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Im Jahre 18 . . verlebte ich den Frühling und einen Teil des Sommers in Paris und lernte dort einen Herrn Auguste Dupin kennen. Dieser junge Mann stammte aus einer guten, man darf wohl sagen, sehr bekannten Familie, war aber durch eine Reihe widriger Umstände so arm geworden, daß darunter sein Lebensmut zusammenbrach, und er sich weder um eine Stellung in der Welt, noch um die Wiedergewinnung seines Vermögens bekümmerte. Seine Gläubiger hatten ihm aus Gefälligkeit einen kleinen Rest seines väterlichen Vermögens gelassen, von dessen geringen Zinsen er bei äußerster Einschränkung notdürftig seinen Unterhalt bestreiten konnte. Natürlich mußte er auf alles irgendwie Entbehrliche verzichten, und Bücher, die man ja in Paris leicht erhalten kann, waren sein einziger Luxus.
Wir trafen uns zum erstenmal in einer kleinen Buchhandlung in der Rue Montmartre, und der Zufall, daß wir beide gerade nach demselben seltenen und merkwürdigen Buch suchten, brachte uns näher zusammen. Von da ab verkehrten wir immer häufiger miteinander. Ich interessierte mich sehr für seine Familiengeschichte, die er mir mit dem ganzen Freimut eines Franzosen, der von sich selber spricht, erzählte. Ich war auch erstaunt über seine ungeheure Belesenheit, und vor allem entzückte mich die wilde Glut und die lebendige Frische seiner Phantasie. Für die Studien, die mich in Paris fesselten, mußte die Gesellschaft eines solchen Mannes von unschätzbarem Wert sein. Ich gestand ihm dies ganz offen, und wir kamen schließlich überein, während meines Aufenthaltes in Paris zusammenzuziehen. Da meine Vermögensumstände besser waren als die seinigen, so hatte er nichts dagegen, daß ich die Wohnung mietete und in dem Geschmack, der zu unserer beiderseitigen phantastisch trüben Stimmung paßte, einrichtete. Es war ein altes, verfallenes, wunderlich aussehendes Haus in einem abgelegenen und trostlosen Teil des Faubourg St. Germain, das lange Zeit wegen eines Aberglaubens, um den wir uns nicht kümmerten, leergestanden hatte.
Es war ein Glück, daß die Welt nichts von dem Leben, das wir dort führten, wußte, man hätte uns sonst für Wahnsinnige, wenn auch vielleicht für Wahnsinnige harmloser Art, erklärt. Wir hielten uns ganz abgeschlossen, und empfingen nie Besucher. Ich verheimlichte allen meinen früheren Bekannten meine neue Adresse, und Dupin war schon seit Jahren in Paris ein Unbekannter geworden. Wir lebten also ganz allein für uns.
Mein Freund hatte eine wunderliche Vorliebe für die Nacht, er schwärmte direkt für sie, und ich teilte bald diese bizarre Neigung wie alle andern, so daß ich mich auch seinen seltsamen Einfällen widerstandslos überließ. Zwar konnte die Göttin der Dunkelheit nicht immer bei uns verweilen, aber wir schufen uns künstlich ihr Reich. Schon beim ersten Morgendämmern schlossen wir die schweren Fensterladen unseres alten Hauses und zündeten eine Reihe stark parfümierter Kerzen an, die nur ein gespenstiges und mattes Licht verbreiteten. Dann überließen wir uns ganz unserm Träumen – wir lasen, schrieben und plauderten, bis uns die Uhr verkündete, daß die wirkliche Dunkelheit gekommen war. Arm in Arm schlenderten wir nunmehr durch die Straße und setzten die Unterhaltung des Tages fort. Oder wir machten ausgedehnte Streifzüge bis tief in die Nacht hinein und suchten inmitten der seltsamen Lichter und Schatten der übervölkerten Stadt nach ungewöhnlichen geistigen Eindrücken, wie sie ein ruhiges Beobachten bietet.
Bei solchen Gelegenheiten mußte ich immer wieder über die hervorragend scharfe analytische Denkkraft Dupins staunen. Wenn er eine Gelegenheit fand, sie auszuüben oder mir gar Proben davon zu zeigen, so machte ihm das ein großes Vergnügen, wie er selbst gern eingestand. Er rühmte sich mir gegenüber mit einem leisen, kichernden Lachen, daß für ihn alle Menschen Fenster in der Brust trügen, und bewies mir dann sofort seine Behauptung durch eine wahrhaft verblüffende Kenntnis meiner geheimsten Gedanken. Sein Benehmen war bei solchen Gelegenheiten kühl und unpersönlich, seine Augen blickten ins Leere, während seine sonst so volle Tenorstimme in einen Diskant überging, der unangenehm geklungen hätte, wenn nicht die ganze Aussprache so behutsam und deutlich gewesen wäre. Wenn ich ihn in solchen Stimmungen sah, dann mußte ich an die alte Theorie von den zwei Seelen im Menschen denken und ergötzte mich an der Vorstellung eines doppelten Dupin, wovon der eine aufbauend und der andere zersetzend dachte.
Eines Tages, als wir gemeinsam die Abendausgabe der »Gazette des Tribunaux« durchsahen, erregte der nachfolgende Artikel unsere Aufmerksamkeit.
»Außergewöhnliche Mordtat. Heute morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartier St. Roch durch ein anhaltendes schreckliches Geschrei aus dem Schlafe geweckt. Das Geschrei kam offenbar aus dem vierten Stock eines Hauses in der Rue Morgue, das ganz allein von einer Madame L'Espanaye und ihrer Tochter, Mademoiselle Camille L'Espanaye, bewohnt wird. Nachdem man eine Zeitlang vergebens versucht hatte, auf gewöhnliche Art in das Haus einzudringen, wurde die Haustür mit einer Brechstange erbrochen, und acht oder zehn Nachbarn traten, begleitet von zwei Polizisten, hinein. Inzwischen hatte das Schreien aufgehört, aber als die Gesellschaft die ersten Treppenstufen hinaufeilte, unterschied man zwei oder mehrere rauhe Stimmen, die wütend miteinander stritten, und zwar schien das aus dem oberen Teil des Hauses zu kommen. Beim Erreichen des zweiten Stockwerkes waren auch diese Laute verstummt, und alles blieb vollkommen still. Die Gesellschaft zerteilte sich jetzt und eilte von einem Zimmer zum andern. Endlich gelangte man im vierten Stockwerk in ein großes, nach hinten gelegenes Zimmer, dessen Tür mit Gewalt erbrochen werden mußte, da sie von innen mit einem Schlüssel verschlossen war. Hier bot sich nun ein Bild dar, das jeden Eindringenden mit Entsetzen und Grauen erfüllte.
Das Zimmer befand sich in wildester Unordnung, die Möbeleinrichtung war zerbrochen und nach allen Richtungen hin verstreut. Aus einer Bettstelle hatte man alle Bettstücke gerissen und sie mitten im Zimmer auf den Boden geworfen. Ein blutbeflecktes Rasiermesser lag auf einem Stuhl, und auf dem Kamin sah man zwei oder drei lange und dicke Strähne von grauem Menschenhaar, das ebenfalls in Blut getaucht war und mit den Wurzeln aus der Haut gerissen zu sein schien. Auf dem Boden fand man vier Goldstücke, einen Ohrring von Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere von Alfenid und zwei Beutel, die ungefähr viertausend Frank in Gold enthielten. Die Schubladen einer in einer Ecke stehenden Kommode waren aufgerissen und offenbar beraubt worden, obgleich sich noch viele Kleidungsstücke darin befanden. Eine kleine eiserne Kassette wurde unter den Bettstücken (nicht unter der Bettstelle) entdeckt. Sie war offen, und der Schlüssel steckte noch im Schloß. Sie enthielt aber nichts als ein paar alte Briefe und sonstige unwichtige Papiere. Von Madame L'Espanaye war keine Spur zu sehen, da man aber an der Feuerstelle eine ungewöhnlich große Menge Ruß bemerkte, untersuchte man den Kamin und zog daraus zum Entsetzen der Anwesenden die Leiche der Tochter hervor. Sie war, mit dem Kopf nach unten, ein großes Stück weit gewaltsam hineingepreßt worden. Der Körper war noch ganz warm, und man fand auf ihm viele Hautabschürfungen, die ohne Zweifel durch die gewaltsame Art, mit der man ihn hinaufgestoßen hatte, verursacht waren. Das Gesicht zeigte eine Reihe schwerer Kratzwunden, und auf der Kehle waren dunkle Flecken und tiefe Eindrücke von Fingernägeln, als ob die Verstorbene erwürgt worden sei.
Nach sorgfältiger, aber ergebnisloser Durchsuchung des ganzen Hauses kam die Gesellschaft in einen kleinen gepflasterten Hof, der ebenfalls nach hinten hinauslag, und hier lag die Leiche der alten Dame. Ihr Hals war so vollständig durchschnitten, daß bei einem Versuch, sie aufzuheben, der Kopf abfiel. Der Körper sowohl wie der Kopf waren so schrecklich verstümmelt, daß sie kaum noch menschenähnlich aussahen.
Bis jetzt hat man, soviel wir wissen, noch nicht den geringsten Anhalt zur Aufklärung des entsetzlichen Dramas gefunden.«
Am nächsten Tage brachte das Blatt noch folgende weiteren Einzelheiten:
»Die Tragödie in der Rue Morgue. Es sind bis jetzt eine große Anzahl von Personen in dieser ganz außergewöhnlichen und entsetzlichen Affäre vernommen worden. Nachstehend geben wir ein Gesamtbild der Zeugenaussagen.
