Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Zweiter Teil

Es folgten sommerliche Tage mit hohem Himmel, Vogelgezwitscher und Duft von frischgemähten Wiesen.

Jeden Abend lagerte sich am westlichen Horizont ein grauvioletter Nebel, der die Sonne verschleierte, so daß sie schon lange vor ihrem Untergang wie ein dunkelroter Mond unter dem Himmel hing. Und jeden Morgen war das Sandinger Tal ein paar Stunden mit so dichten Wiesendämpfen angefüllt, daß man im Dorfe nicht von einem Gehöft nach dem andern sehen konnte. Dahingegen konnte man aber hören, wie alle Kühe des Tals da draußen in dem feuchten Bad laut brüllten; und es klapperte kein Paar Holzschuhe über einen Hofplatz, es weinte kein Kind bei der Morgenwäsche, ohne daß man es nicht im ganzen Dorf gehört hätte.

Man hatte während dieser Stunden ein Gefühl, als wenn man in eine unterirdische Welt versenkt sei, als taste man sich auf dem Grunde eines grauflimmernden Meeres vorwärts, wo sonderbare, riesenhafte Schatten sich plötzlich um einen erhoben und ebenso schnell wieder verschwanden. Selbst ziemlich nahe Gegenstände gewahrte man nur in unklaren, wogenden Umrissen von fabelhafter Form und Größe. Aber oben über den Nebeln verkündeten die Lerchen mit ihrem Tirili, daß es da oben eine Welt gab, wo der Himmel blau war, und wo die Sonne schien. –

Von der Hochschule her war der Morgengesang eben herübergeschallt . . . ein Chor von anderthalbhundert kräftigen Mädchenstimmen, begleitet von ein paar tiefen Männerbässen. Jetzt waren die Zöglinge mit dem Reinmachen oben in ihren kleinen, weißgetünchten Dachkammern beschäftigt, die in einer langen Doppelreihe über dem großen Vortragssaal lagen, wie die Zellen eines Klosterganges. Aber selbst diese einfache Arbeit wurde unter Singen und Trällern und froher Erhebung des Gemüts ausgeführt, und als sie beendet war, setzten sich die jungen Mädchen auf den Rand ihrer Betten und umschlangen sich mit den Armen, um Gedanken auszutauschen und einander ihre Herzen auszuschütten . . . oder sie stellten sich einsam an die kleinen Fenster und standen da, die Hand unter der Wange, gedankenvoll dem Brüllen der Kühe und dem Klirren der Blecheimer und den andern vielen Lauten lauschend, die aus der geschäftigen, von den wogenden Wiesennebeln ihren Blicken halbverborgenen Welt da draußen – die ihnen auch in anderem Sinne wunderlich fern und unwirklich erschien – bis zu ihnen hinaufdrangen.

Währenddes verbreitete sich das Gerücht, daß in der großen Eckstube, Brejdablik, eine »Klatschversammlung« abgehalten werde. Die Slagelser Natalie hatte wie gewöhnlich die Gemüter in Bewegung gesetzt. Das große, kraushaarige Mädchen ging in der Stube auf und nieder und las mit glühenden Wangen Wilhelm Prams letzte große Rede vor, die in der heutigen Nummer der Hochschulzeitung abgedruckt stand. Ringsumher auf den Betten saßen die Zuhörerinnen und unterbrachen sie mit widerlegenden Zurufen. In dem Zeitungskrieg, der in der letzten Zeit zwischen Wilhelm Pram und dem Hochschulvorsteher Sejling über die Freundesgemeinschaft entbrannt war, hatten nämlich alle andern Zöglinge der Schule getreulich zu ihrem eigenen Vorsteher gehalten. Nur die kleine gutmütige Sophie Landerslev hatte Natalie vorläufig für ihre Partei gewonnen, aber die hatte sie denn auch derartig entflammt, daß Sophie, wie es hieß, ein feierliches Gelübde abgelegt haben sollte, mit ihrem Verlobten zu brechen, falls er nicht vor Ablauf von acht Tagen den Glauben an die Bibel als offenbarte Schrift abschwur.

Aber nun ertönte die Schulglocke, die verkündete, daß der Vormittagsvortrag beginnen sollte. Alle fuhren in die Höhe, und einen Augenblick später saßen anderthalbhundert junge Mädchen in festlicher Erwartung auf den Bänken unten in dem großen Vortragssaal. Nach Absingung eines Liedes stieg der Lehrer auf das Katheder. Es war der junge Kandidat Schönberg, der seine Vorlesung dänischer Volksmärchen mit dazugehöriger »Auslegung« fortsetzte.

* * *

Es wurde wieder ein schwüler, heißer Tag mit windstiller Luft und durchgehenden Kühen und einem so schimmernd blanken Himmel, als schwitze er. In den Höfen der Bauern breitete sich die Sonne wie ein glühendes Feuer über das Pflaster aus, und drängte den Schatten ganz unter den Dachfirst, wo die Spatzen in einer Reihe saßen und die Federn schüttelten, wie alte Damen, die sich von der Wärme belästigt fühlen. Der Kettenhund lag draußen vor seiner Hütte und streckte alle vier Beine von sich, als sei er tot; die Enten waren nach dem Dorfteich gewatschelt, und die Hühner schliefen stehend unter den Hollunderbüschen. Kein Gepiepse war zu hören.

Nur im Pfarrhausgarten war so viel Schatten, daß die Vögel singen mochten. Aber es war auch einer der guten, alten Pfarrgärten von vier Tonnen Erde mit undurchdringlichen Gebüschen und hundertjährigen Bäumen, unter deren ehrwürdigen Kronen es kühl war, und wo es schallte wie in einer Kirche. Und das Pfarrhaus selbst war einer der jetzt bald verschwundenen Überreste der ländlichen Idylle aus der Vergangenheit, vier lange, niedrige, strohgedeckte Gebäude, die so unansehnlich aussahen, neben den modernen Bauernhöfen, aber deren efeubehangene Mauern und moosbewachsene Dächer den Sinn bezauberten, wie eine Offenbarung aus dem Märchenlande.

Hier wohnte der alte 80jährige Pastor Momme, der ebenfalls eine ehrwürdige Erinnerung an eine Zeit war, die jetzt den wundervollen Sagen anzugehören schien. Der kleine, zwergartige Mann mit dem schwarzen Samtkäppchen, den langen, silberweißen Nackenlocken, und dem ganzen übrigen Volkshirtengepräge, glich einer Märchengestalt, wenn er da draußen in seinem großen, grünen Garten, einsam träumend im Schatten eines knorrigen Baumes saß. Es war nun auch bald ein halbes Jahrhundert verflossen, seit Pastor Momme seinen Einzug hier in der Sandinger Gemeinde hielt. Ältere Leute konnten sich dessen noch erinnern und erzählten davon. Zuerst geschah es, daß man den alten Pastor Jerrild eines Morgens tot unter der Lampe in seinem eingeräucherten Giebelzimmer fand, wo er seit mehr als einem Menschenalter zwischen den Portweinflaschen vergraben gesessen hatte. Die damaligen Sandinger Bauern hatten ihren Seelenhirten still zur letzten Ruhestätte getragen; und nachdem sie gesagt hatten, daß er nun da liege, wo ihm am wohlsten sei, kehrten sie unbeirrt an ihre tägliche Arbeit zurück. Aber eines Tages, ein paar Monate später, kam ein merkwürdiger Aufzug von den Hügeln im Süden herabgezogen. Voran schwankten zwei mit Umzugsgut vollbepackte Wagen, und hinterher kam eine alte Mietskutsche, aus deren Fenstern große und kleine Köpfe herausguckten. Oben bei dem Kutscher saßen noch zwei Knaben, die eine flatternde Fahne zwischen sich hielten; und alle riefen sie Hurra vor jedem Hause, an dem sie vorüberrollten. Draußen auf den Wiesen standen die alten besonnenen Sandinger Bauern und starrten – die Augen voller Erstaunen. Und als der Zug bei der Einfahrt in das Dorf in einen dreidoppelten Hurraruf ausbrach, und dann unter Absingung von »Dänemark, herrlichstes Land aller Länder« in den leeren Pfarrhof einbog, sahen sie einander bedenklich über die Gräben hinweg an. Es verging denn auch Jahr und Tag, ehe sie sich mit dem kleinen, lebhaften Pfarrer aussöhnten – dem »Affenpastor«, wie sie ihn zu Anfang geradezu nannten. Das erstemal, als er Einladungen, zu einer »christlichen Gesangsversammlung« in seinem Garten hatte ergehen lassen, war niemand gekommen; man war nicht an andere Versammlungen hier in der Gemeinde gewöhnt, als an Spinnstuben und festliche Gelage, und man war verdrießlich darüber, daß ein Fremder eigenmächtig neue Sitten hier in der Gegend einführen wollte. Allmählich spürte man jedoch, daß der kleine Mann die Ohren hören machte . . . bald verlautete es von dem einen, bald von dem andern, daß er angefangen habe, dem Kartenspiel und dem Branntwein zu entsagen und heimlich die Bibelversammlungen im Pfarrhause besuchte. Und nun folgte die große Zeit, die Zeit des Durchbruchs, die Tage des geistigen Erdbebens, wo die Eltern ihren eigenen Nachwuchs verfluchten, und der reiche Ole Vemmelöv seinen Stock auf seiner Frau Rücken zerschlug, weil er eines Tages das neue Gesangbuch in ihrer Kommodenschublade gefunden hatte. Der Widerstand der Alten stärkte nur den Zusammenschluß der Jugend, feuerte ihren Glauben zur Begeisterung an. Weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus, bis auf die andere Seite des Fjords, drang die Kunde von der neuen, frohen Botschaft, und von weither kamen die Leute gezogen, um zu hören und zu sehen. Es war, als trüge die Luft selber die Frühlingsbotschaft des Geistes weit über die Lande und rufe die schlummernden Keime aus der Erde wach. Es war eine Zeit des Wachstums, eine Zeit der Blüte, die strahlenden Tage reicher Verheißungen.

