Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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IV.

Bald nachdem Thekla in die alten Verhältnisse zurückgekehrt war, erhielt sie einen Brief von Gabriel Bartusch. Er schrieb: 180

»Liebe Thekla! Ich stehe jetzt in einer bedeutungsvollen Zeit, mitten in den Examenarbeiten. Daß ich bestehen werde, weiß ich. Endlich, endlich soll dann die Freiheit anbrechen, die Selbständigkeit! Endlich werde ich mein Leben selbst bestimmen dürfen, nicht mehr gegängelt von einem Vater, der mich in meinen höchsten Bedürfnissen nicht versteht. Endlich, endlich werde ich auch äußerlich das erscheinen können, was ich vor mir selbst längst bin: ein Mann!

Warum es mich in dieser Zeit drängt, immer und immer an Sie zu denken, Thekla, ja mir geradezu die Feder in die Hand zwingt, an Sie zu schreiben? – Ich weiß es nur zu gut, und Sie sollten es auch verstehen!

Zwar ich schrieb Ihnen neulich: Der Mann müsse vor allen Dingen danach trachten, sich frei zu machen, von inneren wie äußeren Fesseln und Hemmnissen. Man dürfe sich niemals ganz an einen Menschen verlieren. Unser Lieben müsse einer großen Sache gelten, einer Idee. So ungefähr schrieb ich an Sie. – – Glauben Sie kein Wort davon, Thekla! Ich selbst habe es damals auch nicht geglaubt. Es war bittere Philosophie, traurige Resignation. Ich schrieb es nur, um mir selbst zu entfliehen, um mich zu trösten. Als sehne ich mich nicht aus tiefster, durstigster Seele nach eben jenem Glück, das zu verschmähen ich vorgab! Was sind große Ideen, was ist Wissenschaft, ja was ist selbst die Kunst gehalten gegen die Liebe? –

O, wenn ich doch endlich mal etwas Sicheres hätte, eine Gewißheit, die mir als leitender Stern dienen müßte, in der Dunkelheit! Wozu strebe ich, wozu strenge ich alle meine Kräfte an zum Zerspringen, wenn ich keine Hoffnung habe? Ohne Ziel arbeiten ist sinnlos!

Verstehen Sie, wie ich's meine, Thekla? Ich fordere 181 keine bindende Erklärung von Ihnen, nur um Eines bitte ich Sie: rufen Sie mir ein Wort zu, ein gutes, tröstendes Wort. Sagen Sie mir, daß Sie meiner gedenken, daß Sie all die gemeinsamen Erlebnisse, Worte, Gedanken, Blicke, noch nicht ganz vergessen haben, daß Sie gleich mir daran festhalten in Treue. Ich zittere bei dem Gedanken, daß Sie mir entfremdet werden könnten. Ich muß etwas haben, woran ich mich halten kann. Versetzen Sie sich in meine Lage! Ich bin ein armer Studierender, Sie sind eine Dame der Gesellschaft. Vielleicht gefeiert, vielleicht umworben – ich weiß es nicht, mag es nicht wissen! Ich will hier etwas aussprechen, was mich schon lange quält; es muß heraus, sonst ersticke ich daran. Es ist mir so vorgekommen, als behandelten Sie mich in letzter Zeit kälter, als wollten Sie los von mir, als blickten Sie gar auf mich herab. Ist es vielleicht deshalb, Thekla, weil ich keine Person von Stand bin, weil ich äußerlich betrachtet, so wenig zu bieten habe? – – Der Gedanke wäre unerträglich! Alles will ich erdulden, nur nicht Geringschätzung. Denn ich bin stolz, bin es immer gewesen und denke, ich habe Grund, es immerdar zu bleiben.

Nehmen Sie diesen Brief auf, als das, was er ist, Thekla! Als den Notschrei eines Menschen, der sich in verzweifelter Lage befindet. Sie müssen mich verstehen und Sie werden mir helfen. Sie können es durch ein Wort. Antworten Sie mir bald! Ich warte.