Pauline Dubourg, Wäscherin, erklärt, daß sie die Verstorbenen seit drei Jahren gekannt und für sie gewaschen hat. Die alte Dame und ihre Tochter standen in einem sehr guten, ja herzlichen Verhältnis zueinander. Sie waren prompte Bezahler. Zeugin weiß nicht, wodurch sie ihren Lebensunterhalt erwarben, vermutet aber, daß es durch Kartenlegen geschah. Man glaubte auch, daß sie Geld zurückgelegt hätten. Die Zeugin hat nie eine fremde Person im Hause getroffen, wenn sie Wäsche abholte oder hinbrachte. Sie weiß bestimmt, daß kein Dienstmädchen gehalten wurde. Außer im vierten Stockwerk schien kein Zimmer des Hauses möbliert zu sein.
Pierre Moreau, Tabakhändler, bekundet, daß er seit fast vier Jahren kleinere Mengen Schnupftabak an Madame L'Espanaye verkauft habe. Er ist in der Nachbarschaft geboren und hat dort immer gewohnt. Die Verstorbene und ihre Tochter wohnten in dem Hause, in dem man ihre Leichen fand, seit mehr als sechs Jahren. Vorher hatte ein Juwelenhändler darin gewohnt, der die oberen Räume an verschiedene Parteien weiter vermietete. Das Haus war Eigentum der Madame L., und da ihr die Ausnutzung der Räume durch ihren Mieter nicht paßte, zog sie selbst ein, ohne irgend einen Teil an sonst jemand abzutreten. Die alte Dame war kindisch. Der Zeuge hat die Tochter während der sechs Jahre vielleicht fünf- oder sechsmal gesehen; die beiden lebten außerordentlich zurückgezogen, standen aber im Rufe, wohlhabend zu sein. In der Nachbarschaft wurde erzählt, Madame L. legte Karten – der Zeuge glaubte es aber nicht. Er hat außer der alten Dame und ihrer Tochter nie jemand ins Haus hineingehen sehen, höchstens ein- oder zweimal einen Dienstmann und vielleicht acht- oder zehnmal einen Arzt.
Eine Reihe anderer Zeugen aus der Nachbarschaft machte ähnliche Aussagen. Niemand von ihnen erwähnte, daß Besucher ins Haus kamen; es wußte auch kein Mensch, ob Madame L. oder ihre Tochter lebende Verwandte hätten. Die Laden an den vorderen Fenstern wurden selten geöffnet, und die an der Hinterfront waren überhaupt immer geschlossen, mit Ausnahme des großen Zimmers im vierten Stockwerk. Das Haus war keineswegs alt und befand sich in gutem Zustand.
Isidore Muset, Polizist, sagt aus, er sei gegen drei Uhr morgens herbeigerufen worden und habe vor der Haustür etwa zwanzig oder dreißig Personen getroffen, die versuchten, hineinzukommen. Er brach schließlich die Tür mit seinem Seitengewehr – nicht mit einem Brecheisen – auf. Dieses machte ihm übrigens keine großen Schwierigkeiten, da es eine Doppeltür war, die man weder oben noch unten verriegelt hatte. Die Schreie ertönten fortgesetzt, bis der Eingang erbrochen war, und hörten dann plötzlich auf. Sie schienen von einer oder mehreren Personen in großer Todesangst ausgestoßen zu sein – sie waren laut und langgezogen, nicht kurz und schnell aufeinanderfolgend. Der Zeuge eilte den andern auf der Treppe voran. Als er den ersten Stock erreichte, hörte er zwei Stimmen heftig und laut miteinander streiten. Die eine Stimme war rauh, die andere viel schriller – eine ganz sonderbare Stimme. Er konnte einige Worte der rauhen Stimme verstehen, die von einem Franzosen kam und sicherlich keine Frauenstimme war. Er unterschied die Worte sacré und diable. Die schrille Stimme war die eines Ausländers, ob sie aber eine männliche oder eine weibliche Stimme war, vermochte der Zeuge nicht zu entscheiden. Er konnte auch nicht verstehen, was gesagt wurde, hielt die Sprache aber für Spanisch. Der Zeuge schilderte den Zustand des Zimmers und der Leiche so, wie sie in dem gestrigen Bericht beschrieben wurde.
Henri Duval, ein Nachbar, von Beruf Silberschmied, gibt an, daß er zu den ersten gehörte, die in das Haus eindrangen. Er bestätigt im allgemeinen die Aussagen Musets. Die schrille Stimme hält er für Italienisch, jedenfalls sei es kein Französisch gewesen. Er versteht kein Italienisch, glaubt aber nach dem Klang, daß der Sprecher ein Italiener gewesen sei. Er hat Madame L. und ihre Tochter gekannt und sich öfter mit ihnen unterhalten. Er war sicher, daß die schrille Stimme nicht von ihnen herrührte.
Odenheimer, Speisewirt, meldete sich freiwillig als Zeuge. Da er nicht französisch sprach, mußte er durch einen Dolmetsch vernommen werden. Er stammt aus Amsterdam und kam an dem Hause vorbei, als das Schreien ertönte. Es dauerte etwa zehn Minuten lang, die lauten, langgezogenen Rufe waren entsetzlich und qualvoll anzuhören. Der Zeuge war einer von denen, die mit in das Haus eindrangen. Er bestätigt die vorgenannten Aussagen, nur ist er der festen Ansicht, daß die schrille Stimme die eines Mannes, und zwar eines Franzosen gewesen sei. Er konnte aber die ausgestoßenen Worte nicht verstehen. Sie kamen laut, schnell und ungleichmäßig – es sprach aus ihnen sowohl Furcht als Ärger. Die Stimme war nicht so sehr schrill als mißtönend, er konnte sie eigentlich nicht schrill nennen. Die tiefe Stimme rief wiederholt sacré, diable und einmal mon Dieu.
Jules Mignaud, Bankier, Mitinhaber der Firma Mignaud et Fils, Rue Deloraine. Er ist der ältere Mignaud und gibt an, daß Madame L'Espanaye einiges Vermögen hätte. Sie besaß bei ihm seit etwa acht Jahren ein Bankkonto und machte häufig kleinere Einzahlungen. Sie hatte niemals Geld abgehoben außer an ihrem dritten Tage vor ihrem Tode, wo sie persönlich 4000 Frank holte. Die Summe wurde in Gold ausbezahlt, und ein Beamter begleitete sie mit dem Geld.
Adolphe Lebon, Angestellter der Firma Mignaud et Fils, erklärt, daß er an dem betreffenden Tage gegen Mittag Madame L'Espanaye mit den 4000 Frank, die sich in zwei Beuteln befanden, zu ihrer Wohnung begleitete. Als die Tür geöffnet wurde, erschien Mademoiselle L. und nahm ihm den einen Beutel aus der Hand, während die alte Dame den anderen nahm. Er verneigte sich dann und ging wieder fort. Er hat zu jener Zeit weiter keinen Menschen in der Straße gesehen. Es ist eine sehr einsame Nebenstraße.
William Bird, Schneider, seit zwei Jahren in Paris wohnhaft, war einer von denen, die in das Haus eindrangen. Er hörte die streitenden Stimmen und verstand die Worte sacré und mon Dieu. Die schrille Stimme klang sehr laut, viel lauter als die grobe. Sie war sicherlich nicht die Stimme eines Engländers, sondern wahrscheinlich die eines Deutschen. Vielleicht war es auch eine Frauenstimme. Der Zeuge versteht kein Deutsch.
Vier der vorgenannten Zeugen wurden nun nochmals ausgefragt und bekundeten, daß die Tür zu dem Zimmer, in dem man die Leiche der Mademoiselle L. fand, von innen verschlossen war, als man sie erreichte. Alles war vollkommen still, und man hörte weder Stöhnen noch sonst ein Geräusch. Als die Tür aufgebrochen wurde, war niemand zu sehen. Sowohl im vorderen als im hinteren Zimmer waren die Schiebefenster herabgelassen und von innen fest verschlossen. Eine Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern war zugemacht, aber nicht verschlossen. Die Tür, die aus dem vorderen Zimmer in den Flur führte, war verschlossen, und der Schlüssel steckte innen im Schloß. Es befand sich im vierten Stock am Ende des Flurs, und zwar nach vorne heraus, noch ein kleines Zimmer, dessen Tür halb offen stand. Hier waren alte Betten, Kisten und ähnliches Gerümpel aufgehäuft. Alles wurde herausgenommen und untersucht, wie überhaupt im ganzen Hause nicht der kleinste Winkel undurchsucht blieb. Selbst das Innere der Kamine wurde mit Besen abgetastet. Das Haus hat vier Stockwerke mit Mansardenzimmern darüber. Eine Falltür im Dach war sehr sorgfältig vernagelt und schien seit Jahren nicht mehr geöffnet zu sein. Über die Zeit, die zwischen dem Streit der beiden Stimmen und dem Aufbrechen der Tür verfloß, gingen die Ansichten der Zeugen auseinander. Doch muß es sich um drei bis höchstens fünf Minuten gehandelt haben. Die Tür ließ sich nur mit Schwierigkeiten öffnen.
Alfonso Garcio, Leichenbestatter, wohnt in der Rue Morgue. Er ist ein geborener Spanier und gehört zu den Leuten, die in das Haus eindrangen. Er stieg aber nicht mit die Treppen hinauf, da er nervös ist und sich vor den Folgen der Aufregung fürchtete. Er hörte die streitenden Stimmen und erkannte die rauhe als die eines Franzosen, obgleich er nicht verstand, was gesagt wurde. Er ist überzeugt, daß die schrille Stimme die eines Engländers war. Er versteht zwar kein Englisch, urteilt aber nach dem Klang.