Jetzt lebte der alte Pastor Momme einsam und zurückgezogen zusammen mit einer Schwägerin, Fräulein Katinka Gude. Die Zeit war längst vorüber, wo der Sandinger Pfarrgarten eine Rolle in dem Leben der Gegend spielte, wo seine jetzt so wohlgepflegten Gänge und Rasenplätze von schwerfüßigen Volksmassen niedergetreten wurden, während schwellender Gesang und begeisterte Rede unter den Baumkronen widerhallte. So lange war es her, daß man nicht weit davon entfernt war, völlig zu vergessen, daß dieser von Dornen umhegte Fleck heilige Erde für die Freunde der Volkssache war, daß da drinnen unter der großen Blutbuche Grundtvig selber einmal gestanden und sein Evangelium des Lichts verkündet hatte; dort hatte Boten-Bojesen geredet, und Lindberg, Birkedal Svejstrup, Frederik Barfod, Dines Pontoppidan und wie sie nun alle heißen mochten, die in den Fußspuren des großen Sehers gewandelt waren und dem lauschenden Volke seine dunkle Bildersprache ausgelegt hatten.

Ja, die Bevölkerung war sogar nahe daran, Pastor Mommes eigene Existenz aus ihrem Gedächtnis zu verwischen. Gewissermaßen war man ja freilich stolz auf ihn, und bei feierlichen Gelegenheiten liebte man es, ihn zu zeigen und ihm als dem letzten noch lebenden Patriarchen aus den Tagen des volkstümlichen, goldenen Zeitalters zu huldigen. Aber im übrigen herrschte die einstimmige Meinung, daß er zu alt geworden sei. Man konnte auch wohl Leute sagen hören, daß er ja doch auch nie zu den großen Propheten gehört habe, und es wurde fast als Opfer betrachtet, wenn man hin und wieder einmal in die Kirche ging, um seine Predigt zu hören, in der niemals auch nur die leiseste Andeutung auf die Bibelkritik vorkam, und die auch keine der andern großen Fragen streifte, die jetzt die Gemüter in Erregung versetzten.

Es war nun jedoch keineswegs das Entbehren der Anerkennung, das in den letzten Jahren einen immer tieferen Schatten auf das ehedem so lebhafte und lächelnde Antlitz des Greises geworfen hatte. Er war im Gegenteil dankbar für die Unbeachtetheit, in der er seine letzten Tage verleben durfte. Er hatte überhaupt nie zu denen gehört, die das Bedürfnis empfinden, sich hier in der Welt persönlich geltend zu machen; er hatte zu bescheidene Gedanken von sich selber und seiner Tätigkeit gehabt, um zu glauben, daß er Anerkennung verdiene. Daher hatte er es auch seinerzeit als etwas ganz Natürliches betrachtet, daß andere und bedeutendere Persönlichkeiten – wie zum Beispiel der alte Hochschulvorsteher – die Führerschaft hier übernahmen, ja, niemand hatte sich in Wirklichkeit mehr als er über den erneuten Aufschwung gefreut, den namentlich die Hochschule durch das bewegte Leben, das sie beständig der Gegend zuführte, in der Gemeinde hervorgerufen hatte.

Aber Pastor Momme war in des Wortes schwerster Bedeutung satt von Tagen. Er fühlte es tiefer, als sonst irgend jemand, daß er sich selbst überlebt hatte und ihm nun das traurige Los zuteil wurde, das Urteil über sein Leben und seine Zeit zu erleben. Und der Kummer, der sein Alter verfinsterte, war, daß er jetzt – in seinem achtzigsten Jahr – angefangen hatte, seinen freudigen Glauben an die Sache zu verlieren, der er das Werk seines Lebens geopfert hatte. Er hatte es sich selbst lange nicht eingestehen wollen; er hatte sich seine Anfechtungen vorgeworfen, sich einen schwachköpfigen Greis genannt und versucht, sich mit den Worten des Liedes zu trösten, daß »junge Augen doch besser sehen«. Aber er hatte sein bekümmertes Herz nicht beruhigen können. Die Jugend, die er um sich her aufwachsen sah, die Gedanken und Gefühle, die jetzt das Volk beherrschten . . . das war gar nicht so eine Ernte, wie er sie von der reichen Aussaat des Geistes erwartet hatte. Am allerbittersten war es für ihn, Zeuge zu sein, wie der alte Widersacher der freien Kirche, der lichtscheue und lebensfeindliche Pietismus, den er für alle Zeiten überwunden zu haben glaubte, jetzt seinen Siegeszug durch das ganze Land machte. Wenn er in den Zeitungen von der neuerwachten Begeisterung las, mit der man sich fast überall um die Verkünder des Finsterglaubens scharte, wenn er hörte, daß sogar Leute hier aus seiner eigenen Gegend mitten in der Nacht aufstanden und Wind und Wetter auf dem Fjord trotzten, um hinüberzukommen und den Höllenprediger drüben in Vejlby zu hören, – ganz wie man seinerzeit von dadrüben her nach Sandinge herübergezogen war, um sich an dem Evangelium des Lichts und der Freiheit zu erbauen – da packte ihn ein niederdrückendes Gefühl, daß alle Kämpfe des menschlichen Geistes für die Erkenntnis der Wahrheit ein fruchtloses Auf und Nieder seien, daß Gott in seiner Unsichtbarkeit allen Nachstrebungen spottete und alle Türme von Babylon umstieß, bis die Stunde der Ewigkeit schlug.

Ihm war jetzt nur noch die Hoffnung der Enttäuschten: das andere Leben, geblieben. Daher war er so dankbar für die Unbemerktheit, in der er leben durfte. Hier in dem dornenumhegten Frieden seines Gartens, nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, wo sein Grab gegraben werden sollte, fühlte er sich bereits halb der Welt der Geister zugehörig. Und nun saß er da, an diesem sonnigen Nachmittag, in Gedanken versunken unter der erinnerungsreichen Blutbuche. Seine Hände lagen gefaltet im Schoß, und er hatte die Augen geschlossen, um die Seele mit ihren überirdischen Träumen allein zu lassen.

Eine Strecke von ihm entfernt ging seine Schwägerin auf dem Kieswege an der Gartenhecke entlang auf und nieder. Fräulein Katinka Gude war – ebenso wie Pastor Mommes verstorbene Frau – eine Halbschwester von Frau Lene Gylling, mit der sie jedoch keine besondere Ähnlichkeit hatte. Man konnte sich sogar keine größeren Gegensätze denken, als die schöne, lächelnde, von allen bewunderte Witwe und diese unansehnliche, ein wenig gekrümmte alte Jungfer mit dem kleinen, grauen Affenkopf, dem bösen Gesichtsausdruck, und den ewig geschäftigen hölzernen Stricknadeln.

Fräulein Katinka war von Kindesbeinen an das Aschenbrödel der Familie gewesen, an die man nur bei Krankheitsfällen oder bei anderen ähnlichen Gelegenheiten dachte, wo man Verwendung für Treue und zuverlässige Hilfe hatte. Namentlich hier in Pastor Mommes ehemals so großem und unruhigem Haushalt hatte man beständig Zuflucht zu ihrem Beistand nehmen müssen, so daß sie – obwohl niemand außer ihr es wußte – in Wirklichkeit ihre meiste Zeit im Sandinger Pfarrhaus verbracht hatte. Ganz teilnahmlos gegenüber der geistigen Bewegung um sie her, außer insofern, als sie jeden Augenblick das Haus mit lärmenden Gästen füllte, hatte sie geräuschlos die Arbeit des Tages für ihre schwächliche und von höheren Gedanken in Anspruch genommene Schwester getan, bis sie bei ihrem Tod und der Verheiratung der Kinder die Leitung von des Schwagers Hausstand übernahm und bald seine einzige Stütze wurde.

Auch jetzt, während sie da auf dem Gartenwege auf und nieder ging und strickte, richtete sie ein wachsames Auge auf den Alten, dessen Gestalt dort auf der Bank unter der Blutbuche mehr und mehr zusammensank. Schließlich ging sie zu ihm heran, und sagte in der stoßweisen, kurzen Weise, die ihr eigen war:

»Momme . . . du solltest nicht . . . dasitzen und schlafen. Warum gehst du nicht . . . hinein und legst dich ein wenig hin?«

Der Alte war wirklich in einen leichten Schlummer gefallen. Er sah sich mit seinen verblaßten Augen um, als müsse er sich erst darauf besinnen, in welcher Welt er erwacht sei.

»Ja, – ich glaube auch, daß ich ein wenig hineingehen will!« erwiderte er und legte die Hände auf die Bank, um sich zu erheben.

»Komm – laß mich dir helfen«, sagte Fräulein Katinka.

»Danke, Cäcilie! . . . was erzähltest du doch von unserm Frederik?«

Der alte Mann war noch ein wenig verwirrt nach dem Schlaf. Er glaubte, er spräche mit seiner verstorbenen Frau und kam nicht eher ganz wieder zu sich, als bis sie in die Zimmer gelangt waren.

* * *

Als Fräulein Katinka den Alten zur Ruhe gebracht hatte, kehrte sie in den Garten zurück, wo sie jeden Nachmittag ihren genau abgemessenen Spaziergang machte – zwanzig mal auf und nieder an der Dornhecke entlang. Außerhalb des Pfarrgartens ließ sich die alte Dame nur selten blicken, und wenn es geschah, erregte ihre kleine, eingeschrumpfte Gestalt eine nicht gerade schmeichelhafte Aufmerksamkeit unter der Bevölkerung des Dorfes. Selbst die Bauerfrauen konnten nicht umhin, den Mund zum Lächeln zu verziehen, wenn sie sie in einer kurzen, von Alter grünlichen Mantille, in Kapuze mit getolltem Strich und flachen, vollkommen absatzlosen Gamaschenstiefeln, die an der Seite geschnürt waren, ansteigen sahen.