Ihr

Gabriel.«

Thekla war über diesen Brief sehr bestürzt. Dazu hatte sie Gabriel keinen Grund gegeben. Weder zu dem, 182 was er ihr vorwarf, noch zu dem, was er von ihr forderte, besaß er ein Recht. Wahrlich, niemals hatte sie nach Rang und Stand und äußeren Verhältnissen gefragt bei ihm. Es war unzart von ihm, den Verdacht auszusprechen, daß sie sich von solchen Erwägungen habe leiten lassen. Und das andere, was er zwischen den Zeilen lesen ließ. – Wie konnte er sie abermals vor diese Frage stellen? Hatte sie ihm denn nicht offen genug darauf geantwortet, damals in Tante Wandas Salon? –

Dieses rücksichtslos blinde Vorgehen der Männer! Er mußte doch einsehen, daß das, was er wollte, unmöglich sei! Er berief sich auf das Vergangene; gewiß, auch sie gedachte der glücklichen Kinderzeit. Keines der gemeinsamen Erlebnisse hatte sie vergessen. Die Erinnerung daran war ihr teuer. Sie war seine Freundin, ja! Sie nahm Interesse an seinen Schicksalen, inniges, lebhaftes Interesse. Es freute sie von Herzen, wenn es ihm gut ging, und sie war betrübt, wenn er Kummer und Sorgen hatte. Ihre Gedanken waren viel um ihn beschäftigt. Aber konnte man sich zur Liebe zwingen? –

Das, was sie für ihren Jugendfreund Gabriel Bartusch empfand, dieses trauliche, der Gewohnheit mehr als irgend einem gewaltigen Müssen entsprungene Gefühl, konnte unmöglich die große Liebe sein! Nein, nein, die große Liebe war anders, mußte ganz anders sein. Die kam über einen wie ein Gewitter, schrecklich zugleich und schön, in Schauern des Glückes und der Furcht. Etwas Erhabenes müßte sie haben, wie Religion, etwas Berauschendes, wie Musik, etwas Liebliches, wie der Duft von Blumen. Und darüber hinaus noch das große Geheimnis, das Heilige, das Wunderbare; so war die Liebe.

Aber von alledem hatte ihr Verhältnis zu Gabriel Bartusch nicht das Geringste. Ihr Herz schlug nicht stärker, 183 wenn sie seiner gedachte. Wenn er eine andere geheiratet hätte und mit ihr glücklich geworden wäre, sie würde die erste gewesen sein, sich darüber zu freuen. Sich selbst vermochte sie nicht an seiner Seite sich vorzustellen. Nein, sicherlich, wenn sie ihn geliebt hätte, sie würde so ruhig nicht darüber haben denken können. Und sich durch ein anderes, schwächeres Gefühl binden zu lassen, wäre ihr wie ein Unrecht gegen sich selbst, ja, wie Unehrlichkeit vorgekommen.

Aber in welcher Weise ihm antworten auf seine Frage? Sie wußte ja, wie empfindlich er sei. Um keinen Preis wollte sie ihn betrüben, ihn, der sich das Leben selbst schon so schwer machte. Vor allem sollte er sie nicht der Untreue bezichtigen dürfen!

Thekla mußte sich sagen, daß sie in dieser Sache ja nicht völlig frei sei von Schuld. Nimmermehr hätte sie es soweit kommen lassen dürfen. Hatte sie ihm nicht das Recht eingeräumt, an sie zu schreiben! Hatte sie ihm nicht Freundschaft und Vertraulichkeit gestattet! – Das stammte freilich aus einer Zeit, wo noch keine Erfahrung sie gelehrt hatte, auf ihrer Hut zu sein. Jetzt war sie kein Kind mehr. Und man durfte nicht so zu ihr sprechen, als sei sie es noch. Sie wollte versuchen, ihm das klar zu machen, so schonend wie möglich.

