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Arthur war durch das Abiturientenexamen gefallen. Er zeigte einige Tage lang große Niedergeschlagenheit, dann tröstete er sich damit, daß er es ja zu Michaelis von neuem versuchen könne.
Seine Mutter hielt ihren Sohn für begabt, und fleißig war er doch ihrer Ansicht nach auch gewesen. Das müde, blasse Aussehen, das er in letzter Zeit oft gehabt, machte ihr Sorge; wenn Arthur sich nur nicht überarbeitet hatte! –
Und nun dieser Mißerfolg! Frau von Lüdekind war geneigt, anzunehmen: hier müsse Ungerechtigkeit im Spiele sein. Warum war gerade Arthur als Einziger in einer Klasse von einigen dreißig Schülern durchgefallen? Das konnte doch unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein!
Finanzrat Sänger, der Vormund, hielt mit seiner Ansicht hierüber zurück. Er wollte es mit Frau von Lüdekind nicht verderben. Obgleich Junggeselle, war er soweit Frauenkenner, um zu wissen, daß man einer Dame nicht widersprechen soll in Fragen, wo mütterliche Eitelkeit mitspielt. Arthur habe wohl Unglück gehabt, sagte er, und die Scharte lasse sich ja leicht wieder auswetzen.
Im übrigen wurde Arthurs Mißgeschick zum Anlaß für den Finanzrat, noch öfter als sonst das Lüdekindsche Haus aufzusuchen. Er war stets gern dazu bereit, seinem 54 »jungen Freunde«, so nannte er Arthur, beizustehen in seinen Arbeiten. Arthur war wütend. Er suchte sich so viel wie möglich dieser lästigen Überwachung zu entziehen; aber Sänger blieb zähe. Er sei das dem Verstorbenen schuldig, erklärte er, der ihm sein Teuerstes, seine Kinder, anvertraut habe. Gewöhnlich kam er in den Abendstunden, und es ergab sich dann ganz von selbst, daß er zum Abendbrot blieb.
Glücklicher als Arthur war Gabriel gewesen; er hatte bei der Abgangsprüfung gut bestanden. Er war von Natur ehrgeizig, und hinter ihm stand ein Vater, der den Knaben von frühester Jugend an zum äußersten Anspannen seiner Gaben angefeuert hatte.
Gabriels Eltern hatten bessere Tage gesehen. Durch Fleiß und Energie war Bartusch in den Besitz eines ganz netten Vermögens gelangt. Er hatte ein nicht mehr ganz junges Fräulein von adeligem Stande geheiratet, die nicht ohne Zögern seinetwillen ihren Namen aufgab. Dann, angefeuert durch seine Frau, die, da sie keinen vornehmen Mann bekommen hatte, wenigstens einen reichen haben wollte, ließ sich Bartusch in gewagte Grundstückspekulationen ein, bei denen er den größten Theil seines sauer erworbenen Geldes zusetzte.
Frau Bartusch hatte daher ihre Ansprüche bedeutend herabstimmen müssen. Sie war jetzt eine verbitterte alte Frau, die ihre Vergangenheit nicht vergessen konnte. Sie interessierte sich für Dinge und Personen, mit denen sie in gar keiner Verbindung mehr stand, las in den Zeitungen vor allem die Familiennachrichten und den Hof- und Gesellschaftsklatsch und regte sich daran auf. Ihre Häuslichkeit vernachlässigte sie mit einer gewissen Absichtlichkeit, weil es unter ihrer Würde sei, sich um dergleichen untergeordnete Dinge zu kümmern. Infolgedessen hatte sich der Gatte 55 die Leitung des Hauswesens bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein angeeignet. Er war zum Kleinigkeitskrämer geworden, der jede Frage bis zur Kleidung der Kinder und zum Ankauf der Lebensmittel hinab, nach seinem Sinne entschied. Bartusch, nicht immer in bester Laune, hatte sich im Umgang mit den Seinen den barschen Ton des Haustyrannen angewöhnt. Von der Gattin wurde das mit Duldermiene ertragen; es war ihr eine Befriedigung, sich immer von neuem sagen zu können: daß sie sich mesalliert habe, und ihm wenigstens fühlen zu lassen, daß er keine Manieren habe.
Am meisten litten die Kinder unter diesen Verhältnissen. Ella war in steter Angst vor dem Vater und suchte sich allen seinen Wünschen im voraus anzupassen. Sie war in der Familie ein kleines, unselbständiges, verscheuchtes Wesen, lebte nur auf, wenn sie sich sicher vor des Vaters Zorn und der Mutter Laune wußte. Gabriel aber zeigte schon frühzeitig einen gewissen Hang zur Auflehnung gegen die väterliche Autorität. Die Mutter wollte darin den Einfluß ihres edleren Geblütes erkennen, das in ihm zum Durchbruch komme. Sie stellte sich unwillkürlich auf Seite des Knaben. Dadurch aber reizte sie nur den Vater, dieses Kind besonders streng zu behandeln.
Kein Wunder, daß ein empfindlicher, ehrgeiziger und geweckter Knabe, wie Gabriel, sich in solcher Lage nicht wohl fühlte. Früh schon suchte er sich für das, was ihm daheim versagt wurde, anderwärts schadlos zu halten. In der Familie des Majors von Lüdekind fand er alles, was ihm sonst an Lebensfreude abging. Wie von einem freundlichen Gestirn ging von dort Licht und Wärme aus, ihn anziehend, wie jeden, der im kalten und dunkeln steht, der Sonnenschein lockt.
