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10. Weihwasserbecken und Aschbecher.

Einige Tage danach war ich in Rom, um dort Aufenthalt zu nehmen.

Warum in Rom und nicht woanders? Den wahren Grund sehe ich erst jetzt, nach all dem, was mir begegnet ist; aber ich werde ihn nicht sagen, um nicht meine Erzählung mit Überlegungen zu stören, die an dieser Stelle unangebracht wären. Ich wählte damals Rom, vor allem weil es mir vor allen anderen Städten gefiel, und dann weil es mir am geeignetsten dazu schien, mit Gleichgültigkeit unter all den vielen Fremden einen Fremden wie mich zu beherbergen.

Die Wahl der Wohnung, das heißt eines anständigen Zimmers in einer ruhigen Straße bei einer taktvollen Familie, kostete mich viele Mühe. Schließlich fand ich sie in der Via Ripetta mit dem Blick auf den Fluß. Um die Wahrheit zu sagen, der erste Eindruck, den ich von der Familie empfing, die mich beherbergen sollte, war wenig günstig; so sehr, daß ich, ins Hotel zurückgekehrt, lange unschlüssig blieb, ob ich nicht doch weiter suchen sollte.

An der Tür im vierten Stock waren zwei kleine Schilder: hier Paleari, dort Papiano; unter diesem eine Visitenkarte, die mit kupfernen Reißnägeln befestigt war, auf der zu lesen war: Silvia Caporale.

Ein alter Mann an die sechzig (Paleari? Papiano?) öffnete mir, in leinenen Unterhosen, mit nackten Füßen in einem Paar schmutziger Latschen, mit nacktem rosigem Rumpf, fleischig ohne ein Haar, die Hände eingeseift und mit einem siedenden Turban von Schaum auf dem Kopf.

– O entschuldigen Sie! – rief er aus. – Ich glaubte, es wäre das Mädchen ... Einen Augenblick Geduld: Sie finden mich so ... Adriana! Terenzio! Schnell, her! Siehst du, da ist ein Herr draußen ... Haben Sie ein Augenblickchen Geduld; bitte ... Was wünschen Sie?

– Ist hier ein möbliertes Zimmer zu vermieten?

– Ja, mein Herr. Hier meine Tochter! Sie wird mit Ihnen sprechen. Munter, Adriana, das Zimmer! –

Da erschien ganz verwirrt ein kleines junges Fräulein, blond, bleich mit himmelblauen Augen, sanft und traurig wie das ganze Gesicht. Adriana, wie ich! »Sonderbar! dachte ich – laß nur nichts merken!«

– Aber wo ist Terenzio? – fragte der Mann mit dem Turban von Schaum.

– Mein Gott, Papa, du weißt doch ganz gut, daß er seit gestern in Neapel ist. Zieh dich zurück! Wenn du dich sähest ... – antwortete ihm das kleine beschämte Fräulein mit einer zarten Stimme, die noch in der leichten Erregung die Milde ihres Gemüts verriet.

Jener zog sich zurück, indem er wiederholte: ach ja! ach ja!, und die Latschen fortschleifte und fortfuhr, sich den kahlen Kopf und auch den grauen Bart einzuseifen.

Ich konnte es nicht unterdrücken, ich mußte lächeln, aber wohlwollend, um nicht die Tochter noch mehr zu beschämen. Sie schloß die Augen halb wie um mein Lächeln nicht zu sehen.

Zuerst erschien sie mir wie ein kleines Mädchen; dann aber, als ich ihren Gesichtsausdruck genau beobachtete, sah ich, daß sie schon Dame war und deshalb, wenn man will, jenen Schlafrock tragen mußte, der sie etwas plump machte, da er nicht zu ihrem Körper und ihren so zierlichen Gesichtszügen paßte. Sie war halb in Trauer.

Während sie ganz leise sprach und es vermied, mich anzusehen (wer weiß, welchen Eindruck ich zuerst auf sie machte!), führte sie mich durch einen dunklen Korridor in das Zimmer, das ich mieten sollte. Als sie die Tür geöffnet hatte, fühlte ich, wie sich mir die Brust weitete bei der Luft und dem Licht, das durch zwei weite Fenster mit Ausblick auf den Fluß hereinkam. Ganz hinten im Grunde sah man Monte Mario, Ponte Margherita und das ganze neue Viertel der Prati bis zur Engelsburg. Man beherrschte mit dem Blick die alte Ponte di Ripetta und die neue, die daneben gebaut wurde.