Fräulein Katinka war die Wertschätzung ihrer Person seitens der Leute keineswegs unbekannt; aber sie fand sich mit ihrer gewöhnlichen Kaltblütigkeit darein. Sie hatte überhaupt keine so große Achtung vor ihren Mitmenschen, daß sie sich von ihrem Urteil anfechten ließ. Namentlich hatte der Kreis, in dem sie hier hatte leben müssen, und das große religiöse Volksschauspiel, das sie vor ihren Augen hatte aufführen sehen, keineswegs vermocht, ihr Respekt einzuflößen. Dazu hatte ihre untergeordnete, halb dienende Stellung im Hause der Schwester ihr zu oft Gelegenheit gegeben, sich ungeachtet zwischen den Kulissen zu bewegen und dort Zeuge zu sein, mit welcher Routine gefeierte Glaubenshelden die Rednerwürde anlegten oder sich der leidenschaftlichen Ekstase entkleideten, und wie geschickt der Neid und die Habsucht und die persönliche Eitelkeit sich auch unter den Gläubigen als Unerschrockenheit, Selbstaufopferung und heiligen Eifer zu maskieren verstanden.

Überhaupt war sie keineswegs so blind oder so unberührt durch das Leben gegangen, wie sie sich selber stets den Anschein gab, und wie es die Leute daher im allgemeinen glaubten. Aber ihre Natur hatte ihr nicht erlaubt, die Hände in den Schoß zu legen. Obgleich ihr Herz sie eigentlich gar nicht dazu antrieb, war sie beständig, wie von einem Instinkt getrieben, Samariterdienste bei ihrer Umgebung zu übernehmen . . . und es waren stets der Hilflosen genug auf ihrem Wege gewesen, genug der Armen, die auf den bewegten Wassern der Zeit Schiffbruch gelitten hatten.

. . . Auf einmal ließ sie ihre Stricknadeln ruhen, erhob den Kopf und lauschte. Sie meinte bestimmt, die Gartentür knarren gehört zu haben.

Ganz recht! Da hinten am Ende des Ganges kam ein langer, kopfhängerischer Bauersmann geschlichen. Die Runzeln in ihrem grauen Gesicht zogen sich zu einer Art von Lächeln zusammen, als sie Weber Hansen erkannte. Nun, der sollte willkommen sein.

»Guten Tag«, sagte sie mit einem schnellen Kopfnicken, aber ohne die Hand zu geben, als der Weber bis zu ihr herangekommen war, und sie begrüßt hatte. »So sind Sie . . . heute . . . hier herübergekommen, Jens Hansen? Haben Sie hier etwas zu tun?«

»Ach ja, was hat man ja immer auf Händen«, sagte er zögernd. »Und weil ich hier nu doch mal im Dorf war, da dacht' ich, ich wollt' Fräulein doch gleich 'n Besuch auch machen.«

»Na ja, das ist gut, Jens Hansen. Es ist auch . . . solange her . . . seit Sie hier waren. Kommen Sie, setzen wir uns.«

Sie nahmen in der Laube Platz. Fräulein Katinka setzte sich auf die Bank dadrinnen. Der Weber auf einen Gartenstuhl ganz in der Nähe des Einganges.

Weber Hansen war zurzeit ein einsamer Mann. Die Führerstellung drüben in Skibberup und Vejlby hatte er wieder einmal ganz verloren. Es war ihm abermals so gegangen wie damals, als er Emanuel Hansted benutzt hatte, um Propst Tönnesen wegzuschaffen: die bösen Mächte, die er mit schlauer Berechnung heraufbeschworen, hatte er nicht rechtzeitig meistern können. Die Bewegung, die er mit so vieler Umsicht wachgerufen, um seine Pläne zu fördern, hatte sehr bald eine viel größere Geschwindigkeit angenommen, als er gewünscht und berechnet hatte, und ehe er es ahnte, war er selbst zu Boden gerissen worden.

Fräulein Katinka hatte immer eine ganze Menge für diesen, von den meisten so hart beurteilten Mann übriggehabt. Welcher Art seine Pläne eigentlich waren, wußte sie ebensowenig, wie alle anderen – und es interessierte sie auch nicht. Aber es gewährte ihr eine Zerstreuung, hin und wieder einmal mit ihm zu plaudern, weil er, wie es ihr schien, die Regungen des Lebens ungefähr mit demselben nüchternen Blick betrachtete wie sie. Sein Mißtrauen, sein geheimnisvolles Wesen, seine nüchterne, schlaue, kaltsinnige Berechnung, seine Vorliebe, sich in aller Geschwindigkeit durch Kniffe und Verstellung vorwärtszuschleichen und zu lauern, statt das Schwert mit offener Stirn zu schwingen . . . dies alles stieß sie nicht ab, ja, es sagte ihr beinahe zu, als Beweis für eine ungewöhnlich verständige Auffassung des Lebens und der Menschen.

»Nun . . . was gibts denn Neues . . . drüben auf Ihrer Seite?« stieß sie hervor, als sie eine Weile schweigend einander gegenübergesessen hatten.

»Ach nein, so was Eigentliches is ja nich' passiert. Es geht all' so seinen ebenen Gang. Wir haben ja immer recht reichlich von Teufelsschnack und Schwefelgestank, so daß man manchmal meinen könnt', die Hölle brenne einem durch die Holzschuhe, übrigens haben wir nu' auch 'ne neue Religion bei uns gekriegt.«

»So,« murmelte Fräulein Katinka. »Wie heißt denn die Religion?«

»Ja, das sind ja diese Damgaardianer!«

»Was ist denn das? . . . Damgaardianer? Von denen hab' ich denn doch wohl noch nich' gehört.«

»Ach ne . . . das will ich gern glauben. Denn die sind ja auch noch nich' recht trocken hintern Ohren. – – Die hat übrigens dieser Niels Nilsen . . . oder Niels Damgaard, wie er sich ja gern nennen läßt, . . . erfunden. Er war 'ne Zeitlang Knecht bei Emanuel Hansted, un er hat ja nu immer so viel mit Zeitungslesen und Schreiberei in Zeitungen vorgehabt. Und nu is er ja Missionsredner geworden un hat ümmer gesessen un studiert. Und da hat er denn kürzlich diese Religion gemacht, die übrigens ganz ausgezeichnet sein soll . . . das hab ich mehr als einen sagen hören.«

»Aber was ist denn das Neue dabei?«

»Ja, sehen Sie, das kann unsereins ja nicht wissen. Aber ich glaub' nu, es is' was mit den Einsetzungsworten der Taufe, was er anders haben will.«

»Ja, der liebe Gott ist ein geduldiger Mann«, sagte Fräulein Katinka.

»Da haben Sie 'n wahres Wort gesagt, Fräulein Gude«, stimmte ihr der Weber zu und versank einen Augenblick in sinnendes Schweigen.

Bald umspielte aber das schiefe Lächeln seinen Mund wieder und er sagte:

»Aber wie geht es denn eigentlich mit Eurem eigenen neuen Propheten? denn wir haben natürlich auch dies und das drüben bei uns davon gehört. Un es is ja ganz sonderbar, was sie so erzählen. Er soll ja geradezu angefangen haben, Wunder zu tun.«

»So–o? Ja, davon hab' ich nichts gehört.«

»Ja, ja – er hat doch wenigstens diese schwarze Trine, wie Ihr sie nennt, gebändigt . . . das muß man doch beinah' ein Wunder nennen, sollt' ich meinen. Und denn is da ja so 'n alter Mann unten in' Dorf, den soll er von seiner Trunksucht geheilt haben . . . und das bloß, indem er eines Abends an ihm vorbeigeht un nich' mal ein einziges Wort sagt.«

»Ja, so was wird ja erzählt.«

»Ja – wahrhaftig! – es sind sonderbare Zeiten, in denen wir leben, Fräulein Gude! Man scheuert sich den Kopf un weiß manch' liebes Mal gar nich' mehr, was man denken soll.«

Sie sprachen von Emanuel. Er hatte sich nun einige Wochen in der Gegend aufgehalten und war in dieser Zeit zum allgemeinen Unterhaltungsstoff geworden, – ja, trotz der Zurückgezogenheit, in der er beständig lebte, war er auf dem besten Wege, einen förmlichen Aufstand in gewissen Teilen der Bevölkerung hervorzurufen. Zu Anfang war man wohl im Grunde am meisten geneigt gewesen, über das klösterliche Leben zu lächeln, das er führte, und das, wie man erzählte, sogar so weit ging, daß er gewisse Tage der Woche fastete, um den Versuchungen der Sünde zu widerstehen. Auf der Hochschule munkelte man geradezu, daß er ganz verrückt geworden sei. Aber dann geschah es, daß die schwarze Trine eines Sonntags zum allgemeinen Erstaunen in der Kirche erschien, ja sogar zum Tisch des Herrn ging; und bald darauf verbreitete sich das Gerücht, daß Emanuel Hansted teil an dieser merkwürdigen Bekehrung gehabt hatte. Von diesem Augenblick an schlug die Stimmung an vielen Orten um. Es stellte sich heraus, daß namentlich unter den kleinen Leuten, und insonderheit unter den armen Fischern unten im Dorf, die bisher von der geistigen Bewegung der Gegend ganz unbeeinflußt geblieben waren, viele unter dem Banne dieses sonderbaren Fremden standen, der sein Leben freiwillig den Demütigungen und der Entehrung der Armut preisgab. Er hatte sich zuweilen in Unterhaltung mit ihnen eingelassen, wenn sie am Strande standen und ihre Netze trockneten, und obwohl sie seine Rede nicht immer verstanden, hatten allein seine sonderbare Erscheinung und die Milde in seinem Blick und seinem Ton ein eigenartig schwindelndes Gefühl in ihnen hervorgerufen, als seien sie mit dem Übernatürlichen in Berührung gekommen. Auch die Kranken in der Gegend, und namentlich die Ärmsten unter ihnen, hatte er oft besucht, jedoch nicht, um sie zu trösten. Wenn er an ihren Betten saß, sprach er von ihrer Krankheit als von einer großen Gnade und nannte ihre Leiden »Liebkosungen Gottes«, für die sie froh und dankbar sein müßten. Besonders viel war in letzter Zeit von seinem wunderbaren Einfluß auf eine Frau in den mittleren Jahren geredet worden, die an Magenkrebs litt, und deren Jammergeheul man des Nachts bisher durch das ganze Dorf hatte hören können. Jetzt, nachdem Emanuel sie einige Male besucht hatte, war nicht nur dies unheimliche Geschrei verstummt, sondern Leute, die an ihrem Fenster vorübergingen, konnten sie im Bett Lobgesänge singen hören, deren Jubel sich mit den Leiden steigerte.