Lange sann sie nach, ehe sie sich daran machte, seinen Brief zu beantworten; denn sie sagte sich, daß es hier auf jedes Wort ankomme. Schließlich meinte sie aber doch, es sei das Beste, ihm so zu schreiben, wie es ihr um's Herz war. Und sie schrieb:

»Lieber Gabriel! Bitte, glauben Sie mir, daß ich wirklich Ihre Freundin bin. Ich habe nicht vergessen, wie gut und freundlich Sie stets gegen mich gewesen sind. Ich denke auch oft an Sie und wünsche Ihnen 184 das Beste für Ihr Leben. Daß Sie jetzt in Ihrem Examen stehen und daß Sie hoffen, es zu bestehen, hat mich sehr interessiert zu hören. Sie werden gewiß ein glänzendes Zeugnis mitbringen, und ich freue mich schon darauf, Sie dann beglückwünschen zu können. Denn hierher zu Ihren Eltern müssen Sie kommen, hören Sie! Ich weiß, wie sich Ihre Mutter nach Ihnen sehnt. Und mit Ihrem Vater wird dann gewiß auch die Aussöhnung kommen. Dann werden Sie mir vieles erzählen müssen. O, wie ich mich darauf freue!

Aber, Gabriel, um eines muß ich Sie bitten: schreiben Sie mir nicht wieder solchen Brief, wie der letzte war! Sehen Sie, ich möchte Ihnen nicht wehe thun, aber das muß ich Ihnen sagen, so war es nicht gemeint, als Sie mich damals fragten, und ich Ihnen zusagte, daß Sie mir schreiben könnten, und daß ich Ihnen antworten würde. Ich kann Ihnen ja doch nicht schreiben, was Sie von mir haben möchten. Alles andere würde ich so gern für Sie thun! Werden Sie mir nun sehr böse sein, daß ich das gesagt habe? Aber sehen Sie, lieber Gabriel, ich muß doch ehrlich sein, ich muß doch sagen, wie ich's empfinde, besonders da Sie selbst mich danach gefragt haben.

O, hätten Sie doch diesen Brief nicht geschrieben! Wir waren so gute Freunde, und ich weiß gar nicht, wie es nun werden wird. Denn ich ahne, daß Sie das traurig machen wird. O, ich bin sehr unglücklich!

Wenn wir uns wiedersehen, will ich versuchen, ganz so zu sein wie früher. Ich bin wirklich Ihre Freundin! Leben Sie wohl! Ich habe das schreiben müssen! Mit herzlichen Grüßen

Ihre

Thekla von Lüdekind.«

185 Als sie ihren Brief fertig hatte, kam er ihr fürchterlich thöricht vor. Aber würde sie einen besseren schreiben können, wenn sie diesen auch zerriß? – Gabriel war ja klug, er würde schon herausfinden, wie sie es meinte. Er mußte doch schließlich einsehen, daß sie im Rechte sei.

So trug sie denn den Brief selbst zum Postkasten, im Innersten unsicher, ob sie das Richtige getroffen habe.

* * *

Seit Thekla im Sommer den Vorzug genossen hatte, bei einer Herzogin aus- und einzugehen, war ihrem Stiefvater Sänger das Selbstbewußtsein bedeutend gewachsen. Er fand, es sei nun an der Zeit, daß er avanciere; der Titel »Finanzrat« war doch eigentlich für einen Mann mit Verbindungen, die bis nahe an den Thron reichten, sehr unscheinbar. Er hoffte allerhand und wälzte Pläne, vor allem aber wollte er die einmal glücklich mit der Hofgesellschaft angeknüpfte Verbindung nicht wieder einschlafen lassen.

Sobald er in Erfahrung gebracht hatte, daß die Herzogin Witwe wieder in der Stadt sei, machte er mit seiner Frau den Ziegrists einen Besuch, den diese, sehr korrekt, baldigst erwiderten. Mit ihnen kam Lilly, »die liebe Thekla« zu besuchen, um welche sie sich in den letzten zwei Jahren in Wahrheit herzlich wenig gekümmert hatte.

Aber auch in Lillys Augen war Thekla durch den Umgang mit der Herzogin bedeutungsvoller geworden. »Du wirst den Winter natürlich bei uns ausgehen!« sagte sie in protegierendem Tone. Mit dem »bei uns« meinte 186 sie den Kreis der Herzogin Witwe, die eine besondere Hofhaltung hatte, und deren kleine Gesellschaften als das Erlesenste galten, was man hatte, erlesener noch als die Hoffestlichkeiten bei dem regierenden Paare.