Weiterhin die Ponte Umberto und alle die alten Häuser von Tordinona, welche der weiten Windung des Flusses folgten. Im Grunde erblickte man auf dieser Seite die grünen Anhöhen des Gianicolo mit dem großen Springbrunnen von San Pietro in Montorio und der Reiterstatue des Garibaldi.

Wegen jener weiten Aussicht mietete ich das Zimmer, das übrigens in anmutiger Einfachheit mit heller Tapete, weiß und himmelblau, geschmückt war.

– Diese kleine Terrasse hier daneben, – sagte mir das Mädchen in dem Schlafrock, – gehört uns auch, wenigstens jetzt. Man wird sie aber niederreißen, so sagt man, weil sie einen Vorsprung macht.

– Weil sie ... was macht?

– Einen Vorsprung; sagt man nicht so? Aber das wird noch eine Zeit dauern, bis der Lungotevere beendigt ist. –

Als ich sie so leise und mit solchem Ernst sprechen hörte und in jener Art gekleidet, da lächelte ich doch und sagte:

– Ach so? –

Sie fühlte sich gekränkt. Sie senkte die Augen und preßte die Lippen zwischen die Zähne. Um ihr eine Freude zu machen, sagte ich dann voll Ernst zu ihr:

– Und ... Verzeihung, mein Fräulein: hier sind doch keine Kinder im Hause, nicht wahr? –

Sie schüttelte den Kopf, ohne den Mund zu öffnen. Vielleicht fühlte sie in meiner Frage noch einen Beigeschmack von Ironie, den ich jedoch nicht hatte hineinlegen wollen. Ich hatte gesagt Bambini, Knaben, und nicht Bambine, Mädchen. Ich beeilte mich, es ein zweites Mal wieder gutzumachen:

– Und ... sagen Sie, Fräulein, andere Zimmer vermieten Sie nicht, nicht wahr?

– Dies ist das beste, – antwortete sie mir, ohne mich anzusehen. – Wenn es Ihnen nicht gefällt ...

– Nein, nein ... Ich fragte nur, um zu wissen, ob ...

– Wir vermieten noch ein anderes, – sagte sie da, indem sie die Augen mit einem Ausdruck erzwungener Gleichgültigkeit aufschlug. – Dort, das nach vorn gelegene ... nach der Straße hinaus. Es ist von einem Fräulein bewohnt, das mit uns seit zwei Jahren hier lebt: sie gibt Klavierstunden ... aber nicht zu Haus. –

Als sie das sagte, zeigte sie ein ganz feines und trauriges Lächeln. Dann fügte sie hinzu:

– Wir sind, ich, der Vater und mein Schwager ...

– Paleari?

– Nein: Paleari ist der Vater; mein Schwager heißt Terenzio Papiano. Er muß jedoch fort mit dem Bruder, der augenblicklich auch noch hier bei uns wohnt. Meine Schwester ist tot ... seit sechs Monaten. –

Um das Gespräch abzulenken, fragte ich sie, wieviel Miete ich zu zahlen hätte. Wir waren uns sogleich einig; ich fragte sie auch, ob ich eine Anzahlung machen müßte.

– Wie Sie wollen, – antwortete sie mir. – Wenn Sie aber lieber Ihren Namen angeben wollten ... –

Ich faßte mich an die Brust, nervös lächelnd, und sagte:

– Ich habe nicht ... ich habe nicht einmal eine Visitenkarte bei mir ... Ich heiße Adriano, ja, gerade so: ich habe gehört, daß Sie auch Adriana heißen, Fräulein. Vielleicht mißfällt es Ihnen ...

– Aber nein! Wieso? – sagte sie, meine merkwürdige Verlegenheit offenbar bemerkend, indem sie diesmal wirklich wie ein kleines Mädchen lachte.