Alberto Montani, Zuckerbäcker, sagt aus, daß er als einer der ersten ins Haus eingedrungen ist. Er hörte die erwähnten Stimmen. Die grobe war die eines Franzosen, der, wie es schien, jemand Vorwürfe machte. Den Sinn der schrillen Stimme konnte er nicht verstehen. Sie war zu schnell und zu ungleich. Er hält sie für die eines Russen. Sonst deckt sich seine Aussage mit der der anderen. Er ist Italiener, hat nie mit einem Russen gesprochen.
Auf besonderes Befragen bekundeten verschiedene Zeugen, daß sämtliche Kamine im vierten Stock zu eng seien, um irgend jemand Durchgang zu gewähren. Die erwähnten Besen waren an Rohren angebrachte zylindrische Bürsten, wie sie die Kaminfeger benutzen. Diese Bürsten würden durch alle Kaminröhren aufwärts und abwärts hindurchgezogen. Eine hintere Treppe, über die jemand hinabgestiegen sein könnte, während die Gesellschaft hinaufeilte, ist nicht vorhanden. Der Körper der Mademoiselle L'Espanaye war so fest in den Kamin hineingepreßt, daß es nur den vereinten Kräften von vier oder fünf Mann gelang, ihn herauszuziehen.
Paul Dumas, Arzt, bekundet, daß er bei Tagesanbruch geholt wurde, um die Leichen zu untersuchen. Sie lagen beide in dem Zimmer, wo man Mademoiselle L. gefunden hatte, auf der Matratze in der Bettstelle. Der Körper der jungen Dame war sehr zerschunden und verletzt, was offenbar von dem gewaltsamen Hineinpressen in den Kamin kam. Die Kehle war am meisten beschädigt. Gerade unter dem Kinn befanden sich verschiedene tiefe Kratzwunden und eine Reihe fahler Flecken, die offenbar von Fingereindrücken herrührten. Das Gesicht war entsetzlich verfärbt und die Augäpfel aus den Höhlen getreten. Die Zunge war teilweise durchbissen. Eine große Quetschung, die wahrscheinlich durch das Einpressen eines Knies entstanden war, wurde über der Magengrube entdeckt. Nach der Ansicht des Herrn Dumas ist Mademoiselle L'Espanaye von einer oder mehreren unbekannten Personen erwürgt worden. Der Leichnam der Mutter wies entsetzliche Verstümmelungen auf. Sämtliche Knochen des rechten Beines und Armes waren zerschmettert, das linke Schienbein fast zersplittert, ebenso wie alle Rippen auf der linken Seite. Überhaupt zeigte der ganze Körper grauenhafte Quetschungen und Verfärbungen. Es schien unmöglich, die Ursache der Verletzungen anzugeben. Eine schwere Holzkeule, eine dicke Eisenstange, ein Stuhl oder sonst eine große, wuchtige, stumpfe Waffe konnten in der Hand eines sehr starken Mannes eine solche Wirkung herbeigeführt haben. Es war ausgeschlossen, daß eine Frau das getan hätte. Der Kopf der Verstorbenen war, als der Zeuge ihn sah, vollständig vom Körper getrennt und größtenteils zerschmettert. Den Hals hatte man offenbar mit einem sehr scharfen Instrument, wahrscheinlich mit dem Rasiermesser durchschnitten.
Alexandre Etienne, Wundarzt, wurde mit Monsieur Dumas zur Leichenschau hinzugezogen. Er bestätigte das Gutachten und die Meinung seines Kollegen.
Obgleich noch eine Reihe weiterer Zeugen vernommen wurde, konnte sonst nichts von Bedeutung ermittelt werden. Noch nie ist in Paris ein so geheimnisvoller und in allen Einzelheiten so unerklärlicher Mord begangen worden – wenn es überhaupt ein Mord gewesen ist. Die Polizei ist vollkommen ratlos – ein ungewöhnlicher Fall bei einer so blutigen Tat. Es gibt auch nicht die geringste Spur, die zur Entdeckung der Täter führen könnte.«
Die Abendausgabe der Zeitung berichtete, daß im Stadtviertel St. Roch noch immer die größte Aufregung herrsche. Man habe die betreffenden Baulichkeiten aufs neue sorgfältig durchsucht und die Zeugen noch einmal vernommen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Eine spätere Notiz meldete, daß Adolphe Lebon verhaftet und abgeführt worden sei, obgleich außer den schon berichteten keine neuen Verdachtsgründe gegen ihn vorlagen.
Dupin schien sich für den Fortgang dieser Ereignisse sehr zu interessieren, wenigstens schloß ich das aus seinem Benehmen, denn er sprach nicht darüber. Erst nach der Mitteilung von der Verhaftung Lebons fragte er mich um meine Meinung über die Mordtaten.
Ich konnte mich nur dem Urteil von ganz Paris anschließen, daß diese Geschichte ein unlösbares Geheimnis sei. Ich fand keine Spur, die es ermöglichen könnte, den Mörder aufzufinden.
»Wir dürfen die Spuren nicht nach der bisherigen, höchst oberflächlichen Untersuchung beurteilen«, meinte Dupin. »Die Pariser Polizei gilt allgemein für scharfsinnig, ist aber nur schlau und nichts mehr. In ihrem Vorgehen steckt keine Methode, sie läßt sich von zufälligen Umständen leiten. Sie macht immer ein großes Wesen von den Maßnahmen, die sie getroffen hat, aber manchmal passen diese so wenig zu ihrer Aufgabe, daß man unwillkürlich an Monsieur Jourdain denkt, der bekanntlich seinen Schlafrock anzog, um die Musik besser verstehen zu können. Mitunter gelingen der Polizei überraschende Ergebnisse, die sie dann aber meist nur ihrem Eifer und ihrer Energie verdankt. Wo diese Eigenschaften nichts nützen, da nützt auch nichts ihr angeblicher Scharfsinn. Vidocq zum Beispiel hatte Einfälle und besaß eine große Ausdauer. Aber ihm fehlte das geschulte Denken, und so brachte ihn gerade sein eifrigstes Forschen auf falsche Wege. Seine Einfälle nutzten ihm nichts, weil er sich nicht von den Tatsachen losmachen konnte. Einen oder zwei Punkte durchschaute er mit ungewöhnlicher Klarheit, aber während er sich darin verbohrte, verlor er die Übersicht über das Ganze. Man kann manchmal auch zu gründlich vorgehen, und die Wahrheit liegt nicht immer in der Tiefe eines Brunnens.
Was nun diesen Doppelmord angeht, so wollen wir unsere eigene Untersuchung veranstalten, ehe wir uns ein Urteil darüber bilden. Die Nachforschung wird uns Vergnügen machen« – ich hielt diesen Ausdruck für sehr unangebracht, sagte aber nichts –, »und im übrigen hat mir Lebon einmal einen Dienst erwiesen, für den ich ihm dankbar bin. Wir wollen uns das Haus einmal ansehen, ich kenne G., den Polizeipräfekten, und werde die nötige Erlaubnis leicht bekommen.«
Nachdem wir die Erlaubnis erhalten hatten, begaben wir uns sofort nach der Rue Morgue. Sie ist eine der elenden Durchgangsstraßen zwischen der Rue Richelieu und der Rue St. Roch. Da dieses Stadtviertel weit von dem unsrigen entfernt war, kamen wir erst spät am Nachmittag an. Das Haus war leicht gefunden, denn eine Menge Menschen stand an der andern Straßenseite und starrte mit zweckloser Neugierde auf die geschlossenen Fensterladen. Es war das übliche Pariser Haus mit einem Toreingang, neben dem sich das Beobachtungsfensterchen der Portierloge befand. Wir schritten zunächst einmal die Straße auf und ab und betraten eine Seitengasse, die uns mit einer neuen Wendung zur Hinterfront des Gebäudes führte. Während dieser Zeit beobachtete Dupin nicht nur das Haus, sondern auch die ganze Nachbarschaft mit einer Genauigkeit, für die ich keinen Grund wußte.
Wir gingen dann wieder zurück an den Haupteingang, klingelten und zeigten unseren Ausweis, worauf wir durch die diensthabenden Beamten eingelassen wurden. Wir erstiegen die Treppe und kamen in das Zimmer, wo man den Leichnam der Mademoiselle L'Espanaye gefunden hatte, und wo die beiden Toten noch immer lagen. Man hatte, wie meist in solchen Fällen, alles in der ursprünglichen Unordnung gelassen. Ich bemerkte nichts, was nicht auch schon in der »Gazette des Tribunaux« erwähnt war. Dupin untersuchte sorgfältig jeden Gegenstand, auch die beiden Leichen. Dann gingen wir durch die andern Zimmer und auch in den Hinterhof, wobei uns überall ein Polizist begleitete. Die Untersuchung zog sich bis zur Dunkelheit hin, worauf wir uns verabschiedeten. Auf dem Heimwege betrat mein Freund auf einen Augenblick den Geschäftsraum einer Tageszeitung.
Ich habe schon gesagt, daß Dupin allerlei Schrullen hatte, mit denen ich mich abfinden mußte. Diesmal lehnte seine Laune jede Unterhaltung über die Angelegenheit bis zum Mittag des nächsten Tages ab. Dann fragte er mich plötzlich, ob mir etwas Ungewöhnliches in bezug auf die Roheit des Verbrechens aufgefallen sei.
