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Ich dachte:
»Ich werde Stia einlösen und mich dort aufs Land zurückziehen und Müller werden. Man lebt besser nahe der Erde; und noch besser vielleicht – unter.
»Jedes Handwerk hat im Grunde seine Freude. Sogar das des Totengräbers. Der Müller kann sich erfreuen an dem Getöse der Mühlsteine und an dem Staub, der durch die Luft fliegt und ihn mit Mehl überzieht.
»Ich bin sicher, daß da in der Mühle jetzt nicht ein einziger Sack Mehl mehr zerplatzt. Aber sobald ich sie erst wieder habe:
»– Herr Mattia, der Holzriegel am Pfahl! Herr Mattia, die Erzplatte ist zerbrochen! Herr Mattia!
»So wie damals, als noch die gute Seele der Mama da war und Malagna verwaltete.
»Und während ich die Mühle besorgen werde, wird der Inspektor mir die Früchte des Feldes stehlen; und wenn ich dagegen anfange auf dieses zu achten, wird der Müller mir das Mahlgeld stehlen. Hier der Müller, da der Inspektor, beide werden sie wie auf einer Schaukel steigen und fallen, und ich in der Mitte werde das Schauspiel genießen.
»Vielleicht wäre es besser, daß ich aus der ehrwürdigen Truhe meiner Schwiegermutter einen der alten Anzüge des Francesco Antonio Pescatore herausholte, welche die Witwe mit Kampfer und Pfeffer als heilige Reliquien bewahrte, und daß ich Marianne Dondi damit kleidete und sie hinschickte, damit sie der Müller sei und über dem Inspektor stünde.
»Die Landluft würde sicherlich meiner Frau gut tun. Vielleicht werden von einigen Bäumen die Blätter fallen, wir werden ja sehen; die Vögelchen werden verstummen; hoffen wir, daß die Quelle nicht austrocknet. Und ich werde Bibliothekar bleiben, solo, ganz solo, in Santa Maria Liberale.« –
Solchen Gedanken lag ich ob, während der Zug dahineilte. Ich konnte die Augen nicht schließen, denn dann erschien mir sofort mit furchtbarer Genauigkeit der Leichnam jenes jungen Mannes, dort in der Allee, klein und friedlich unter den großen unbeweglichen Bäumen in dem frischen Morgen. Daher mußte ich mich mit einem anderen Alpdruck trösten, nicht so blutig, wenigstens materiell: nämlich mit dem meiner Schwiegermutter und meiner Frau. Und ich genoß schon in Gedanken die Ankunftsszene nach jenen dreizehn Tagen mysteriösen Verschwindens.
Ich war sicher (mir schien, als sehe ich sie), daß sie beide bei meinem Eintreten die verächtlichste Gleichgültigkeit heucheln würden. Kaum ein Blick, wie um zu sagen:
– Nun, was Neues? Hattest du dir nicht den Hals gebrochen? –
Sie sind still, ich bin still.
Aber bald danach würde die Witwe Pescatore wiederum Galle speien, indem sie mit der Anstellung beginnen würde, die ich vielleicht verloren.
Ich hatte mir in der Tat den Schlüssel der Bibliothek mitgenommen: auf die Nachricht von meinem Verschwinden hin hatte man sicher die Tür erbrechen lassen auf Befehl des Polizeipräsidiums. Und da man mich dort nicht tot vorfand und man auch andererseits weder Spuren noch Nachrichten von mir hatte, so wird man auf der städtischen Behörde drei, vier, fünf Tage, eine Woche auf meine Rückkehr gewartet haben. Dann hatte man irgendeinem anderen Beschäftigungslosen meinen Posten gegeben.
Nun saß ich da und was sollte ich tun? Hatte ich mich selber von neuem auf die Straße geworfen? Soweit war ich. Zwei arme Frauen konnten sich nicht verpflichtet fühlen, einen Nichtstuer, ein Stück Zuchthäusler zu unterhalten, der einfach weggelaufen war, wer weiß wegen welcher Heldentaten, usw. usw.