Sein Vater begünstigte die Freundschaft mit den 56 Lüdekinds nicht, weil er besorgte, seine Kinder könnten sich im Umgang mit Reicheren und Höhergestellten verwöhnen. Aus entgegengesetzten Gründen aber suchte und begünstigte seine Frau den Umgang mit ihnen. Und in diesem einen Falle erwies sich Frau Bartusch, die sonst ziemlich einflußlos war, stärker als ihr Mann; die Freundschaft zwischen den Kindern der beiden durch Zufall in ein Haus zusammengeführten Familien gedieh.
Schweren Widerstreit gab es, als es galt, für Gabriel einen Beruf zu wählen. Der Vater wollte, daß sein Sohn Techniker werde. Der Junge habe dazu Beanlagung. Besonders im Hochbaufache, sei ein schönes Stück Geld zu verdienen. Die Mutter wiederum wünschte, Gabriel möchte Offizier werden. Hätte sie ihn in schmucker Uniform gesehen, das würde ein Pflaster bedeutet haben für ihren gekränkten gesellschaftlichen Ehrgeiz.
Gabriel selbst hatte weder Lust, Techniker zu werden, noch sehnte er sich nach dem Offiziers-Portepee; sein Ideal war: Künstler. Das schmale Taschengeld des Knaben ging fast ganz für Stifte, Farben, Papier und Leinewand auf. Der Vater ließ die »Pinselei« zu, wie er es nannte, weil er in dieser Thätigkeit keine üble Vorbereitung sah für den Architekten. Als aber Gabriel ernsthaft davon sprach, Maler werden zu wollen, trat er dem ganz energisch entgegen. Das sei weiter nichts als »geniale Faulenzerei«, erklärte er. Der Knabe, der mit Begeisterung an seinem Plane hing, verteidigte ihn eine Zeit lang tapfer; schließlich mußte er sich aber doch dem Willen des Familienoberhauptes fügen, von dessen Unterstützung seine Existenz nun mal abhängig war.
Nach glücklich bestandenem Abiturientenexamen sollte er also seine Studien an einer technischen Hochschule beginnen. Der Abschied vom Elternhause fiel Gabriel nicht 57 sonderlich schwer; für ihn bedeutete er ja nur die Befreiung aus drückendem Joche. Und die akademische Ungebundenheit winkte vielversprechend.
Trotzdem ging er ungern. Das Haus, das er verlassen sollte, umschloß in seinen Mauern ein Kleinod. Um keinen Preis wollte er gehen, ohne von Thekla Abschied genommen zu haben.
Er wünschte sie allein, unbeobachtet von irgend wem, zu sprechen. Aber das war so leicht nicht zu erreichen. Bei dem offiziellen Abschiedsbesuche, den er der Familie Lüdekind abgestattet, waren Mutter und Geschwister dabei gewesen. Auf der Straße sie anzureden, war doch auch nur eine halbe Sache. So lag er denn auf dem Anschlage, ihr Aus- und Eingehen bewachend.
Endlich war ihm das Glück günstig. Thekla ging ohne Hut, eine Schürze vorgebunden, in den Garten. Er eilte ihr nicht sofort nach, beobachtete sie vielmehr noch eine kurze Weile von seinem Fenster aus, sah, wie sie von Boskett zu Boskett und von Beet zu Beet schritt, hier eine Blume pflückend, dort einen Zweig brechend, dann begab auch er sich in den Garten, langsam schlendernd, sich anstellend, als ergehe er sich da ganz zufälligerweise.
Der Garten schmückte sich eben mit den Erstlingen des Frühlings. Schneeglöckchen, Narzissen, Stiefmütterchen und Anemonen leuchteten aus den Quartieren. Einzelne Sträucher waren schon ganz mit Grün behangen, andere hielten noch zurück. Ein paar Fruchtbäume standen im Schmuck ihrer unschuldigen Blüten wie von Schnee überschüttet. Das Pfirsichspalier glich einem Vorhang von duftig rosafarbenem Stoff.
Durch das helle Grün des Strauchwerks sah Gabriel eine blaue Schürze leuchten, und erkannte das blonde Haar der Gesuchten. Obgleich er das Schulwesen 58 glücklich hinter sich hatte, klopfte sein siebzehnjähriges Herz doch wie das eines Schülers. Er ging mit zagenden Schritten über den Rasen auf Thekla zu, die eben an einem Beete kauerte und Schneeglöckchen in ihre offengehaltene Schürze pflückte. Sie wurde seiner erst ansichtig, als er dicht vor ihr stand. Er lüftete den Hut.
Thekla erhob sich. Von der Frühlingssonne war ihr Gesicht schon rosig gefärbt, es rötete sich noch ein wenig mehr, als sie ihm jetzt so von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
»Ich wollte nur Abschied nehmen, weil ich morgen reisen muß«, begann er. Dann berichtete er in Hast, wo es hingehe, was er vorhabe, welche Vorlesungen er hören wollte. Alles war übrigens bei seiner Staatsvisite schon durchgesprochen worden; er sprach auch nur, um sie zu fesseln. Denn er fürchtete, sie könne ihm wieder entschlüpfen.
