Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Vierter Teil

Als Kaufmann Willing am Sonntag nach der Zusammenkunft im Skibberuper Versammlungshaus des Morgens seinen Laden öffnete, stand da unten an der steinernen Treppe die gewöhnliche kleine Schar zerlumpter und verkommener Gestalten, Männer und Frauen, die mit leeren, unter den Schürzen und Röcken verborgenen Flaschen voller Ungeduld darauf warteten, daß die Tür sich auftun würde. Mit einem stummen und scheuen Morgengruß schlüpften sie einer nach dem anderen hinter dem Rücken des Kaufmannes hinein und legten mit zitternden Händen ihre grünspanigen Kupfermünzen auf den Ladentisch, während der Lehrling die Flaschen am Branntweinanker in der Ecke füllte; worauf sie ebenso still hinausschlüpften und von dannen eilten – ein jeder seinen Weg über die Felder einschlagend.

Währenddes war Willing auf der steinernen Türschwelle stehen geblieben, in gestickten Morgenschuhen, eine graue Leinwandmütze auf seinen großen, fetten Kopf gedrückt. Seine Daumen hingen in den Ärmellöchern der Weste; die übrigen Finger trommelten auf seiner Brust, während sein spähender Blick seine gewohnte Morgenwanderung ringsumher durch das Dorf machte, in den Höfen herumforschte und in alle Ecken und Winkel schlich, wie ein Fuchs, der auf Beute ausgeht. Er konnte von seiner Tür aus fast das ganze Dorf übersehen, konnte riechen, was auf allen Herden gekocht und gebraten wurde und sofort feststellen, ob die Kaffeebohnen und die Gewürze in seinem Laden gekauft waren. Vejlby bestand nämlich nur aus sieben, acht Gehöften und einigen kleinen Häusern. Die Höfe waren alle neu und nach derselben Zeichnung erbaut, aus denselben nüchternen, gelben Steinen, mit einer langen, langweiligen Fensterreihe nach dem Dorfteich hinaus, mit einem hohen Zementsockel und einem Schieferdach. Vor oder neben jedem Hause lag ein Streif Gartenland mit frischgepflanzten Bäumen, die langen Besen glichen und weder Schutz noch Schatten gaben. Eine Feuersbrunst hatte vor einigen Jahren in einer einzigen Nacht das ganze Dorf in Asche gelegt und nur die Kirche, das Pfarrhaus und ein paar kleine Hütten verschont, die ein wenig höher, als das übrige Dorf gelegen waren.

Obwohl die Uhr nicht mehr als sieben war, brannte die Sonne ganz heiß. Nicht eine Wolke stand am Himmel, und bei dem leisesten Windhauch stieg ein Nebel von Staub über dem Dorf und den angrenzenden Feldern auf. Das Gras an den Gärtengräben und an der hohen Dornhecke des Pfarrgartens, die nach dem Wege zu lag, war so mit Staub bedeckt, daß es aussah, als sei es gekalkt; und in dem kleinen, steingefaßten Dorfteich war die Wasserfläche mit einer öligen Haut überzogen, die in den Strahlen der Sonne in allen Regenbogenfarben schillerte. In einem der Torwege stand ein Mann und putzte Pferdegeschirr; am Giebel eines anderen Bauerhauses war ein Knecht damit beschäftigt, seine Sonntagskleider zu klopfen und zu bürsten. Rings umher spürte man die festliche Geschäftigkeit des Sonntagmorgens.

Kaufmann Willing sandte tiefbekümmerte Blicke zum Pfarrhause hinauf, dessen rote Ziegeldächer majestätisch zwischen den hohen Baumkronen des Parkes aufleuchteten. Wüßte er nur, was heute geschehen würde! Er hätte gern hundert Kronen an die Armen gezahlt, hätte er nur eine halbe Sekunde in das »dunkle Chaos der Zukunft« schauen dürfen, so wie er sich in Gedanken ausdrückte, weil er überhaupt eine Schwäche für hochtönende Redensarten hatte. Daß es jetzt wirklich Propst Tönnesens Absicht war, seine ganze Macht aufzubieten, um den Geist der Empörung in der Gemeinde zu unterdrücken, darüber konnte kein Zweifel mehr herrschen, nachdem er neulich durch Anschlag am Torweg des Schmieds bekannt gemacht hatte, daß er in Zukunft selbst in beiden Kirchen zu predigen gedenke, an diesem Sonntag zuerst in Skibberup. Würde es ihm aber gelingen? Hatte die Verblendung nicht schon eine solche Übermacht gewonnen, daß jeder Widerstand vergeblich war?

Vor sieben Jahren hatte sich Kaufmann Villing hier im Dorfe niedergelassen und seine »Kolonial-, Spezerei-, Delikatessen- und Diversehandlung en gros und en détail« eröffnet, mit dem festen Vorsatz, sich – im Interesse seines Geschäftes – niemals in die Streitigkeiten der Bevölkerung zu mischen. Mit einer Bescheidenheit, durch die man sich in beiden Lagern hatte zufrieden stellen lassen, erklärte er damals einem jeden, der den Versuch machte, ihn für seine Partei zu gewinnen, daß er »nur ein einfacher Kaufmann« sei, der sehr wohl einsähe, daß er hier im Kirchspiel einzig und allein die untergeordnete Aufgabe habe, der Bevölkerung so reelle und preiswerte Ware wie möglich zu verschaffen und durch prompte Expedition und leichte Abwicklungsbedingungen die Kunden zu befriedigen, die ihn mit ihrem Vertrauen beehren wollten. Aber nachdem Weber Hansen dessen ungeachtet vor ein paar Jahren einen sogenannten »Konsumverein« in Skibberup eingerichtet und ihm dadurch mehr als die Hälfte seines Kundenkreises entzogen, hatte er plötzlich eingesehen, zu welcher Verderbnis die große Volksaufklärung der modernen Zeit führte, und daß es für alle rechtdenkenden Bürger jetzt gelte, sich unverbrüchlich zusammenzuschließen, um das Land gegen die Anmaßungen des unwissenden Volkes zu schützen. In seinen mißmutigen Augenblicken sah er im Geiste, wie der verbrecherische Eigenwille der Skibberuper sich über die Gegend, ja über das ganze Land ausbreiten würde; daß Konsumvereine und Genossenschaftsunternehmungen wie giftige Pilze in jedem Dorf aufschießen würden, während alte, auf fachliche Ausbildung und Sachkenntnis begründete Geschäfte unbarmherzig zugrunde gerichtet würden. Wie sah es nicht bereits im öffentlichen Leben aus? Drängten sich dort die Bauern nicht überall vor und erzwangen sich die Herrschaft? Drüben in Kyndby hatten sie neulich zwei Gutsbesitzer, ja sogar einen Jägermeister aus dem Ortsvorstand herausgeschmissen und an ihrer Stelle drei Männer gewählt, die kaum ihre Namen schreiben konnten. Und im Reichstag? Gott seis geklagt! Bauern, Bauern und nichts als Bauern!

Wenn die Unterhaltung in Billings Garten jetzt auf die Skibberuper und ihr Treiben kam, und namentlich, wenn sich unter den Anwesenden ein paar von den kleinen Hufnern draußen am Gemeindeanger befanden, von denen es hieß, daß sich bei ihnen beginnende Neigungen zu Weber Hansens Versammlungssaal regten, dann trat er sofort als deklamierender Agitator auf.

»Ich bin wahrlich kein Feind der Freiheit!« rief er aus, während sein bleiches Gesicht sich rosenrot färbte in selbstgefälligem Eifer. »Ich finde nur, man soll überall die Sachkenntnis respektieren. Nicht wahr –, die Sachkenntnis, meine Herren, der sollen und müssen wir uns in allen Verhältnissen unterordnen. Das muß doch jeder verständige Mann einräumen. Wenn man sich ein Brille kaufen will, geht man doch nicht zu einem Schneider, und wenn man sich einen Zahn ziehen lassen will, sucht man sich einen Arzt auf und geht nicht zu einem Advokaten oder einem Schornsteinfeger; habe ich nicht recht mit diesen meinen Argumentationen?« schleuderte er heraus und tat gleichzeitig einen tiefen Griff in seinen einen Backenbart, den er darauf hastig um einen Finger wickelte, während sein Blick schwer über die Zuhörer hinglitt. Dann fuhr er fort: »Wenn heutzutage jeder Arbeiter glaubt, daß er sich darauf versteht, ein Kaufmannsgeschäft zu betreiben, oder wenn der erste beste Handwerker meint, daß er imstande ist, Seelsorger für seinen Nächsten zu sein –, so ist das doch ebenso unsinnig, als wenn sich ein Großhändler plötzlich als Weber niederlassen, oder als wenn ein Pfarrer Steine am Wege schlagen wollte – und hat man wohl je dergleichen gesehen?« Abermals eine Kunstpause und ein triumphierender Blick, unter dessen Gewicht die überzeugten Hufner beschämt die Augen zu Boden senkten. »Und was wird die Folge sein? Was für Waren sind es zum Beispiel, die diese sogenannten Konsumvereine ihren Kunden bieten? Lauter Ausschuß natürlich . . . halbverdorbene Sachen, die kein Grossist die Frechheit haben würde, einem ausgelernten Kaufmann anzubieten. Wollen die Herren gefälligst einen Blick auf diesen Reis tun, von dem ich kürzlich eine größere Partie erhalten habe? Ich möchte wohl das Konsumgeschäft sehen, das imstande ist, eine solche Ware zu liefern! Nicht wahr? Betrachten Sie nur genau jedes einzelne Korn. Eine einzig dastehende Qualität. Lauter Fett, lauter Nährwert! . . . Wünschen vielleicht einige von den Herren ein paar Pfund zur Probe?«

So hatte Kaufmann Willing in den letzten Jahren zu Propst Tönnesens geschworenen Anhängern gehört. Er hatte eingesehen, daß mit der Macht und Autorität dieses Mannes im Kirchspiel seine Existenz hier bestand oder fiel. Die Nachricht von der Verlobung des Kaplans hatte ihn deswegen wie ein Faustschlag vor die Brust getroffen; er hatte buchstäblich nach Luft schnappen müssen. Es war ihm augenblicklich klar, daß die Skibberuper hiermit Trumpf-Aß in die Hand bekommen hatten. Freilich hieß es, der Propst habe eine Klage über den Kaplan beim Bischof eingereicht und bei ihm Herrn Hansteds sofortige Versetzung beantragt; aber man konnte sich selbst sagen, daß die Skibberuper diese Herausforderung nicht unbeantwortet lassen würden. Einige behaupteten denn auch, Weber Hansen habe mit seinem gewöhnlichen schadenfrohen Lächeln geäußert, jetzt wäre nicht eher Friede in der Gemeinde, ehe der Propst aus dem Vejlbyer Pfarrhof hinausgejagt sei, – und was der Weber lächelnd gelobte, pflegte er auch zu halten.

Mit einem mißmutigen Kopfschütteln ging Villing in seinen Laden, wo er seiner Gewohnheit gemäß seine schlechte Laune über den Lehrling ausließ, einem mageren, kellerbleichen Großstadtkinde, das »durch Gottes Fügung« – wie er sich mit seinem Hang zu hochtrabenden Redensarten ausdrückte, und mit welchen Worten er sich auf eine Annonce in der Adressenzeitung bezog – kürzlich seiner Obhut anvertraut worden war.

»Schnaub' dich aus, Bengel!« rief er dem kleinen Burschen zu, der sich gleichsam vor Angst in die finsterste Ecke des Ladens verkrochen hatte, wo er mit einer Kumme Kaffee in der einen und einem Schmalzbrot in der anderen Hand saß. »Dir läuft ja das reine Zweigroschenlicht aus 'n Schnabel raus! . . . Und immer und ewig sitzt du da und mästest dich, so daß es geradezu unappetitlich anzusehen ist. Ja, wie ich dir schon so oft gesagt habe – fressen, das kannst du, als wenn es sich um die große Freß-Medaille handelte – aber ein Pfund Zucker abwiegen, so wie es abgewogen werden muß, das lernst du nie im Leben!«

Er wurde in seinem Wortschwall durch den Eintritt eines Kunden unterbrochen.