Ich blieb still.
Allmählich wuchs der Marianna Dondi die Galle immer mehr durch mein verächtliches Schweigen, sie wuchs, wallte auf, explodierte: – und ich war noch immer still!
Mit einem Mal würde ich aus der Brusttasche das Portefeuille herausziehen und anfangen, meine Tausender auf den Tisch zu zählen: da, da, da ... da ...
Augen- und Mundaufsperren von seiten der Marianna Dondi und auch meiner Frau.
Dann:
– Wo hast du sie gestohlen?
– ... siebenundsiebzig, achtundsiebzig, neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig; fünfhundert, sechshundert, siebenhundert; zehn, zwanzig, fünfundzwanzig; einundachtzigtausend siebenhundert und fünfundzwanzig Lire und vierzig Centesimi in der Tasche. –
Ruhig würde ich die Scheine wieder zusammenlesen, sie in mein Portefeuille stecken und mich erheben.
– Ihr wollt mich nicht mehr im Hause behalten? Gut, danke! Ich gehe fort, seid mir gegrüßt! –
Ich lachte bei diesem Gedanken.
Meine Reisegefährten beobachteten mich und lächelten auch im Verborgenen.
Und dann fing ich an, um ein ernsteres Aussehen anzunehmen, an meine Gläubiger zu denken, mit denen ich diese Banknoten teilen müßte. Sie verbergen konnte ich nicht. Und wozu würden sie mir dienen, verborgen?
Freude daran haben, ach, jene Hunde würden mich keine Freude daran finden lassen. Um sich da wieder wirtschaftlich zu erholen, mit der Mühle von Stia und mit den Früchten des Gutes, wo ich auch noch die Verwaltung bezahlen mußte, die dann auf beiden Seiten Gewinn machte (die Mühle übrigens auch), wer weiß, wieviel Jahre man da noch warten müßte. Jetzt würde ich sie vielleicht durch ein Angebot in bar zu guten Bedingungen los werden. Und ich stellte eine Rechnung auf:
– Soviel jenem hündischen Recchioni; soviel dem Filippo Brisigio, und es würde mich freuen, wenn ihm das Geld dazu diente, sein Begräbnis zu bezahlen: dann würde er den Armen nicht mehr das Blut abzapfen! Soviel dem Cichin Lunaro, dem Toriner; soviel der Witwe Lippani ... Wer ist sonst noch da? Ach! Natürlich, die Della Piana, Bossi und Margottini ... Das ist ja mein ganzer Gewinn! –
Am Ende hatte ich wohl für sie alle in Monte Carlo gewonnen! Welche Wut wegen der beiden Tage Verlust! Ich wäre von neuem reich geworden ... reich!
Ich stieß jetzt einige Seufzer aus, die noch mehr Lächeln als zuvor bei meinen Reisebegleitern hervorriefen. Aber ich fand keine Ruhe. Der Abend stand bevor. Die Luft war wie Asche; und die üble Stimmung der Reise war unerträglich.
Auf der ersten italienischen Station kaufte ich eine Zeitung in der Hoffnung, daß sie mich zum Einschlafen bringen würde. Ich faltete sie auseinander und beim Licht der kleinen elektrischen Lampe fing ich an zu lesen. So hatte ich die Freude zu erfahren, daß das Schloß von Valençay, das zum zweitenmal versteigert worden war, dem Herrn Grafen De Castellane zuerkannt worden war für die Summe von zwei Millionen und dreihunderttausend Franc. Das Gut ringsherum um das Schloß war zweitausendachthundert Hektar groß: das ausgedehnteste von Frankreich.