Auch ich lachte und fuhr fort:

– Also dann, wenn es Ihnen nicht mißfällt, ich heiße Adriano Meis: abgemacht! Könnte ich schon heute abend hier wohnen? Oder soll ich lieber erst morgen früh wiederkommen? ... –

Sie antwortete: Wie Sie wollen. Aber ich ging fort mit dem Eindruck, daß ich ihr einen großen Gefallen tun würde, wenn ich nicht wiederkäme. Ich hatte nichts Geringeres gewagt, als ihren Schlafrock nicht gebührend zu achten.

Ich konnte jedoch ein paar Tage später sehen und mit den Händen greifen, daß das arme Kind ihn wirklich tragen mußte, diesen Schlafrock, auf den sie vielleicht sehr gern verzichtet hätte. Die ganze Last des Hauses lag auf ihren Schultern, und wehe, wenn sie nicht dagewesen wäre!

Der Vater, Anselmo Paleari, jener Alte, der mir mit dem Schaumturban auf dem Kopfe entgegengekommen war, hatte auch nur Schaum im Gehirn. An demselben Tage, als ich in seine Wohnung trat, stellte er sich mir vor, nicht so sehr, wie er sagte, um sich bei mir zu entschuldigen wegen der wenig dezenten Form, in der er mir das erstemal erschienen war, als vielmehr wegen des Vergnügens, meine Bekanntschaft zu machen; ich hätte das Aussehen eines studierten Mannes oder eines Künstlers vielleicht.

– Oder ein Irrtum?

– Sie irren sich. Künstler ... nicht im geringsten! Studierter Mann ... na ja ... Es macht mir Freude, manch ein Buch zu lesen.

– Oh, Sie haben aber schöne! – sagte er, die Rücken der paar Bücher betrachtend, die ich auf dem Fach des Schreibtisches aufgestellt hatte. – Ein andermal werde ich Ihnen meine zeigen, he? Ich habe auch gute! Ja, ja! –

Und er zuckte mit den Achseln und blieb stehen, augenscheinlich ganz versunken, mit sehnsüchtigen Augen, ohne sich an irgend etwas mehr zu erinnern, weder wo er war, noch mit wem er da war. Noch zweimal wiederholte er: Ja, ja! ... ja, ja!, die Mundwinkel nach unten gezogen; dann drehte er mir den Rücken und ging fort, ohne mich zu grüßen.

Ich empfand im Augenblick eine gewisse Verwunderung; als er mir später aber in seinem Zimmer die Bücher zeigte, wie er mir versprochen, da konnte ich mir nicht nur jene kleine Zerstreutheit, sondern noch manches andere erklären. Jene Bücher trugen Titel folgender Art: La Mort et l'au delà – L'homme et ses corps – Les sept principes de l'homme – Karma – la clef de la Théosophie – ABC de la Théosophie – la doctrine secrète – Le Plan astral – usw. usw.

Signor Anselmo Paleari war Mitglied der theosophischen Schule.

Man hatte ihn als Abteilungschef in irgendeinem Ministerium vor der Zeit in den Ruhestand versetzt; so hatte man ihn ruiniert, nicht nur finanziell, sondern auch deswegen, weil er, nun frei und Herr seiner Zeit, sich ganz in seine phantastischen Studien und nebelhaften Meditationen vertiefen konnte, indem er sich mehr denn je dem materiellen Leben entzog. Mindestens die Hälfte seiner Pension mußte für den Erwerb jener Bücher draufgehen. Er hatte sich schon eine kleine Bibliothek davon angelegt. Und doch schien ihn die theosophische Lehre nicht gänzlich zu befriedigen. Sicher fraß der Wurm der Kritik an ihm, denn neben jenen Büchern der Theosophie hatte er auch noch eine reiche Sammlung von alten und modernen philosophischen Aufsätzen, Studien und Büchern der wissenschaftlichen Forschung. In der letzten Zeit hatte er sich auch noch spiritistischen Experimenten hingegeben.

In der Signorina Silvia Caporale, der Klavierlehrerin, seiner Mieterin, hatte er außerordentlich mediale Fähigkeiten entdeckt, die zwar, um die Wahrheit zu sagen, noch nicht gut entwickelt waren, die sich aber mit der Zeit und der Übung zweifellos entwickeln würden, bis es sich schließlich noch herausstellen würde, daß sie den berühmtesten Medien überlegen war.