Er betonte den Ausdruck »etwas Ungewöhnliches« so seltsam, daß ich unwillkürlich schauderte.
»Nein, nichts Ungewöhnliches«, antwortete ich, »wenigstens nichts, was wir nicht auch in der Zeitung schon gelesen haben.«
»Die Gazette«, entgegnete er, »ist leider nicht genug auf das ungewöhnlich Grauenhafte der Tat eingegangen. Aber wir wollen uns mit den törichten Ausführungen dieser Zeitung nicht weiter abgeben. Ich glaube, daß man das Geheimnis aus demselben Grunde für so unlösbar hält, der mir die Lösung so leicht erscheinen ließ – nämlich weil das Ganze einen so unnatürlichen Charakter hatte. Die Polizei ist verblüfft über das anscheinende Fehlen eines Motives – nicht für den Mord selbst, aber für die Roheit, mit der er ausgeführt wurde. Sie kommt auch nicht über die scheinbare Unmöglichkeit hinweg, die Tatsache der sich streitenden Stimmen mit der Abwesenheit irgend welcher lebenden Personen in dem abgeschlossenen Zimmer in Übereinstimmung zu bringen, besonders da es keinen Ausgang außer der Vordertreppe gab. Das wilde Durcheinander in dem Zimmer, der mit dem Kopf nach unten in den Kamin hineingepreßte Leichnam, der grauenhaft verletzte Körper der alten Dame, dies und das übrige, was ich nicht noch einmal aufzuzählen brauche, haben genügt, um den gerühmten Scharfsinn der Kriminalbeamten vollständig zu lähmen und sie auf falsche Bahnen zu lenken. Sie sind in den groben, aber häufigen Irrtum verfallen, das Ungewöhnliche mit dem Unmöglichen zu verwechseln. Aber gerade solche Abweichungen vom Gewöhnlichen führen zur Entdeckung der Wahrheit, wenn diese überhaupt gefunden werden kann. Bei Untersuchungen wie der hier vorliegenden soll man nicht so sehr fragen: Was ist geschehen? sondern: Was ist das ganz Neuartige an dem Geschehenen? Tatsächlich ist die Leichtigkeit, mit der ich die Lösung des Geheimnisses finden werde oder schon gefunden habe, die direkte logische Folge seiner anscheinenden Unlösbarkeit in den Augen der Polizei.«
Ich starrte meinen Freund in stummem Erstaunen an.
»Ich erwarte jetzt«, fuhr er fort, indem er nach der Tür unseres Zimmers blickte, »einen Mann, der, wenn er auch vielleicht nicht der Urheber dieser Bluttaten ist, doch in gewissem Maße in ihre Ausführung verwickelt sein muß. An dem schlimmsten Teil der begangenen Verbrechen ist er wahrscheinlich unschuldig. Ich glaube, daß sich meine Annahme als richtig erweisen wird, denn darauf stützt sich meine Hoffnung, das ganze Rätsel lösen zu können. Ich erwarte diesen Mann hier in diesem Zimmer, und zwar kann er jeden Augenblick eintreten. Es ist möglich, daß er überhaupt nicht kommt, aber die Wahrscheinlichkeit spricht für sein Kommen. Sollte er hereintreten, dann müssen wir ihn festhalten. Hier sind Pistolen, wir verstehen ja beide, sie im Notfalle zu gebrauchen.«
Ich nahm die Pistolen, ohne daß ich wußte, was ich tat, und etwas von dem Gehörten zu glauben, während Dupin in seinen Ausführungen wie in einem Selbstgespräch fortfuhr.
»Daß die streitenden Stimmen«, sagte er, »die die Gesellschaft auf der Treppe hörte, nicht die Stimmen der Frauen sein konnten, ist klar bewiesen. Wir brauchen uns also nicht bei der Annahme aufzuhalten, die alte Dame habe zuerst ihre Tochter umgebracht und dann Selbstmord begangen. Ich erwähne den Punkt nur, um methodisch vorzugehen, denn Madame L'Espanaye hatte auch schwerlich die nötige Kraft, um den Leichnam ihrer Tochter in einer solchen Art in den Kamin zu pressen. Außerdem ist bei den Wunden an ihrem Körper ein Selbstmord völlig ausgeschlossen. Es ist also von einer dritten Partei ein Mord begangen worden, und man hat die Stimmen dieser dritten Partei sich streiten gehört. Lassen Sie mich nun übergehen – nicht zu der ganzen Zeugenaussage über diese Stimmen – aber zu dem, was ungewöhnlich an dieser Zeugenaussage war. Ist Ihnen daran etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Ich bemerkte, daß alle Zeugen darin übereinstimmten, die rauhe Stimme sei die eines Franzosen gewesen, daß aber die Aussagen über die schrille oder, wie einer sie nannte, mißtönende Stimme weit auseinandergingen.
»Das ist klar«, sagte Dupin, »aber es betrifft noch nicht das Ungewöhnliche an den Zeugenaussagen. Ihnen ist also nichts Besonderes aufgefallen, und doch gab es etwas Besonderes. Die Zeugen stimmten, wie Sie bemerkten, über die rauhe Stimme überein. Hierüber herrschte Einmütigkeit. Was nun aber die schrille Stimme angeht, so liegt hier das Ungewöhnliche nicht in dem Auseinandergehen der Auffassung, sondern darin, daß ein Italiener, ein Engländer, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose sie jeder als die eines Ausländers beschrieb und sicher war, daß es nicht die eines Landsmannes gewesen sei. Keinen schien sie an eine ihm geläufige oder bekannte Sprache zu erinnern, sondern an das Gegenteil. Der Franzose, der kein Spanisch verstand, hielt es für Spanisch, der Holländer, der des Französischen nicht mächtig war, für Französisch, der Engländer, der nie Deutsch gehört hatte, für Deutsch, und so weiter. Wie ungewöhnlich muß nun diese Stimme gewesen sein, daß sie solche Zeugenaussagen veranlassen und den Vertretern von fünf großen europäischen Sprachen nichts Verwandtklingendes bieten konnte. Sie werden einwenden, es könnte die Stimme eines Asiaten oder eines Afrikaners gewesen sein. Weder Asiaten noch Afrikaner sind häufig in Paris, aber ohne den Einwurf abzuweisen, möchte ich Sie bitten, auf drei Punkte zu achten. Ein Zeuge nennt die Stimme eher mißtönend als schrill. Zwei andere haben sie als schnell und ungleichmäßig bezeichnet. Drittens erwähnt kein Zeuge, daß Worte oder wortähnliche Laute zu unterscheiden waren.
Ich weiß nicht«, fuhr Dupin fort, »welchen Eindruck ich bis jetzt mit meinen Ausführungen auf Sie gemacht habe, aber ich stehe nicht an, zu behaupten, daß man allein schon durch die Zeugenaussagen über die rauhe und die schrille Stimme auf eine Vermutung kommt, die die richtigen Wege zur Aufdeckung des Geheimnisses zeigt. Welcher Art diese Vermutung ist, das will ich jetzt noch nicht sagen. Jedenfalls war sie für mich stark genug, um meinen Untersuchungen in dem Zimmer eine ganz bestimmte Richtung zu geben.
Versetzen wir uns in Gedanken noch einmal in dieses Zimmer zurück. Wonach werden wir da vor allem suchen? Nach dem Wege, auf dem die Mörder entkommen sind. Es ist selbstverständlich, daß wir beiden hier nicht an übernatürliche Ereignisse glauben, Madame und Mademoiselle L'Espanaye sind nicht durch Geister getötet worden. Die Täter waren Wesen von Fleisch und Blut und sind auch nicht auf eine übernatürliche Art entkommen. Aber wie? Glücklicherweise gibt es nur eine Art logischer Folgerung, und die muß uns hier zu einem Ergebnis führen. Prüfen wir, eine nach der andern, die Möglichkeiten des Entkommens. Es ist klar, daß die Mörder sich in dem Zimmer, in dem man Mademoiselle L'Espanaye auffand, oder in dem anstoßenden noch befanden, als die eindringende Gesellschaft die Treppe hinaufeilte. Es kann sich also nur um Auswege handeln, die von einem der beiden Zimmer ausgingen. Die Polizei hat die Dielen, die Decken und das Mauerwerk der Decken überall bloßgelegt, kein geheimer Ausgang wäre ihrer Sorgsamkeit entgangen. Ich habe aber ihren Augen nicht getraut und selber gesucht, es ist kein geheimer Ausgang vorhanden. Beide Zimmertüren, die zum Flur führten, waren sorgfältig verschlossen, und die Schlüssel steckten innen. Nehmen wir die Kamine vor. Obgleich sie unmittelbar über den Feuerstellen acht oder zehn Fuß breit sind, lassen sie in ihrem ganzen Verlauf nicht einmal den Leib einer großen Katze durch. Da also alle andern Auswege unmöglich sind, so wenden wir uns zu den Fenstern. Durch die Fenster an der Vorderwand des Hauses konnte niemand entkommen, ohne von der Menge auf der Straße bemerkt zu werden. Die Mörder müssen also unbedingt durch die Fenster des Hinterzimmers entkommen sein. Nachdem wir auf einem so unwiderleglichen Wege zu dieser Schlußfolgerung gekommen sind, dürfen wir uns durch irgendeine scheinbare Unmöglichkeit nicht davon abbringen lassen. Es bleibt uns nur übrig, zu beweisen, daß diese scheinbare Unmöglichkeit gar keine Unmöglichkeit ist.