Nach einer Weile erschien noch einer, und im Laufe der folgenden Stunden bis zur Kirchzeit herrschte ein so lebhafter Verkehr von Leuten aus dem Dorf, daß der Laden fast ununterbrochen gedrängt voll war. Die meisten kamen freilich mehr, um die Zeit eine Weile mit Plaudern totzuschlagen, als um zu handeln. Der Laden des Kaufmannes war der gewöhnliche Sammelplatz der Männer, wohin man sich mindestens einmal am Tage begab, um Neuigkeiten aus der Gemeinde zu hören, die Post abzuholen und sich nach den Tagespreisen zu erkundigen.

Die Stimmung unter den Besuchern war heute morgen ungewöhnlich gedrückt. Doch waren es weniger die neuen Friedensstörungen der Skibberuper, als die anhaltende und namentlich für alle hochgelegenen Äcker verhängnisvolle Dürre, die in diesen Tagen die bittere Mutlosigkeit der Vejlbyer Bauern bewirkte. Seit mehreren Wochen war kein Tropfen Regen gefallen. Ringsumher auf den Gipfeln der Hügel waren die Saatkeime schon ganz gelb, und das Gras welkte völlig hin. Unten in den tiefen Talniederungen der Skibberuper und auf ihren kleinen Wiesenstrecken nach dem Strand zu stand dahingegen alles noch grün und kräftig. Es war fast, als habe der liebe Gott gerade das Wetter nach dem Bedarf der aufrührerischen Skibberuper abgepaßt.

Wenn der Regenmangel noch viele Tage anhielt, konnte man einen förmlichen Mißwachs in diesem Teile des Kirchspieles befürchten, und nicht alle Bauern in Vejlby saßen so sicher auf ihren Höfen, wie ihre neuen Wohnhäuser und hohen Scheunen vermuten ließen. Jene furchtbare Brandnacht hatte allerlei Wohlstand erschüttert, wie sie auch nicht ganz ohne Schuld war an der Gedrücktheit der Gemüter und der leicht hervorgerufenen Mutlosigkeit, die sie bisher zu so willenlosen Gerätschaften in den Händen des Propstes gemacht hatte. Es war, als brüteten sie noch immer über den Erinnerungen an das rote Flammenmeer, das im Laufe von ein paar Stunden ihr Dorf und all ihr bewegliches Hab und Gut in eine rauchende Brandstätte verwandelt hatte, von der nur die nackten Schornsteinmauern der Häuser und die verkohlten Baumstämme der Gärten gespensterhaft aufragten. Es war, als sähen sie noch immer die Haufen von toten und verbrannten Leibern der Pferde, Kühe und Schweine vor sich, die Berge von zerbrochenem Mobiliar und rußgeschwärzten Balken, diesen ganzen Schutthaufen von Leichen, Gerümpel und Asche, auf den die Sonne des kommenden Morgens ihre Strahlen warf.

Hinter seinem Ladentisch bewegte sich Kaufmann Villing mit gespitzten Ohren, um die verschiedenen, halblauten Unterhaltungen zu verfolgen, die von den Bauern ringsumher in dem Lokal geführt wurden, und die Knie wurden ihm jedesmal ganz weich, wenn er Weber Hansens Namen nennen zu hören glaubte. Trotzdem versäumten weder er noch seine Frau, die inzwischen in frischgebügeltem rosa Kattunkleid im Laden erschienen war, ihre Obliegenheiten als Geschäftsleute; galt es doch, Vorteil aus der Anwesenheit so vieler Menschen zu ziehen. Durch das dumpfe Gedröhne der schweren Stiefel, Holzschuhe und Menschenstimmen hörte man beständig entweder Billings Kommandorufe zu dem verwirrten Lehrling hinüber: »Ludwig! Einen Mittel-Priem für Hans Ohlsen – von bester Sorte, feinste Qualität! Und ein Pfund Kandis! Aber volles Maß, hörst du! Keine Knauserei bei Hans Ohlsen, das bitt' ich mir aus!« – Oder die sanfte, überredende Stimme der Frau: »Wollen Sie sich nicht gleich ein Stück Baumwollstoff ansehen, Maren Hansen? Ich kann Ihnen garantieren, daß Sie solche Ware nirgends unter dem doppelten Preise finden! Aber es ist nun mal unser Geschäftsprinzip, wenn wir selbst einen guten Einkauf gemacht haben, daß unsere Kunden auch davon profitieren sollen.«

Da rief plötzlich ein Mann von der Tür her:

»Jetzt kommt der Propst!«

Alle wandten sich den Fenstern zu, und einen Augenblick später fuhr Tönnesen in heruntergeschlagener Kutsche vorbei – auf dem Wege zum Frühgottesdienst in Skibberup. Er saß allein auf dem breiten Sitz, leicht zurückgelehnt, die Hand selbstbewußt auf dem Rücken der Wagentür. Willing, der auf eine halb herausgezogene Schublade gestiegen war, um sehen zu können, stieß unwillkürlich einen kleinen Ruf aus. Der Anblick der Hünengestalt des Propstes, so wie er da in der feierlichen Amtstracht an ihm vorüberrollte, bestrahlt von der Sonne des Himmels, rief bei ihm einen so überwältigenden Eindruck von unbezwinglicher Kraft und gottbegnadeter Majestät hervor, daß er fühlte, wie ihm das Herz schwoll, und von neuem begann die Hoffnung auf den Sieg der Fachbildung und Sachkenntnis sich in ihm zu regen.

* * *

Draußen vor der einsam gelegenen Kirche von Skibberup hatten sich inzwischen mehrere hundert Menschen angesammelt. Nie hatten die melancholischen Baßtöne der alten Kirchenglocken über eine so zahlreiche Versammlung dahingeschallt, jedenfalls nicht über eine weniger feierlich gestimmte. Auf dem öden Kirchhof regte sich ein Leben, wie auf einem Marktplatze. Ringsumher standen und saßen Gruppen von Männern und Frauen, die alle vor Eifer und Spannung gleichlaute Stimmen und rote Köpfe hatten. Man hatte sich ringsumher auf den Grabsteinen gelagert; man rief einander über die Gräber hinweg zu, überall war da ein Zusammenströmen, ein Durcheinanderschwatzen, daß man die Kirchenglocken kaum hören konnte.

In dieser kriegerischen Unruhe bewegte sich Weber Hansen still und lächelnd umher, wie eine Katze in einer Milchstube. Er fühlte sich wieder als Beherrscher der Situation. Im täglichen Leben konnten die Skibberuper ja freilich über ihn murren und sein sonderbares, zuweilen ganz unverständliches Wesen und Vorgehen bekritteln, aber in unruhigen Zeiten scharte man sich mit unerschütterlichem Vertrauen um ihn – und heute bereitete man sich wirklich auf eine Hauptschlacht vor.

Im ersten Augenblick, nachdem Propst Tönnesens Anschlag an dem Tor der Schmiede erklärt hatte, daß er jetzt den Kampf in voller Rüstung aufzunehmen gedenke, hatte in Skibberup einige Uneinigkeit geherrscht bezüglich der Art und Weise, wie man ihm am besten begegnen solle. Einige von den älteren Bauern hatten angefangen, ängstlich zu werden, und selbst der große Zimmermann Nielsen hatte sich auf einer Versammlung eines »Gemeinderats«, den man in aller Eile gebildet hatte, für »ein besonnenes, wenn auch bestimmtes« Auftreten erklärt.

Unter den jüngeren Leuten hingegen war die Stimmung überwiegend dafür gewesen, daß man sich, so wie in früheren Zeiten, der Kirche ganz fern halten und den Propst seine Wut vor leeren Bänken austoben lassen solle; man könne sich obendrein noch nach dem Gottesdienst am Wege versammeln und vielleicht, wenn der Propst vorbeifuhr, ihn mit einem Pfeifkonzert empfangen. Aber auf Weber Hansens Vorschlag hatte man diesen Kriegsplan geändert und nun beschlossen, daß man im Gegenteil vollzählig zum Gottesdienst erscheinen wolle, um so viele Zeugen wie möglich gegen den Propst zu haben, falls er – was ja zu erwarten war – sich in seiner Predigt vergaloppieren sollte. Es war die Absicht, ihn mit der vollsten Ruhe anzuhören. Aber überschritt er in seiner Rede eine gewohnte Schicklichkeitsgrenze, so sollte sich die ganze Gemeinde auf ein von Weber Hansen gegebenes Zeichen erheben und die Kirche verlassen, um später eine von allen Anwesenden unterzeichnete Klage an das Stift einzusenden.

Als der Wagen des Propstes draußen zwischen den nördlichen Hügeln sichtbar wurde, fingen die Frauen an, sich in die Kirche zu begeben, wohingegen die Männer sich zu beiden Seiten des Einganges versammelten, um hier den Propst in Scharen und ohne zu grüßen, zu empfangen. Das geschah ebenfalls auf Vorschlag des Webers. Wie er gesagt hatte: »Es steht nirgends geschrieben, daß die Leute den Hut vor ihrem Propst abnehmen sollen.«

Dies kleine einleitende Scharmützel mißlang jedoch zum Teil, indem einigen im entscheidenden Moment der Mut gänzlich abhanden kam, während die rechte Hand anderer gleichsam unter dem Einfluß eines unbezwinglichen Instinkts halbwegs an die Mütze hinauffuhr, als der Propst vorüberging.

Ein paar Minuten später, noch bevor alle Menschen in die Kirchentür hineingekommen waren, begann der Gesang unter der Leitung des Hilfslehrers Johansen.

Der Gesang klang nicht übel, obgleich die ganze Gemeinde, Männer wie Frauen, sofort mit herausfordernder Kraft einstimmten. Was man auch immer der alten düsteren Mönchskirche übles nachsagen konnte – und ihre feuchte Kellerluft und ihre grauschimmligen Gewölbe waren oft die Zielscheibe des Spottes in Weber Hansens Versammlungssaal gewesen – sie besaß auf alle Falle eine wohltuende Macht, die rohe Kraft der Stimmen zu brechen und zu mildern. Die hohen Deckenbogen sammelten das verwirrte Tongewimmel zu friedlichen Harmonien und warfen es als Melodie zurück. Ja, sogar das unaufhörliche Husten und Räuspern der Gemeinde und das kräftige Nasenputzen des Propstes vor dem Altar wurde von den Wölbungen mit einer Feierlichkeit wiedergegeben, mit einem überirdischen Klange zurückgeworfen, der unwillkürlich zur Andacht stimmte. Nachdem zwei Gesänge gesungen waren, zog sich Hilfslehrer Johansen in seinen geschlossenen Stuhl zurück. Mit widerhallenden Schritten ging Tönnesen durch die Kirche und stieg die Treppe der Kanzel hinauf, deren Stufen unter dem Gewicht seines schweren Körpers krachten.

In diesem Augenblick vernahm man das Geräusch eines Wagens, der draußen auf dem Wege haltmachte; und gerade, als der Propst das Einleitungsgebet begann, ward die Kirchentür von einem älteren, schwarzgekleideten Manne geöffnet, der einen weißen, leinenen Rock nachlässig über dem einen Arm hängen hatte.

Der Anblick dieser Erscheinung erregte in der ganzen Kirche eine Bewegung, die nicht viel größer hätte sein können, wenn sich der liebe Gott selbst hier plötzlich der Gemeinde offenbart hätte. Sogar Weber Hansen, der sich an dem mittelsten Pfeiler aufgestellt hatte, damit alle in der Kirche ihn sehen konnten, schien einen Augenblick die Fassung zu verlieren; sein sonst so beherrschtes und katzenkluges, kleines Gesicht bekam plötzlich einen ganz schafsdummen Ausdruck vor Erstaunen.

In der untersten Stuhlreihe auf der Männerseite, wohin sich der Fremde begab, erhob man sich sofort, um die Bank zu räumen. Aber mit einer Handbewegung bat er sie, sich nicht stören zu lassen und nahm ruhig Platz neben einem dicken Bauersmann in der einen Ecke des schon im voraus dicht besetzten Stuhles.