Ich für meinen Teil kann bezeugen, niemals in ein so vulgär häßliches Gesicht, gleich einer Karnevalsmaske, und in ein Paar so traurige Augen gesehen zu haben als bei dem Fräulein Silvia Caporale. Diese waren tiefschwarz, oval und machten den Eindruck, als hätten sie hinten ein bleiernes Gegengewicht, wie die Augen der automatischen Puppen. Fräulein Silvia Caporale war über die Vierzig und hatte auch einen schönen Bart unter der Nase mit der immer entzündeten Spitze.

Später erfuhr ich, daß dieses arme Weib liebestoll war und trank; sie dünkte sich häßlich und alt, und aus Verzweiflung trank sie. Manchen Abend kam sie in einem wahrhaft jammervollen Zustand heim: den Hut schief, die rote Nasenspitze wie eine Rübe und die Augen halb geschlossen und trauriger denn je.

Sie warf sich aufs Bett, und plötzlich kam all der getrunkene Wein wieder hervor, in einen unendlichen Strom von Tränen verwandelt. Da mußte dann die arme kleine Mama in dem Schlafrock bei ihr wachen, sie trösten bis in die späte Nacht: sie hatte Mitleid, Mitleid, daß der Ekel siegen könnte. Sie fühlte sich so allein in der Welt und so unglücklich, mit jener Wut im Körper, die sie das Leben hassen ließ, auf das sie schon zweimal einen Anschlag gemacht hatte. Allmählich brachte sie sie dazu, ihr zu versprechen, daß sie gut werden wollte, daß sie es nicht mehr tun würde. Und in der Tat, am Tage danach sah man sie ganz geschmückt und mit gewissen affenartigen Bewegungen. Sie schien in ein harmloses und launisches Mädchen verwandelt.

Die paar Lire, die sie gelegentlich verdiente, indem sie von Zeit zu Zeit mit irgendeiner debütierenden Schauspielerin eines Konzert-Cafés Lieder einübte, gingen so entweder für das Trinken oder das Schmücken drauf; und sie bezahlte weder Miete für das Zimmer noch etwas dafür, daß man sie in der Familie mitessen ließ. Aber wegschicken konnte man sie nicht. Was hätte Signor Anselmo Paleari mit seinen spiritistischen Experimenten dann anfangen sollen?

Letzten Endes lag jedoch ein anderer Grund vor. Die Signorina Caporale hatte vor zwei Jahren beim Tode ihrer Mutter ihre Wohnung aufgegeben. Sie lebte seitdem hier bei Paleari und hatte etwa sechstausend Lire, den Erlös aus dem Verkauf der Möbel, dem Terenzio Papiano für ein Geschäft anvertraut, daß diese ihr als gänzlich sicher und gewinnbringend vorgeschlagen hatten: die sechstausend Lire aber waren verschwunden.

Als mir das Fräulein Caporale weinend selber dieses beichtete, konnte ich den Herrn Anselmo Paleari in gewisser Weise entschuldigen, von dem ich zuerst geglaubt hatte, daß er nur wegen dieses seines Wahnsinns eine Frau von solcher Art mit seiner eigenen Tochter in Berührung kommen ließ.

Es ist wahr, für die kleine Adriana, die sich instinktiv so gut oder vielmehr allzu weise zeigte, bestand nichts zu fürchten: sie fühlte sich in der Tat mehr als irgendein anderer in der Seele beleidigt von jenen mystischen Praktiken ihres Vaters, von jener Beschwörung der Geister vermittels der Signorina Caporale.

Sie war religiös die kleine Adriana. Ich bemerkte es seit den ersten Tagen an einem kleinen Weihwasserbecken aus blauem Glas, das über dem Nachttisch neben meinem Bett an der Wand hing. Ich hatte mich, mit der noch brennenden Zigarette im Munde, zu Bett gelegt und angefangen, eines jener Bücher des Paleari zu lesen; ganz in Zerstreuung hatte ich dann den ausgelöschten Stummel in jenes Weihwasserbecken getan. Am Tage darauf war es nicht mehr da. Dafür aber stand auf dem Nachttisch ein Aschbecher. Ich fragte sie, ob sie es von der Wand genommen hätte; da antwortete sie mir leicht errötend:

– Entschuldigen Sie vielmals, mir schien, Sie benützten lieber einen Aschbecher.