Theklas anfängliche Befangenheit legte sich schnell. Sie war ihm nicht mehr böse, schon lange nicht mehr. Herzlich hatte sie sich darüber gefreut, daß er sein Examen so gut bestanden; ja sie hatte schon hin und her überlegt, ob es schicklich sei, ihn dazu zu beglückwünschen. Wenn noch ein Rest von Fremdheit zwischen ihnen gewesen wäre, solchem Frühlingsmorgen mußte er weichen. Sie wußte ja, daß er gehen wolle, vielleicht für lange Zeit. Es beschlich sie etwas wie eine bange Ahnung davon, daß man sich so nicht wieder sehen würde, daß dies den Abschluß bedeute ihrer und seiner Kindheit. Da sollte er wenigstens nicht einen unangenehmen Eindruck von ihr mit fortnehmen.
»Wir werden uns also in nächster Zeit nicht sehen, Thekla« sagte er, ermutigt durch ihren freundlichen Blick. »Vielleicht lange nicht sehen! Wirst du . . .« er zögerte, denn es war auf Frau von Lüdekinds Wunsch schon vor einiger Zeit ausgemacht worden, daß sich die Kinder nicht 59 mehr duzen sollten. »Wirst du noch manchmal an mich denken?«
Sie sah ihn ehrlich und ganz ohne Scheu an: »Ja, das werde ich gewiß thun!«
»Und ich werde immerwährend an dich denken, Thekla!« rief er. Seine Stimme zitterte.
Sie gingen dem Hause zu. »Soll ich dir beim Blumenpflücken helfen?« fragte er, mit den Blicken flehend, daß sie dieses Zusammensein verlängern möge.
»Ich danke dir, Gabriel. Ich habe genug Blumen. Es ist für Vaters Bild. Die Mutter stellt jeden Tag einen frischen Strauß davor.«
»Und, Thekla, willst du nicht . . . .« begann er und räusperte sich. »Willst du mir nicht ein Andenken mitgeben an dich?«
Sie blieben beide stehen. Thekla senkte den Scheitel. »Ich habe nichts, Gabriel!« sagte sie aufrichtig betrübt. Aber gleich darauf kam ihr ein Einfall. »Hier nimm ein paar Blumen!« Damit begann sie flink einzelne Blüten aus ihrer Schürze hervorzusuchen, und wand sie zusammen. »Sie werden freilich welken, aber du kannst sie ja auch einpressen in ein Buch, wenn du durchaus ein Andenken haben willst.«
Sie reichte ihm das einfache Sträußchen mit lächelndem Munde. Gabriel war so verwirrt durch ihre Güte, daß er nur mit bebender Hand die Gabe hinnehmen konnte. Ein heißes Begehren war plötzlich in ihm aufgestiegen, sie, wie sie so vor ihm stand, in die Arme zu nehmen und zu küssen, wie er es in der Kinderzeit gethan. Aber er hielt an sich. Auch er fühlte es deutlich, die Kindheit war für sie beide unwiederbringlich dahin. Die vor ihm stand, war kein Kind mehr. Es war etwas an ihr, das ihm Scheu einflößte.
60 Ziemlich kleinlaut sagte er nur: »Ich danke, Thekla! Ich werde deine Blumen pressen. Lebewohl! Ich gehe jetzt.« Damit lüftete er den Hut. Innerlich war er wütend auf sich, daß ihm zum Abschied nichts Eindrucksvolleres eingefallen war.
An der Hausecke blieb er noch einmal stehen und sah sich um. Da stand sie auf dem Kieswege. Mit der einen Hand hielt sie die blaue Schürze, mit der anderen deckte sie die Augen gegen die blendende Sonne. Sie nickte ihm zu.
* * *
Theklas Einsegnung hatte stattgefunden. Gleichzeitig war das Ende ihrer Schulzeit herangekommen. Wenigstens hatte das junge Mädchen das, was der vorschriftsmäßige Lehrplan verlangte, nach Aussage ihres Abgangszeugnisses vollständig in sich aufgenommen.
Aber die Vorsteherin hätte sie gern noch länger behalten. Fräulein Zuckmann trug sich nämlich mit der Absicht, aus den begabtesten Schülerinnen der ersten Klasse eine Art Selekta zu bilden. Diese auserwählten Mädchen sollten freiwillig noch ein oder auch zwei Jahre lang weiter zur Anstalt kommen, und eine Reihe von Aufgaben und Stoffen durcharbeiten, die sonst nicht im Rahmen des gewöhnlichen Unterrichts behandelt wurden. Wer sich dazu befähigt zeigen würde, – so war der Plan – sollte später in den kleinen Klassen selbst Unterricht erteilen dürfen.
Thekla war für diesen Plan begeistert. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, die Schule, der sie sechs Jahre lang angehört hatte, plötzlich und für immer verlassen zu sollen. Sie vermochte sich das Leben einfach 61 nicht vorzustellen, ohne die Pflichten, die sie so lieb gewonnen hatte.