»Wollen Sie denn nicht hin und diesen Herrn Hansted besuchen?« fragte Fräulein Katinka. »Sie waren ja seinerzeit so gut mit ihm bekannt.«

Die rotränderigen Augen des Webers schielten mit einem forschenden Blick zu ihr hinüber.

»Ach, was sollt' da woll weiter bei rauskommen. – Aber was meinen Fräulein Gude, daß er sich dabei denkt?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Ob er auf diese Freundesversammlung spekuliert, die hier abgehalten werden soll?«

»Ich weiß es nicht!«

»Am Ende will er bei der Gelegenheit reden?«

»Das kann ja sein.«

»Fräulein Gude haben also gar nichts davon gehört?«

Sie fingen an, über die bevorstehende Versammlung zu reden, und der Weber fuhr unermüdlich fort, sie darüber auszuforschen, was sie von den Vortragsthemata und von den Rednern wußte; ob die ersteren schon bestimmt seien, ob das Wort frei sein werde usw. Schließlich zog er eine zusammengelegte Zeitung aus der Brusttasche, saß eine Weile da und glättete sie mit der Hand und sagte dann schließlich:

»Da is nu etwas, um was ich Fräulein Gude gern bitten wollt'!«

»Was ist es denn, Jens Hansen?«

»Ja, sehen Sie, da is ein kleines Wort hier, was ich nich' versteh! Es is woll lateinisch, denk' ich mir. Will Fräulein so gut sein un mal hersehen? . . . Ich hab' es mit einem Daumennagel angekratzt.«

Er reichte ihr das Blatt.

»Utopie –«, las Fräulein Katinka. »Ist es das – das Wort?«

»Ja, Utopie, ja. Was bedeutet das eigentlich, wenn ich fragen darf!«

»Das bedeutet so ein . . . Traumbild . . . etwas Unerreichbares und dergleichen.«

»Traumbild? Ach so! Ja, das hab' ich mir auch gedacht! . . . Utopie . . . so. Ja, denn bedank' ich mich vielmals, Fräulein Gude«; sagte er und barg die Zeitung wieder sorgfältig in der Brusttasche.

»Warum liegt Ihnen denn eigentlich so viel . . . an dem Wort . . . Jens Hansen?«

»Ach, ich wollt' man doch gern wissen, was es zu bedeuten hat, will ich Ihnen sagen, Fräulein Gude!«

»Ja . . . aber haben Sie . . . einen bestimmten Zweck damit?«

»Ach, sehen Sie, ich dacht' ja, daß es nie schaden kann, wenn man weiß, was das is, was man liest.«

»Aber Sie werden sich doch wohl auch gedacht haben, es zu benutzen, . . . da Ihnen so sehr daran gelegen ist . . .«

»Ja, nu wird es woll Zeit, daß ich nach Hause komme«, sagte der Weber und stand auf, als habe er ihre Frage überhört: »Ja, dann bedank' ich mich auch vielmals bei Fräulein Gude.«

Fräulein Katinka lachte innerlich. Sie kannte den Weber hinreichend, um zu wissen, wie fruchtlos es sein würde, den Versuch fortzusetzen, seinen Gedanken auf die Spur zu kommen.

»Adieu, Jens Hansen«, sagte sie deshalb und gab ihm diesmal die Hand.

* * *

Emanuel trat eines Nachmittags aus seinem kleinen Garten unten am Strande heraus. Einen Augenblick stand er da und starrte in Gedanken versunken über das Meer; dann ging er langsam weiter, auf die hohen Heidehügel im Westen zu.

Er wurde schweigend von der kleinen Sigrid beobachtet, die unter einigen Büschen am Meeresdeich auf der Lauer gelegen und den Augenblick abgewartet hatte, wo er seinen Nachmittagsspaziergang antrat. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, stand sie schleunigst auf, stellte sich genau so auf, daß ihr Gesicht der Sonne zugewandt war, und fühlte gleichzeitig in ihre Kleidertasche.

»Das stimmt«, sagte sie halblaut.

Jetzt wußte sie Bescheid! Regelmäßig jeden Nachmittag ging der Vater die Mutter und die Großmutter besuchen.

Mit glühenden Wangen setzte sie sich auf den Deich und verfiel in Sinnen.

Von dem Tage an, da sie hierhergekommen, hatte sich die stets wirksame Einbildungskraft des rastlosen Kindes mit der Mutter beschäftigt. In Kopenhagen, wo immer so vielerlei war, was sie ablenkte, konnten oft mehrere Tage vergehen, ohne daß sie an sie dachte. Hier draußen dahingegen hatten die Umgebungen täglich ihre Erinnerung an das alte Heim wachgerufen, und sie hatte sich schließlich in die Überzeugung hineingelebt, daß die Mutter hier irgendwo in der Nähe sein müsse. Jedes Mal, wenn sie eine fremde Frau draußen auf dem Wege daherkommen sah, hielt sie pochenden Herzens mit ihrem Spiel inne in dem festen Glauben, daß sie es sei. Vom Morgen bis zum Abend erwartete sie ihr Kommen, das die Tante ja verheißen hatte. Mit all ihrer Erfindungsgabe hatte sie es versucht, die Dienstmädchen und alle anderen, mit denen sie in Berührung kam, über den Aufenthaltsort der Mutter und den Grund ihres Ausbleibens auszuforschen. Aber sie hatte nichts zu wissen bekommen.

So hatte sie sich gestern bei der alten Kuchenfrau Ellen angeschmeichelt, die ihr endlich verraten hatte, daß die Mutter nicht weit von hier wohne, nämlich bei der Großmutter, die krank sei, und bei der sie bleiben müsse, um sie zu pflegen. Auf ihre weiteren Fragen hatte sie erfahren, daß das Haus der Großmutter in der Richtung liege, wo die Sonne untergehe . . . das heißt, ein wenig seitlich davon . . . nicht nach der Seite hin, wo die Kleidertasche saß, sondern nach der anderen. Aber auch gerade nach der Richtung hin war der Vater jetzt gegangen.

Also war es nun ganz gewiß, daß die alte Ellen die Wahrheit geredet hatte.

Sie blieb auf dem Deich sitzen, den Kopf in den Händen, und verlor sich in Grübeleien. Und nun reifte in ihr ein Beschluß, der sie seit dem vorhergehenden Tage ganz erfüllt, ja sie sogar einen Teil der Nacht wachgehalten hatte. Sie wollte eines Tages hingehen und die Mutter besuchen, ohne daß es jemand wußte. Jetzt kannte sie ja den Weg und konnte nicht fehl gehen. Dagny sollte auch mit, wie sehr sie auch brüllen mochte. Und die Puppe Liese sollte mit, und all' ihr Zeug sollte gewaschen und gerollt werden, damit sie recht hübsch war! . . . Die Mutter würde sich schon freuen, wenn sie kamen. Aber am allermeisten sehnte sie sich beinahe nach der Großmutter, die krank war. Und auch nach Treu sehnte sie sich und nach der roten Katze und dem alten Großvater. Denn es war sicher nicht wahr, was Ellen erzählt hatte, daß er tot war.

. . . Emanuel hatte währenddes seine Wanderung am Strande entlang fortgesetzt. Der Himmel bewölkte sich im Laufe des Nachmittags ein wenig, und das Meer war förmlich nervös unruhig, obwohl die Luft ganz still war.

Unten am Strande um ein heraufgezogenes Boot stand eine Schar von Fischern, die in stummer Ehrfurcht ihre Köpfe entblößten, als er in weiter Entfernung an ihnen vorüberging. Einer von ihnen, ein kleines, altes Männchen, dessen viele starke Farben im Gesicht darauf hindeuteten, daß er nicht immer zu den Freunden der Mäßigkeit gehört hatte, blieb sogar mit dem Hut in den zitternden Händen stehen; und alle starrten sie ihm nach, während er sich langsam, auf die großen Heidehügel zuschreitend, entfernte.

Emanuel hatte in der letzten Zeit noch einsamer und zurückgezogener als bisher gelebt. Es gab Tage, an denen er – gerade auf Grund der Ehrerbietung, die man ihm erwies – gleichsam den Anblick von Menschen scheute. Er wußte nur zu gut, daß er eine solche Ehrfurcht nicht verdiente, und daß er gar weit davon entfernt war, die Vollkommenheit zu erreichen, die man ihm offenbar zumaß. Ach, noch hatte ihn die Welt mit einem handfesten Griff gepackt! Noch mußte er täglich mit den Anfechtungen des Verstandes kämpfen; noch war jede Nacht ein aufreibender Kampf mit den Träumen des Fleisches! Und noch erfaßten ihn Mutlosigkeit und irdische Sorgen, ängstigte er sich namentlich der Kinder und ihrer ungesicherten Zukunft halber, nachdem sein Vater endlich Ernst mit seiner Drohung gemacht und ihm jede Unterstützung entzogen hatte.