– Aber war denn geweihtes Wasser in dem Becken?

– Es war welches drin. Wir haben hier gegenüber die Kirche San Rocco ... –

Und sie ging fort. Sie war mir also zugetan die kleine winzige Mama, da sie an der Quelle von San Rocco auch für mein Weihwasserbecken das gebenedeite Wasser geholt hatte.

Jedes Geringste ließ mich – der ich mich schon seit geraumer Zeit wie in einer seltsamen Leere hängend fühlte – jetzt in lange Reflexionen fallen. Diese über das Weihwasserbecken brachte mich dazu, daran zu denken, daß ich seit meiner Knabenzeit keine religiösen Gebräuche mehr beobachtet hatte, noch daß ich in irgendeine Kirche getreten war, um zu beten, nachdem Pinzone weggegangen war, der mich zusammen mit Robert auf Befehl der Mama dorthin zu führen pflegte. Ich hatte niemals mehr auch nur ein Bedürfnis gefühlt, mich selber zu fragen, ob ich wirklich einen Glauben hätte. Und Mattia Pascal war eines bösen Todes gestorben ohne religiösen Beistand.

Ganz unerwartet sah ich mich in einer ziemlich seltsamen Lage. Für alle diejenigen, welche mich kannten, hatte ich wohl oder übel den lästigsten und betrübendsten Gedanken, den man lebend haben kann, von mir genommen: den an den Tod. Wer weiß, wie viele in Miragno sagten:

– Der Glückliche, er ist am Ende! Wie es auch sei, er hat das Problem gelöst. –

Und doch hatte ich nichts gelöst. Ich befand mich jetzt mit den Büchern des Anselmo Paleari in den Händen; und diese Bücher belehrten mich, daß die Toten, die wirklich Toten, sich in einer mit der meinigen identischen Lage befanden, in den »gushi« des Kâmaloka, besonders die Selbstmörder, die Herr Leadbeater, der Verfasser des Plan Astral ( premier degré du monde invisible, d'apès la théosophie) darstellt als von jeder Art menschlicher Lüste noch erregt, die sie aber nicht befriedigen können, da sie ihres leiblichen Körpers beraubt sind, von dem sie jedoch nicht wissen, daß sie ihn verloren haben.

– O warte, – dachte ich, – fast könnte ich glauben, daß ich wahrhaftig in der Mühle von Stia ertrunken bin und daß ich mir jetzt nur einbilde noch zu leben. –

Man weiß, daß gewisse Arten von Wahnsinn ansteckend sind. Die des Paleari, so sehr ich mich auch anfangs gegen sie auflehnte, blieb schließlich doch an mir haften. Nicht daß ich wirklich glaubte, ich sei tot: das wäre kein großes Übel gewesen, denn das Schwere ist das Sterben, aber, ist man erst tot, so glaube ich nicht, daß man den traurigen Wunsch haben kann, wieder ins Leben zurückzukehren. Ich aber merkte mit einemmal, daß ich noch wirklich zu sterben hatte: und das war das Übel! Wer dachte mehr daran? Nach meinem Selbstmord in Stia hatte ich natürlich nichts anderes vor mir gesehen als das Leben. Und jetzt stellte mich Herr Anselmo Paleari fortwährend vor den Schatten des Todes.

Er wußte von nichts anderem mehr zu sprechen, dieser verwünschte Kerl! Er sprach mit solcher Inbrunst davon, und von Zeit zu Zeit entschlüpften ihm im Feuer der Unterhaltung so sonderbare Bilder und Ausdrücke, daß mir plötzlich, wenn ich ihn so hörte, der Wunsch kam, mich davonzumachen und anderswo Wohnung zu nehmen. Übrigens waren die Lehre und der Glaube des Herrn Paleari, so kindlich sie mir auch bisweilen erschienen, im Grunde tröstend. Aber da mir leider die Idee gekommen war, daß ich an einem oder dem anderen Tage im Ernst sterben müßte, war es mir nicht weiter unangenehm, in dieser Weise davon sprechen zu hören.