Ihre Freundin Lilly lachte sie aus. Jetzt wo man eine Dame war, wo endlich das schreckliche Backfischtum für immer überwunden war, noch einmal zur Schule gehen, und sich mit dem dummen Zeuge herumschlagen! – Das sollte Thekla doch lieber solchen Mädels überlassen wie den Kalkmeyerschen Zwillingen; die waren häßlich genug dazu. Aber für sie beide hieß es doch nun, ans Ausgehen denken.
Thekla stieß mit ihrem Plane, Fräulein Zuckmanns Selekta zu besuchen auch noch bei anderen auf Widerstand. Frau von Lüdekind behauptete, davon sei bei Lebzeiten ihres Gatten niemals gesprochen worden, und sie könne die Verantwortung nicht auf sich nehmen, etwas zuzulassen, was möglicherweise Eberhardt nicht gebilligt haben würde. Man müsse deshalb des Vormunds Ansicht hören.
Finanzrat Sänger hatte manches Wort zu der Angelegenheit zu sagen. Es wäre die Frage, meinte er, ob es überhaupt gut sei, daß ein junges Mädchen mehr lerne, als durch die Schulbehörde vorgeschrieben. Er beleuchtete den Gegenstand von verschiedenen Seiten, erwog die Gründe für und wieder, gab aber sein Endurteil schließlich dahin ab. daß in unserer Zeit die Mädchen eher zu viel als zu wenig lernten, allzu große Gelehrsamkeit die echte Weiblichkeit gefährde, und drittens – und für ihn das Ausschlaggebende – daß man die Meinung des Verstorbenen hierzu nicht erfahren könne. Darum sei es angezeigt, ehe man etwas thue, was nicht in seinem Sinne sein möchte, von dem ganzen Plane abzusehen.
Thekla war sehr betrübt über die Wendung, die ihre Sache nahm. Es lag ihr wirklich garnicht soviel daran, gelehrt zu werden, ihr kam es vor allem darauf an, 62 Fräulein Zuckmann, der sie für so vieles dankbar zu sein hatte, einen Gefallen zu erweisen. Sie wußte, daß von ihrem Zutritt oder Wegbleiben das Zustandekommen der Selekta – zu der sich nur wenige gemeldet hatten – abhängig gemacht war. Der Gedanke, ihrer Lehrerin eine Enttäuschung zu bereiten, war ihr schrecklich. Und doch hatte sie gar keinen Einfluß darauf; ihre Mutter und der Vormund entschieden darüber.
In ihrer Bedrängnis wandte sie sich an Tante Wanda. Wenn hier jemand helfen konnte, so war sie es.
Wanda Lüdekind hörte die Nichte ziemlich gelassen an, als Thekla aber berichtete, was der Vormund gesagt habe, verfärbte sie sich. Es war Wandas Eigentümlichkeit, leicht die Farben zu wechseln. Hier war eine ihrer empfindlichsten Seiten berührt worden.
Tante Wanda fand nämlich, daß dem Manne in der Welt sowieso viel zuviel Gewalt eingeräumt sei. Überall war die letzte Entscheidung in die Hand der Männer gelegt. Und wie sie meist ausfiel, sah man ja an den tausend Dummheiten und Ungerechtigkeiten, die jeden Augenblick geschahen. Hier wieder solch ein Fall! Hatte einmal ein Mädchen einen vernünftigen Wunsch – auch eine Seltenheit – so war sofort ein Mann da, ihr den zu untersagen. Sie kochte. Sofort wollte sie zu Theklas Mutter gehen, bei der sie lange nicht gewesen, um ihr zu sagen, daß Finanzrat Sänger sich nicht in die Angelegenheiten Theklas zu mischen habe, die ihr Patenkind sei.
In so aufgebrachter Laune trat Fräulein von Lüdekind zur Abendstunde bei ihrer Cousine ein. Die Witwe ahnte nichts Gutes; wenn Tante Wandas Wangen diese abgezirkelten roten Flecke zeigten, wobei ihr feines Näschen völlig weiß wurde, dann war Sturm im Anzuge. Außerdem paßte ihr der Besuch in diesem Augenblicke garnicht. 63 Finanzrat Sänger war bei Arthur oben und konnte jede Minute herabkommen. Die beiden, Wanda und Sänger, würden gewiß Streit beginnen. Auch war es der Witwe aus verschiedenen Gründen nicht recht, wenn die Cousine von des Finanzrats häufigem Hiersein Kenntnis erhielt.
Wanda Lüdekind ging, wie es ihre Gewohnheit war, ohne Umschweif auf ihr Thema los. Thekla, die sich bescheiden entfernen wollte, mußte bleiben, denn um Thekla handelte es sich ja gerade.
Frau von Lüdekind hatte in dieser Frage eine eigene Meinung nicht. Aber wie die meisten unselbständigen Naturen schwebte sie in steter Angst, jemand könne sie zu etwas überreden. So auch hier. Vorher hatte sie sich noch garnicht schlüssig gemacht, was nun eigentlich mit dem Mädchen werden solle. Als sie nun aber sah, daß Wanda Lüdekind für Theklas Idee eingenommen sei, war sie dagegen, nur um jener nicht den Triumph zu gönnen, ihren Willen durchgesetzt zu haben.