Er war deswegen jetzt zu dem Entschluß gelangt, aufzubrechen und von hier fortzuziehen. Trotz des Versprechens, das er sich selbst und Hansine gegeben, ihr Zusammenleben nicht zu erneuern, ehe sein Herz geläutert sei, wollte er nun mit den Kindern zu ihr hinüberreisen, um in Glauben und Hoffnung das Heim wieder aufzubauen. Er hatte schon vor mehreren Tagen an Hansine darüber geschrieben, und obwohl er ihre Antwort noch nicht erhalten, zweifelte er nicht daran, daß sie verstehen würde, wie sehr er ihres Beistandes bedurfte . . . daß sie nun Hand in Hand den letzten entscheidenden Kampf um seine Befreiung auskämpfen mußten.

Er wollte nicht einmal die Versammlung in der Hochschule abwarten, so wie das ursprünglich sein Plan gewesen war. Trotz allem, was Gott in seiner Gnade ihm hier auszurichten vergönnt hatte, er hatte nicht den Mut, dies als Ermächtigung zu betrachten, in Seinem Namen zu reden. Er mußte demütig vor sich selber bekennen, daß er ein zu zerbrechliches Gefäß, ein zu schwacher Geist war, um Gottes Dolmetscher, das Flammenschwert seines Zornes, die rufende Stimme der Barmherzigkeit in der Wüste zu sein. Aber er wollte deswegen nicht klagen. Froh und dankbar wollte er sein Leben verbringen, in stiller Abgesondertheit, ungekannt von den Menschen, nur von Gott gekannt, von der Welt vergessen, verweht als namenloses Blatt, als klangloser Ton.

. . . Er war die Heidehügel hinaufgestiegen und hatte den letzten, äußersten Gipfel erreicht, von wo aus man die weite Aussicht über den Fjord bis an die Küsten drüben auf der anderen Seite hatte. Hier blieb er an dem großen, kreuzförmigen Seezeichen stehen, unter dem er jeden Nachmittag gestanden und nach dem heimischen Ufer hinübergesehen hatte, seine Sehnsucht nach Hansine erneuernd. Mit heftig pochendem Herzen starrte er hinüber nach dem fernen Lande, das in dem goldenen Sonnennebel des Nachmittags sich wie ein luftiges Traumbild über dem Fjord erhob.

Ja, er mußte jetzt fort . . . fort aus der Einsamkeit hier und den Schlingen des Mißmuts; . . . fort auch von ihr, dem bösen Geist seines Lebens, die wieder und wieder seine Wege gekreuzt hatte, wie die vermummte Versucherbotschaft der Sünde . . . dies schamlose Weib mit ihrem geistlichen Galan, in deren Nähe es war, als blase einem die Lust selbst dämonische Fleischeslüste ein. Ja, er sehnte sich heim . . . heim zu dem Frieden und der Geborgenheit und dem Ausruhen bei ihr, dem guten Engel seines Lebens, der seinen Fuß stets auf den rechten Weg geleitet, ihn stets gestützt hatte, wenn er gestrauchelt war, der ihm stets sein Antlitz abgewandt hatte, wenn er versagt hatte. Sie fanden wohl eine Lehmhütte und einen Streifen Landes da drüben am Strande, wo sie ihr Leben fristen konnten. Er wollte nicht sorgen. Er war ja noch jung und stark. Seine Arme hatten es nicht verlernt, mit Hacke und Spaten zu kämpfen. Noch war die Haut in seinen Händen hart von der siebenjährigen Arbeit auf dem Felde und in der Scheune. Ja, jetzt sollte es geschehen! Jetzt wollte er sein gesunkenes Haus wieder aufrichten zur Ehre Gottes! Vogelfrei wollten sie hinter dem Heidehügel bauen und wohnen, und ihr Lobgesang sollte sich bis zu den Wolken aufschwingen, wie die Lerche an einem goldenen Sommermorgen. Ach – es war, als tönten Harfen in seinem Innern, wenn er daran dachte! Ein Wonneklang, ein Freiheitsjubel schwoll und stieg in seiner Brust. Er fürchtete sich nicht! Was bedeuteten denn Armut, Hunger, Leiden – –?

Vater unser, Wort des Herrn,
Deckt mit des Gebetes Macht
Allen Christen ihren Tisch,
Stellt ums Heim die Engelwacht.

Sei die Stube noch so eng,
Wölbt sie hoch der Dankgesang,
Jesu Leiden, Jesu Namen,
Preisen wir mit hellem Klang.

* * *

Vater Rüdesheimer und Fräulein Ragnhild kamen in diesem Augenblick in lebhafter Unterhaltung über die Heide gegangen . . . er mit seinem breitrandigen Strohhut, eine große Rose im Knopfloch, sie in einem hellgeblümten Kleide, das sie sorgfältig über den Lackschuhen in die Höhe nahm, damit es nicht an den Heidekrautbüscheln hängen bleiben sollte.

Es war das erstemal, daß sie sich in diese Einöde hinauf gewagt hatte, und sie konnte nicht umhin, sich ein wenig unheimlich zu fühlen, in dieser großen, schweigenden, düstern Einsamkeit, wo der Sommerwind mit einem gespensterhaften Raunen sein Wesen trieb.

»Hier ist es wirklich gräßlich!« sagte sie jeden Augenblick. »Wenn man abergläubisch wäre, würde man doch nicht daran zweifeln, daß hier die Wohnung aller bösen Geister ist . . . Und dann wimmelt es hier natürlich von Nattern und Ottern und Eidechsen und von allem möglichen greulichen Gewürm. Ich habe die ganze Zeit ein Gefühl, als wenn mich etwas in die Beine bisse.«

Trotzdem hatte sie selbst diesen Spaziergang hierher vorgeschlagen. Der Pater, der ihren Abscheu vor dem kannte, was sie die Natur im Adamskostüm zu nennen pflegte, war ganz erstaunt, als sie bei der Beratung über den Ausflug des Tages plötzlich ausgerufen hatte: »Heute wollen wir nach der äußersten Thule!« Das Geheimnis war, daß sie einen Augenblick zuvor von ihrem Fenster aus Emanuel nach den Hammerhügeln hatte gehen sehen; und da man ihr erzählt hatte, daß er täglich da hinaus ging, und oft Stunden, ja halbe Tage fort war, so hatte sie dem Wunsche nicht zu widerstehen vermocht, zu erfahren, was er eigentlich da oben in der Einsamkeit zwischen den Geistern der Finsternis und des Aberglaubens vornahm.

Die Unterhaltung zwischen ihr und dem Pater hatte sich denn auch fast während des ganzen Spazierganges um ihn gedreht. Freilich hatte der Pater – wie er das zu tun pflegte – versucht, dies Thema zu umgehen, indem er sich jeden Augenblick in allgemeine Betrachtungen verlor. Er hatte angefangen, Anekdoten und muntere Erlebnisse aus dem Kopenhagener Gesellschaftsleben zu erzählen; aber mit gewohnter Gewandtheit verstand Fräulein Ragnhild es, die Unterhaltung immer schnell und natürlich auf den ursprünglichen Ausgangspunkt zurückzuführen.

»Was muß ich übrigens von Ihnen hören?« sagte sie so, nachdem der Pater sie eine Zeitlang mit einer Erzählung von seinem Abschiedsbesuch bei dem alten Etatsrat Hansted unterhalten hatte, wobei er das Malheur gehabt hatte, auf den neuen Kultusminister zu stoßen, der ihm genau zweiundeinhalben Finger hingehalten. – »Sie sind so eine Art Mittler bei den letzten Unterhandlungen zwischen Pastor Hansted und seiner Familie gewesen.«

»Wieso? . . . Unterhandlungen?«

»Ja, Frau Torm erzählte mir neulich, Sie wären Etatsrat Hansteds Vertrauter nach dieser Richtung hin geworden.«

»Hm! Hat Ihnen Frau Torm das erzählt? Nun ja – ehe der Etatsrat nach Karlsbad abreiste, bat er mich allerdings mit dem Sohn zu sprechen, um noch einmal den Versuch zu machen, auf seinen unglückseligen Entschluß einzuwirken. Das ist das Ganze!«

»Dann kann man eigentlich nicht sagen, daß Sie Glück gehabt haben!«

»Nein, leider nicht! Das kann man nicht sagen. Nun – also, was ich Ihnen von dem jungen Menschen erzählen wollte, der momentan den Posten eines Kultusministers bekleidet –«

»Also nicht einmal Ihre Überredungsgaben haben etwas auszurichten vermocht! Denken Sie nur! . . . Und jetzt hat der Etatsrat sich ja obendrein geweigert, ihn länger zu unterstützen. Nun! Das muß man Herrn Hansted wenigstens lassen, Methode ist in seiner Verrücktheit! Ich bin überzeugt, es ist sein erhabenes Märtyrerziel, einmal mit seiner Familie im Armenhaus zu enden.«

Der Pater sah sie einen Augenblick mißbilligend an. Dann sagte er mit dem tiefen, finstern Ernst, den er vorübergehend offenbaren konnte:

»Fräulein Tönnesen . . . die Sache erscheint mir übrigens ein wenig zu ernsthaft, um damit Scherz zu treiben.«

»Das finde ich nämlich auch,« entgegnete Fräulein Ragnhild, verletzt durch den herausfordernden Ton. »Wir sind jeden Tag von so viel langweiliger Philistervernunft umgeben, daß es wirklich gut tut, einmal einen Menschen zu treffen, der Mut hat, seiner eigenen Lust zu folgen, ohne zuvor ehrerbietigst die öffentliche Meinung um Erlaubnis zu ersuchen.«