– Gibts Logik? – fragte er mich eines Tages, nachdem er aus einem Buche des Finot, das voll einer so sentimental-schrecklichen Philosophie war, daß es der Traum eines morphiumsüchtigen Totengräbers zu sein schien, mir eine Stelle vorgelesen hatte über das Leben der aus der Zersetzung des menschlichen Körpers gebornen Würmer. – Gibts eine Logik? Materie, ja, Materie: nehmen wir an, daß alles Materie sei. Aber es gibt die Form, die Art, die Qualität: es gibt den Stein und den unwägbaren Äther, bei Gott! In meinem Körper selbst gibt es den Nagel, den Zahn, das Haar und, perbacco, das feinste Gewebe im Auge. Nun, mein Herr, wer sagt nein? Das, was wir Seele nennen, wird auch Materie sein, wie diese; aber Sie werden mir zugeben, daß es nicht Materie ist wie der Nagel, der Zahn oder das Haar: es wird Materie sein wie der Äther, oder was weiß ich. Den Äther, gut, nehmen wir ihn an, als Hypothese, und die Seele nicht? Ist das Logik? Materie, ja, mein Herr. Folgen Sie meiner Ausführung, und Sie werden sehen, wohin ich gelange, indem ich alles zugebe. Wir kommen zur Natur. Wir betrachten jetzt den Menschen als den Erben einer zahllosen Reihe von Generationen, nicht wahr? Wie das Produkt einer sehr langsamen Verarbeitung der Natur. Sie, lieber Herr Meis, glauben, daß auch er ein Tier sei, ein sehr grausames Tier und ein in seiner Gesamtheit sehr wenig wertvolles? Ich gebe auch das zu und sage: gut denn, der Mensch stellt auf der Skala der Wesen eine nicht sehr hohe Stufe dar. Setzen wir vom Wurm bis zum Menschen acht Stufen, setzen wir sieben, fünf Stufen. Aber bei Gott! Die Natur hat sich Tausende, Tausende und aber Tausende von Jahrhunderten angestrengt, um diese fünf Stufen vom Wurm zum Menschen zu erklimmen; sie hat sich entwickeln müssen, nicht wahr? Daß aber diese Materie als Form und als Substanz diese fünfte Stufe erreicht, damit sie jenes Tier wird, das stiehlt, jenes Tier, das tötet, jenes lügnerische Tier, das aber doch fähig ist die Divina Commedia zu schreiben, Herr Meis, und sich zu opfern, wie es Ihre Mutter und meine Mutter getan hat; und daß dann mit einem Mal, bums, alles zu Nichte wird; – ist das Logik? Meine Nase, mein Fuß wird ein Wurm, nicht aber meine Seele, bei Gott! Auch sie ist Materie, ja, mein Herr, wer sagt Ihnen, daß sie es nicht ist? Aber nicht wie meine Nase oder wie mein Fuß. Ist das Logik?

– Entschuldigen Sie, Herr Paleari, – wendete ich ein, ein großer Mann geht spazieren, fällt, schlägt sich den Kopf, wird ein Schwachkopf. Wo ist die Seele? –

Herr Anselmo hielt einen Augenblick inne und betrachtete mich, als ob ihm unvorhergesehen ein Stein vor die Füße gefallen wäre.

– Wo ist die Seele?

– Ja, Sie oder ich, ich, der ich kein großer Mann bin, sondern nur ... weiter, ich schlußfolgere: ich gehe spazieren, ich falle, zerschlage mir den Kopf und werde ein Schwachkopf. Wo ist die Seele? –

Paleari faltete die Hände und mit einem Ausdruck gütigen Mitleids antwortete er mir:

– Aber, heiliger Gott, warum wollen Sie fallen und sich den Kopf schlagen, lieber Herr Meis?

– Wegen einer Hypothese ...