»Du solltest froh sein, Ernestine, daß deine Tochter etwas lernen will,« sagte Tante Wanda. »Überhaupt, daß sie einen selbständigen Gedanken hat und ihn sogar auszusprechen wagt; das ist schon etwas, bei einem Mädchen von heute!«
»Ich lege ihr ja auch gar nichts in den Weg!« erwiderte die Mutter. »Im Gegenteil! Ich habe mir das wohl überlegt und mit einem guten Bekannten auch schon darüber gesprochen. Es wird alles für ihre Ausbildung geschehen, was bei jungen Damen unseres Standes üblich ist. Thekla wird Malstunde erhalten, im Klavier soll sie sich weiterbilden . . . .«
»Hör auf!« rief Wanda. »Um Gotteswillen hör auf! Der ganze Jammer der höheren Töchtererziehung! Und damit soll das arme Kind da genudelt werden, auf daß ihre 64 famos gesunde Natur verkümmert, und solch ein schreckliches Wesen, solch ein abgerichteter Papagei aus ihr werde, wie die anderen dummen Dinger sind. Dann adieu herrliche Natürlichkeit!«
Thekla die dabei saß, hörte mit Staunen zu. Also die Tante fand, daß sie eine »famos gesunde Natur« und »herrliche Natürlichkeit« besitze. Sie hatte bisher keine Ahnung davon gehabt, daß man ihr solche Eigenschaften zutraue.
»Leute, die was von Erziehung verstehen, sind auch ganz meiner Meinung,« sagte die Witwe beleidigt. Der Ton, den die Cousine anschlug, reizte sie.
»Für mich kommt es darauf an, was Thekla selbst will«, erwiderte Wanda. »So jung sie ist, bleibt sie für sich verantwortlich. Wir Frauen können gar nicht zeitig genug anfangen, uns in der Selbstverantwortung zu üben. Hindert man Thekla an diesem Entschlusse, so thut man ein großes Unrecht an ihr. Das ist meine Ansicht in der Sache.«
Wieder hörte Thekla mit Staunen, welche Auslegung die Tante ihren Wünschen gab. Wahrlich, an so große Dinge hatte sie dabei gar nicht gedacht! Aber es erwärmte sie doch und machte sie stolz.
Übrigens trat das, was Frau von Lüdekind die ganze Zeit über befürchtet hatte, ein: Finanzrat Sänger kam nun wirklich.
Mit selbstbewußtem sogar ein wenig spöttischem Lächeln verneigte er sich vor Wanda Lüdekind, als wolle er sagen: ›Sehen Sie, mein Fräulein, früher haben Sie in diesem Hause die erste Violine gespielt, nun sind andere daran. Die Zeiten ändern sich eben!‹ –
Wanda gehörte zu den Menschen, die ungemein starke Antipathieen und Sympathieen haben. Sie liebte ihre 65 Freunde mit einer gewissen bewußten Blindheit; an den Leuten, die sie nicht leiden mochte, aber gab es für sie auch kein gutes Haar. Sänger war einer von den Menschen, die ihr von Grund der Seele zuwider waren. Alles an ihm reizte sie zum Widerspruch. Seine Erscheinung: diese Mischung von philiströser Beamtenwürde und erkünstelter Jugendlichkeit. Die geckenhafte Kleidung. Die umständliche Art sich auszudrücken. Die burschikos gezierten Bewegungen, und über alledem ausgegossen das arrogante Selbstbewußtsein eines Mannes, der sich für elegant, liebenswürdig und geistreich hält. Wanda war den Männer im ganzen nicht hold; aber sie mußte sich doch eingestehen, daß sie notwendig seien, ja sie gab sogar zu, daß einige von ihnen wirklich gut und tüchtig sein konnten. Aber dieser Mensch stellte gewissermaßen den Extrakt dar von allem, was ihr den Mann widerwärtig und verhaßt machte. Sänger war in ihren Augen geradezu eine unerlaubte Persönlichkeit. Sie mußte alle ihre Erziehung zusammennehmen, ihm nicht ihren Abscheu ganz ungeschminkt zu zeigen.
Gleichsam, um zu beweisen, wie gefestigt seine Stellung hier sei, zog der Finanzrat das Cigarrenetui aus der Brusttasche und fragte: »Sie gestatten doch wohl, Frau Ernestine?« Die Witwe gestattete, obgleich sie gewünscht hätte, daß er sich in Gegenwart von Wanda Lüdekind nicht solche Freiheiten herausnehme.
Mit einem kleinen verlegenen Lachen sagte sie zu Wanda: »Der Herr Finanzrat kommt manchmal nach Arthur sehen. Ich bin ihm sehr dankbar dafür.« Sie sprach dann weiter über Arthurs Fleiß und wie er sich neuerdings anstrenge, um zu Michaelis ein möglichst gutes Examen zu bestehen.
»Wenn er so weiter macht, garantiere ich Ihnen mindestens eine 2a,« meinte Sänger, sich auf den Hacken 66 wiegend, während er die Hände in die Taschen seines kurzen Röckchens vergrub.