Und wie Lilly vorausgesagt hatte, kam es. Thekla ging in diesem Winter in dem Kreise aus, der im Salon der alten Herzogin seinen Mittelpunkt sah. Da Sängers durch mangelnden Rang hiervon ausgeschlossen waren, nahm es Frau von Ziegrist auf sich, das junge Mädchen zu beschützen. Diese Dame, welche ihre völlige Vermögenslosigkeit gelehrt hatte zu rechnen, war anfangs gegen Thekla eingenommen gewesen, weil sie in ihr, wie in jedem heiratsfähigen Mädchen, eine Rivalin sah für Lilly. Als sie aber erkannte, daß ihre Herzogin nicht von der unbegreiflichen Schwärmerei lasse für das junge Ding, meinte auch sie, mit Fräulein von Lüdekind ernstlich rechnen zu müssen. Sie beschloß, sich Theklas mütterlich anzunehmen; so behielt man doch noch am ersten Einfluß auf sie, und konnte vielleicht verhindern, daß sie gefährlich wurde.

Thekla fühlte sich in dem neuen Kreise bald heimisch. Es war eine ganz andere Art der Geselligkeit, als sie sie im Winter vorher kennen gelernt hatte, intimer, vornehmer und anmutiger. Verhältnismäßig wenig Personen gehörten dazu, mit denen sah man sich aber desto häufiger. Bälle, wo einem ein paar Dutzend Tänzer vorgestellt wurden, gab es hier nicht. Die Herzogin lud gern zu kleinen Abendgesellschaften ein, wo gelegentlich auch getanzt wurde, wenn genug junge Leute da waren. Sonst musizierte man, stellte lebende Bilder, führte Charaden auf. Von allem Mummenschanz war die alte Herzogin eine große Freundin. Sie liebte es, wenn die Anregung dazu aus der Gesellschaft selbst hervorging. Alles, was sich in den 187 Grenzen des Graziösen hielt, ließ sie gelten. Sie wollte, daß sich ihre Gäste amüsierten, damit sie selbst sich an ihrer guten Laune unterhalten könne. Am liebsten würde sie es gesehen haben, wenn aus ihrer Umgebung sich ein Paar junge Leute in einander verliebt und vor ihren Augen verlobt hätten. Sie liebte die kleinen Aufregungen, die mit solchem Ereignis zusammenhängen. Es erinnerte sie das an die eigene Jugend, die nicht frei gewesen war von Schäferspiel und Abenteuern. Aber zu ihrem Leidwesen schienen die jungen Leute von jetzt viel vernünftiger und gesetzter, als sie es zu ihrer Zeit gewesen. Seit Jahren schon hatte es keine richtige Liebelei mehr in ihrem Kreise gegeben.

Der Löwe dieses Salons und der ausgesprochene Liebling der Herzogin-Witwe war ein Regierungsassessor von Wernberg. Er besaß weit mehr Geschmack und Geschick, als der steife und enge Hofmarschall von Ziegrist. Da er wirklich gute Einfälle hatte, war Herr von Wernberg für die Belustigungen, welche die alte Dame liebte, der gefundene Organisator.

Leo von Wernberg war einer von jenen Menschen, denen, wo immer sie sich bewegen, ganz von selbst, ohne daß sie sich besonders anstrengen, die Führung zufällt. Wie es unter den Pflanzen und Tieren ja auch bestimmte Exemplare giebt, die kraft eines ihnen von Natur innewohnenden Triebes von Anfang an über alle anderen ihrer Gattung hinauswachsen. Auf welchen Eigenschaften dies im einzelnen Falle beruht, ist nicht leicht zu entscheiden. So besaß Wernberg außer einer schlanken Figur und einem gut geschnittenen Gesicht eigentlich nichts, was ihn besonders vor jungen Leuten seines Alters ausgezeichnet hätte. Und doch beugten sich Männer, die älter waren als er und reicher an Erfahrung und Verdienst, 188 unwillkürlich vor ihm. Ob das an der Sicherheit seines Auftretens lag, oder ob diese Sicherheit eine Folge war der Beachtung, die man ihm schenkte, wäre schwer zu sagen gewesen.