– Aber nein, mein Herr, gehen Sie ruhig spazieren. Nehmen wir die Alten, die, ohne erst fallen und sich den Kopf schlagen zu müssen, von Natur aus Schwachköpfe werden können. Nun was will das sagen? Sie würden damit beweisen wollen, daß, wenn der Körper gebrechlich wird, auch die Seele schwach wird, um so darzutun, daß das Erlöschen des Einen das Erlöschen des anderen nach sich zieht? Aber entschuldigen Sie! Stellen Sie sich einmal den entgegengesetzten Fall vor: extrem entkräftete Körper, in denen dennoch das mächtigste Licht der Seele leuchtet: Giacomo Leopardi! Und soviel Alte, wie zum Beispiel Seine Heiligkeit Leo XIII.! Nun also? Aber stellen Sie sich ein Klavier und einen Klavierspieler vor: mit einemmal während des Spielens gibt das Klavier eine Dissonanz; eine Taste schlägt nicht mehr an; zwei, drei Saiten sind gesprungen. Nun, ich will meinen, auf einem solchen Instrument wird der Klavierspieler unbedingt, und wenn er noch so tüchtig ist, nur schlecht spielen können. Und wenn dann das Klavier gänzlich schweigt, existiert dann auch nicht einmal mehr der Klavierspieler?

– Das Gehirn soll also das Klavier sein, und der Klavierspieler die Seele?

– Alter Vergleich, Herr Meis! Wenn nun das Gehirn schlecht wird, offenbart sich unbedingt die Seele als dumm oder verrückt, oder was weiß ich. Das heißt, daß, wenn der Klavierspieler nicht durch ein Mißgeschick, sondern aus Unachtsamkeit oder mit Willen das Instrument zerbrochen hat, er zahlen muß. Wer zerbricht, zahlt: man bezahlt alles, man bezahlt. Aber das ist eine andere Frage. Entschuldigen Sie, das will durchaus nicht sagen, daß nicht die ganze Menschheit, die ganze, seitdem man von ihr Kenntnis hat, immer das Streben nach einer anderen Welt, jenseits, gehabt hat. Das ist eine Tatsache, ein realer Beweis.

– Man sagt: der Instinkt der Erhaltung ...

– Aber nein, mein Herr! Wissen Sie, warum ich darauf pfeife? Auf diese niedrige, unbrauchbare Hülle, die mich bedeckt? Sie lastet auf mir, ich ertrage sie, weil ich weiß, daß ich sie ertragen muß; aber wenn man mir bei Gott beweist, daß – nachdem ich sie weitere fünf, sechs oder zehn Jahre getragen habe – ich die Zeche nicht in irgendeiner Form bezahlt bekommen werde, und daß alles hier enden wird, dann werfe ich noch heute sie weg, in diesem selben Augenblick: und wo ist dann der Instinkt der Erhaltung? Ich erhalte mich einzig und allein, weil ich fühle, daß es nicht so enden kann! Aber etwas anderes ist der einzelne Mensch, sagt man, etwas anderes ist die Menschheit. Das Individuum endigt, die Art setzt ihre Entwicklung fort. Aber wenn nun die Menschheit auch eines Tages wird enden müssen? Bedenken Sie doch: all dieses Leben, all dieser Fortschritt, alle Entwicklung, warum wären sie gewesen? Für Nichts? Aber das Nichts, das reine Nichts, sagt man, existiert gar nicht ... Genesung des Gehirns, nicht wahr? Wie Sie neulich gesagt haben. Nun gut: Genesung; aber man muß sehen in welchem Sinn. Das Übel der Wissenschaft, sehen Sie, Herr Meis, ist dieses: daß sie sich nur mit dem Leben befassen will.

– Ach, – seufzte ich lächelnd, – da wir leben müssen ...

– Aber wir müssen auch sterben! – erwiderte Paleari.

– Ich verstehe; warum aber soviel daran denken?

– Warum? Weil wir das Leben nicht begreifen können, wenn wir uns nicht in irgendeiner Art den Tod erklären! Das leitende Kriterium unserer Handlungen, der Faden, um aus diesem Labyrinth herauszukommen, kurz das Licht, Herr Meis, das Licht muß uns von dort kommen, vom Tode.

– Mit dem Dunkel, das dort herrscht?