Der einzige in der ganzen Kirche, der weder den fremden Mann, noch das Aufsehen, das seine Ankunft hervorrief, bemerkt hatte, war Propst Tönnesen. Als er das einleitende Gebet beendet hatte, griff er nach dem Altarbuch und begann mit erhobener Stimme den Text des Sonntags zu verlesen. Dahingegen hatte Hilfslehrer Johansen sofort die sonderbare Unruhe in der Versammlung entdeckt, und als er den Kopf aus seinem geschlossenen Stuhl hinaussteckte und den Fremden erblickte, standen ihm alle seine gebrannten Locken zu Berge, wie eine Handvoll Spahne. Mit einem entsetzten Blick sah er zu dem Propst empor, als wolle er ihm ein Zeichen geben. Tönnesen aber fuhr unbeirrt mit seiner Vorlesung fort, und als er damit fertig war, putzte er die Nase, so daß es aus allen Ecken der Kirche widerhallte, stemmte dann beide Hände auf die Kanzel und begann zu reden.

* * *

Zur selben Zeit ging Emanuel, eine muntere Melodie vor sich hinsummend, den Fußsteig entlang, der von dem Vejlbyer Gemeindeanger nach Skibberup hinabführte. Er hatte seinen bisher so unentbehrlichen seidenen Regenschirm mit einem ländlichen Eichenstock vertauscht, statt seiner früheren Kopfbedeckung aus dunkelbraunem Plüsch trug er einen einfachen Strohhut mit breitem Rande. Die rastlose Bewegung in freier Luft in der sengenden Frühlingssonne hatte während dieser acht Tage sein Gesicht rot versengt und es auf dem Nasenrücken und unter den Augen mit kleinen, gelblichbraunen Sommersprossen bedeckt, während sein blonder Christusbart gebleicht war, so daß er sich fast weiß von der stark gefärbten Haut abhob.

Von der Beschaffenheit der Gärung und Unruhe, die er im Laufe der letzten Woche in der Gemeinde hervorgerufen, hatte er bisher nur eine unklare Vorstellung. Da er im Augenblick selber der Gegenstand des Kampfes war, hatten die Skibberuper – alles auf Vorschlag von Weber Hansen – ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht; und da seine Schwiegereltern aus demselben Grunde jede Einmischung in den Streit vermieden hatten, wußte er nur, daß man die Absicht habe, auf irgendeine Weise Einspruch zu erheben gegen seine Ausschließung von jeder kirchlichen Wirksamkeit. Es war ursprünglich seine Absicht gewesen, selbst den dünnen Faden abzuschneiden, der ihn noch an das Pfarrhaus band, indem er sofort auszog und sich bei einer Skibberuper Familie einmietete, die ihm ein paar Zimmer angeboten hatte. Als er aber hörte, daß der Propst wirklich eine Klage gegen ihn bei dem Bischof eingereicht hatte, entschloß er sich, zu bleiben, damit es nicht so aussehen solle, als fürchte er, gegebenen Orts die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen.

Im übrigen verbrachte er fast den ganzen Tag bei seinen Schwiegereltern, wodurch er jedes Zusammentreffen mit Tönnesen und Fräulein Ragnhild vermied, und außerdem war er noch so erfüllt von seinem jungen Liebesglück und von dieser ganzen neuen Welt, die ihm Anders Jörgens Haus und Stall und Feld und Vieh erschlossen hatten, daß er nur halb auffaßte, was sich sonst um ihn her zutrug.

Endlich mußte er sich auch mit seinen eigenen Zukunftsplänen beschäftigen, und darüber vergaß er oft ganz den Kampf des Augenblickes. Er war fest entschlossen, sich zu verheiraten, sobald die Verhältnisse es nur einigermaßen gestatteten. Für sein mütterliches Erbe, das sich auf einige tausend Kronen belief, wollte er sich eine kleine Bauerstelle irgendwo im Kirchspiel kaufen und sich in Zukunft ausschließlich als Landmann ernähren. Für die Tätigkeit, die er möglicherweise als Pfarrer und Lehrer in der Gemeinde ausüben würde, wollte er keine Bezahlung annehmen. Er wollte als freier und unabhängiger Mann auf seinem Hof leben und in allem sein Leben und sein Los mit seinen Freunden teilen. Er hoffte im Laufe eines halben Jahres seine Kenntnisse in der Landwirtschaft so weit zu fördern, daß er – mit Hansine an seiner Seite und außerdem mit dem Beistand guter Freunde – die Bewirtschaftung eines kleinen Gehöftes von zehn Tonnen Land mit einem Pferd, ein paar Kühen und ein paar Schafen ohne großes Risiko übernehmen konnte; weiter würden seine Mittel nämlich nicht reichen. Er hatte schon angefangen bei seinem Schwiegervater in die Lehre zu gehen, und hatte – so wollte es ihm selbst scheinen – in den wenigen Tagen bereits gute Fortschritte gemacht. Er hatte sich mit der Behandlung des Erdbodens vertraut gemacht, konnte beinahe ein paar Pferde fahren, sie vor den Wagen und den Pflug spannen und das Vieh füttern.

Draußen in Skibberup-Egede lag ein kleines Gehöft, das zurzeit zu verkaufen war, daran hatte er schon gedacht. Es war eine kleine Hufe, die in idyllischen Umgebungen in einer grünen Talmulde unmittelbar am Fjord lag. Die Gebäude waren etwas klein und baufällig; dafür war aber das Haus von einem ungewöhnlich schönen und großen Garten umgeben, und zu beiden Seiten der Haustür wuchsen Geißblatt und Steckrosen an den Mauern. Eines Abends hatte er mit Hansine von dem Gehöft gesprochen, die vorläufig die einzige war, der er seine Absichten anvertraute, und da es auch ihr gefiel, und sie überhaupt mit seinen Plänen einverstanden war, stand es für ihn so gut wie fest, daß dort ihr künftiges Heim sein sollte.

Er wußte schon genau, wie die Wohnung eingerichtet und ausgestattet werden, wie ihr Haushalt geführt und die Arbeit des Tages verteilt werden sollte. Vor allen Dingen sollte aller Luxus, alle Üppigkeit und jeglicher Müßiggang aus ihrem Hause verbannt sein. Das Mobiliar sollte aus einfachen, rotgemalten Föhrenholzmöbeln bestehen, und ihre Lebensweise derartig sein, daß auch der Ärmste sich nicht zu gering fühlen konnte, an ihrem Tische Platz zu nehmen. Am Morgen wollten sie mit der Sonne und der Lerche aufstehen, und am Abend, wenn die Arbeit des Tages beendet war, wollten sie Freunde in ihrer Stube versammeln, um sich gemeinsam mit ihnen durch Gesang, Unterhaltung, Vorlesen und Gebet zu erbauen. Er sah sich im Geiste schon selbst im Bauerkittel die Äcker auf und nieder gehen und pflügen, sah sich an stillen Sommerabenden auf den Fjord hinausrudern, um die Netze auszuwerfen und Reusen aufzustellen, während Hansine daheim in der Hütte beschäftigt war und hin und wieder in die Haustür hinaustrat, um nach ihm auszusehen. Leibhaftig sah er ihre kleine, aufrechte Gestalt unter dem Dachfirst stehen, die eine Hand in die Seite gestemmt, die andere an die Stirn erhoben, um die Augen zu beschatten, während sie in Gedanken mit dem leisen kindlich sanften Lächeln lächelte, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und das plötzlich zwischen den ernsten Linien des Gesichtes aufleuchten konnte, wie ein Sonnenblick zwischen den Baumstämmen eines Tannendickichts. Ja, noch weiter hinaus in die Zukunft flogen seine glückberauschten Gedanken. Er sah ihre Kinder am Strande laufen und spielen, wie eine Schar munterer Vögel . . . keine skrofulös bleiche Kulturmißgeburten in Sammetblusen und mit altklugen Zügen, sondern eine gesunde und starke Freiluftsbrut mit Bauerrosen auf den Wangen und klaren, wellenblauen Augen!

Er war indes auf den Hügelkamm hinaufgelangt, der sich um Skibberup herumzog und sah jetzt hinab auf das fast menschenleere Dorf, dessen viele kleine Fruchtgärten noch in halbwelkem Blumenflor standen. Als er ein Stück des Abhanges hinabgegangen war, blieb er plötzlich stehen –, er hatte Hansine erblickt, die draußen in der kleinen Koppel hinter dem Hause der Eltern kauerte, damit beschäftigt, einem mutterlosen Lamm aus einer Saugflasche Milch zu geben. Ganz bezaubert von diesem Anblick blieb er lange regungslos stehen, mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen. Sie trug dasselbe kirschrote Sonntagskleid, das sie das erstemal angehabt, als er sie so recht eigentlich gesehen hatte und worin er sie deshalb am allerhübschesten fand. Dazu eine weiße Schürze und einen großen weißen Kiepenhut, der den ganzen Kopf verbarg.

In einem plötzlichen Anfall von Ausgelassenheit, der ihn vergessen ließ, daß es Kirchzeit war, hielt er die Hand vor den Mund und rief: »Kuckuck!« Sie sah schnell auf; und als sie ihn gewahrte, nickte sie zu ihm hinaus, verließ aber ihr Lamm nicht. Erst als er ganz zu ihr herangekommen war, stand sie auf und reichte ihm die Hand. Mit einem »du Liebe!« schlang er den Arm um sie und drückte einen Kuß auf ihre frische Wange. Sie war allmählich ziemlich vertraut mit ihrem Verhältnis zu Emanuel geworden, errötete jedoch noch jedesmal, wenn er sie küßte; und um ihre Verlegenheit zu verbergen, begann sie sofort und mit großem Eifer von allem zu erzählen, was sich im Hause zugetragen, seit sie sich am vorhergehenden Abend getrennt hatten, – von einer Sau, die Ferkel geworfen, von einer Kuh, die sich über Nacht im Stall losgerissen hatte, und von der Sahne, die beim Buttern keine Butter hatte geben wollen. Emanuels Interesse für Feld und Stall hatte ihre eigene Anteilnahme an allen diesen alltäglichen Sachen wieder wachgerufen, hatte diese gleichsam veredelt und überhaupt ihr Heim für sie erneuert.

Er hatte währenddes die Hand unter ihren Arm geschoben, und in langsamem, vertraulichem Gang näherten sie sich dem Hause. Hier stand Else halb entkleidet hinter dem geöffneten Schlafstubenfenster, im Begriff, ihr starkes, stahlgraues Haar zu kämmen. Weit davon entfernt, sich durch Emanuels Kommen erschrecken zu lassen, nickte sie sogar zu ihm hinaus und zog nur ein Handtuch, das sie um die Schultern gelegt hatte, vorn am Halse fester zusammen.

»Guten Morgen, Schwiegermutter,« erwiderte Emanuel munter ihren Gruß, »wie geht es denn heute?«

»Ach ja, danke, ganz gut! . . . Die große Sau hat über nacht Ferkel bekommen.«

»Ja, das höre ich; wie viele sind es denn?«

»Zwölf Stück, glaub' ich!«

»Nun, das ist ja aller Ehren wert.« Er sah sich um und fügte hinzu: »Wo ist Schwiegervater? Ist er in der Kirche?«

Else warf erst ihm, dann Hansine einen prüfenden Blick zu. Hast du etwas verraten? fragten ihre Augen.

Else wie auch Hansine hatten nämlich seit dem gestrigen Tage sehr wohl Bescheid darüber gewußt, was in diesem Augenblick da draußen in der Kirche vor sich gehen würde, aber sie hatten beschlossen, es Emanuel nicht zu erzählen, denn sie hatten das Gefühl, daß er Weber Hansens Vorgangsweise nicht recht billigen würde und wünschten doch nicht, daß er sich hindernd in den Weg stellen sollte.

»Anders ist auf die Wiese gegangen, um sich nach dem jungen Vieh umzusehen,« sagte sie, durch Emanuels Ausdruck beruhigt.