»Ein wohlerzogener junger Mann!« Das war das Lob, welches ihm jedermann gern zukommen ließ. Im übrigen wußte man von ihm, daß er auch in seinem Berufe Tüchtiges leiste. Er galt für klug und unterrichtet. Man nahm an, daß er Carrière machen werde. Alles, was er anfaßte, schien zu glücken. Mancher beneidete ihn um sein »unverschämtes Glück«; vielleicht aber bestand das Geheimnis seines Erfolges einfach darin, daß er nichts erstrebte, was außer dem Bereiche seiner Gaben lag.

In jedem Worte, jeder Bewegung merkte man ihm die gute Kinderstube an. Er war unterhaltend, konnte witzig sein, wenn er wollte, legte sich aber für gewöhnlich eine gewisse Zurückhaltung auf.

Es konnte nicht fehlen, daß auf einen Mann von solchen Vorzügen manche Mutter einer unvergebenen Tochter die Augen richtete. Über Herrn von Wernbergs Vermögensverhältnisse zwar war näheres nicht bekannt. Er trat auf wie einer, dem es an nichts gebricht. Sein Vater, seit einigen Jahren tot, war Minister gewesen in einem benachbarten Kleinstaate. Seine Mutter lebte für sich. Die Schwestern waren durch vornehme Heiraten glänzend versorgt.

Er wäre also wohl in der Lage gewesen, eine Frau zu ernähren, selbst wenn sie ihm nichts zugebracht hätte. Übrigens war als sicher anzunehmen, daß die Herzogin-Witwe, wenn ihr Liebling Wernberg sich verlobt hätte, alles gethan haben würde, um die Verbindung zu ermöglichen.

Aber Regierungsassessor von Wernberg hatte bisher 189 nicht die geringsten Anstalten gemacht, darauf hin deutend, daß er gesonnen sei, diesen Wunsch seiner Gönnerin zu erfüllen. Das einzige junge Mädchen, welches er im vorigen Winter ausgezeichnet hatte, war Lilly von Ziegrist gewesen. Im übrigen bevorzugte er die jungen Frauen. Mit denen könne man ungenierter verkehren, sagte er, und außerdem würde man dann nicht immer gleich verlobt gesagt, wenn man mal mehr als drei Worte mit einer gesprochen habe.

Lilly hatte eine Art ehrfurchtsvoller Verehrung für Leo Wernberg. Vor soviel überlegener Sicherheit, wie dieser junge Mann entwickelte, machte ihr loses Mundwerk, das sonst so leicht niemanden verschonte, Halt. In ihm erkannte sie gewissermaßen ihren Meister. Die beiden hatten in vielen Dingen verwandte Anschauungen und ähnlichen Geschmack; aber Wernberg war als der ältere welterfahrener und überlegter. Er hütete sich wohl, obgleich auch er eine Neigung zum Verspotten seiner Umgebung besaß, diesem Hange allzusehr die Zügel schießen zu lassen, wie es Lilly oft zum Schaden ihres Rufes that.

Bisher hatten die beiden auf einem gewissen Scherzfuße gestanden, der intim schien und doch nichts Tieferes bedeutete. Frau von Ziegrist war es, welche die Beziehungen, soviel sie konnte, enger zu knüpfen suchte. In ihren Augen wäre Regierungsassessor von Wernberg das Ideal eines Schwiegersohnes gewesen. Lilly hatte, wenn die Mutter alles überschlug, was an jungen Herren in der Gesellschaft augenblicklich vorhanden war, kaum Aussicht, eine bessere Partie zu machen. Daß es mit dem Vermögen der Wernbergs nichts Glänzendes sei, hatte Frau von Ziegrist zwar längst in Erfahrung gebracht, aber in dieser Beziehung baute sie auf die Herzogin. Im übrigen aber war alles glatt und in schönster Ordnung, wenn er nur anhalten 190 wollte. In diesem Winter hoffte sie auf eine Entscheidung, denn es war Zeit, daß Lilly unter die Haube kam, man konnte ihr schon die dritte Tanzsaison nachrechnen.