In dem Zimmer gibt es zwei Fenster. Das eine liegt ganz frei, keine Möbelstücke stehen davor. Die untere Hälfte des zweiten Fensters ist durch das Kopfende der schweren Bettstelle verdeckt, die fest dagegen angeschoben ist. Man fand, daß das erstgenannte Fenster von innen fest verschlossen war. Es widerstand der größten Kraftanstrengung, es hochzuschieben. Man entdeckte an der linken Seite im Rahmen ein großes Bohrloch, in das ein kräftiger Nagel fest bis zum Kopf hineingetrieben war. Bei der Untersuchung des andern Fensters fand man einen ähnlichen Nagel auf ähnliche Weise angebracht. Auch hier führte ein kräftiger Versuch, die Scheibe hochzuschieben, zu keinem Ergebnis. Die Polizei war nunmehr vollkommen davon überzeugt, daß ein Entkommen auf diesem Wege nicht stattgefunden habe, und hielt es für überflüssig, die Nägel zu entfernen und die Fenster zu öffnen.
Meine eigene Untersuchung war aber etwas eingehender, und zwar aus dem Grunde, weil ich wußte, daß alle diese offenbaren Unmöglichkeiten in Wirklichkeit doch keine sein konnten.
Ich begann nachträglich folgenden Gedankengang. Die Mörder waren durch eins dieser Fenster entkommen. In diesem Falle konnten sie die Fenster nicht von innen wieder so festgemacht haben, wie man sie fand – eine Schlußfolgerung, deren Klarheit jedes weitere Forschen der Polizei an diesem Punkte zu Ende brachte. Da die Fenster nun von innen verschlossen waren, so mußten sie die Fähigkeit haben, sich von selbst zu verschließen. Eine andere Möglichkeit gab es gar nicht. Ich trat also an den freistehenden Fensterrahmen, entfernte mir vieler Mühe den Nagel, und versuchte die Scheibe hochzuschieben. Sie widerstand, wie ich vermutet hatte, allen meinen Bemühungen. Ich wußte jetzt, daß es eine verborgene Feder geben müßte, und diese Übereinstimmung mit meiner Idee überzeugte mich, daß meine Schlüsse richtig waren, so rätselhaft der Umstand mit den Nägeln bis jetzt noch war. Ein sorgfältiges Suchen brachte die verborgene Feder zum Vorschein. Ich drückte darauf und verzichtete, zufrieden mit der Entdeckung, auf das Aufziehen der Scheibe. Ich setzte nun den Nagel wieder hinein und betrachtete ihn aufmerksam. Eine Person, die durch dieses Fenster geklettert war, hätte es wieder schließen können, und die Feder wäre eingeschnappt. Aber der Nagel konnte nicht wieder hineingesteckt werden. Die Folgerung war klar und verringerte das Feld meiner Untersuchungen. Die Mörder mußten durch das andere Fenster entkommen sein. Angenommen nun, die Federn waren bei beiden Fenstern die gleichen, dann mußte es einen Unterschied in den Nägeln geben oder wenigstens in der Art, wie sie angebracht waren. Ich stieg auf die Matratze der Bettstelle und besah mir über das Kopfende hinweg genau den zweiten Fensterrahmen. Ich bog meine Hand hinunter und entdeckte sofort die Feder. Ich drückte darauf, sie war, wie ich vermutet hatte, genau wie die andere. Ich betrachtete jetzt den Nagel. Er war so kräftig wie der erste, und offenbar auch ebenso angebracht, da er fast bis zum Kopf hineingetrieben war.
Jetzt werden Sie sagen, ich habe vor einem unlöslichen Rätsel gestanden. Aber wenn Sie das glauben, dann mißverstehen Sie die Natur meines Denkens. Um einen Jagdausdruck zu gebrauchen, ich hatte auch nicht einen Augenblick die richtige Fährte verloren. In der Kette meiner Folgerungen fehlte kein Glied. Ich war dem Geheimnis bis zum letzten Punkt gefolgt, und dieser Punkt war der Nagel. Er sah, wie ich schon erwähnte, genau so aus wie der in dem andern Fenster, aber diese Tatsache, so zwingend sie zu sein schien, wollte gar nichts besagen gegen die Feststellung, daß hier an diesem Punkte meine Fährte zu Ende ging. Es muß etwas mit dem Nagel nicht stimmen, sagte ich mir. Ich faßte ihn an und hielt den Kopf mit ungefähr einem Viertel der Nagellänge in meinen Fingern. Der Rest befand sich in dem Bohrloch, in dem er abgebrochen war. Die Bruchstelle war alt und ziemlich verrostet. Ich steckte jetzt das Kopfende sorgfältig wieder an die Stelle, woher ich es genommen hatte, und der Nagel sah wieder ganz heil aus. Indem ich auf die Feder drückte, hob ich leise das Fenster ein paar Zoll breit empor, und der Nagelkopf ging mit. Ich schloß wieder das Fenster, und der Nagel sah vollkommen so aus wie vorher.
Soweit war nun dieses Rätsel gelöst. Der Mörder war durch das Fenster hinter dem Bett entkommen. Indem es von selbst herabglitt oder auch herabgezogen wurde, hatte es sich durch das Einschnappen der Feder geschlossen. Und da die Polizisten den Widerstand der Feder für den des Nagels hielten, so glaubten sie, daß eine weitere Untersuchung unnötig sei.
Die nächste Frage war die nach der Art des Hinabsteigens. Über diesen Punkt hatte mich der Spaziergang belehrt, den ich mit Ihnen um das Gebäude herum gemacht habe. Etwa fünfeinhalb Fuß von dem betreffenden Fenster entfernt läuft ein Blitzableiter herab. Von diesem Blitzableiter aus konnte unmöglich jemand das Fenster erreichen oder gar hineinklettern. Ich bemerkte aber, daß die Fensterblenden im vierten Stock von jener besonderen Art waren, die die französischen Tischler Ferrades nennen. Diese Blenden, die jetzt selten geworden sind, die man aber an sehr alten Häusern in Lyon und Bordeaux noch häufig antrifft, haben die Form einer gewöhnlichen Tür (und zwar einer einfachen, nicht einer Doppeltür). Die untere Hälfte ist durch Querstäbe mit Abständen gegittert, so daß sie einen ausgezeichneten Halt für die Hände bietet. Im vorliegenden Fall sind die Laden mindestens dreieinhalb Fuß breit. Als wir sie von der Hinterfront des Hauses aus sahen, waren sie halb geöffnet, das heißt, sie standen rechtwinklig von der Wand ab. Es ist anzunehmen, daß die Polizei, ebenso wie ich es tat, die Rückseite des Gebäudes besichtigt hat. Aber indem sie so diese Ferrades von der Seite sah, bemerkte sie nicht ihre große Breite oder hat sich jedenfalls über den Umstand weiter keine Gedanken gemacht. Im übrigen hatte sie sich ja schon die feste Meinung gebildet, daß an dieser Seite ein Entweichen nicht stattgefunden habe, und veranstaltete natürlich hier nur eine sehr oberflächliche Untersuchung. Mir aber wurde klar, daß die Blende, die zu dem Fenster am Kopfende des Bettes gehörte, wenn sie dicht an die Wand heranschwingen würde, bis auf zwei Fuß an den Blitzableiter herankäme. Es war also einleuchtend, daß bei Anwendung eines ganz ungewöhnlichen Maßes von Behendigkeit und Mut ein Eindringen in das Fenster von dem Blitzableiter aus habe stattfinden können. Ein Räuber, der also zweieinhalb Fuß weit greifen konnte (wir nehmen jetzt an, daß die Blende vollständig zurückgeschlagen war), der konnte auch einen festen Halt an dem Gitterwerk gewinnen. Wenn er sich dann mit den Füßen fest abstieß, und dem Laden einen kühnen Schwung gab, dann kam er mit dem sich schließenden Laden dicht an das Fenster und vielleicht sogar direkt in das Zimmer. Beachten Sie aber wohl, daß ich ein ganz ungewöhnliches Maß von Behendigkeit für notwendig erklärt habe, um ein so gefährliches und schwieriges Unternehmen durchzuführen. Ich wollte Ihnen erstens einmal zeigen, daß die Sache so möglich gewesen ist, zweitens und hauptsächlich wollte ich Ihnen aber einprägen, welch ein ganz außerordentliches, ja fast übernatürliches Maß von Gewandtheit dazu gehört haben muß.
Sie werden nun zweifellos sagen, daß ich, um einen juristischen Ausdruck zu gebrauchen, zur Klarstellung des Falles nicht gerade die Schwierigkeiten der Ausführung zu sehr betonen müßte. Dies mag einem Juristen praktisch erscheinen, aber bei vernunftgemäßem Denken ist es ein Fehler. Hier aber möchte ich Ihnen zweierlei so deutlich wie möglich vor Augen stellen, nämlich die soeben erwähnte, ganz ungewöhnliche Behendigkeit und dann die überaus eigenartige, schrille (oder mißtönende) und ungleiche Stimme, über deren Nationalität sich auch nicht zwei Zeugen einigen konnten, und in deren Lauten gar keine erkennbaren Worte zu unterscheiden waren.«
In diesem Augenblick tauchte in mir eine unbestimmte und blasse Ahnung von dem auf, was eigentlich Dupins Meinung war. Ich war nahe daran, ihn zu verstehen, ohne daß ich aber völlige Klarheit gewinnen konnte, geradeso wie man sich öfters dunkel an etwas erinnert, ohne aber zu wissen, was es eigentlich ist. Mein Freund fuhr inzwischen in seinen Ausführungen fort.