»So – wir müßten jetzt wohl eigentlich füttern.«

»Er kommt auch wohl gleich wieder. Übrigens bist du nun wohl schon so tüchtig, daß du allein füttern kannst, wenn es dir Pläsier macht.«

Emanuel lächelte.

»Ich kann es ja versuchen,« sagte er und ging in Oles Kammer neben dem Stall hinüber, um sich umzukleiden.

Hansine stieg langsam die steinerne Treppe nach der Braustube hinauf; sie wollte hineingehen, um sich nach dem Mittagessen umzusehen. Auf der obersten Stufe blieb sie einen Augenblick stehen, und während sie das Band des Kiepenhutes unter dem Kinn löste, warf sie einen unruhig spähenden Blick über die kleine Pforte zwischen den Wirtschaftsgebäuden, die nach dem Kirchenwege führte.

»Noch ist niemand zu sehen,« sagte sie zur Mutter, während das einzige bittere Gefühl, das in ihrem Herzen zurückgeblieben war, der rechtgläubige Skibberuper Haß auf Propst Tönnesen, aus ihren dunkelblauen Augen leuchtete.

. . . Emanuel trat in den Kuhstall, bekleidet mit einem langen Kittel aus Sackleinwand mit einem Gürtel und ein Paar Holzschuhen mit Lederkappen. Es war das erstemal, daß er die Fütterung ohne Hilfe des Schwiegervaters unternahm, und er konnte nicht umhin, sich deswegen ein wenig beklommen zu fühlen. Die Ungeschicklichkeit seiner Bewegungen und die übertriebene Gewissenhaftigkeit, mit der er die verschiedenen Rationen nach den erlernten Vorschriften abwog und abmaß, verrieten auch noch den ungeübten Arbeiter. Mit einer Genauigkeit, als handle es sich um die Herstellung eines wichtigen Medikamentes, löste er einige Rappkuchen in einem Eimer Wasser auf und rührte den dadurch entstandenen Brei mit einer Mischung von Kleie, Schrot und gehobelten gelben Wurzeln zusammen. Die gesamte Masse verteilte er dann gleichmäßig unter die Milchkühe. Zwei Trockenkühen gab er einen Scheffel Kohlrabi, und schließlich erhielt jede Kuh eine Zuprobe von Gerstenstroh, das er mit ziemlicher Mühe oben vom Lattenboden herunterholte.

Er wurde schnell warm von der Arbeit und fühlte nach der glücklichen Vollendung die Zufriedenheit mit sich selbst und das Wohlbehagen, das körperliche Beschäftigung dem ungeübten Arbeiter verschafft. Er meinte schon nach Verlauf dieser wenigen Tage spüren zu können, wie seine Muskeln wuchsen und wie das Blut frischer und wärmer durch seinen Körper rollte. Ach, seufzte er in dieser Zeit oft vor sich hin – warum hatte er nicht schon längst die rechte Bedeutung des alten Wortes von dem »Segen der Arbeit« verstanden? Immer wieder mußte er an seine Standesgenossen drinnen in der Stadt denken, die das Land nur als »Sommerfrische« benutzten und die in ihrer Verblendung glaubten, Heilung für ihre kranken Seelen und kraftlosen Körper zu finden, indem sie die Tage mit Ringspiel auf dem Rasenplatz oder, in einer Hängematte ausgestreckt, mit dem Lesen von Romanen verbrachten. Diese Ärmsten erinnerten ihn an Menschen, die gedankenlos umherliefen und nach dem suchten, was sie selbst in der Hand hielten. Unter Leiden und Klagen schleppte man sich von einem Badeort zum anderen, pfropfte sich voll von Medizin und stellte eine atemlose Jagd nach neuen Medikamenten, neuen Kuren, neuen Ärzten an – und doch lag das Heilmittel in jedermanns Hand, das einzige, wahre, irdische Heilmittel für die dahinkränkelnde Menschheit! Ach, wie lange würde man noch fortfahren, sich selbst um das wahre Glück des Lebens zu betrügen? Welche Herrlichkeit, welche Freude würde nicht von dem Tag an auf der Erde erblühen, wo der heilige Quell der Gesundheit, die körperliche Arbeit, von der ganzen Menschheit wiedergefunden würde! Welch Paradies würde nicht entstehen, wenn sich alle Hände vereinten, um die Erde fruchtbringend zu machen? Wüsten würden urbar gemacht, giftige Sümpfe ausgetrocknet werden, Korn und Früchte würden aus der Erde aufsprießen . . .

Er hatte die Schaufel und die Mistgabel genommen und angefangen, unter den Kühen auszumisten. Während ihm der Schweiß über die Augen hinabtrieb, schaufelte er den frischen Dünger auf eine Schiebkarre und fuhr ihn nach dem Dunghaufen, fegte dann den Mittelgang des Kuhstalles so rein wie ein Zimmer und legte frische Streu in die Ständer . . . ja, nicht zufrieden hiermit, nahm er die Striegel von einem Nagel an einem der Deckenbalken und fing an, die Schenkel der Kühe von dem angetrockneten Schmutz zu reinigen, der dort in dicken Flecken saß. Er empfand fortwährend das Bedürfnis, sich gerade mit der schwersten und unreinlichsten Arbeit zu beschäftigen, um sich zu überzeugen, daß er sich jetzt ganz von jeglichem Vorurteil befreit und den falschen Stolz überwunden hatte, der eine so unheilbringende Schranke zwischen den Menschen errichtete.

Während er sich auf diese Weise beschäftigte, mußte er an seinen Vater und seine übrige Familie denken, – und es zog plötzlich ein finsterer Schatten über sein Gesicht. Seine armen, verblendeten Angehörigen! Wäre ihm doch die Gnade beschieden, auch sie aus diesem Sodom zu befreien! . . . Er hatte gerade am vorhergehenden Tage Briefe von seinem Vater und seinen Geschwistern erhalten, anläßlich der Verlobung – das heißt, er hatte eine kurze Bestätigung erhalten, daß seine »überraschende Mitteilung« ihnen zu Händen gekommen sei. Nichts weiter. Hansinens Name war nicht einmal erwähnt, wie auch die Briefe nicht eine einzige Frage in bezug auf sie enthalten hatten. – Obwohl er nicht gewagt hatte, zu erwarten, daß man von dieser Seite eine besondere Freude, geschweige denn ein tieferes Verständnis für seine Handlung verraten würde, so hatte doch namentlich die Kälte des Vaters ihn überrascht, ihn betrübt. So weit waren sie also schon jetzt voneinander getrennt! Er begriff sehr wohl, daß sie ihn mit ihrem Schweigen hatten bedeuten wollen, daß sie ihn von nun an als unwiederbringlich verloren betrachteten, und daß sie auf keinerlei Weise eine Einmischung in seine neuen Familienverhältnisse wünschten. Er begriff, daß sie seine Verlobung als eine Art Selbstmord betrachteten, der nicht weniger beschämend für die angesehene Hanstedsche Familie war, als es der Tod der Mutter seinerzeit gewesen, und er zweifelte deswegen auch nicht daran, daß auch sein Name fortan wie ausgelöscht aus ihrer Erinnerung sein würde.

* * *

Als Emanuel nach einer Weile auf den Hof hinaustrat, um seine Hände unter der Pumpe zu waschen, erblickte er einen starken Mann von geistlichem Aussehen, der im Begriff war, mit Hilfe eines Stockes die Fliesentreppe vor der Diele hinaufzusteigen. Als der Mann seine Holzschuhtritte auf dem Steinpflaster hörte, wandte er sich um und streckte ihm beide Arme mit einem lauten Ausruf entgegen.

Er trug einen langschößigen, schwarzen Rock und schwarze Beinkleider, die in Säcken über die breiten Stiefel hingen. Unter dem breiten Rand eines schmutzigen, gelben Strohhutes fiel das dunkle, glänzende Nackenhaar in langen Locken auf den Rockkragen und von dem fetten Gesicht hing ein Segen Gottes an graumeliertem Bart auf eine dunkle, mit zwei Reihen Hornknöpfen besetzte Weste herab, die bis oben an den Hals geschlossen war, so daß keine Spur von Wäsche sichtbar wurde.

Während Emanuel, der diesen Mann gar nicht kannte, verwundert an der Stalltür stehen blieb, stieg der Fremde beschwerlich die Treppenstufen hinab; und obwohl es aussah, als verursache ihm jeder Schritt Schmerzen, humpelte er doch mit freudestrahlendem Gesicht über das spitze Pflaster des Hofes und rief schon aus der Entfernung mit pfeifender aber durchdringender Stimme:

»Wenn Muhamed nicht zum Berge kommen will, so kommt der Berg zu Muhamed, wie geschrieben stehet! Denn daß du Emanuel bist, – danach brauche ich dich nicht erst zu fragen. Du wirst deine Mutter nicht leicht abschwören können, lieber Freund! Gratuliere, gratuliere!«

Bei diesen Worten brachte er seinen braunen Stock unter dem linken Arm an und begrüßte Emanuel, indem er seine beiden Hände ergriff und sie nachdrücklich schüttelte. Emanuel stand ganz ratlos da. Was für ein Mensch war dies in aller Welt?

»Um die Wahrheit zu sagen, lieber Freund!« fuhr der andere fort zu schreien. »Wir haben dich lange und mit Sehnsucht drüben bei uns erwartet. Fast jeden Morgen in der letzten Zeit hat Jette zu mir gesagt: ›Gott weiß, ob Emanuel heute nicht kommt.‹ Ja, sie ist nun schon ganz verliebt in dich, die gute Jette! Als wir von eurer schönen Versammlung hier drüben und von deiner Rede hörten, lieber Freund – ja, ich kann es nicht beschreiben, wie sehr wir alle uns gefreut haben! Und daß du dich nun ganz losgerissen und eine Braut aus der Mitte des Volkes erkoren hast! Ja, es soll so sein! So soll es sein! . . . Aber du kannst mir glauben, wir waren überrascht! Jette wollte es anfangs gar nicht glauben, aber hinterher war sie so gerührt, daß sie wirklich zu weinen anfing. Ich selbst mußte gleich nach der Schule hinüber und den Mädchen die Neuigkeit mitteilen. Ach, du hättest sie sehen sollen! Sie waren wie aus dem Häuschen, die Schelme! Sie dachten wohl, nun stünde ein Pastor für eine jede von ihnen parat . . . hahaha! Und dann sangen wir ›Liebe, die in Gott gegründet‹ und andere schöne Lieder; . . . denn als sie erst einmal angefangen hatten, wollten sie gar nicht wieder aufhören. Den Abend kamen wir erst zu Bett, als die Uhr längst elf war. Aber der Mond guckte auch gerade zu ihnen in die Schulstube hinein; ja diese Schelme!«

In diesem Augenblick ging Emanuel ein Licht auf. Obwohl es ihm ein wenig schwer wurde, es zu begreifen, zweifelte er nun nicht länger daran, daß er hier den Hochschulvorsteher drüben aus Sandinge vor sich hatte. Er erkannte nun auch das Gesicht von einer Lithographie, die unter der Bevölkerung der Gegend sehr verbreitet war, und die auch über Hansinens Kommode hing.

Er suchte zu Worte zu kommen, aber der Fremde fuhr fort zu reden und unter Ausrufen des Entzückens seine Hände zu drücken.