»Wie ich Ihnen schon oft gesagt habe, Frau Ernestine, Arthur ist gar nicht auf den Kopf gefallen. Daß er bisher nicht viel geleistet, liegt einfach daran, daß ihm die rechte Direktion gefehlt hat. Ich fürchte, mein verstorbener lieber Freund war etwas – wie soll ich sagen, um keinen verletzenden Ausdruck zu wählen – er war etwas zu nachsichtig gegen den jungen Mann. Übrigens ein sehr verzeihlicher Fehler! Als unbeteiligter dritter trifft man doch vielleicht eher das Richtige. Jedenfalls ist der junge Mensch jetzt auf dem rechten Wege. Sie haben nichts zu befürchten um seinetwillen, Frau Ernestine, wenigstens so lange es mir gestattet bleibt, ein wenig die Kontrolle über ihn auszuüben,« damit klopfte er mit selbstgefälliger Miene die Asche in den nächsten Becher.
Frau von Lüdekind blickte besorgt nach dem alten Fräulein.
»Wir werden ja sehen, was der Erfolg sein wird,« sagte Wanda Lüdekind nur.
»Wovon der Erfolg, gnädiges Fräulein?« fragte Sänger, und betonte dabei jede Silbe. Er spannte längst auf den Augenblick, mit Tante Wanda anzubinden; sein ganzer Vortrag war darauf berechnet gewesen.
Wanda Lüdekind wollte sich nicht zu einem Streit verführen lassen. Sie kannte sich selbst leidlich gut und wußte, daß sie leicht hitzig wurde. Es lag ihr garnichts daran, sich heut mit Sänger zu streiten. Um Theklas willen war sie hier, Theklas Sache wollte sie in Ordnung bringen.
Sie sann noch nach, was sie antworten solle, als die kleine Agnes in's Zimmer gestürmt kam und direkt auf den Onkel Vormund zueilte, um ihn zu umarmen.
67 Agnes befand sich in jenem Stadium der Entwickelung, das für Mädchen am ungünstigsten ist. Ihre Kindesschönheit hatte sie eingebüßt, und dafür war noch kein Ersatz da. Sie erschien fast geschlechtslos mit ihrer flachen Brust und den knabenhaft eckigen Gliedmaßen. Verlegen sein zu müssen über ihre nackten Arme und den bloßen Hals, hatte sie noch niemand gelehrt. Ohne es zu wissen, bot sie in all ihren Widersprüchen einen beinahe komischen Anblick.
Sänger hatte von jeher mit Agnes auf Neckfuß gestanden. Mit der minder dreisten Thekla war ihm das nie gelungen. Aber für die kleine Agnes war er der spaßhafte Onkel, mit dem man sich jede Albernheit erlauben durfte. Sie ritt auf seinen Beinen, versteckte ihm das Taschentuch und kitzelte ihn. Er rächte sich dadurch, daß er ihr Grimassen schnitt, sie in die mageren Arme kniff, oder sie einfach festnahm und abküßte. Auch heute gab es wieder solchen Kampf, der damit endete, daß der Finanzrat erhitzt in einem Lehnstuhle saß, vor sich zwischen den Knieen die lachende und kreischende Agnes, die er an den Knöcheln festhielt, während sie wehrlos gemacht, ihm auf die Platte pustete, was er, wie sie wußte, gar nicht vertragen konnte.
Frau von Lüdekind, die solche Schäkereien sonst als harmlosen Spaß duldete, war heute Tante Wandas wegen etwas strenger. Sie befahl Agnes, gute Nacht zu sagen und zu gehen. Es zeigte sich jedoch, daß das Mädchen keine besondere Eile hatte, dem mütterlichen Wunsche nachzukommen. Schon mußte mit Strafe gedroht werden, als Thekla eingriff.
»Ich gehe mit und bringe dich zu Bett, Nes!« – so war des Kindes Kosename – damit nahm sie die kleine Schwester an der Hand, die ihr willig folgte.
Wanda war es recht, daß Thekla gegangen. Denn sie war entschlossen, nunmehr die Zukunft ihrer Nichte mit 68 Mutter und Vormund durchzusprechen. Sie sagte es rund heraus, daß sie es für durchaus zweckmäßig halte, wenn Thekla noch ein paar Jahre in Verbindung mit der Schule bleibe, und daß es sie freuen würde, wenn Thekla etwas Tüchtiges erlerne, vielleicht gar das Examen als Lehrerin ablege.
»Das hat sie doch wirklich nicht nötig!« rief Frau von Lüdekind entsetzt.
»Grade weil sie es nicht nötig hat, halte ich es für gut und nützlich für sie. Für uns Frauen der sogenannten besseren Kreise sind die Jahre nach der Konfirmation die gefährlichsten. Man verlernt das bißchen, was man als höhere Tochter gelernt, denkt an allerhand Tand und Unsinn. Dabei wird der Kopf leer und das Herz arm. Ich dachte, Thekla wäre für was Besseres bestimmt als für solchen übertünchten Müßiggang!«
Die Witwe wußte, daß sie gegen Wanda Lüdekind, deren geistige Überlegenheit sie mehr ahnte, als anerkannte, nicht aufkommen könne; hülflos sah sie sich nach dem Vormund ihrer Kinder um.
Finanzrat Sänger war der Unterhaltung der beiden Frauen mit ironischem Lächeln gefolgt. Hier, wo es sich um eine Frauenangelegenheit handelte, war er sich seiner Überlegenheit voll bewußt, denn alles was in dieses Fach schlug, betrachtete er als seine Spezialität.