»Sie werden bemerkt haben«, sagte er, »daß ich von der Art, wie der Täter entkommen ist, zu der Art des Eindringens übergegangen bin. Ich wollte damit darlegen, daß beides in der gleichen Weise und auf demselben Wege geschah. Wir wenden uns jetzt wieder dem Innern des Zimmers zu und machen uns noch einmal klar, wie es hier ausgesehen hat. Die Schubladen der Kommode, so heißt es, waren ausgeplündert worden, obgleich sich noch viele Kleidungsstücke darin befanden. Diese Schlußfolgerung erscheint mir ungereimt, sie ist auch nicht mehr als eine Annahme, und zwar eine recht törichte. Woher wissen wir, daß die in den Schubladen gefundenen Sachen nicht alles war, was sie ursprünglich enthielten? Madame L'Espanaye und ihre Tochter führten ein äußerst abgeschlossenes Leben, sie empfingen keine Besuche, gingen selten aus und hatten keine Veranlassung, ihre Kleidungsstücke häufig zu wechseln. Das, was man fand, war jedenfalls von ebenso guter Qualität, wie alles, was die Damen sonst besaßen. Wenn ein Dieb etwas genommen hätte, warum nahm er nicht das beste – warum nahm er nicht alles? Mit einem Wort, warum ließ er viertausend Frank in Gold liegen, um sich mit einem Bündel Leinen zu belasten? Das Gold wurde zurückgelassen. Fast die ganze Summe, die Monsieur Mignaud, der Bankier, erwähnte, fand man in Beuteln auf dem Fußboden. Ich möchte daher, daß Sie die Annahme eines Diebstahls als Motiv gänzlich fallen lassen, denn diese Annahme ist in den Köpfen der Polizei nur durch die Zeugenaussage entstanden, daß das Geld an der Haustüre abgegeben wurde. Zehnmal größere Zufälligkeiten als diese, daß drei Tage vor dem Morde die Ermordeten Geld empfingen, ereignen sich jeden Tag, ohne daß man ihnen auch nur die geringste Beachtung erweist. Überhaupt pflegen Leute, die nichts von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wissen, sich gerade an solche Zufälle anzuklammern. Wäre in dem gegenwärtigen Falle das Geld verschwunden gewesen, dann hätte die Tatsache, daß es gerade drei Tage vorher ausgezahlt war, mehr als eine zufällige Bedeutung gehabt. Sie wäre dann als Motiv in Betracht gekommen. Aber so, wie die Dinge wirklich liegen, müssen wir den Verüber der grausigen Tat für einen offenbaren Idioten halten, wenn er zugleich mit dem Gold auch seinen eigentlichen Zweck im Stich gelassen hat.
Behalten wir also die Punkte, auf die ich Sie aufmerksam gemacht habe, fest im Gedächtnis – die seltsame Stimme, die ungewöhnliche Behendigkeit und das auffallende Fehlen eines Motivs bei einem so grauenhaft rohen Mord – und betrachten wir die Untat selber. Eine Frau ist mit der Hand erwürgt und mit dem Kopf nach unten in einen Kamin hineingepreßt worden. Gewöhnliche Mörder pflegen ihre Opfer nicht auf solche Weise umzubringen, und am allerwenigsten entledigen sie sich nicht so der Ermordeten. Sie werden zugeben, daß in der Art, wie die Leiche in den Kamin hineingezwängt worden ist, etwas liegt, das über alle Begriffe hinausgeht, und mit jedem, auch dem niedrigsten menschlichen Gefühl unvereinbar ist, selbst wenn wir annehmen, daß die Täter zum entartetsten Auswurf gehören. Und dann bedenken Sie, wie groß die Kraft gewesen sein muß, die den Körper so gewaltsam in die Öffnung emporgezwängt hat, wenn die vereinten Anstrengungen mehrerer Personen kaum genügten, um sie wieder herabzuziehen!
Wenden wir uns jetzt zu anderen Beweisen für die hier angewendete erstaunliche Kraft. Auf dem Kamin fand man dicke Strähnen – sehr dicke Strähnen grauen Menschenhaars, die mit den Wurzeln herausgezogen waren. Sie wissen, wie ungeheuer schwer es ist, selbst nur zwanzig oder dreißig Haare zugleich aus der Kopfhaut herauszuziehen. Sie haben ja die Strähnen selbst gesehen, an den Wurzeln klebten noch einzelne Hautfetzen – ein sicheres Zeichen, mit welcher ungeheuerlichen Kraft fast eine halbe Million Haare auf einmal herausgerissen wurden. Der Hals der alten Dame war nicht einfach durchschnitten, nein, der ganze Kopf war glatt vom Körper abgetrennt – und das mit einem so winzigen Instrument, wie es ein Rasiermesser ist. Ferner möchte ich, daß Sie die brutale Roheit dieser Untaten betrachten. Dabei spreche ich nicht von den Verletzungen am Körper der Madame L'Espanay. Monsieur Dumas und sein würdiger Kollege, Monsieur Etienne, haben begutachtet, die Verletzungen seien durch ein stumpfes Werkzeug verursacht worden, und so weit ist das Urteil dieser Herren ganz richtig. Das stumpfe Werkzeug war zweifelsohne das Steinpflaster im Hofe, auf das das Opfer aufschlug, als man es durch das Fenster über dem Kopfende des Bettes hinauswarf. So einfach diese Erklärung ist, sie entging doch der Polizei, und zwar aus demselben Grunde, warum ihr die Breite der Fensterladen entging – weil durch die Geschichte mit den Nägeln ihre Begriffe hermetisch verschlossen waren gegen jede Annahme, daß die Fenster überhaupt geöffnet sein konnten.
Wenn Sie nun zu allem diesen noch über die seltsame Unordnung in dem Zimmer nachgedacht haben, dann sind wir so weit, einmal alle bisherigen Ergebnisse zusammenzustellen, nämlich eine erstaunliche Behendigkeit, eine übermenschliche Kraft, eine brutale Roheit, ein Mord ohne Motiv, eine bis zum Grotesken verzerrte, gefühllose Grauenhaftigkeit und eine Stimme, die Menschen der verschiedensten Nationalität fremdartig erscheint und keine unterscheidbaren Worte verstehen läßt. Zu welchem Ergebnis kommen wir damit? Welchen Eindruck haben Sie daraus gewonnen?«
Ein kalter Schauder zog mir über den Rücken, als Dupin diese Frage an mich stellte. »Es ist ein Wahnsinniger«, sagte ich, »der diese Tat begangen hat, irgendein tobsüchtiger Verrückter, der aus dem Irrenhaus entsprungen ist.«
»In gewisser Hinsicht«, antwortete er, »ist Ihre Annahme nicht unbegründet. Aber selbst in ihren wildesten Anfällen haben Verrückte nicht eine so unnatürliche Stimme, wie sie auf der Treppe gehört wurde. Geisteskranke gehören irgendeiner Nation an, und so unzusammenhängend ihre Worte auch sein mögen, einzelne Silben versteht man doch. Außerdem hat kein Geisteskranker ein solches Haar, wie ich es hier in der Hand halte. Ich habe diesen kleinen Haarbüschel aus den krampfhaft zusammengepreßten Fingern der Madame L'Espanay genommen. Können Sie mir sagen, was Sie davon halten?«
»Dupin«, rief ich ganz außer Fassung, »das ist ein ganz merkwürdiges Haar – das ist kein Menschenhaar!«
»Ich habe das auch nicht behauptet«, erwiderte er. »Aber ehe wir diesen Punkt entscheiden, möchte ich, daß Sie einen Blick auf die kleine Zeichnung werfen, die ich hier auf diesem Papier entworfen habe. Es ist eine Nachbildung von dem, was ein Zeugenbericht dunkle Flecken und tiefe Eindrücke von Fingernägeln auf der Kehle der Mademoiselle L'Espanaye nennt.« Mein Freund breitete das Papier auf dem Tisch vor uns aus und fuhr dann in seiner Darlegung fort. »Sie werden bemerken, daß diese Zeichnung die Vorstellung von einem starken und festen Griff erregt. Nichts von einem Abgleiten ist zu bemerken. Jeder Finger hat wahrscheinlich bis zum Tode die Stelle festgehalten, wo er sich von Anfang an mit entsetzlichem Zufassen eingegraben hat. Versuchen Sie nun einmal, alle Ihre Finger zur gleichen Zeit auf die betreffenden Eindrücke zu setzen, die Sie hier sehen.«
Ich machte den Versuch, aber er mißlang. »Das ist nicht der Eindruck einer menschlichen Hand!« sagte ich endlich.
»Lesen Sie nunmehr«, erwiderte Dupin, »diesen Abschnitt aus Cuvier.« Es war eine genaue anatomische und äußerliche Beschreibung des großen gelbbraunen Orang-Utans der ostindischen Inseln. Seine riesige Größe, die erstaunliche Kraft und Behendigkeit, die wilde Grausamkeit und die Neigung zum Nachahmen sind hinlänglich bekannt. Ich verstand jetzt auf einmal die entsetzlichen Einzelheiten der Mordtat.