»Ja, so soll es sein, – wir haben, weiß Gott, junge, frische Kräfte in unserem Lager nötig! Wir alten Knaben bedürfen bald einer Ablösung. Sieh mich nur einmal an . . . ich bin nur noch ein elendes Wrack! Die Zeit hat mich mitgenommen, mein Freund! Nun, wir Alten müssen uns damit trösten, daß wir uns nicht geschont haben, solange wir noch die Kräfte der Jugend besaßen. Und – Gott sei gelobt und gepriesen! – wir haben die Genugtuung zu sehen, daß unsere Arbeit nicht umsonst gewesen ist. Ach, du kannst mir glauben, es ist herrlich für uns Alten, Zeugen zu sein, welchen Fortgang die Sache des Volkes allmählich in allen Gegenden und in allen Schichten der Gesellschaft im ganzen Lande nimmt! Und nun auch hier! Ja, so soll es sein! So soll es sein!« wiederholte er einmal über das andere, und seine gellende Stimme klang wie eine Trompetenfanfare. »Ich könnt' mich denn auch nicht länger daheim ruhig verhalten, sondern sagte heute morgen zu Jette: »Du, jetzt will ich, weiß Gott, nach Skibberup hinüber und sehen, wie es da steht,« sagte ich. Dann kann ich gleich auf dem Rückweg in Kyndby einsehen . . . da haben wir nämlich auch einen kleinen Freundeskreis, der mich schon lange bei sich haben wollte. Ja, das ist eine Versammlung von prächtigen Herzensmenschen, das kannst du mir glauben . . . Ich war im letzten Herbst da und hatte eine herrliche große Versammlung drüben im Walde, zusammen mit Paul und Ernst aus Vallekilde. Paul und Ernst sprachen historisch und ich erzählte ein paar Märchen. Es war wirklich sehr amüsant!«

»Wollen wir aber nicht hineingehen!« gelang es Emanuel endlich einzuschieben. Er stand der überströmenden Vertraulichkeit des anderen ganz verlegen gegenüber und fühlte sich außerdem ein wenig bedrückt, weil er in seinen Arbeitskleidern war, in denen ihn bisher noch kein Fremder gesehen hatte.

»Nein, mein Freund . . . noch nicht! Noch nicht! Aber ich komme bald wieder. Ich wollte hier nur im Vorübergehen eingucken und meine Ankunft melden. Ich traf hier nämlich am Strande Jens Iver, wie ihr ihn nennt. Er kam von der klugen Grethe auf Strynö herübergefahren. Seine alte Mutter liegt so krank danieder, die Ärmste! . . . Ich versprach, zu ihr zu kommen und ein wenig mit ihr zu reden; wir sind ja Freunde von alters her. Na . . . sage du nur zu Else, daß sie mich zu Tisch erwarten kann; dann bringe ich am Ende ein paar von den Freunden mit, und dann sitzen wir hier und lassen es uns wohl sein. Auf Wiedersehen, mein Freund! Nein, wie ich mich freue, daß ich dich gesehen habe! Ja, nun will ich Jette von dir grüßen, das kannst du mir glauben. Wie sie sich freuen wird! Ich hatte ja die größte Lust, sie heute mit hierher zu nehmen; aber sie mußte ja in der Schule bleiben und für die kleinen Mädchen sorgen! Übrigens waren wir neulich in Kopenhagen . . . du weißt, Frühjahrszusammenkunft des ›Neuen Dänischen Vereins‹. Wir wohnten bei Adolf Evaldsen und hatten eine herrliche Zeit. Den einen Abend waren wir bei Lene Gylling, wo, wie du dir denken kannst, ein Gedränge von Menschen war, beinahe alle Teilnehmer der Versammlung. Da war es wirklich sehr nett. Tyge Jakobsen war auch da und hielt einen herrlich durchgeistigten Vortrag über das Taufwort. Es waren überhaupt schöne Tage, das kannst du mir glauben!«

»Aber wollen wir nicht hineingehen?« wiederholte Emanuel, diesmal mit mehr Nachdruck.

»Nein, nein . . . jag' mich nur zum Tor hinaus, lieber Freund, denn sonst bleibe ich hier stehen und schwatze, bis mir der Atem vergangen ist. Also auf Wiedersehen! Freund! Adieu! Adieu! . . . Und grüß' mir die Familie da drinnen!«

Er war kaum vom Hofe herunter, als Hansine mit heraufgestreiften Ärmeln, eine Schüssel mit Küchenabfall in den Händen, in der Tür der Braustube erschien. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um den breiten Rücken des Fremden zu sehen, der durch den Torweg entschwand.

»Aber!« rief sie aus, setzte die Schüssel auf die Fliesen und lief zu Emanuel hin. »Ich sollt' doch meinen . . . das da war doch unser Hochschulvorsteher. Wie geht das zu? Habt ihr beide hier lange gestanden? Mutter und ich waren unten im Keller, wir haben euch nicht gehört . . . denn er war es doch, nicht wahr?«

»Ja, er war es.«

Seine Antwort veranlaßte sie, hastig aufzusehen; es hatte eine gewisse Enttäuschung in seinem Ton gelegen.

»Gefällt er dir nicht?« fragte sie.

Sie sah in diesem Augenblick so lieb aus mit ihrer ängstlichen Miene und ihren aufgestreiften Ärmeln, daß Emanuel, der ihre begeisterte Liebe für den alten Mann kannte, es nicht übers Herz bringen konnte, ihr zu widersprechen, und deswegen antwortete er nur mit einem kleinen Lächeln und ließ seine Hand über ihre Wangen streichen. Er war in Wirklichkeit auch weniger enttäuscht als erstaunt, verwirrt, betäubt von dem unaufhaltsamen Wortstrom, von dem er nicht die Hälfte verstanden hatte.

Da war nun auch keine weitere Zeit zu langen Erklärungen.

Durch die kleine Pforte zwischen den Wirtschaftsgebäuden kam Ole hereingestürzt feuerrot im Gesicht und in Schweiß gebadet. Er hatte sich trotz der Mutter Verbot dem Gottesdienst nicht fernhalten können, und war nun direkt, ohne anzuhalten, von der Kirche hierher gelaufen.

»Der Bischof ist gekommen!« rief er, sobald er einen Fuß auf den Hof gesetzt hatte.

»Was sagst du da? . . . Der Bischof!« riefen Emanuel und Hansine wie aus einem Munde.

»Ja, das ist ganz gewiß . . . ich hab' ihn selbst gesehen! Er kam in die Kirche, als der Propst gerade auf die Kanzel stieg . . . und nu is er mit dem Propst nach Haus gefahren.«

Emanuels Gesicht wurde dunkelrot.

»Dann muß ich gehen!« sagte er und begab sich sofort in Oles Kammer, um sich umzukleiden. Als er zurückkehrte, war auch Else in den Hof hinausgekommen, wo sie mit Hansine zusammenstand und Oles atemlosem Bericht lauschte.

»Was kann der Bischof nur wollen?« fragte sie mit besorgter Miene zu Emanuel gewendet.

»Das ist nicht gut zu wissen . . . Wir müssen sehen!« antwortete er ein wenig kurz, nahm schnell Abschied und eilte davon.

Hansine begleitete ihn, aber sie sprachen beide nicht. Sie war ein wenig bleich um den Mund und stark bewegt, überhaupt war sie unnatürlich schreckhaft geworden seit ihrer Verlobung. Es war, als habe dies Ereignis etwas in dem sonst so soliden Grundwall ihres Wesens verrückt. Bei jedem noch so geringfügigen, unerwarteten Geschehnis wechselte sie die Farbe, als fühle sie beständig den Boden unter sich schwanken.

Als sie auf die Hügel hinaufgekommen waren, verabschiedete sie sich, indem sie sagte:

»Ja, dann kommst du wohl heute abend und erzählst uns, wie es gegangen ist.«

Gerührt darüber, wie sehr sie bestrebt war, ihre Angst vor ihm zu verbergen, küßte er sie auf die Stirn und sagte:

»Fürchte dich nicht, mein Schatz! Was sollten sie uns beiden wohl anhaben können?«

* * *

Im Torweg des Pfarrhofes stand ein kleines, höchst einfaches Gig, das dem des Tierarztes Aggerbölle glich, wie ein Zwillingsbruder dem anderen. Mit diesem fast im ganzen Lande berüchtigten Fuhrwerk rollte der Bischof in seinem Stift umher, im Sommer in einem weißen, leinenen Kittel, im Winter in einem schwarzen Pelz aus Lammfellen, nur begleitet von einem halbwüchsigen Stalljungen mit einem blanken Knopf an der Mütze. Ohne weder sich noch sein spatiges Pferd zu schonen, karriolte er in Sonne und Regen meilenweit im Lande herum und überraschte seine Geistlichen, wenn sie am allerwenigsten an ihn dachten, – ganz im Gegensatz zu seinen hochwürdigen Kollegen, die ihre Ankunft stets einige Tage vorher feierlichst anmeldeten, damit in der Kirche wie in der Küche alles zu einem standesgemäßen Empfang bereit sein konnte.

Als Emanuel das Pfarrhaus erreichte, hatte man bereits um den Frühstückstisch Platz genommen, der ganz gegen die Gewohnheit draußen im Garten unter ein paar blühenden Kastanien gedeckt war. Dies war auf Veranlassung des Bischofs geschehen, der erklärt hatte, daß für ihn eine Mahlzeit im Grünen ein wahrhaft königlicher Genuß sei; und Fräulein Ragnhild hatte sich – freilich nicht sehr bereitwillig – seinen Wünschen gefügt.

Die Wärme war im Laufe des Vormittags ungeheuer drückend geworden, und die Stimmung um den Frühstückstisch schien stark von der Schwüle der Luft beeinflußt zu sein. Obwohl der Bischof eine nicht geringe Liebenswürdigkeit entfaltete und sich offenbar bemühte, das Mißtrauen zu beschwichtigen, das seine unvermutete Ankunft erregt hatte, beharrten der Propst wie auch Fräulein Ragnhild in stummer, kühler Zurückhaltung. Zwischen dem Bischof und Tönnesen waren bisher nur allgemeine Redensarten gewechselt worden. Auf der Fahrt von der Kirche hatte der Bischof den Kirchengesang gelobt und über das Wetter und die Ernteaussichten geredet; später, während der Frühstückstisch gedeckt wurde, hatte er, scheinbar mit großem Interesse, den Garten besichtigt, hatte sachkundig über Blumen und Obstzucht geredet, über eine neue Art englischen Rasengrases das besser als andere, bisher bekannte Sorten die Überwinterung vertragen könne, sowie über Kompostdünger – ganz, als wenn es nur seine Absicht sei, ihnen einen Privatbesuch abzustatten.

Propst Tönnesen blieb dessenungeachtet auf seinem Posten, kampfbereit. Im selben Augenblick, als er nach dem Gottesdienst mit dem Bischof in der Kirche zusammengetroffen, hatte er gewußt, daß dieser Mann gekommen war, um gemeinsame Sache mit seinen Feinden zu machen. Diese unangemeldete Ankunft, gerade zu diesem Zeitpunkt, konnte seiner Ansicht nach nur als ein Versuch aufgefaßt werden, ihn der Bevölkerung gegenüber zu demütigen, und er war fest entschlossen, diese Beleidigung nachdrücklich zurückzuweisen.

Er ahnte nicht, daß er sich seinem Vorgesetzten gegenüber in eine höchst ungünstige Stellung gebracht, indem er sich in der eben gehaltenen Predigt zu so gewaltsamen Ausfälligkeiten gegen seine Zuhörer hatte hinreißen lassen, daß nur die Anwesenheit des Bischofs die Massenauswanderung aus der Kirche, die Weber Hansen in Vorbereitung gehalten, zu verhüten vermochte. Es kam Propst Tönnesen überhaupt nicht leicht in den Sinn, daß er nicht in jeder Hinsicht und namentlich nicht in seinem Verhältnis zu dem ihm von Gott und seinem König anvertrauten Amt, selbst vor dem strengsten Richter bestehen könne.

Der Bischof war ein kleiner untersetzter Mann mit schräglaufenden Brauen und kräftigem, graumeliertem Haarwuchs. Er war ein ehemaliger, nationalliberaler Minister und einer der vornehmsten Ratgeber des verstorbenen Königs. So ermangelte sein Wesen denn auch keineswegs der Würde, ja, sein breites und völlig bartloses Gesicht konnte zu Zeiten ein streng alttestamentarisches Gepräge von Ernst annehmen. Aber diese Würde war auf sonderbare Weise vermischt mit jener launigen Nachlässigkeit im Auftreten, dem letzten Rest des studentischen Übermuts von Achtundvierzig, der an Friedrich des Siebenten volkstümlichem Hof Nahrung gefunden hatte und auch seither immer noch verschiedene der hervorragenden Männer aus den ersten Freiheitsjahren auszeichnete.