Jetzt durch Frau von Lüdekind direkt um seine Ansicht angegangen, räusperte er sich zunächst, legte die Cigarre weg und erklärte: »Wenn einmal die Prinzipienfrage aufgeworfen wird, dann sehe ich mich genötigt, Folgendes zu sagen: es ist nicht der Lebenszweck der Frau, über das ihr von der Natur gesteckte Ziel hinauszustreben. Es würde zuweit führen und würde auch nicht einmal für Damenohren ganz passend sein, wollte ich auseinandersetzen, 69 weshalb alles dafür spricht, daß die Frau von Natur nicht zur Selbständigkeit bestimmt ist.«
Jedes Wort, das er sprach, reizte Tante Wanda, aber sie dachte an Thekla und nahm sich zusammen. »Was hat denn das mit unserem Fall zu thun?« fragte sie nur.
»In unserem Falle hat das zu bedeuten: Ein junges Mädchen, das wie unsere Thekla das Glück genießt, in günstigen wenn auch nicht glänzenden Verhältnissen geboren zu sein, welches ferner das Glück genießt, die Mutter zu besitzen,« – damit verbeugte er sich nach der Witwe hin – »das mit einem Worte eine Heimat hat, wenn auch das Familienoberhaupt leider allzu früh abgerufen worden ist, ein solches junges Mädchen würde unrecht thun, wollte es den gesicherten Port im Schoß der Familie, diesen großen Vorteil, aufgeben. Denn es ist und bleibt nun einmal wahr: das junge Mädchen gehört in die Familie.«
»Thekla würde auch garnicht der Familie entfremdet werden,« sagte Wanda, und wunderte sich dabei über die Ruhe, die sie zu heucheln verstand.
»Doch!« erklärte Sänger mit Gewicht. »Es ist eine alte Erfahrung: Frauen, die sich auf ein Gebiet begeben, das von Gottes- und Rechtswegen dem Manne gehört, ich meine also die ganze Klasse der emanzipierten Frauen, bekommen etwas Unweibliches. Der feinste Duft edler Weiblichkeit wird von ihnen abgestreift. Solche Frauen passen dann nicht mehr für das Familienleben. Erfahrungsgemäß bekommen sie auch äußerst schwer einen Mann.«
»Ja ist denn das aller Mädchenerziehung höchstes Ziel, für den Mann abgerichtet zu werden?« konnte sich Wanda Lüdekind nicht enthalten auszurufen. Sofort aber bereute sie ihre Bemerkung, als sie Sängers höhnische Miene sah.
»Gewiß, Sie haben ja insofern recht, gnädiges Fräulein, nicht jedes Mädchen bekommt einen Mann, und nicht 70 jeder Mann nimmt sich eine Frau, wie man zum Beispiel an uns beiden sieht. Aber immerhin werden Sie zugeben, daß die Ehe das Normale ist und der ledige Stand die Ausnahme. Darum soll eine junge Dame so erzogen werden, daß kein Blaustrumpf aus ihr wird, sondern, daß sie womöglich ihren Mann einmal glücklich macht.«
»Und so niedrig schätzen sie also den Mann ein, daß Sie annehmen, eine Gans wird ihn glücklicher machen als eine Frau, die etwas aus sich gemacht hat!« rief das alte Fräulein und lachte wild auf.
»Darüber will ich mich nicht mit Ihnen streiten, Fräulein von Lüdekind. Die Frage ist mir nämlich zu heikel. Ich glaube, wir haben darin beide zu wenig Erfahrung. Aber hier« – damit wieder eine Verbeugung gegen die Witwe – »haben wir eine Mutter. Ihre Ansicht, gnädige Frau, ist schließlich die ausschlaggebende.«
Frau von Lüdekind war dem Wortwechsel mit gemischten Gefühlen gefolgt. Für sie gab es keine Prinzipien. Auch dachte sie niemals weit über das Nächstliegende hinaus. Jede Entscheidung zerfiel für sie in eine Unsumme von kleinen persönlichen Einzelfragen, die ihr schließlich viel wichtiger waren als das Ganze.
In diesem Augenblicke lag ihr daran, daß die beiden: Sänger und Wanda Lüdekind, sich nicht verfeindeten, und vor allen Dingen, daß Wanda sich nicht allzusehr gekränkt fühle. Denn wenn sie selbst auch im Herzen auf Seiten Sängers stand, dessen Ansicht sie unbesehen für die richtige hielt, so sagte sie sich doch andererseits, daß man es mit Tante Wanda nicht ganz verderben dürfe. Wer konnte Wanda denn verhindern, im frischen Ärger eine Testamentsveränderung vorzunehmen? –
Sie versuchte daher dem Gespräche eine etwas harmlosere Färbung zu geben. Ihr Wunsch sei nur der, sagte 71 sie, ihr Kind soviel wie möglich bei sich zu haben. Deshalb würde sie es am liebsten sehen, wenn Thekla den Unterricht, den sie noch brauche, wie Klavier, Singen, Tanzen, möglichst im Hause genieße, oder wenigstens unter ihrer direkten Aufsicht.
»Bravo, so spricht eine Mutter!« rief Sänger. »Man muß nur an den Takt einer echten Frau appellieren, so bekommt man gewiß die richtige Antwort!« Dabei warf er einen triumphierenden Seitenblick auf das alte Fräulein. Der Hieb hatte gesessen.