»Die Beschreibung der Finger«, sagte ich, als ich zu Ende gelesen hatte, »paßt genau zu dieser Zeichnung. Ich bin sicher, daß kein Tier außer einem Orang-Utan der hier erwähnten Art die von Ihnen gezeichneten Fingereindrücke gemacht haben konnte. Auch gleicht dieser Büschel gelbbraunen Haares genau dem Haar der von Cuvier erwähnten Bestie. Trotzdem kann ich durchaus nicht die Einzelheiten des entsetzlichen Geheimnisses begreifen. Auch hat man zwei Stimmen gehört, die sich miteinander stritten, und von diesen war die eine sicherlich die eines Franzosen.«
»Gewiß, und Sie werden sich auch einer Äußerung erinnern, die fast alle Zeugen dieser Stimme zuschrieben, nämlich des Ausrufs: Mon Dieu! Einer von diesen Zeugen, der Zuckerbäcker Montani, hat daraus einen vorwurfsvollen Ton herausgehört. Nun habe ich gerade auf diese beiden Worte meine Hoffnung gesetzt, das Rätsel vollständig lösen zu können. Ein Franzose war Augenzeuge der Mordtat, und es ist möglich – ja sogar mehr als wahrscheinlich, daß er an allen Einzelheiten der stattgefundenen Bluttat unschuldig war. Der Orang-Utan mag ihm entlaufen sein, und er verfolgte ihn dann bis zu dem Zimmer, worauf er ihn infolge der aufregenden Ereignisse überhaupt nicht wieder eingefangen hat. Es sei dem, wie es sei. Wir wollen jedenfalls diese bloßen Annahmen, als etwas anderes können wir sie kaum bezeichnen, nicht weiter fortsetzen. Jedenfalls, wenn der fragliche Franzose, wie ich vermute, an der grausigen Tat unschuldig ist, so wird ihn diese Anzeige, die ich gestern auf unserm Rückwege in der Geschäftsstelle der Zeitung »Le Monde« aufgab (das Blatt tritt für Schiffahrts-Interessen ein und wird von Seeleuten viel gelesen), ihn in unsere Wohnung bringen.«
Damit überreichte er mir ein Zeitungsblatt, das folgende Anzeige enthielt: Eingefangen wurde im Bois de Boulogne am . . . (hier war das Datum des Tages nach der Mordtat genannt) frühmorgens ein sehr großer, gelbbrauner Orang-Utan von der auf Borneo lebenden Art. Der Eigentümer (man sagt, es sei ein Matrose, der zu einem Malteser Schiff gehört) kann das Tier nach genügendem Ausweis und Zahlung von einigen Unkosten für Gefangennahme und Pflege zurückbekommen. Zu melden Rue . . ., Nr. . . ., Faubourg St. Germain, im 3. Stock.
»Wie können Sie denn wissen«, fragte ich, »daß der Mann ein Matrose ist und zu einem Malteser Schiff gehört?«
»Ich weiß das nicht«, sagte Dupin. »Ich bin dessen nicht sicher. Hier haben Sie aber ein schmales Stück Band, das nach seiner Größe und seiner fettigen Beschaffenheit offenbar dazu gedient hat, das Haar zu einem langen Zopf zusammenzubinden, wie es die Matrosen noch so häufig tun. Auch ist dies ein echter Seemannsknoten, und zwar ein solcher, wie er den Maltesern eigen ist. Ich nahm das Band unten am Blitzableiter auf, von einer der beiden Ermordeten konnte es nicht herstammen. Wenn mich übrigens das Band zu einem falschen Schlusse verleitet hat, und der Franzose ist kein Seemann, so kann meine Bemerkung in der Zeitungsanzeige doch nichts schaden. Er wird einfach annehmen, ich sei durch irgendeinen Umstand irregeführt worden, und sich darüber keine Gedanken machen. Habe ich aber mit meiner Vermutung recht gehabt, so ist viel gewonnen. Als Mitwisser wird der Franzose, wenn er auch an der Mordtat unschuldig ist, natürlich Bedenken haben, sich auf die Anzeige zu melden und nach dem Orang-Utan zu fragen. Er wird aber folgern: Ich bin unschuldig, ich bin arm. Mein Orang-Utan ist von großem Wert und bedeutet für mich geradezu ein Vermögen. Warum soll ich ihn wegen leerer Befürchtungen verlieren? Ich brauche ihn nur zu holen. Er wurde im Bois de Boulogne gefunden – also sehr weit von der Stelle der Mordtat entfernt. Wie kann man je auf den Verdacht kommen, ein Tier habe die Tat begangen? Die Polizei ist auf falscher Fährte – sie hat nicht die kleinste Spur gefunden. Selbst wenn man das Tier als Täter aufspürte, so kann man mir unmöglich die Mitwisserschaft nachweisen, oder selbst ein solches Mitwissen mir als Schuld auslegen. Im übrigen kennt man mich. Der Mann, der die Anzeige aufgegeben hat, bezeichnet mich als Besitzer des Tieres. Ich weiß nicht einmal, wie weit seine Kenntnis geht. Wenn ich einen so wertvollen Anspruch aufgäbe, so würde ich mich ja gerade dadurch verdächtig machen und so die Aufmerksamkeit der Polizei entweder auf mich oder auf das Tier lenken. Deshalb will ich mich auf die Anzeige hin melden, mir den Orang-Utan holen und ihn versteckt halten, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist.«
In diesem Augenblick hörten wir einen Schritt auf der Treppe.
»Halten Sie Ihre Pistolen bereit«, sagte Dupin, »aber zeigen Sie sie erst, wenn ich ein Zeichen dazu gebe.«
Die vordere Haustür hatten wir offen gelassen, der Besucher war ohne zu klingeln hereingetreten und machte jetzt einige Schritte zur Treppe hinauf. Dann aber schien er zu zaudern, und gleich darauf hörten wir ihn wieder hinabgehen. Dupin war schon dabei, zur Tür zu eilen, als wir den Mann wieder heraufkommen hörten. Diesmal zauderte er nicht wieder, sondern kam entschlossen herauf und klopfte an unsere Tür.
»Herein!« rief Dupin in einem freundlichen und herzlichen Ton. Ein Mann trat herein, offenbar ein Seemann, eine große, kräftige und muskulöse Erscheinung, mit einem etwas verwegenen, aber doch nicht ganz unsympathischen Gesichtsausdruck. Sein stark von der Sonne verbranntes Gesicht war mehr als zur Hälfte von einem starken Bartwuchs bedeckt. Er trug einen schweren, eichenen Knotenstock, schien aber sonst unbewaffnet zu sein. Er machte eine ungeschickte Verbeugung und bot uns in einem Französisch, das trotz des Neuchateller Akzents den geborenen Pariser verriet, guten Abend.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Dupin. »Sie kommen vermutlich wegen des Orang-Utans. Wahrhaftig, ich beneide Sie fast wegen seines Besitzes, es ist ein ungewöhnlich schönes und ohne Zweifel auch sehr wertvolles Tier. Für wie alt schätzen Sie ihn?«
Der Matrose holte tief Atem, und man sah ihm an, daß ihm eine schwere Last vom Herzen gefallen war. Dann antwortete er in beruhigtem Ton:
»Ich kann das nicht sagen, aber er wird schwerlich älter als vier oder fünf Jahre sein. Haben Sie ihn hier?«
»O nein, wir waren hier nicht darauf eingerichtet. Er befindet sich ganz in der Nähe in der Rue Dubourg in einem Mietstall. Sie können ihn morgen früh abholen. Sie sind ja wohl imstande, sich als Besitzer auszuweisen?«
»Natürlich bin ich das, Herr.«
»Es tut mir leid, daß ich ihn verliere«, sagte Dupin.
»Ich will natürlich nicht, daß Sie all diese Mühe umsonst gehabt haben, Herr«, sagte der Mann. »Das kann ich nicht verlangen. Ich bin gern bereit, eine Belohnung für die Auffindung des Tieres zu bezahlen, das heißt, in vernünftigen Grenzen.«
»Schön«, antwortete mein Freund. »Das ist alles ganz recht. Warten Sie – was soll ich verlangen? O! Jetzt weiß ich es. Als Belohnung verlange ich folgendes: Sie sollen mir, soweit Sie können, eine volle Auskunft über die Mordtat in der Rue Morgue geben.«
Dupin sprach die letzten Worte in einem sehr leisen Ton und ganz ruhig. Ebenso ruhig ging er an die Tür, schloß sie ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann zog er eine Pistole aus der Brusttasche und legte sie ohne die geringste Verwirrung auf den Tisch.
Der Seemann bekam ein tiefrotes Gesicht, als wenn er am Ersticken wäre. Er sprang auf seine Füße und griff nach seinem Knotenstock, aber im nächsten Augenblick fiel er heftig zitternd auf seinen Stuhl zurück und sah aus wie der Tod selbst. Er sprach kein Wort, und ich bemitleidete ihn von ganzem Herzen. »Mein Freund«, sagte Dupin in gütigem Ton, »Sie beunruhigen sich wirklich ganz unnötig. Wir beabsichtigen nichts Böses gegen Sie. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als anständiger Mensch und als Franzose, daß Ihnen kein Übel widerfahren soll. Ich weiß ganz genau, daß Sie an den Untaten in der Rue Morgue unschuldig sind. Ich kann aber auch nicht leugnen, daß Sie in die Sache verwickelt sind. Aus meinen bisherigen Worten dürften Sie ersehen, daß ich mir Kenntnis von der Angelegenheit auf einem Wege verschafft habe, von dem Sie sich nichts träumen lassen. Nun stehen die Dinge so, daß Sie nichts getan haben, was Sie hätten vermeiden können, und gewiß nichts, was Sie mitschuldig macht. Sie haben nicht einmal gestohlen, wo Sie es ungestraft hätten tun können. Sie haben nichts zu verheimlichen. Es liegt für Sie kein Grund vor, irgend etwas zu verheimlichen. Anderseits verpflichtet Sie Ihre Ehre, alles zu bekennen, was Sie wissen. Ein unschuldiger Mann ist jetzt eingesperrt und steht unter Anklage wegen eines Verbrechens, dessen Täter Sie bezeichnen können.«
Der Seemann hatte bei den ruhigen Worten Dupins seine Geistesgegenwart in beträchtlichem Maße wiedergewonnen, aber sein früheres verwegenes Aussehen war ganz vergangen.