Diese joviale Ungezwungenheit trug namentlich dazu bei, ihm Fräulein Ragnhilds tiefste Ungnade zuzuziehen. Sie hatte nun einmal einen unüberwindlichen Abscheu vor jeder volkstümlichen Familiarität, und es imponierte ihr nicht, daß es in diesem Falle ein Bischof und ehemaliger Minister war, der sich in seinem Stuhl zurückwarf, als säße er in seinem eigenen Zimmer, die Hände in den Taschen begrub, um mit seinen Schlüsseln zu rasseln, das Messer zwischen den Fingern balancierte und »kleines Fräulein« zu ihr sagte. Auch teilte sie völlig ihres Vaters Anschauung in bezug auf die ganze Amtsführung des Bischofs. Sie fand es höchst unpassend für einen Mann in so übergeordneter Stellung, wie ein Schlachter auf der Landstraße umherzustreifen, und betrachtete seine häufigen, unangemeldeten Besuche ringsumher in Kirchen und Schulen als unwürdige Spionage, die notwendigerweise untergrabend auf das Ansehen der Geistlichen und Lehrer bei der Bevölkerung wirken mußte.

Was namentlich Propst Tönnesens Unwillen gegen den Bischof erregte, war jedoch seine Stellung im öffentlichen Leben, und namentlich in der Politik, wo seine Haltung allerdings auch ganz deutlich verriet, daß er sich trotz seines vorgerückten Alters noch gänzlich von seinem Ehrgeiz beherrschen ließ. Nachdem er mehrere Jahre beständig zwischen den beiden, sich bitter bekämpfenden Parteien balanciert hatte, um sich in, entscheidenden Augenblick zur Übernahme der Führung als der Vermittelnde und Versöhnende zu qualifizieren, war er – als die Aussichten auf eine gütliche Einigung des Streites sich verringerten – ganz allmählich mehr und mehr in das Lager der Demokraten hinübergeglitten, wo man denn auch nicht versäumt hatte, ihn durch Schmeicheleien zu verlocken, die vorrückenden Reihen des Volkes mit seinem historischen Namen zu schmücken. Bisher hatte er sich freilich noch energisch geweigert, seine Zugehörigkeit zu der Partei zu proklamieren, aber es war doch ein öffentliches Geheimnis, – das er selbst nicht im geringsten zu verbergen suchte – daß er dahingegen keineswegs abgeneigt sein würde, sich mit Hilfe von demokratischen Stimmen in den Reichstag wählen zu lassen, um im Kreise der Leitenden wieder festen Fuß zu fassen.

Mit großer und freimütiger Offenheit sprach er selbst über diese seine Schwäche für Politik und Machtbesitz. So hatte man sich kaum an den Frühstückstisch gesetzt, als er die Rede auf die Gerüchte über seine Reichstagskandidatur brachte, die in den letzten Tagen wieder durch alle Blätter des Landes geschwirrt waren.

»Ja, was soll man dabei machen?« meinte er lächelnd. »Ich glaube, es geht mit den Politikern wie mit alten herrschaftlichen Kutschern. Wenn man einmal auf dem Bock gesessen und die Zügel in der Hand gehalten – und vielleicht die Peitsche geschwungen hat, wenn die Sache knifflich wurde, – dann kann man sich gar nicht darin finden, daheim im Stalle umherzugehen und Häckerling zu schneiden. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit eines Postkutschers, der über dreißig Jahre jede Nacht die Diligence aus meiner Vaterstadt nach einer der benachbarten Städte fuhr. Von ihm erzählte man sich, daß, als er alt und abfällig wurde, man auf den Einfall kam, ihm jedesmal, wenn er im Begriff war zu sterben, das Bettband in die Hände zu legen, damit er sich einbilden könne, daß er noch im Amt sei – dann kehrte sofort die Lebenskraft zurück. Darum habe ich auch zu meiner Frau gesagt, daß sie, falls ich eines Tages krank werden sollte, nicht vergessen solle, mir einen Dreispitz zu bringen und mir einzubilden, daß ich zum Konseilpräsidenten ernannt sei; dann werde ich schon schleunigst wieder munter werden.«

Während der Bischof lachte, verhielt sich Tönnesen ständig schweigend und schob sogar die Unterlippe vor, um zu erkennen zu geben, daß er nicht die geringste Veranlassung finde, in diese Munterkeit einzustimmen.

In diesem Augenblick erschien Emanuel auf der Veranda und trat herzu und grüßte.

Der Bischof empfing ihn so, wie ein Bischof notwendigerweise einen jungen Geistlichen empfangen muß, dessen Benehmen seinem Vorgesetzten Anlaß zur Einsendung einer ausführlich motivierten Beschwerde gegeben hat. Doch erschien sein gemessener Gruß ein wenig einstudiert und vermochte auch nicht, Propst Tönnesen milder zu stimmen. Im Gegenteil, als der Bischof jetzt, während Emanuel am Tische Platz nahm, seine Rede fortsetzte und sich mit einer gewissen parlamentarischen Selbstzufriedenheit über die politische Situation erging, und als er bei dieser Gelegenheit ganz unvorbehalten seine Sympathie für allerlei Bestrebungen der Volkspartei, das öffentliche Leben und seine Administration umzugestalten, äußerte, da konnte Tönnesen seine passive Haltung nicht länger bewahren; – namentlich war ihm darum zu tun, daß der Kaplan sein Schweigen nicht als Furcht, dem Bischof zu widersprechen, auslegen solle.

»Es will mir doch scheinen,« – sagte er, indem er mit einer Überlegenheit, die die des Bischofs gleichsam überbieten sollte, sich den Mund mit seiner Serviette abwischte, »– es will mir wirklich scheinen, als ob wir im Augenblick weniger den Mangel an neuen Bestrebungen und neuen Strömungen empfinden, so wie Euer Hochwürden zu meinen scheint, als daß uns gerade die Ruhe und Klarheit fehlt, die den verschiedenen Institutionen des Landes, die seit der Stiftung des Grundgesetzes so viele schwere Erschütterungen haben erdulden müssen, die Festigkeit wiedergeben kann, derer sie in hohem Maße bedürfen.«

»Ach, ich habe nun gerade keine Angst vor einer kleinen Auslüftung!« rief der Bischof mit jugendlicher Munterkeit aus. »Ein großes Scheuerfest hin und wieder einmal tut jedem Hause gut; und es kann wahrhaftig nicht schaden, wenn auch Leute mit »Scheuerbesen« kommen . . . so heißen doch dergleichen Gerätschaften, nicht wahr, kleines Fräulein?« wandte er sich an Fräulein Ragnhild, die mit einem unglaublich kurzen: »Wohl möglich« antwortete.

»Ich habe mich keineswegs zum Fürsprecher für irgendwelche Art von Unredlichkeit gemacht,« sagte Propst Tönnesen mit unerschütterlichem Ernst und in abweisendem Ton: »Übrigens sagt ein altes Wort, daß man sich hüten solle, das Kind mit dem Bade auszuschütten . . . und es mag ganz gut sein, wenn man sich das heutzutage ein wenig einprägt. Ich gestehe ehrlich, daß ich konservativ bin und es mein ganzes Leben gewesen bin, und daß ich durchaus nicht imstande bin, modernen Scheuerfestprinzipien zu huldigen. Wenn man stets bei offenen Türen und Fenstern lebt, riskiert man zu leicht, daß einem das Haus von Existenzen überschwemmt wird, deren wirkliches Heim die Straße ist; und es läßt sich doch wohl kaum leugnen, daß in den letzten Jahren in unserem öffentlichen Leben Personen aufgetaucht sind, ja, daß ganze Schichten der Bevölkerung augenblicklich eine Rolle spielen, die dem Lande kaum zu Ehren und Nutzen gereichen werden. Wenn Bildung und Kenntnisse nicht mehr als unerläßlich für das Wirken im Dienste der Öffentlichkeit betrachtet, sondern fast als ein Übel angesehen werden, wenn jeder Handwerksbursche oder Knecht ebensoviel Einfluß auf die Regierung des Landes haben soll wie ein Mann, der sein ganzes Leben dazu benutzt hat, seine Geistesfähigkeiten zu entwickeln und seine Erfahrung zu bereichern, so wird es schnell bergab gehen mit einem Volk, in geistiger wie in materieller Hinsicht – davon haben wir in der Geschichte hinreichende Beispiele.«

Der Bischof, der mit dem Essen fertig war, saß in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Fingerspitzen der beiden Hände in die Westentaschen über seinem rundlichen Bäuchlein gesteckt. In dieser Stellung hatte er mit sinnender Aufmerksamkeit den Propst betrachtet, während er sprach. Jetzt kreuzte er seine Arme über der Brust, legte den Kopf auf die Seite und sagte mit einem leisen, ironischen Lächeln:

»Was Sie da sagen, Propst Tönnesen, erweckt in mir die Vorstellung an einen Mann, der nur den rechten Arm zur Arbeit verwerten will, weil dieser – mag es nun so von der Natur bestimmt, oder die Folge einer ausgedehnteren Benutzung sein – stärker ist, als der linke, den er beständig in einer strammen Binde trägt, damit er ihn so wenig wie möglich in seinen Bewegungen hindern soll, wodurch er mehr und mehr einschrumpft und zuletzt ganz gelähmt wird. Nicht wahr . . . eine solche Handlungsweise würden wir alle, milde gesprochen, ziemlich apart, ja, ganz unverantwortlich finden. Aber warum soll denn da der Staatskörper nicht seine rechte und seine linke Seite gebrauchen, selbst wenn die erstere – entweder infolge von Naturbestimmung oder aus irgend einem anderen Grunde – augenblicklich die am meisten entwickelte ist? Wäre es nicht natürlich, wenn wir es auch im öffentlichen Leben so machten wie der verständige Mann, der eine große Last eine lange Strecke Weges tragen soll – er legt beim Tragen häufig die Last aus der einen Hand in die andere. Dadurch sichert er sich gegen Ermattung und erreicht eine gleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Teile des Organismus. Ich leugne nicht, auch ich huldige in der Politik dem guten, alten Satz: Eins, zwei, rechts, links – rechts, links – Deutscher und Schwede,« sagte er und lachte.

»Ach, ich finde wirklich nicht, daß momentan ein Grund vorliegt, eine Lähmung des linken Gliedes des Staatskörpers zu befürchten,« bemerkte Tönnesen. »Im Gegenteil, es will mir scheinen, als habe dies ganze öffentliche Leben zurzeit etwas sehr Linkisches.«

Er war selbst ganz stolz auf diese Entgegnung und warf Emanuel einen Blick zu.

»Hm ja – natürlich – ich gebe zu, daß sich Phänomene an unserem politischen Horizont gezeigt haben, die man nur bedauern kann; aber dergleichen läßt sich in Gewitterzeiten, wie diese, nicht vermeiden. Es handelt sich nur darum, durch kluge Besonnenheit und strenge Gerechtigkeit die Blitze abzuleiten . . . und das ist heutzutage die wichtigste Aufgabe eines leitenden Politikers. Aber es darf auch nicht vergessen werden, daß wir – namentlich dem Bauernstande gegenüber – viel altes Unrecht wieder gutzumachen haben; und falls momentan eine Neigung vorhanden sein sollte, namentlich dem Bauer einen entscheidenden Einfluß auf unsere Entwicklung einzuräumen, so ist dies eine einfache Handlung der Gerechtigkeit, die wir schon viel zu lange nicht nur der Rücksicht auf ihn, sondern auch der Wohlfahrt des ganzen Landes geschuldet haben. Es läßt sich nämlich nicht gut leugnen, daß sich in der letzten Zeit eine bedauerliche Stagnation in der Entwicklung unseres öffentlichen Lebens bemerkbar gemacht hat, ein Mangel an neuer Kraft, dem es abzuhelfen gilt. Wir haben es wahrscheinlich nötig, einen neuen Volksschlag zu unserer geistigen Ernährung großzuzüchten – wenn ich mich so ausdrücken darf – neue, nährende Erde bloßzulegen, aus der eine lebenskräftige Zukunft aufsprossen kann. Bekanntlich versäumt es kein vernünftiger Gärtner in Zwischenräumen von gewissen Jahren seinen Garten umzugraben . . . und er tut dies ohne Furcht vor dem Unkraut, das zu Anfang stets aus einem so neuen und unkultivierten Erdboden aufschießen wird, weil er weiß, daß seine Pflanzen mit ihrer vermehrten Kraft allmählich das Unkraut verdrängen und es schließlich ganz ersticken werden. So habe denn auch ich nicht die geringste Angst vor diesem Umgraben unseres geistigen Erdbodens, den unsere Zeit zu vollführen bestrebt ist. Es wird sich schon zeigen, daß gute und gesunde Früchte hervorgebracht werden, wenn allmählich eine genügende innere Zusammenmischung der neuen und der alten Schichten vollzogen sein wird; jeder, der dazu beiträgt, scheint mir deswegen ein gutes Werk sowohl gegen unser Vaterland, wie auch für seine eigene, geistige Entwicklung zu tun.«

Propst Tönnesens Gesicht nahm plötzlich jene lehmgraue Färbung an, die es zu bekommen pflegte, wenn sein Blut in Wallung geriet. Diese Worte des Bischofs, in Gegenwart des Kaplans geäußert, konnten in diesem Falle nur als vollkommene Billigung, ja geradezu als Verherrlichung seiner und seiner Mitverschworenen Handlungen aufgefaßt werden.