»Hm! . . . meinen Sie das wirklich, Fräulein Tönnesen! Ich bin nun freilich etwas anderer Meinung. Ich bin durchaus nicht fähig, einen Leichtsinn zu entschuldigen, geschweige denn, mich dafür zu begeistern, nur weil er größer ist und gefährlicher als das, wovon wir gewöhnlich bei unsern Mitgeschöpfen Zeuge sind. Ich weiß ja sehr wohl, daß Verständigkeit in diesen Tagen der großen Gefühle gerade nicht sehr hoch im Kurs steht. Der Held unserer Zeit ist der Konfusionsmacher, der überall mit der Stirn gegen die Wand rennt, und schließlich den Hals bricht, indem er über die eigenen Beine fällt – was man dann poetisch sein tragisches Schicksal nennt. Sich vorzusehen, seine Augen und Ohren zu benutzen, und sich eine Sache überlegen, ehe man handelt . . . das alles ist etwas, was der wahren Männlichkeit unwürdig ist, und was man mitleidig Krämerseelen und Spießbürgern überläßt. Ist es nicht so?«

»Die goldene Mittelstraße wandern – die besser ist als alle andern –« deklamierte Fräulein Ragnhild. »Heißt es nicht so in dem wunderschönen Lied, das Sie mir zu zitieren pflegen?«

»Freilich – gewiß!« entgegnete der Pater mit aufquellender Wärme. »Ich halte es wirklich für eine höchst nützliche Lehre, die man heutzutage, wo wir alle eine krankhafte Neigung haben, uns zu Ausnahmen und interessanten Individuen zu machen, gar nicht genug predigen kann. Auf Kosten des Allgemein-Menschlichen pflegen wir sorgfältig unsere kleinen Eigentümlichkeiten, züchten mit Fleiß irgendeine kleine Eigenheit oder eine fixe Idee groß, aus reiner Furcht, so zu werden, ›wie alle anderen Menschen‹ – das Schlimmste, was man sich denken kann. Wir müssen absolut etwas für uns sein, müssen selbständig sein, ein Sondergepräge haben, wie es heißt. Die Zeit der Dogmen ist ja vorüber! Jeder, der nicht für ein Rindvieh gelten will, muß seine Privatmeinung über alles zwischen Himmel und Erde haben, muß mindestens auf eigene Hand das Weltenrätsel ergründet haben und eine selbstangefertigte Auffassung von Gott, Himmel, dem Jenseits usw. offenbaren können.«

»Wie eifrig Sie werden, Herr Pastor! . . . Im übrigen müssen Sie um Himmels willen nicht glauben, daß ich Herrn Hansted verteidigen will. Ich habe mir nur die harmlose Bemerkung erlaubt, daß man ihm jedenfalls den Mut zugestehen muß, daß er in Übereinstimmung mit seinen Theorien lebt. Und es ist nun einmal etwas unmittelbar Ansprechendes darin, wenn ein Mann Wort und Handlung einander folgen läßt, und sein Wohlergehen für seine Überzeugung opfert . . . gleichgültig, welchen Wert diese Überzeugung an und für sich hat!«

»In meinen Augen nicht! mir ist es nur ein trauriger Beweis dafür, daß die Begriffsverwirrung und die Vergötterung des eigenen Ichs den Höhepunkt des Größenwahns erreicht hat. Was als Mut und Geistesstärke erscheint, ist in Wirklichkeit nur die jammervolle Schwäche eines erschlafften Willens. Ich kenne das von mir selbst. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, wenn man geträumt hat, Prophet und Heiliger zu werden, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, schlecht und recht Pastor Petersen zu sein. Ich weiß, wieviel mehr Selbstüberwindung es erfordert, sich unter das Gesetz des wahren Christentums, das Gesetz der Gleichheit und Brüderlichkeit zu beugen: eins zu werden mit seiner Umgebung – weder größer, noch geringer, weder besser noch schlechter.«

Fräulein Ragnhild zuckte die Achseln ohne zu antworten. Sie dachte im stillen an die Geschichte von dem Fuchs und den Weintrauben. Sie hatte überhaupt angefangen, sich ein wenig belästigt zu fühlen durch die tägliche Gesellschaft des Paters, und sie war ganz froh bei dem Gedanken, daß er nun bald reisen werde. Mehr und mehr mußte sie Frau Betty recht geben, daß er zu nahe verwandt mit den Vierfüßlern sei. Und wenn er auch ein wenig von der rührenden Treue eines Pudels besaß, so ging ihm leider die Fähigkeit dieses gelehrigen Tieres ab, gleich auf den ersten Wink zu verstehen, wann seine Anwesenheit lästig war.

»Überhaupt –« fuhr der Pater fast heftig fort – »ich habe keinen so großen Respekt vor dem Werk des Zufalls, das wir unsere persönliche Überzeugung nennen, daß ich die Berechtigung anerkennen könnte, ohne weiteres unser Leben danach einzurichten. Ich meine im Gegenteil –«

Er wurde dadurch unterbrochen, daß Fräulein Ragnhild mit einem kleinen Schrei stehen blieb. Sie behauptete, es habe sie etwas in den einen Fuß gebissen.

Es erwies sich jedoch nur als ein Heidekrautzweig, der ihren Spann gestreift hatte, so daß das Schuhband aufgegangen war.

»Beruhigen Sie sich, Fräulein Tönnesen,« tröstete der Pater, froh, in seinem Eifer unterbrochen zu sein, und eine Gelegenheit zu haben, das Thema zu wechseln. »Es ist nicht lebensgefährlich! gestatten Sie mir nun, Ihr Arzt zu sein und eine höchst notwendige Operation vorzunehmen . . . das Zusammenknüpfen dieser beiden Bänder« . . .

»Ja, danke. Wenn Sie es wirklich tun wollen« –

Se. Hochehrwürden legte sich mitten im Wege vor ihr ritterlich aufs Knie; . . . und war es nun wirklich eine Folge der Unbeholfenheit seiner dicken Finger, oder wollte er solange wie möglich den Anblick des schmalen Frauenfußes in dem feinen Zwickelstrumpf genießen . . . er lag eine unendliche Zeit da und knotete an den Bändern herum, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.

Da gewahrte Ragnhild eine Gestalt, die sich in einiger Entfernung finster von dem jetzt ganz verschleierten Himmel abhob . . . einen schattenähnlichen Mann, der langsam, gesenkten Hauptes über den letzten Abhang hinter dem hohen Seezeichen dahinwanderte.

»Binde ich vielleicht zu fest?« fragte der Pater, – er hatte gefühlt, wie ein kleiner Ruck sie durchzuckte.

»Ach, es geht –« antwortete sie, indem sie sich schnell faßte, starrte aber noch immer unverwandt der Gestalt da draußen nach, wo Himmel und Erde im Nebel zusammenflossen.

Emanuels Anblick kam ihr freilich keineswegs überraschend, aber er wirkte ganz anders auf sie, als sie erwartet hatte. Es fiel ihr auf, wie vorzüglich er zu diesen öden, schweigenden, einsamen Höhen paßte, fern von dem Treiben der Menschen. Er wirkte so eigentümlich fremdartig hier oben, so merkwürdig groß im Stil. – Aber war er es denn auch wirklich selbst? Nicht nur machte seine Erscheinung einen sonderbar unkörperlichen und gleichzeitig hünenhaften Eindruck, gegen den blaugrauen Dunst des Nebelhimmels gesehen, auch seine Haltung und sein Gang erhielten in dieser Umgebung ein Gepräge überirdischer Hoheit.

Sie begriff in diesem Augenblick, was sie einmal die Fischer hatte sagen hören, daß er dem Christus auf dem Altarbilde in der Sandinger Kirche gleiche. Selbst der Strahlenkranz fehlte nicht. Durch einen eigentümlichen Zufall stand nämlich die Sonne gerade hinter ihm, ungefähr in gleicher Höhe mit seinem Kopf, wo sie als matte, mondgroße Lichtscheibe durch die Wolken schien, ganz wie ein Glorienschein, der nur ein wenig zu niedrig angebracht war.

»Jetzt hoffe ich, daß es zufriedenstellend ist,« sagte der Pater, und erhob sich nach vollbrachter Tat.

Aber obwohl Emanuels Gestalt jetzt ganz unter den Horizont getaucht war, blieb Ragnhild wie eine Bildsäule stehen. Mit einem immer mehr verwunderten, schließlich ganz entsetzten Ausdruck starrte sie auf den Fleck, wo er verschwand.

»Sagen Sie mir, Herr Pastor Petersen,« begann sie endlich und legte ihre zitternde Hand auf seinen Arm. »Bin ich plötzlich verrückt geworden . . . oder wie verhält es sich? Sehen auch Sie in diesem Augenblick drei Sonnen am Himmel?«

»Was sagen Sie? drei Sonnen?«

»Ja. Sehen Sie, da . . . und da . . . und da!«

»Ja, wahrhaftig. Sie haben recht! . . . Sie haben wirklich recht!«

Es verhielt sich in der Tat so. Zu jeder Seite der Sonne, aber in ziemlich großer Entfernung von ihr, sah man in den Wolken einen mondgroßen Lichtfleck, der nur ein klein wenig matter war, als die eigentliche Sonne und an dem inneren Rande schwach regenbogenfarbig.

»Aber was für Zauberei ist dies alles!« rief sie schließlich ganz unbeherrscht aus. »Wohin haben Sie mich nur geführt? Und was ist denn das? . . . das große schwarze Kreuz da hinten?« fuhr sie in immer größerem Entsetzen fort, als sie plötzlich das Seezeichen oben auf dem Hügel erblickte, von dem Emanuel gekommen war. »Es ist ja wie ein Golgatha hier! . . . Ich will fort! hören Sie? Ich will hier nicht sein!«

Das sonst in allen Lebenslagen so überlegene Fräulein verlor einen Augenblick ganz die Fassung. Der Pater suchte sie zu beruhigen und begann ihr die ganz natürliche Ursache der Luftspiegelung zu erklären, und es währte denn auch nicht lange, bis sie einigermaßen zu sich kam. Ihr eigentliches Gleichgewicht gewann sie aber nicht eher, als bis sie an seinem Arm aus der »greulichen Wüste« herausgekommen war. Ja, als sie schon zu Hause angelangt war, klang ihr Lachen noch nicht recht echt, während sie Betty von ihrem Abenteuer erzählte.