»So wahr mir Gott helfe«, sagte er nach kurzer Pause, »ich will Ihnen alles sagen, was ich über die Sache weiß. Aber ich erwarte nicht, daß Sie auch nur die Hälfte davon glauben – ich wäre ja ein Narr, wenn ich das erwartete. Trotzdem bin ich unschuldig, und ich will meinem Herzen Luft machen, selbst wenn ich dafür sterben müßte.«
Was er uns mitteilte, war in der Hauptsache folgendes: Er hatte kürzlich eine Fahrt nach dem indischen Archipelagus gemacht. Eine Gesellschaft, der er zugeteilt wurde, landete auf Borneo und machte einen Vergnügungsausflug nach dem Innern. Dabei hatte er mit einem Freunde einen Orang-Utan gefangen, und da dieser Freund starb, so war er alleiniger Besitzer des Tieres geworden. Auf der Heimfahrt hatte ihm die unbezähmbare Wildheit seines Gefangenen viele Ungelegenheiten gemacht, aber endlich war es ihm doch gelungen, ihn sicher in seine Pariser Wohnung zu überführen, wo er ihn, um nicht die lästige Neugierde seiner Nachbarn zu erregen, sorgfältig abgeschlossen hielt. Seine Absicht war, das Tier zu verkaufen, sobald es von einer Wunde am Fuß, die es sich auf dem Schiff durch einen Splitter zugezogen hatte, geheilt war.
Als er in der Nacht des Mordes von einem Matrosenvergnügen heimkam, fand er das Tier in seinem eigenen Schlafzimmer, wohin es aus dem daneben liegenden, wie er glaubte gut befestigten Verschlag ausgebrochen war. Mit dem Rasiermesser in der Hand saß es richtig eingeseift vor dem Spiegel und versuchte, sich zu rasieren. Offenbar hatte es durch das Schlüsselloch seines Verschlages seinen Herrn bei einer solchen Tätigkeit beobachtet. Der Matrose war maßlos erschrocken über den Anblick des mit dieser gefährlichen Waffe versehenen wilden Tieres, das sicherlich wohl imstande war, sie auch zu gebrauchen, und blieb einige Augenblicke ganz regungslos. Er war aber gewöhnt, die Bestie in ihren wildesten Stimmungen mit Hilfe einer Peitsche zur Ruhe zu bringen, und griff auch jetzt danach. Als das der Orang-Utan sah, sprang er plötzlich durch die Tür der Kammer, schwang sich die Treppe hinab und gelangte durch ein unglücklicherweise offenstehendes Fenster auf die Straße.
Der Matrose folgte verzweifelt. Der Affe aber, der immer noch das Rasiermesser in der Hand hielt, blieb von Zeit zu Zeit stehen, um sich nach seinem Verfolger umzublicken und ihm Grimassen zu schneiden, bis dieser ganz nahe herangekommen war. Dann eilte er weiter, und die Jagd setzte sich so eine ganze Weile fort. In den Straßen herrschte eine tiefe Stille, denn es war fast drei Uhr morgens. In einem Gäßchen hinter der Rue Morgue erregte ein Licht, das aus dem offenen Fenster von Madame L'Espanayes Schlafzimmer im vierten Stock ihres Hauses strahlte, die Aufmerksamkeit des Flüchtlings. Er eilte nach dem Gebäude und kletterte, als er den Blitzableiter sah, mit einer unbegreiflichen Leichtigkeit hinauf. Dann erfaßte er die Fensterblende, die ganz gegen die Wand zurückgelehnt war, und schwang sich damit direkt auf das Kopfende des Bettes. Für das ganze Kunststück brauchte er noch nicht eine Minute. Als der Orang-Utan das Zimmer betrat, stieß er die Blende wieder zurück.
Inzwischen war der Seemann verblüfft, aber doch auch erfreut. Er hatte jetzt starke Hoffnung, die Bestie wieder zu fangen, denn aus der Falle, in die sie sich hineinbegeben hatte, konnte sie nur an dem Blitzableiter wieder herab, und es war leicht, sie dabei abzufangen. Im übrigen machte der Mann sich aber doch Gedanken, was sie wohl im Hause anfangen werde. Diese Besorgnis veranlaßte ihn, dem Flüchtling zu folgen. Die Ersteigung eines Blitzableiters bietet keine große Schwierigkeit, besonders für einen Seemann. Aber als er in der Höhe des Fensters angelangt war, das weit von ihm ab zu seiner Linken lag, konnte er nicht weiter. Es war ihm nur möglich, sich so weit hinüberzulehnen, daß ihm ein Blick in das Zimmer gelang. Aber bei diesem Blick verlor er vor übergroßem Schreck fast seinen Halt. Es war nämlich gerade der Moment, da die entsetzlichen Schreie durch die Nacht tönten, die die Bewohner der Rue Morgue aus ihrem Schlummer aufweckten. Madame L'Espanaye und ihre Tochter trugen ihre Nachtkleider und hatten sich offenbar damit beschäftigt, verschiedene Papiere in die schon erwähnte eiserne Kassette zu legen, die sie mitten in das Zimmer gestellt hatten. Die Kassette stand offen, und der Inhalt lag daneben auf dem Boden. Die Opfer müssen dem Fenster den Rücken zugekehrt haben, und nach der Zeit zu urteilen, die zwischen dem Eindringen der Bestie und dem Beginn des Schreiens verfloß, scheint es, daß das Tier nicht sofort bemerkt wurde. Das Anschlagen der Fensterblende hatte man wohl dem Wind zugeschrieben.
Als der Matrose hineinblickte, hatte der riesige Affe Madame L'Espanaye beim Haar gepackt (es war lose, da sie es gerade gekämmt hatte) und fuhr ihr in Nachahmung der Rasierbewegungen mit dem Messer über das Gesicht. Die Tochter war in Ohnmacht gefallen und lag bewegungslos ausgestreckt auf dem Boden. Da die alte Dame schrie und sich sträubte, wobei ihr das Haar ausgerissen wurde, so geriet der Orang-Utan, der anfangs wahrscheinlich friedlich gestimmt war, in Wut. Mit einem einzigen schnellen Schwung seines muskulösen Armes trennte er ihr fast den Kopf vom Leibe. Der Anblick des Blutes entflammte dann seine Wut zur Raserei. Zähnefletschend und mit blitzenden Augen stürzte er sich auf den Körper des Mädchens und grub seine furchtbaren Finger in ihre Kehle, worauf er sie nicht eher losließ, bis sie tot war. Einer seiner umherschweifenden wilden Blicke fiel in diesem Augenblick über das Kopfende des Bettes hinaus nach draußen, wo gerade das vor Schreck verzerrte Gesicht seines Herrn zu erblicken war. Die Wut des Tieres, das sich zweifellos an die gefürchtete Peitsche erinnerte, verwandelte sich sofort in Angst. Im Gefühl, Strafe verdient zu haben, schien es die Spuren seiner blutigen Taten verbergen zu wollen und fuhr in einem Wahnsinn von nervöser Erregung im Zimmer umher, wobei es die Einrichtungsgegenstände zu Boden warf und sie zerstörte und das Bettzeug aus der Bettstelle herausriß. Schließlich ergriff er zuerst den Körper der Tochter und zwängte ihn so in den Kamin hinein, wie man ihn nachher fand. Dann packte er die alte Dame und schleuderte sie mit dem Kopf voran durch das Fenster.
Als sich der Affe mit seiner verstümmelten Last dem Fenster näherte, fuhr der Seemann entsetzt nach dem Blitzableiter zurück, ließ sich, so schnell es ging, hinabgleiten und flüchtete nach Hause, wobei er sich aus Angst vor den Folgen der Bluttat um das weitere Schicksal des Affen nicht mehr kümmerte. Die Worte, die die Gesellschaft auf der Treppe hörte, waren die Ausrufe des Entsetzens und Schreckens von seiten des Seemanns, untermischt mit dem teuflischen Geschrei der Bestie.
Es bleibt nicht mehr viel hinzuzusetzen. Der Orang-Utan muß an dem Blitzableiter entlang, gerade im Moment, bevor man die Tür aufbrach, entkommen sein. Das Fenster hat er wohl nach seinem Durchklettern geschlossen. Er wurde übrigens später von seinem Eigentümer selbst gefangen und an den Jardin des Plantes für eine sehr hohe Summe verkauft. Lebon entließ man sofort, als wir im Zimmer des Polizeipräfekten alles klarlegten. Obgleich nun dieser Beamte meinem Freunde eigentlich sehr gewogen war, so konnte er doch seinen Ärger über die Wendung, die die Sache genommen hatte, nicht ganz verhehlen und machte ein paar sarkastische Bemerkungen über das Recht jedes Menschen, sich um seine eigenen Angelegenheiten bekümmern zu dürfen.
»Lassen Sie ihn reden«, sagte Dupin, der es nicht für der Mühe wert hielt, ihm zu antworten. »Lassen Sie ihn ruhig reden, damit erleichtert er sein Gewissen. Ich bin zufrieden, ihn auf seinem eigenen Gebiet geschlagen zu haben. Übrigens ist es gar nicht so wunderbar, wie er glaubt, daß er die Lösung des Rätsels nicht gefunden hat, denn, um die Wahrheit zu sagen, unser Freund, der Präfekt, ist etwas zu schlau, um tief zu sein. Im übrigen ist er ja sonst ein ganz guter Kerl.«