»Ach, – ich für mein Teil habe nun einmal nicht das geringste Zutrauen zu dieser sogenannten neuen Erde,« sagte er mit einer Stimme, die von unterdrücktem Zorn bebte. »Es kommt mir im Gegenteil vor, als sei es lauter unfruchtbarer Sand oder noch schlimmere Bestandteile, was die Volksverherrlichung unserer Zeit mit Hilfe des so hochgepriesenen, allgemeinen Stimmrechts auf die Oberfläche hinausbefördert. Fährt die Verrücktheit fort, wie sie begonnen hat, so bin ich darauf vorbereitet, das Land eines schönen Tages von einer Sammlung von Ausschußseminaristen und Kuhhirten regiert zu sehen.«

»Ach – das sind ja nur Redensarten! Sollte es sich wirklich zeigen, daß die Volksmenge unsere Erwartungen täuscht, oder – besser ausgedrückt, – daß wir noch nicht das richtige Mittel gefunden haben, die schlummernden Kräfte des Volkes zu wecken, so ist deswegen kein nicht wieder gut zu machender Schade geschehen. Dann haben wir auf alle Fälle einen – von der Gerechtigkeit, wie von der Klugheit gebotenen – Versuch gemacht.«

»Ich sollte meinen, wir hätten unter unserer neuen Verfassung hinreichend experimentiert. Unser unglückseliges Experimentieren mit einer zufälligen Volksstimmung im Jahre 64 haben wir teuer genug bezahlen müssen.«

Bei dieser unverblümten Anspielung auf den letzten unglücklichen Krieg, für den man allgemein dem Ministerium des Bischofs eine wesentliche Verantwortung zuschrieb, fuhr förmlich ein eiskalter Windhauch über den Frühstückstisch hin. Der Bischof, der ganz blaß geworden war, sah ein paarmal mit hastigen, unsicheren Blicken verstohlen zu dem Propst hinüber, als erwäge er, wie er diese Unverschämtheit am besten beantworten könne. Dann zog er plötzlich seine alttestamentarische ernste Maske vor das Gesicht und sagte mit vollkommen beherrschter Stimme:

»Sie scheinen, Herr Propst, in Ihrem sonderbaren Mißtrauen zu den unteren Volksschichten unserer Zeit das Wort zu vergessen, daß den Weisen und Verständigen vieles verborgen, den Einfältigen aber offenbart ist.«

Der Propst wollte Einwendungen erheben, der Bischof aber ließ sich nicht mehr unterbrechen und fuhr mit wachsender Kraft fort:

»Es ist in diesem Zusammenhang auch geboten, daran zu erinnern, daß unser Herr Christus, als er hier auf Erden wandelte, Gehilfen für sein Erlöserwerk nicht unter den Schriftgelehrten suchte, sondern in der – auch in jener Zeit – verachteten Arbeiterklasse, mit anderen Worten unter den Bauern, Fischern und kleinen Handwerkern, deren Leben und Lebensbedingungen er während seines ganzen Erdendaseins in allem teilte. Sollte dies nicht doch den Christen aller Zeit ein Beispiel zur Nachfolge sein? Wäre es nicht bald an der Zeit, zu der Erkenntnis zu gelangen, daß unser Erlöser nicht allein der göttliche Vorbereiter des Weges zu den himmlischen Wohnungen war, sondern daß er daneben auch, namentlich indem er den heidnischen, geistigen Hochmut brach, den Grund legte zu einem irdischen Reiche der Gerechtigkeit hier auf Erden, zu einem heiligen Volksurteil, das zu verwirklichen der Zukunft noch vorbehalten ist, nach seinem großen Gebot: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Der Wahlspruch: ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹, dessen sich eine gewisse, neugebildete Partei – leider in eigennütziger Absicht – bemächtigt hat, der enthält in wenigen Worten die ganze Lehre Christi von dem Gemeinwesen, die wir uns alle tief in unsere Herzen hineinschreiben sollten.«

Unten am anderen Ende des Tisches hatte Emanuel tief über seinen Teller gebeugt gesessen und mit lebhafter Aufmerksamkeit diese Unterhaltung verfolgt. Das Herz schwoll ihm, während er den letzten Worten des Bischofs lauschte, die so klar und schneidig seinen eigenen, innersten Gedanken Ausdruck verliehen, und ihn von neuem in dem wonnevollen Bewußtsein bestärkten, daß nun auch er so recht in den Fußspuren Jesu wandele und teil daran habe, das Land der Glückseligkeit zu bauen, das die Brüdergemeinde der Christen einstmals über die ganze Welt verbreiten sollte.

Propst Tönnesen verhielt sich nach den letzten Worten des Bischofs wieder völlig schweigend. Mit der Anspielung auf die unglückliche politische Vergangenheit des Bischofs hatte er seinem Herzen Luft gemacht, und er wollte sich nicht dadurch erniedrigen, daß er mit einem Menschen diskutierte, obendrein mit einem Bischof, der sich nicht entblödete, im Handumdrehen den Erlöser der Welt für seine Parteipolitik auszubeuten, ja, der ihn geradezu zum Sozialdemokraten machte.

Im selben Augenblick trug auch der Wind eine Reihe mahnender Glockentöne von der Vejlbyer Kirche über den Garten hin. Die Zeit für den Nachmittagsgottesdienst war da.

Propst Tönnesen erhob sich und sagte nicht ohne Hohn:

»Euer Hochwürden müssen mich entschuldigen; meine kirchlichen Geschäfte rufen mich. Hoffentlich habe ich die Befriedigung, Euer Hochwürden bei meiner Rückkehr noch hier anzutreffen,« worauf er, ohne eine Antwort abzuwarten, seinen Stuhl hart unter den Tisch schob und sich mit majestätischen Schritten entfernte.

Einen Augenblick später erhoben auch die anderen sich. Mit ernster Miene reichte der Bischof Fräulein Ragnhild und Emanuel die Hand, und zu dem letzteren sagte er in einem Ton, der durchaus nicht mehr von einer Erinnerung an eine ausführlich motivierte Klage beeinflußt schien:

»Ich hätte wohl Lust, mich ein wenig in der Gegend umzusehen. Haben Sie etwas dagegen, Herr Kaplan, mein Begleiter auf einem Spaziergang zu sein, bis Propst Tönnesen zurückkehrt?«

Emanuel errötete und verneigte sich.

Fräulein Ragnhild, die am Tische stehen geblieben war, beobachtete in diesem Augenblick die beiden Männer mit ein paar Augen, die vor Verachtung blitzten. Als sich der Bischof gleich darauf an sie wandte, um sich »zu empfehlen«, nahm ihr Gesicht seinen gewöhnlichen, gleichgültigen Ausdruck wieder an; und als beide Herren ihre weichen Hüte lüfteten – Emanuel hatte seinen Strohhut mit dem alten Plüschhut vertauscht – da neigte sie ihren Kopf genau so tief, wie es die formellste Höflichkeit erforderte.

* * *

Der Bischof und Emanuel gingen durch den Park und gelangten durch die kleine Pforte an dem äußersten Ende des Gartens auf das freie Feld. Der Bischof, der sich eine Zigarre angezündet und seine Weste aufgeknöpft hatte, stieß die Rauchwolken in die Luft hinaus wie ein Mann, der stark von seinen Gedanken in Anspruch genommen ist. Hin und wieder warf er eine Bemerkung über irgendeinen Gegenstand hin, auf den sein Blick zufällig fiel.

Emanuel schritt schweigend an seiner Seite. Er hatte sofort verstanden, daß der Bischof ihm diesen Spaziergang absichtlich vorgeschlagen hatte, und er war fest entschlossen, die Gelegenheit zu benutzen, um ihm eine volle und klare Darlegung seines Verhältnisses zu der Gemeinde zu geben.

Als sie auf dem Gipfel des »Pfarrhügels« anlangten, blieb der Bischof stehen und begann mit abwesender Miene die Aussicht zu betrachten, fragte nach den Namen von einzelnen der vielen Kirchen, deren weiße Türme wie Feuer in dem dichten Sonnennebel leuchteten, sagte ein paar Worte über die Macht der Naturschönheit auf den Sinn des Menschen und begann schließlich von der Dürre und den schlechten Ernteaussichten zu reden.

»Ich höre von verschiedenen Seiten,« – sagte er zerstreut –, »daß man angefangen hat, ernste Sorge zu hegen. Es würde wahrlich betrübend sein, wenn wirklich Grund zu Befürchtungen vorhanden wäre.«

»Das ist wohl auch eigentlich nicht der Fall . . . wenigstens vorläufig nicht,« bemerkte Emanuel, dem das Thema Beredsamkeit verlieh. »Freilich hat das Sommerkorn schon recht gelitten, namentlich die sechsreihige Gerste, und die Grasfelder auf den höher gelegenen Gehöften sind ja auch zum Teil versengt; aber der Roggen steht an den meisten Stellen noch gut, falls er nicht zu sehr durch den Frost im Frühling gelitten hat.«

Als sei er aus seinen Gedanken erwacht, wandte ihm der Bischof das Gesicht zu.

»Ei, ei,« sagte er mit einem Lächeln. »Sie sind ja schon ein ausgelernter Landmann geworden, Herr Kaplan?«

Emanuel errötete abermals, und sein Herz begann zu pochen. Jetzt kommt es, dachte er.

Aber der Bischof setzte seinen Weg über den Hügel fort und begann wieder über die Landschaft zu reden, und von dem Einfluß der Naturschönheiten auf das menschliche Gemüt.

Auf einmal unterbrach er sich selbst in seiner Rede und sagte – als sei es etwas, das ihm zufällig einfiel:

»Sagen Sie mir doch . . . Sie sind ja ein Sohn von dem früheren Ministerialdirektor, Etatsrat Hansted, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir doch,« fügte er hinzu und hörte von nun an ganz zu sprechen auf.

Mehrere Minuten gingen die beiden Männer in tiefem Schweigen den kleinen Steig entlang, der über das öde, unbestellte Land nach dem Strande zu führte. Eine Schar Krähen, die ihre Schritte aus den Furchen eines Brachackers aufgeschreckt hatten, kreisten über ihren Köpfen, und vor ihnen auf dem Wege, keine zweihundert Ellen von ihnen entfernt, zottelte ein Fuchs dahin, stand von Zeit zu Zeit still und sah sich um.