* * *

Das nicht ungewöhnliche, aber flüchtige Naturphänomen, das Fräulein Ragnhild einen so großen Schrecken eingejagt hatte, bedeutete wirklich nichts Gutes. Von den vielen Sturmwarnungen der Natur wird wohl keins mehr von dem Seemann gefürchtet, als gerade dieses, wenn es sich kurz nach Sonnenaufgang oder um Sonnenuntergang an dem leicht bewölkten Himmel zeigt – in der Regel bei gelindem Wetter und nachdem die See längere Zeit hindurch ruhig gewesen ist. Da gilt es denn die Meeresruhe und Trägheit abzuschütteln, ehe der erste Vorreiter des Sturmes kommt. Er kommt gewöhnlich als plötzlicher blitzschneller Stoß, der den Masttauen einen kurzen Jammerton abpreßt und völlige Windstille hinterläßt, ein totes, unheimliches Schweigen über dem nervös unruhigen Wasser. Aber bald fängt die See an zu sieden, die Leute müssen in die Masten, um die letzten Segel an die Rahen zu binden und Luken und Klappen müssen sorgfältig vernagelt werden, ehe der nächste Sturmbote sich mit seinem Gefolge von weißen Schaumköpfen am Horizont meldet.

Auch am Strande entsteht große Geschäftigkeit . . . in den kleinen, niedrigen Tanghütten, von denen ebenfalls nach Zeichen an Sonne und Mond ausgespäht wird, wenn der Fischer sich auf dem Meere befindet. Wenn die Katze anfängt zu miauen, und der Wind durch den Schornstein heult, wie ein Hund, der eine Leiche riecht, sieht man die Frauen jeden Augenblick draußen auf der Türfliese, die Hand über der Stirn. Alte Männer schwanken an ihren Stöcken an den Strand hinab, spähen nach dem Horizont hinaus, und murmeln etwas vor sich hin. Gleich Schwärmen von mächtigen Adlern segeln die ersten, dunklen kleinen Wolken hoch und ruhig unter dem Himmel hin. Aber bald steigen schwerere Wolkenmassen vom Himmelsrande auf. Das ganze Meer ist schon ein fliegender Schaum . . . und in einen schwarzgrauen Rauchmantel gehüllt, stürzt sich endlich der Sturm über das Land, mit einer Gewalt, die die Kirchtürme erzittern macht.

Hansine saß am Abend drinnen bei ihrer Mutter und wand Garn beim Schein eines dünnen Talglichts, das an den noch kurzen Abenden die zurückgestellte Winterlampe ersetzen mußte. Die niedrige Bauernstube war noch immer gleich unberührt von den wechselnden Zeiten. Die Zinnteller unter der Decke und die beiden eingerahmten Zeichentücher mit der Jahreszahl 1798, der Lehnstuhl am Ofen und die übrige 100jährige Aussteuer – alles war mit einer pietätvollen Sorgfalt bewahrt, die nach Hansinens Heimkehr fast den Charakter einer Demonstration angenommen hatte.

Nur an einer Stelle fehlte etwas. Der Bankplatz am Ende des Eichentisches, wo Anders Jörgen ehedem mit der grünspanigen Messingbrille auf seiner Klumpnase gesessen und sich durch »das Blatt« hindurch buchstabiert hatte, stand jetzt leer. Der alte Mann war im vorigen Winter von dem sogenannten Lichtmeßfieber befallen, das in wenigen Tagen seinem Leben ein Ende gemacht hatte.

Aber weder dieser Todesfall, noch Elses langes und hoffnungsloses Krankenlager hatten eine Änderung in den ererbten Sitten und Gebräuchen des Hauses hervorgerufen. Hansine, die jetzt die Leitung des Hauses ganz übernommen, hatte es sich auch in dieser Beziehung angelegen sein lassen, das eigentümlich altmodische Gepräge zu bewahren, das immer darüber gelegen. Hier auf dem heimatlichen Boden hatte sie ihre alte Selbstsicherheit wiedergewonnen und regierte in der Küche wie im Zimmer mit einer Bestimmtheit und einem rastlosen Tatendrang, der an die Mutter in deren besten Tagen erinnerte. Und da war genug zu tun! Der Hof war in der letzten Zeit infolge der Krankheit der Mutter und der Erblindung des Vaters arg vernachlässigt worden; und sie hatten sich sogar in Schulden stürzen müssen, weil die Pacht mit des Vaters Tode abgelaufen war und wieder erneut werden mußte, was große Unkosten im Gefolge gehabt hatte.

Ole Christian stand der Bestellung des Ackers vor. Er war jetzt ein erwachsener Bursche von vierundzwanzig Jahren, ein wenig klein, so wie Hansine aber gesund und kräftig. Er war während des Heranwachsens nicht unbeeinflußt geblieben, von der sonderbaren Verheiratung seiner Schwester, und wohl niemand war ihr Mißgeschick mehr zu Herzen gegangen. Er hatte sich zu einem schweigsamen, nach innen gewandten Menschen entwickelt, war ein wenig von einem Sonderling geworden, der sich beständig zu Hause aufhielt, und so weit wie möglich fremden Umgang mied.

Auch Hansine machte sich nichts aus dem Verkehr mit den Leuten im Dorf; und da auch die alte Else, trotz aller bitteren Erfahrungen, sich noch auf ihrem Krankenlager hartnäckig weigerte, sich mit den neuen Machthabern in der Gemeinde auszusöhnen, war es still und schweigsam in dem einst so lebhaften Hause geworden. Von allen »Heiligen« im Dorf wurde es fast wie ein unreiner Fleck betrachtet, und nie kamen sie dort vorüber, wenn sie zu zweien zu ihren Betstunden ins Versammlungshaus gingen oder dorther kamen, ohne laut über Hoffart zu reden und Sirachs Worte über den Hochmut als die Wurzel allen Übels anzuführen.

Auch an diesem Abend saß Hansine allein. Ole Christian war kürzlich in seine Stallkammer gegangen, um sich hinzulegen. Auf dem Tisch neben dem Licht lag noch das Buch, aus dem er ihr nach der Dämmerstunde vorgelesen hatte. Aus dem Alkoven, vor den der blaugestreifte Vorhang gezogen war, klang ein kurzes, stoßweises Stöhnen – der von Atemnot beschwerte Schlaf der alten Else. Sonst hörte man nur den Sturm, der gegen den Torweg polterte und sich schwer um den Giebel schwang.

Es konnte Hansine oft geschehen, wenn sie nach einem arbeitsamen Tag so allein da saß, daß ihre Gedanken auf Abwege schlichen, . . . nach der Vergangenheit zurücksuchten, die für sie tot sein sollte, die Kinder umkreisten und Emanuel, dessen Name niemals hier in diesen Stuben genannt wurde; jedenfalls nicht, wenn ihre Mutter es hören konnte. Alte Träume stiegen dann wieder lockend vor ihrem Innern auf und brachten Unruhe und Zweifel in ihr Gemüt. Namentlich in der letzten Zeit war sie Nacht für Nacht wachgehalten von dem Gedanken an die Nähe der Kinder. Nicht zum mindesten, seit sie Emanuels letzten Brief erhalten hatte, in dem er seine baldige Heimkehr ankündete, hatte sie ihre ganze Selbstbeherrschung nötig gehabt, damit die Mutter oder Ole die Unschlüssigkeit nicht merken sollten, in der sie sich befand.

Auch heute abend waren ihre Gedanken scheu und unruhig. Dies Rütteln an der Tür, dies Sausen über dem Dach erweckte in ihr die Erinnerung an einen anderen stürmischen Abend . . . an jenen Abend vor mehr als zwei Jahren, als der Bube zu Bett gebracht wurde, um nicht wieder aufzustehen. Auch damals saß sie allein mit sich und ihren geheimen Sorgen. Sie erinnerte sich dessen deutlich. Sie saß in der großen Stube und hatte die Tür nach dem Schlafzimmer offen gelassen, um besser nach dem Buben hören zu können, der oft im Schlaf schrie. Erst gegen elf Uhr kam Emanuel nach Hause. Heiter, groß und schön trat er zur Tür herein, in seinem langen Mantel, der vom Regen troff, den Stock und eine vom Wind ausgelöschte Laterne in der Hand. Wie deutlich sie sich seiner erinnerte! . . . Sie hatte seither oft daran gedacht, daß dieser Abend eigentlich der letzte in ihrem Zusammenleben war, an dem sie ein wenig Frieden und Glück miteinander empfunden hatten. Seit dem Tage begann die Auflösung. Mit dem Tode des Buben verlor Emanuel die freudige Hoffnung, die unbedingte Gewißheit, daß ihm Gottes Segen folge, die ihn bisher sicher durch alle Enttäuschungen hindurch getragen hatten. –

Sie hielt ihre Garnwinde an und erhob den Kopf mit einem lauschenden Ausdruck.

Was war das? . . . Sie hatte die Hofpforte öffnen hören . . . Oder war es nur der Sturm, der eine Luke losgerissen hatte? . . . Nein . . . jetzt ertönten da draußen vorsichtige Fußtritte in Stiefeln über das Pflaster her.

Sie erbleichte.

Emanuel! – durchzuckte es sie.

Sie erhob sich schwankend und stützte sich auf die Stuhllehne . . . Kam er wirklich hier herein? . . . Ja, jetzt stieg er die Treppe hinauf . . . Er klopfte an die Tür.