Für den Kreis, den die Herzogin-Witwe um sich versammelte, schien dieser Winter besonders lebhaft und lustig werden zu sollen. Ein paarmal war getanzt worden; lebende Bilder und Charaden hatte es auch schon gegeben. Nun regte Wernberg eine neue Idee an: man wollte die bekanntesten Porträts aus dem herzoglichen Museum zur Darstellung bringen. Das Museum enthielt eine Anzahl wertvoller Niederländer und Franzosen.

Der Gedanke wurde originell gefunden, die Ausführung schien nicht allzu schwierig, denn man hatte den alten Herrn von Wächtelhaus da, den Intendanten der herzoglichen Hofbühne. Der erklärte von vorn herein, die Theater-Garderobe stünde zu diesem Zwecke selbstverständlich zur Verfügung.

Die Bilder sollten, um eine möglichst der Wirklichkeit entsprechende Wirkung auszuüben, in Rahmen erscheinen, die denen der Originale nachgeahmt waren, und so gezeigt werden, als hingen sie an der Wand.

Natürlich ging es bei den Vorbereitungen hierzu nicht ohne Eifersüchteleien ab. Vornehmlich die Damen wollten ihre besonderen Pläne und kleinen Herzenswünsche nicht hinter dem Zwecke des Ganzen zurücktreten lassen. Die Wenigsten von ihnen waren mit dem Porträt zufrieden, das gerade sie darstellen sollten. Und nur der Umstand, daß es der allgemein beliebte Wernberg war, der die Rollen verteilte, beschwichtigte die Murrenden.

Ein besonders beliebtes Porträt in der Gallerie, bekannt unter dem Namen: la belle chasseresse, stellte eine reizende Blondine dar, im grünen mit Goldbrokat besetzten Jagdkleide, einen Hut mit Straußenfedern auf 191 dem gelben Haar. Der Maler war unbekannt; der Auffassung nach gehörte das Bild einem Niederländer der nachklassischen Periode zu. Berühmt waren die blauen, träumerischen Augen der belle chasseresse, die Grübchen in dem rosigen Fleisch und der weiße Hals, dessen zarten Ansatz der Brustausschnitt des Kleides gerade noch blicken ließ. Über die Persönlichkeit der Dargestellten war man sich ebenfalls nicht ganz klar; es existierten verschiedene Versionen darüber. Jedenfalls müßte sie eine Dame von Stand gewesen sein.

Wenn ein Porträt dargestellt zu werden verdiente, so war es dieses. Es besaß zwar nicht gerade Weltruf, erfreute sich aber bei den Einheimischen um so größerer Beliebtheit.

Aber gerade hierfür war die Wahl der Darstellerin äußerst schwierig. Diese Mischung von Weib und Mädchen, eine solche Vereinigung von Naivität und Kindlichkeit, wie sie der Maler in die Züge zu legen verstanden hatte, war nicht so leicht aufzutreiben. Leo Wernberg hielt diesen Platz offen, nachdem er alle anderen Rollen bereits besetzt hatte. Verschiedene Damen, die noch unverwendet waren, mochten sich im stillen der Hoffnung hingeben, für die belle chasseresse in Frage zu kommen. Schließlich entschied sich Wernberg für Fräulein von Lüdekind. Die Herren gaben ihm durchweg recht, die Wahl sei eine gute. Die Damen hüllten sich in Schweigen.

Es fanden verschiedene Kostümproben statt, für welche man einen bekannten Historienmaler zugezogen hatte, ferner den Theaterschneider und verschiedene weibliche Wesen aus dem Stande der Putzmacherinnen und Friseusen. Theklas Kostüm war ein Gegenstand besonders eingehender Erwägungen. Es wurde dem jungen Mädchen ganz eigentümlich zu Mute, wildfremde Menschen über Sitz und 192 Farbe eines Kleides verhandeln zu hören, das sie tragen sollte, über ihre Frisur und wie sie sich schminken müsse.

Lilly Ziegrist sollte eine italienische Tänzerin darstellen von braunem Teint, in papageienbuntem Kostüm. Der Reiz dieses Bildes lag in der graziösen Stellung, welche die Tanzende, auf den Fußspitzen schwebend mit zurückgebeugtem Oberkörper, das Tamburin mit beiden Händen über dem Haupte, einnahm. Allgemein wurde Lillys Ausdauer und Geschick in der Durchführung dieser schwierigen Rolle bewundert.