– Dunkel? Dunkel für Sie! Versuchen Sie, dort eine Lampe des Glaubens anzuzünden, mit dem reinen Öl der Seele. Wenn diese Lampe fehlt, lungern wir im Leben herum wie Blinde, trotz all des elektrischen Lichtes, das wir erfunden haben! Sie ist gut, sehr gut für das Leben, die elektrische Lampe; aber, lieber Herr Meis, wir brauchen noch jene andere, die uns etwas Licht über den Tod bringt. Gegenwärtig ist mein Schwiegersohn Terenzio in Neapel. Er wird in einigen Monaten zurückkehren und dann werde ich Sie einladen, einer von unseren bescheidenen Sitzungen beizuwohnen, wenn Sie wollen. Und wer weiß, ob jene Laterne ... genug, ich will Ihnen nicht mehr sagen. –

Wie man sieht, war die Gesellschaft des Anselmo Paleari nicht sehr angenehm. Aber, wenn ichs mir recht überlegte, konnte ich ohne Gefahr, oder besser, ohne mich gezwungen zu sehen, zu lügen, irgendeine Gesellschaft mir wünschen, die dem Leben weniger fern stand? Ich erinnere mich noch des Cavaliere Tito Lenzi. Herr Paleari kümmerte sich nicht darum, nichts von mir zu wissen, er war zufrieden mit der Aufmerksamkeit, die ich seinen Ausführungen schenkte. Fast jeden Morgen nach der gewohnten Waschung des ganzen Körpers begleitete er mich auf meinen Spaziergängen; da gingen wir auf den Gianicolo oder auf den Aventin oder auf den Monte Mario, bisweilen bis zur Ponte Momentano, immer vom Tode redend.

– Und was für einen schönen Gewinn hatte ich gemacht, – dachte ich, – daß ich wirklich noch nicht tot war! –

Mitunter versuchte ich ihn abzulenken, damit er von etwas anderem spräche; aber es schien, daß Herr Paleari keine Augen für das Schauspiel des Lebens um ihn herum hatte; er ging fast immer mit dem Hut in der Hand einher; und plötzlich erhob er ihn, gleich wie um irgendeinen Schatten zu begrüßen und rief aus:

– Dummheiten! –

Ein einziges Mal richtete er ganz unerwartet eine besondere Frage an mich:

– Warum sind Sie in Rom, Herr Meis? –

Ich zuckte mit den Achseln und antwortete ihm:

– Weil es mir gefällt, hier zu sein ...

– Und doch ist es eine traurige Stadt, – bemerkte er, den Kopf schüttelnd. – Viele wundern sich, daß kein Unternehmen hier glückt, daß keine lebendige Idee hier gedeiht. Aber diese vielen wundern sich, weil sie nicht anerkennen wollen, daß Rom tot ist.

– Auch Rom tot? – rief ich aus, bestürzt.

– Seit langem Herr Meis! Und, glauben Sie mir, jeder Versuch, es wieder aufleben zu lassen, ist nutzlos. Eingeschlossen in den Schlaf seiner majestätischen Vergangenheit, will es nichts mehr von diesem armseligen Leben wissen, das sich erdreistet, herumzuwimmeln. Wenn eine Stadt ein Leben gehabt hat wie das Roms, mit so scharf ausgeprägten und besonderen Charakteren, so kann sie nicht eine moderne Stadt werden, das heißt eine Stadt wie jede andere. Rom liegt dort mit seinem großen gebrochenen Herzen an den Schultern des Kapitols, gehören diese neuen Häuser vielleicht zu Rom? Hören Sie, Herr Meis! Meine Tochter Adriana hat mir von dem Weihwasserbecken erzählt, das in Ihrem Zimmer stand, Sie erinnern sich? Adriana entfernte es aus Ihrem Zimmer, das Becken; aber am nächsten Tage fiel es ihr aus der Hand und zerbrach: nur die kleine Schale blieb übrig, und diese steht jetzt in meinem Zimmer, auf meinem Schreibtisch, zu dem Gebrauch bestimmt, den Sie zuerst aus Zerstreuung davon gemacht hatten. Nun, Herr Meis, das Schicksal Roms ist identisch damit. Die Päpste hatten – nach ihrer Art, versteht sich – ein Weihwasserbecken daraus gemacht; wir Italiener haben nach unserer Art einen Aschenbecher daraus gemacht. Aus jedem Lande sind wir hierher gekommen, um die Asche unserer Zigarre hier abzustreifen, die das Symbol der Nichtigkeit dieses unseres elenden Lebens ist und des bitteren und giftigen Vergnügens, das es uns gibt. –


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