Nein, nein . . . sie wollte ihn nicht sehen! Er hatte kein Recht dazu – –!

Im selben Augenblick wurde die Klinke leise in die Höhe gehoben und Weber Hansens langer Oberkörper streckte sich hinter der halbgeöffneten Tür vor.

»Guten Abend, Hansine,« sagte er in flüsterndem Tone und ohne in die Stube zu treten. »Ich kam hier gerade vorbei und sah, daß da Licht war. Und da dacht' ich, ich wollt' doch mal hören, wie es bei Euch aussieht. Was macht denn Mutter? . . . Ist da eine Änderung eingetreten?«

Hansine antwortete scheinbar ruhig:

»Es is' beim alten. Sie liegt meist still hin und döst. Un das is auch woll das beste. – Du kannst gern 'rein kommen, wenn du willst!«

»Ja, is es nich' schon ein bißchen spät geworden?« sagte der Weber und sah sich unschlüssig um.

»Das mußt du ja selbst wissen,« antwortete Hansine; sie schnitt die Lichtschnuppe ab – ihre Hand zitterte noch – und setzte sich wieder an ihre Garnwinde.

Der Weber schloß endlich die Tür hinter sich, schneuzte die Nase beim Ofen und nahm Platz auf der Bank hinter dem oberen Tischende.

Im Alkoven wurde es im selben Augenblick still. Eine tastende Hand suchte die Vorhänge zu öffnen. Aber der Versuch mißlang. Und gleich darauf ertönte wieder das kurze, stoßweise Stöhnen in die Stille der Stube hinein.

»Ich kann dich von drüben aus Sandinge grüßen,« sagte darauf der Weber; er saß vornübergebeugt, die Arme auf den Knien und trocknete seine Finger in einem rotgewürfelten Schnupftuch ab. »Ich hab' heut 'nen kleinen Abstecher da 'rüber gemacht, um zu sehen, wie es da aussieht. Man hat ja so viel Sonderbares von daher gehört in letzter Zeit.«

Es entstand gleich ein Schweigen.

»Es is eigentlich kolossal, wie er . . . wie . . . ich meine Emanuel . . . ich sag' es is kolossal, wie der sich da drüben mausig macht. Nu hat er ja schon wieder ein Wunder getan an so'n alten Trunkenbold unten in' Dorf.«

»So –« sagte Hansine kurz.

»Ja, er hat dir übrigens woll davon geschrieben, denk' ich mir, du kriegst ja immerzu Briefe von ihm –, nich?«

»Er hat mir nichts davon geschrieben.«

»Ach ne, er denkt auch woll, das hat er nich' nötig, – so viel Wesens wie davon gemacht wird: denn es war geradezu sonderbar zu sehen, wie aufgeregt die Leute sind. Und das is ja auch nich' zu verwundern!«

Es entstand wieder eine lange Pause.

»Bist du am Ende da drüben gewesen, um Emanuel einen Besuch zu machen?« fragte endlich Hansine.

Der Weber betrachtete sie eine Weile, indem er das eine Auge schloß. Es sah so aus, als überlege er, wieviel er ihr anvertrauen könne.

»Ich hab ihn gar nich' gesehen,« sagte er dann. »Ne, ich hab' ihn nich' gesehen. Aber – r . . . deine beiden kleinen Dirns hab' ich gesehen.«

Hansine zuckte zusammen.

»Die eine – Sigrid heißt sie ja woll – die saß auf einem Stein unten am Wasser; und oben beim Garten stand die kleine Dagny und weinte, das kleine Wurm. – – Nich', daß es mir nich' Pläsier gemacht hätt', Emanuel mal wieder Gutentag zu sagen. Denn das müssen wir doch woll schließlich eingestehen, Hansine, daß wir Skibberuper uns nich so gegen ihn benommen haben, wie wir woll müßten. Ich hab' da viel über nachgedacht, – die Zeit hat am Ende doch gezeigt, daß er in vielem recht gehabt hat. Aber das hab' ich nu übrigens mehr als einmal gemerkt, daß Emanuel geradezu eine ganz wunderbare prophetische Gabe gehabt hat, in die Zukunft zu sehen. Meinst du das nich' auch?«

Hansine verhielt sich noch immer schweigend.

Er fuhr fort zu erzählen. Es war seine Absicht, den ersten vorsichtigen Versuch zu machen, sie für einen Plan zu gewinnen, mit dem er sich schon eine Zeitlang getragen und den er – trotz der vielen traurigen Erfahrungen der Vergangenheit – nach seinem Grundsatz: Böses muß mit Bösem vertrieben werden, ausgearbeitet hatte. Er dachte an nichts Geringeres, als wieder eine Stimmung für Emanuel in der Gemeinde wachzurufen. Er wollte versuchen, ihn als ein Gotteshandpflaster zu benutzen, das die geistige Ungesundheit in die Selbstvernichtung des Wahnsinns hineintreiben sollte. Aber da Hansine noch immer nichts sagte, hielt er es für ratsam, vorläufig nicht zu sehr in sie einzudringen, und deswegen erhob er sich und sagte Gutenacht.

Hansine blieb bei ihrer Garnwinde sitzen und saß da noch lange, nachdem der Weber sie verlassen hatte. Aber der Faden war ihr aus den Händen geglitten . . . sie saß vornübergebeugt, die Hand unter dem Kinn und starrte in die Stube hinein. Der rötliche Schein des krummglühenden Dochts des Talgstummels beleuchtete die eine Seite ihres eigentümlich hartgezeichneten Gesichts, dessen Ausdruck die dunklen Schatten um den Mund und über den tiefliegenden Augen noch strenger und ernster machten.

Die Worte des Webers von den Kindern hatten wieder all die schweren Selbstanklagen des Mutterherzens in ihr wachgerufen; und doch war sie vollständig gefaßt. Mit ruhiger Überlegung ging sie wieder die lange Reihe von Fragen durch, die sie den ganzen Sommer, namentlich aber nach Empfang von Emanuels letztem Brief Tag und Nacht erfüllt hatten. Sie fragte sich selbst, ob nicht die Kinder, wenn sie zu ihr zurückkehrten – und namentlich Sigrid – schnell die Einsamkeit des Bauernlebens satt haben und sich nach dem bewegten Leben zurücksehnen würden, in dem sie nun heimisch geworden waren? Ja – sicher! Das Unglück war nun einmal geschehen, und es würde eine doppelte Sünde gegen die Kinder sein, wenn man sie jetzt wieder aus dem Erdboden herausreißen wollte, in dem sie angefangen hatten, Wurzeln zu schlagen. Die Versündigung, die sie damals in einer Art Geistesverwirrung gegen sie und gegen sich selbst begangen, indem sie sie aus ihrer Hand gab, ließ sich nicht wieder gutmachen. Alles, was jetzt für sie zu tun in ihrer Macht stand, war, sich selbst zu schützen, in äußerer wie in innerer Beziehung, ihr eigenes Leben zu befestigen, so daß sie stets bei ihr einen Nothafen finden würden, falls sie einmal in der Welt Schiffbruch erleiden und ihrer Hilfe bedürfen sollten. Wer konnte das wissen? Der Zeitpunkt war vielleicht näher, als es irgend jemand in diesem Augenblick dachte.

Und Emanuel? Nie hatten sie einander wohl weniger verstanden, nie waren sie einander ferner gewesen, als gerade jetzt. Sie hatte es seinen Briefen anmerken können, daß er glaubte, sie als ganz dieselbe wiederzufinden, die er verlassen hatte. Er wußte ja nichts von alledem, was sie da draußen an dem offenen Meer, zwischen dem starken, freien Volk des Skallingerlandes durchlebt hatte. Er ahnte nichts von diesem langen Jahr, in dem sie sich in ihrer Verlassenheit wiedergefunden hatte . . . nichts von dem tiefen Schamgefühl, mit dem sie jetzt ihr ganzes vergangenes Leben betrachtete, und nicht zum wenigsten gerade die Augenblicke, denen Emanuel vielleicht seine besten Erinnerungen bewahrte.

Ja, es stand jetzt unerschütterlich fest. Sie mußten sich freuen. Sie wollte ihn nicht wieder sehen. Sie wollte sich nicht in neue Abenteuer hineinlocken lassen. Der teuer erkaufte Friede, den sie errungen hatte, sollte nicht wieder leichtsinnig aufs Spiel gesetzt werden. Die eitlen Träume der Jugend hatte sie eingesargt. Sie hatte gelernt, daß das Glück hier im Leben darin besteht, daß man im eigenen Erdboden wurzelt und im Lichte des heimischen Himmels wächst – wie niedrig, begrenzt und sonnenverlassen er auch war. Nie, – auch nicht in der Einsamkeit da draußen am Meer, von Mann und Kindern getrennt, – hatte sie eine so erdrückende Heimatlosigkeit gefühlt, wie die, die ihr Gemüt im Vejlbyer Pfarrhaus verwirrt hatte!

Auch für Emanuel war es am besten, daß alles zwischen ihnen nun unwiderruflich vorbei war. Wenn sie ihm das schrieb, so offen, so bestimmt, daß kein Mißverständnis mehr möglich war, würde am Ende auch er endlich zur Vernunft gebracht werden, zur Klarheit über sich selbst gelangen und sich mit Fräulein Tönnesen verheiraten. Sie wünschte aufrichtigen Herzens, daß dies geschehen möge. Dann bekamen die Kinder wieder ein eigenes Heim, das sie jetzt entbehrten. Und was sie selbst anbetraf . . . nun ja, dann würde sie wohl auch allmählich ganz zur Ruhe kommen, ihr kleines Glück finden, indem sie an sie alle drei dachte, ihre Geborgenheit, indem sie sie jeden Tag der Obhut des lieben Gottes anvertraute.



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