Lilly war hierbei überhaupt in ihrem Element. Das zigeunerhafte Durcheinander von Künstlern, Theaterangestellten, Herren und Damen der guten Gesellschaft, die öffentliche Diskussion intimster Toilettenfragen, die Anwendung von allerhand künstlichen Mitteln zum Hervorbringen gefälliger Effekte, alles das war so recht nach ihrem Geschmacke.

Thekla und Lilly teilten ein Ankleidezimmer. Lilly war seit jener Zeit, wo die beiden als Backfische vertraute Schlafkameraden gewesen waren, keineswegs zurückhaltender geworden. Lillys Ideal war gegenwärtig Herr von Wernberg. Wenn sie Thekla gegenüber von ihm sprach, nannte sie ihn mit Vorliebe: beau Leo. Was er gesagt hatte, wurde getreulich berichtet. Der Sitz seiner Anzüge fand eingehende Würdigung. Sein schmaler Fuß, seine aristokratische Hand, sein schneidiger Schnurrbart, die Farbe seiner Augen waren für Lilly Dinge, über die sie mit einer Mischung von Kennerschaft und Ehrfurcht unerschöpflich zu sprechen vermochte. Was sie damit bei Thekla für Empfindungen errege, fragte sie nicht, ganz erfüllt von diesem interessantesten Thema. »Weißt du! Ich muß mich gegen irgend jemand aussprechen. Ich schwärme für beau Leo. Das heißt, ich bin nicht verliebt, das brauchst du nicht 193 zu denken. Einfach Schwärmerei! Wenn du diesen Unterschied verstehst!« –

Es war keine kleine Aufgabe, der sich Leo Wernberg mit der Inscenierung der historischen Porträts unterzogen hatte. Er hatte alle Hände voll zu thun. Sein Ruf, der liebenswürdigste junge Mann der Gesellschaft zu sein, geriet in diesen Tagen einige Male stark in's Schwanken.

Die Vorstellung war ein großer Erfolg. Jedes Porträt wurde zunächst einzeln gezeigt, darauf sämtliche Bilder an einer großen Wand vereinigt. Die belle chasseresse und das Bildnis eines Van Dykschen Greises stritten um den ersten Preis.

Das regierende Paar war zu diesem Feste eingeladen. Es kam dabei ein wenig Eifersüchtelei zur Geltung gegen die andere Hofhaltung. Man wollte mal zeigen, was man könne.

Herzog und Herzogin sprachen mit einzelnen der Darsteller. Auch Thekla wurde durch eine Ansprache beehrt. Das Hofgesinde aber beeilte sich daraufhin sie zu beglückwünschen. Die alte Herzogin aber ließ »die kleine Lüdekind« zu sich rufen und versetzte ihr vor aller Welt einen richtigen, weithin hörbaren Kuß.

Nach dem Souper, das den Vorführungen folgte, wurde auf höheren Wunsch noch etwas getanzt. Hofmarschall von Ziegrist hatte zu diesem improvisierten Balle in aller Eile die Musik auftreiben müssen. Da es keine Tanzkarten gab, wurden nur Extratouren getanzt. Was bei den historischen Porträts mitgewirkt hatte, blieb im Kostüm. Und die bunten, aus den verschiedensten Jahrhunderten und Ländern zusammengestellten Trachten, eingesprengt zwischen Fracks, Uniformen und moderne Damentoiletten, gaben ein farbenreiches, eigenartiges Bild.

Thekla wurde ineinemfort geholt, kaum daß sie zu 194 Atem kam zwischen den einzelnen Touren. Nach ihrem heutigen Erfolge war sie in Mode gekommen. Die »kleine Lüdekind« reizend zu finden, war nunmehr von allerhöchster Stelle aus gewissermaßen sanktioniert.

