt sah in die Papiere, dann sah er sie unsicher an. Seine Hände begannen zu zittern.

»Was ist denn das? Ich verstehe Sie nicht. Was bedeutet dies hier?«

»Daß mein Eid falsch war. – Ich bin bereit, Ihnen zu folgen.«

Lange standen die beiden Jugendbekannten da und starrten einander in die Augen. Es blitzte etwas Wildes und Grausames in den einfältigen Zügen des Hardesvogts auf, als er aus dem harten Ausdruck in Frau Engelstofts Antlitz ersah, daß sie die Wahrheit redete. Aber das Entsetzen machte ihn schwindeln. Er mußte sich setzen.

Lange Zeit herrschte eine geisterhafte Stille im Zimmer.

Dann sprang der Hardesvogt mit Weinen im Halse auf. Jugenderinnerungen und die alten Gefühle gewannen wieder die Oberhand in seinem Sinn. Er bot ihr eine vierundzwanzigstündige Frist an, um zu entfliehen und sich gegen Nachstellungen zu sichern. Er versprach ihr, wie er sagte, seine eigene Ehre und sein Amt um ihretwillen aufs Spiel zu setzen und stumm zu sein, bis sie in Sicherheit gelangt sei.

Sie aber schüttelte den Kopf und antwortete, daß sie soviel Edelmut nicht anzunehmen wünsche. Wenn sie der strafenden »Gerechtigkeit« hätte entfliehen wollen, so hätte sie ja reichlich Zeit und gute Gelegenheit dazu gehabt. Aber sie wünsche gerade, ihre »gerechte« Strafe zu erleiden. In ihrer Gefängniszelle wolle sie ihre Freude daran haben, an Herrn Schuldirektor Brandts und Sandbergs triumphierenden Einzug auf Sophiehöj zu denken. Täglich wolle sie sich freuen in dem Gedanken, wie gute Tage Schurken und Betrüger jetzt hier hatten, wie sich die Frechheit und die Bestialität mästeten, bis der Trog leer war und Ratten und Mäuse die letzten Überreste fraßen.

Der Hardesvogt hörte sie mit starrenden Augen an. Da aber klingelte sie der Kammerjungfer, und bald darauf fuhr sie als Arrestantin vom Schlosse fort.

Während der folgenden Tage waren die Zeitungen voll von Berichten über ihre Missetaten, und in ihnen allen wurde sie als ein Ungeheuer in Menschengestalt dargestellt. Der einzige, der sie in Schutz nahm, war der Hardesvogt, der eines Abends im Klub beim vierten Glase Grog äußerte, daß gerade Frau Engelstofts leidenschaftliches Gerechtigkeitsgefühl ihr Unglück geworden sei. Von der Gesellschaft, deren Lebensbedingungen sie jetzt teilen würde, erklärte er bei derselben Gelegenheit, daß er sie im Grunde für die ehrlichste im ganzen Lande halte, »weil diese Leute doch im allgemeinen eingestehen, daß sie Verbrecher sind«.

Diese Äußerung aber hatte in dem Grade die gute Bürgerschaft gegen ihn aufgehetzt, daß er längere Zeit dem Klub fern bleiben mußte. Seither verhielt er sich stumm, wenn die Rede auf Frau Engelstofts Schandtaten kam, und betäubte auf gewohnte Weise seinen Schmerz, indem er seine Grogs stärker braute. Da saß er dann in Einsamkeit mit betauten Augen und verlor sich in Kindheitserinnerungen, dachte bewegt an seine Gefangene, die einstmals so rührende kleine Gutsbesitzerstochter mit dem roten Sammetkäppchen, die immer so getreulich mit ihrem Brüderchen an der Hand ging.

 

Im übrigen war Frau Engelstofts Gefängnisleben nur von kurzer Dauer. Sie vertrug das Eingesperrtsein nicht. Bald nachdem sie ihr Urteil bekommen hatte und ins Zuchthaus überführt worden war, brach sie zusammen. Sie starb, ohne eine Versöhnung zu wünschen, weder mit Gott noch mit den Menschen. In einem hinterlassenen Brief verlangte sie, in ihrer Gefangenentracht begraben zu werden und ohne Geistlichen und Glockengeläute.


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