Wanda Lüdekind verfärbte sich, weniger aus Ärger über die Malice als aus wirklichem Gram darüber, daß sie Theklas Sache so gut wie verloren sah. Sie wandte sich an ihre Cousine. »Ich weiß ja, Ernestine, daß mich das streng genommen nichts angeht, du hast die Erziehung deiner Kinder zu leiten, du ganz allein . . .«
»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, daß ich unterbreche,« ließ sich hier Sänger vernehmen, »aber ich muß diesen Irrtum richtig stellen. Auch ich habe ein Wort mitzusprechen in solchen Fragen, obgleich natürlich nur im Einvernehmen mit der Mutter. Der Verstorbene hat mir nun mal die Ehre angethan, mich zum Vormund seiner Kinder zu ernennen.«
Am liebsten hätte Wanda Lüdekind erwidert: ›Ja, leider hat mein Vetter diese größte aller Dummheiten begangen!‹ Sie schluckte jedoch auch das herunter und immer wieder sich nur an die Cousine wendend, als ob der Mann da Luft für sie sei, fragte sie: »Ich will von dir eine Antwort, Ernestine. Was hast du vor mit Thekla? Willst du ihr erlauben, sich zu einem Menschen zu entwickeln, oder soll sie eine Puppe werden, wie die anderen? Du als Mutter hast allein die Verantwortung. Ich würde dirs sehr verdenken, wenn du dir dein Recht durch irgend wen verkümmern ließest.«
72 »Ach weißt du was, Wanda!« gab die Witwe zur Antwort, der die Fragestellung unbequem war. »Ich glaube, du übertreibst etwas! Wir meinen es doch allesamt gut mit Thekla. Ich denke mir, es ist das Beste, wenn es mit Thekla genau so gehalten wird, wie mit uns allen. Ich habe kein Examen gemacht und du auch nicht, und wir sind doch ganz gut durch's Leben gekommen, Warum soll denn mit Thekla durchaus eine Ausnahme gemacht werden? Ich wünsche mir gar keine gelehrte Tochter. Das würde auch schließlich nicht im Sinne meines guten Eberhardt sein. Und ich muß mich doch nach dem richten, was er gewollt hat!«
»Bravo, bravo!« applaudierte Sänger. »Jetzt haben Sie das lösende Wort gefunden, Verehrte! Der Wille unseres verewigten Freundes muß den Ausschlag geben. Und hierin wenigstens wird uns Fräulein von Lüdekind, dessen bin ich sicher, nicht widersprechen.«
»Allerdings widerspreche ich! Gerade dem widerspreche ich!« rief Wanda und blitzte ihn mit tiefleuchtenden Augen an. »Eberhardt würde auf meiner Seite stehen, wenn er unter uns wäre, und nicht auf der euren.«
»Das ist billig zu behaupten, aber beweisen können Sie das nicht!«
»Was wissen denn Sie von Eberhardt?«
»Vielleicht ebenso viel, wenn nicht mehr als Sie, mein Fräulein! Ich darf mich rühmen, sein Freund gewesen zu sein. Und außerdem haben wir hier einen klassischen Zeugen: seine Witwe.«
»Ach!« machte Wanda Lüdekind nur, mit einer abweisenden Bewegung, als könne sie nicht ausdrücken, was sie auf dem Herzen habe.
»Ich muß allerdings sagen,« mischte sich hier Frau von Lüdekind ein, »ich glaube auch, Eberhardt würde dir 73 nicht beistimmen, Wanda. Obgleich wir ja leider niemals darüber gesprochen haben bei seinen Lebzeiten.«
»Und du willst behaupten, du hättest deinen Mann geliebt, wenn du nicht einmal weißt, wie er über diese wichtigsten Dinge gedacht hat!« rief Wanda Lüdekind außer sich. »Haarklein will ich dir von jeder Sache sagen, wie Eberhardt sie gewollt. Ihr anderen habt eben keine Ahnung von seinem innersten Wesen!«
»Das muß ich denn doch sagen! In Gegenwart seiner Witwe wollen Sie das aufrecht erhalten?«
»Ich weiß, was mir der Verstorbene gewesen ist,« erwiderte Wanda stolz. »Und wenn ich hier über seine Denkweise belehrt werden soll, so lache ich. Er hatte seine schwachen Seiten; ich kannte sie besser als irgend wer. Aber Engigkeit war niemals seine Schwäche.«
»Ich kann mir nicht helfen, das nenne ich Pietätlosigkeit!« rief Sänger.
»Nein, Pietätlosigkeit ist es nicht, sondern ganz etwas anderes,« erwiderte das alte Fräulein, bitter lachend, und erhob sich. »Ganz etwas anderes. – Jeden Morgen Blumen vor Eberhardts Bild stellen, ist keine Kunst. In seinem Geiste und Sinne leben, das wäre schon eher etwas. Aber vieles, was hier vorgeht, ist gewiß nicht nach seinem Herzen.«
»Du wirst doch so nicht gehen!« rief Frau von Lüdekind, die schon wieder die Sorge plagte, Wanda könne dauernd gekränkt sein.
Aber das alte Mädchen war bereits auf dem Wege. 74