Auch Lilly tanzte flott. Sie strahlte vor übermütigem Selbstbewußtsein. Leo Wernberg hatte sie zu Tisch geführt, und nun tanzte er den Souperwalzer mit ihr. Man mußte wissen, was das hieß. Leo Wernberg ein junges Mädchen zu Tisch führen, er, der sonst nur Frauen diese Ehre anthat! Wenn das nicht etwas zu bedeuten hatte! – Frau von Ziegrist, die schon angefangen hatte, den Mut zu verlieren, schöpfte neue Hoffnung, in Herrn von Wernberg doch noch den langersehnten Schwiegersohn zu begrüßen.

Auch Thekla entging es nicht, wie intim sich die beiden da drüben unterhielten. Er und sie, niemand anderes schien für das Paar da zu sein.

Eigentümliche, widersprechende, hassenswerte Gefühle beschlichen das junge Mädchen bei diesem Anblick. Beneiden hätte sie Lilly mögen, beneiden um ihre Unbefangenheit. Wie sie übermütig lachte, wenn er ihr etwas zuflüsterte, wie sie ihm dreist in die Augen blickte, wie herausfordernd ihr ganzes Wesen war. Wie konnte, wie durfte sie das!

Und er, wie verhielt er sich dazu? War es möglich, daß er Gefallen an ihrer Koketterie fand? O sie gefiel ihm, es war nur zu klar!

Reizend apart sah sie ja auch aus in ihrem Kostüm, dessen grelle Farben so raffiniert gut zu ihrem dunklen Teint standen. Und wie leicht und graziös sie tanzte! Die Verkleidung schien ihrem freien Gebahren einen Freipaß zu gewähren.

Und zu denken, daß das ihre Freundin war! Lilly, gerade Lilly, die man so genau kannte in allen ihren 195 kleinen und großen Schwächen! Lilly, von der man wußte, wie vieles unecht an ihr war in Erscheinung und Wesen.

Immer wieder mußten Theklas Augen da hinüberschweifen, wo die beiden saßen, wie sie in lässiger Haltung abwechselnd ihre niedlichen, roten Schuhe und dann wieder ihn anblickte, während er ihr mit dem Tamburin Kühlung zufächelte. Thekla wurde ganz zerstreut darüber und hörte gar nicht mehr auf das, was ihr Herr ihr auseinanderzusetzen sich bemühte.

Hätte sie an Lillys Stelle sein mögen? Thekla legte sich selbst die Frage vor. O nein, sie sehnte sich nach diesem Platze ganz und gar nicht. Sie gönnte es Lilly, daß ihr der Hof gemacht wurde, da es mit solchen Mitteln erkauft war. Man hätte sich für das Mädel schämen mögen; sie warf sich ihm ja vor aller Welt an den Kopf! Und konnte man ihn verstehen, daß er sich so etwas gefallen ließ! –

Bei dem nächsten Tanze holte Wernberg Thekla. Als er sie auf ihren Platz zurückgeführt hatte, sprach er eine Weile mit ihr in höflich zuvorkommender Art. Keine Spur von den Freiheiten, die er sich soeben noch Lilly gegenüber herausgenommen hatte. Wie gern hätte Thekla dem Herrn, der sie von ihm weg zu einer Extratour bat, einen Korb gegeben; aber leider ging das nicht an.

Darauf wurde Damenengagement angesagt. Thekla stand unschlüssig; sollte sie ihn holen? Dort tanzte er eben mit Lilly. Die hatte sich natürlich kein Kopfzerbrechen gemacht, ihn aufzufordern! War es nicht lächerlich, sich so zu ängstigen, wie ein junges Ding, das eben herauskommt? Was war denn dabei, hingehen und ihm eine Schleife anstecken? Der Tanz würde darüber noch vorbeigehen, und sie hätte schließlich weder ihn noch irgend einen anderen geholt. Wozu hatte sie sich dann die Schleife, die sie in der Hand hielt, vom Kissen genommen? –

196 Das Herz klopfte ihr, als sie auf ihn zuschritt durch den Saal. Sicher alle Anwesenden blickten auf sie, sahen, was sie that! Errötend verbeugte sie sich. Und natürlich kam sie nicht in den Takt beim Antanzen. O, wie sie sich schämte! Ganz sicher hatte er etwas gemerkt, ganz sicher hatte sie sich verraten.

 


 


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