»Haben Sie, Herr Hansted,« – nahm der Bischof endlich wieder das Wort – »haben Sie sich während Ihrer Studienzeit, oder vielleicht auch schon früher, besonders hingezogen gefühlt von bestimmten geistigen Strömungen innerhalb der akademischen Welt . . . oder vielleicht außerhalb derselben?«

»Ich? . . . Nein,« antwortete Emanuel und sah überrascht auf. »Ich habe während meines ganzen Heranwachsens und namentlich während meiner Studienzeit sehr einsam und zurückgezogen gelebt. An dem gewöhnlichen Studentenleben habe ich, sozusagen, niemals teilgenommen.«

»Aber Sie haben unter Ihren Kameraden doch sicher Freunde gehabt, die Einfluß auf Sie ausübten . . . Sie sind Mitglied von religiösen, literarischen oder vielleicht politischen Diskussionsklubs gewesen, nicht wahr?«

»Nein, daran habe ich mich nie beteiligt . . . einen wirklichen Freund habe ich wohl überhaupt niemals gehabt. Ich war, seit ich erwachsen bin, fast ausschließlich auf mich selbst und auf die Gesellschaft meiner Bücher angewiesen. Namentlich dem politischen Leben habe ich immer völlig fremd gegenübergestanden.«

»So, so!« sagte der Bischof kurz und räusperte sich; es lag eine leise Enttäuschung in seinem Ton.

»Aber, wie ist es denn eigentlich zugegangen,« fuhr er nach einer Weile fort, indem er stehen blieb und Emanuel mit einem erkünstelt heiteren Lächeln ansah, »woher haben Sie denn nur einmal Ihre – wenn ich mich so ausdrücken darf, – nach verschiedenen Richtungen hin ziemlich weitgehenden Anschauungen? Eine Lebensanschauung erwirbt man sich doch nicht allein durch das Lesen von Büchern – wenngleich diese auch – das gebe ich zu – dazu beitragen können, das Gemüt für die persönliche Beeinflussung empfänglich zu machen, oder helfen können, ihre Ergebnisse zu bestätigen . . . Natürlich,« unterbrach er sich wieder und setzte seinen Gang fort, »ich begreife . . . Ihr Heim, Ihre verstorbene Mutter ist selbstverständlich nicht ohne Einfluß auf Ihre Entwicklung gewesen. Ich entsinne mich nun auch, daß Sie etwas dergleichen erwähnten, als wir seinerzeit anläßlich Ihrer Ordination miteinander sprachen. Ja, Ihre Mutter war eine merkwürdige Frau, so voller Begeisterung und Glauben. Wie ich Ihnen auch wohl damals sagte, habe ich sie in meiner Jugend recht gut gekannt; wir gehörten ja – wenn ich so sagen darf – zu dem gleichen Kreis! Ihr Tod ist mir daher seinerzeit auch sehr nahe gegangen. Sie war ein Mensch, der gleichsam zu zart gebaut war für diese Welt. Was sie zerbrach, war wohl auch der Umstand, daß ihr in einem Werdepunkt ihres Lebens die Widerstandskraft fehlte, die geistige Harthändigkeit, deren Mangel edle und aufopfernde Naturen so oft beweinen müssen. Ich spreche so offen hierüber, weil ich weiß, daß Ihnen dies alles nicht unbekannt ist; ich entsinne mich, daß Sie selbst Mißverhältnisse in Ihrem Heim als die Ursache angaben, die Sie zu einer geistlichen Wirksamkeit in eine ferne und einsame Gegend bestimmte. Ich verrate Ihnen auch sicher kein Geheimnis, wenn ich sage, daß Ihre Mutter nur infolge der Überredungen und Vorstellungen Ihrer Familie – wohl auch unter dem Einfluß momentaner weiblicher Mutlosigkeit – in bezug auf die Entschließung zu einer Ehe nachgab, die in vielen Punkten ihrer Natur entgegen sein mußte; und es war sicher namentlich ein Gefühl, daß sie sich zu einer Treulosigkeit gegen ihre Ideale hatte hinreißen lassen, was diese immer tiefer werdende Schatten auf ihr ferneres Leben warf und schließlich das Licht ihres Geistes gänzlich auslöschte. Sie können daher begreifen, lieber Freund, welchen wunderlichen Eindruck es auf mich machte, als ich hörte, daß Sie, ihr Sohn, jetzt den Faden wieder angeknüpft, den sie hatte fallen lassen müssen, und angefangen hatten, die Gedanken ins Leben zu übertragen, die für sie als die größten der Zeit dastanden.«

Emanuel verharrte in seinem Schweigen und sah zu Boden. Stets in der letzten Zeit, wenn man mit ihm von seiner Mutter sprach, wurde er so bewegt, daß er sich Zwang antun mußte, um nicht in Tränen auszubrechen.

Der Bischof fuhr fort: »Aber lassen Sie mich nun als alter Freund Ihrer Mutter – denn so darf ich mich wohl nennen – lassen Sie mich Ihnen nun einen guten Rat geben, Herr Hansted. Oder . . . erzählen Sie mir lieber erst, was Sie sich gedacht haben, und wie Sie überhaupt die Frage bezüglich Ihrer künftigen Stellung hier am Ort zu lösen gedenken. Daß Sie sich hier draußen eine Braut erkoren haben, hörte ich schon durch eine private Mitteilung, wie es mir auch bekannt ist, daß Ihre Anschauungen und Ihr ganzes Verhältnis zu einem gewissen begrenzten Teil der Gemeinde in hohem Maße Propst Tönnesens Mißbilligung erregt hat. Wir stehen hier also einem Konflikt sehr ernster Natur gegenüber. Wie haben Sie sich eigentlich gedacht, ihn zu lösen?«

Emanuel vertraute dem Bischof offen seine Absichten an, erzählte von dem kleinen Gehöft draußen am Strande, das er zu kaufen gedenke, und wo er als freier und unabhängiger Landwirt leben und im übrigen als Pfarrer und Lehrer zwischen seinen Freunden wirken wolle. Der Bischof lauschte seinen Worten aufmerksam und sah ein paarmal, während er sprach, schnell und überrascht zu ihm auf. Nachdem Emanuel geendet hatte, ging er noch eine Weile schweigend weiter und schien die Sache gründlich zu erwägen. Plötzlich erhob er den Kopf und sagte:

»Was Sie mir da erzählt haben, mag ja sehr schön gedacht und gewissermaßen auch richtig gesehen sein . . . aber ich möchte Ihnen trotzdem auf das Bestimmteste davon abraten, einen solchen Schritt zu unternehmen. Ich will Ihnen ehrlich gestehen, daß ich es für eine Unbesonnenheit halte, die Sie früher oder später bereuen werden. Wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, so verlassen Sie nicht den geraden Weg. Die Kirche hat heutzutage Verwendung für alle jungen und frischen Kräfte; und auch in diesem Verhältnis gilt es – als Schutzwehr gegen gemeinsame Feinde – sich zu sammeln und nicht zu zerstreuen. Versprechen Sie mir deswegen, daß Sie sich diese Gedanken aus dem Kopf schlagen wollen.«

»Hochwürden . . . das kann ich nicht. Ich fühle, daß ich hier in der Gegend meinen Beruf habe, und ich bin schon mit Land und Leuten durch so starke Bande verknüpft, daß ich mich nicht mehr losreißen kann.«

»Nun ja –, wer sagt auch, daß Sie sich losreißen sollen?«

Emanuel sah erstaunt auf.

»Aber ich glaubte . . . ich glaubte, der Herr Bischof wüßten, daß Propst Tönnesen meine Versetzung wünscht. Es steht mir also kein anderer Ausweg offen.«

»Ja, gerade hierüber wollte ich gern ein Wort mit Ihnen sprechen . . . Aber kehren wir um, die Sonne brennt doch reichlich warm jetzt in der Mittagsstunde . . . Wovon sprachen wir doch nur? Nun ja, ich wollte Ihnen also sagen, oder vielmehr anvertrauen . . . denn was ich Ihnen hier mitteile, ist im Grunde ein Amtsgeheimnis, das Sie unter keiner Bedingung weiterbringen dürfen. Kurz und gut: Propst Tönnesen wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, in allernächster Zukunft seine Verabschiedung aus diesem Amt beantragen.«

»Propst Tönnesen!« rief Emanuel aus und blieb vor Erstaunen mitten auf dem Wege mit weitgeöffnetem Munde stehen.

»Ja, wie gesagt . . . aller Wahrscheinlichkeit nach,« wiederholte der Bischof, indem er sich den Anschein gab, als bemerkte er die Überraschung seines Begleiters nicht. »Es ist ihm angeboten . . . es wird Propst Tönnesen wahrscheinlich angeboten werden, einen verantwortungsvollen Posten außerhalb der eigentlichen Wirksamkeit eines Geistlichen anzunehmen, – es ist dies ein Posten, der gerade für seine besonderen Fähigkeiten paßt; ich zweifle nicht, daß er ihn annehmen wird, namentlich da seine Stellung hier in der Gemeinde ihn offenbar nicht befriedigt, ja vielleicht geradezu unhaltbar geworden ist. Ich wünsche daher, schon aus diesem Grunde allein, sehr, daß Sie vorläufig hier im Amte bleiben. Es wird ja nämlich nun eine Vakanz entstehen, während der Sie konstituiert werden; und wahrscheinlich wird sich diese Vakanz über einen längeren Zeitraum erstrecken, da die Absicht besteht, diese Gelegenheit zu benutzen, um eine lang geplante Änderung im Amt durchzuführen. Wie Sie wohl wissen werden, haben die Bewohner der nördlichen Spitze des Kirchspieles seit vielen Jahren über den langen Weg zur Kirche und Schule geklagt, und jetzt ist aller Grund vorhanden, endlich ihrem Wunsche entgegenzukommen und sie in das benachbarte Kirchspiel einzugemeinden, um so mehr, als dies, wie sie das stets selbst behauptet haben, und wie es durch genaue Untersuchung jetzt konstatiert ist, – wirklich ihre alte Muttergemeinde war. Die Durchführung solcher Änderung erfordert stets allerlei Vorbereitungen; es werden vielleicht ein paar Jahre vergehen, und welche Aussichten sich in dieser Zeit und unter den veränderten Umständen, – die ja nämlich auch Einfluß auf die Amtseinnahmen haben werden – hier für Sie eröffnen werden, darüber will ich mich hier nicht äußern, ich will es Ihnen selber ganz überlassen, die Sache in Erwägung zu ziehen. Ich will mich überhaupt nicht weiter in dies Thema vertiefen; ich habe keine Veranlassung dazu, ja, ich habe vielleicht nicht einmal das Recht dazu; ich habe Ihnen dies alles nur anvertraut, weil ich Sie verhindern wollte, einen übereilten Schritt zu tun. Ich will auch nur hinzufügen, daß auch meiner Meinung nach Sie, – wenigstens vorläufig – gerade hier Ihr Wirkungsfeld haben sollten; aber Sie werden jetzt hoffentlich eingesehen haben, daß sich Ihnen gerade in Ihrer jetzigen Stellung eine große und bedeutungsvolle Tätigkeit erschließt . . . jedenfalls auf eine Reihe von Jahren. Wie ich Ihnen bereits sagte, wir haben heutzutage Verwendung für alle jungen und frischen Kräfte der Kirche . . . und dies gilt vielleicht nicht zum mindesten für diese Gegend, die lange in dem Ruf gestanden hat, in geistiger Beziehung ein wenig zurückgeblieben zu sein . . . ja, selbst die Politiker nennen dies hier einen ihrer »toten Punkte«, fügte er lächelnd hinzu, als sei das etwas, was ihm in diesem Augenblick einfiel.

Sie waren währenddes an die kleine Pforte am äußersten Ende des Pfarrhausparkes gelangt. Der Bischof blieb hier stehen und reichte Emanuel die Hand.

»Denken Sie nun über das nach, was ich Ihnen gesagt habe, und warten Sie wenigstens acht Tage, ehe Sie irgendeine Entscheidung treffen. Sollten Sie während der Zeit eine Unterredung mit mir wünschen, so wissen Sie ja, wo Sie mich treffen können.«

Er drückte flüchtig Emanuels Hand und entfernte sich durch den Garten.

Überwältigt von den Worten des Bischofs blieb Emanuel stehen, und starrte ihm unverwandt mit dem verwirrten Ausdruck nach, den Menschen bekommen, wenn sie plötzlich alle ihre Zukunftspläne von einem großen, unerwarteten Glück über den Haufen geworfen sehen, und daher im ersten Augenblick nicht recht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen.



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