– Ungefähr wie Stia ... –
Ich las, daß der Kaiser von Deutschland in Potsdam Mittags die marokkanische Gesandtschaft empfangen habe und daß dem Empfang der Staatssekretär, Baron von Richthofen, beigewohnt habe. Die Mission, die dann der Kaiserin vorgestellt wurde, war zum Frühstück geladen worden, und wer weiß, wie sie gefressen hatte!
Auch der Zar und die Zarin von Rußland hatten in Peterhof eine besondere tibetanische Mission empfangen, die Ihren Majestäten die Geschenke des Lama angeboten hatten.
– Die Geschenke des Lama? – fragte ich mich selbst, nachdenklich die Augen schließend. – Was wird das sein? –
Schlafmittel: weil ich einschlief. Aber Schlafmittel von spärlicher Kraft: ich wachte in der Tat bald wieder auf bei einem Stoß des Zuges, der auf einer Station anhielt.
Ich sah nach der Uhr: es war ein Viertel nach Acht. In einer knappen Stunde also würde ich schon angekommen sein.
Ich hatte die Zeitung noch in der Hand und drehte sie um und suchte auf der zweiten Seite irgendein besseres Geschenk als das des Lama. Da fielen meine Augen auf das groß- und fettgedruckte Wort
Sofort dachte ich, daß es jener aus Monte Carlo sein könnte und begann hastig zu lesen. Aber überrascht hielt ich bei der ersten Zeile inne, da stand mit ganz kleinen Lettern gedruckt: Man telegraphiert uns aus Miragno.
– Miragno? Wer mag in meiner Heimat Selbstmord begangen haben? –
Ich las: » Gestern, Sonnabend den 28., ist in dem Wassergraben einer Mühle ein Leichnam im Stadium vorgeschrittener Verwesung aufgefunden worden ...«
Mit einemmal umnebelte sich mir der Blick, als ich glaubte, in der folgenden Zeile den Namen meines Gutes zu sehen, und da es mir Mühe machte, nur mit einem Auge diesen kleinen Druck zu lesen, so stand ich auf, um dem Lichte näher zu sein.
»... Verwesung aufgefunden worden. Die Mühle liegt auf einem Gute namens Stia, ungefähr zwei Kilometer von unserer Stadt entfernt. Nachdem die Mordkommission mit noch anderen Leuten an Ort und Stelle geeilt war, wurde der Leichnam von den behördlichen Untersuchungsbeamten aus dem Graben gezogen und mit Posten umstellt. Später wurde er wiedererkannt als der unseres ....«
Das Herz pochte mir bis in den Hals hinauf und wie besessen betrachtete ich meine Reisebegleiter, die alle schliefen.
» An Ort und Stelle geeilt ... aus dem Graben gezogen ... und mit Posten umstellt ... wurde er wiedererkannt als der unseres Bibliothekars ....«
– Ich? –
» An Ort und Stelle geeilt ... später ... als der unseres Bibliothekars Mattia Pascal, der seit mehreren Tagen verschwunden war. Ursache des Selbstmordes: pekuniäre Schwierigkeiten.«
– Ich? ... Verschwunden ... wiedererkannt ... Mattia Pascal ... –
Mit grimmigem Blick und aufgeregtem Herzen las ich diese paar Zeilen ich weiß nicht mehr wieviel Mal. Im ersten leidenschaftlichen Ausbruch empörten sich alle meine Lebenskräfte auf heftigste, um zu protestieren: als ob jene, in ihrer gleichgültigen lakonischen Kürze so aufreizende Notiz auch für mich wahr sein könnte. Aber, wenn schon nicht für mich, so war sie doch für die andern wahr; und die Sicherheit, welche diese anderen seit gestern über meinen Tod hatten, lag auf mir wie ein unerträglicher, dauernder, erdrückender Übergriff ... Ich betrachtete von neuem meine Reisebegleiter und, als ob auch diese da unter meinen Augen in jener Sicherheit ruhten, fühlte ich die Versuchung, sie aus ihrer unbequemen und peinlichen Haltung aufzurütteln, sie aufzurütteln, sie zu wecken, um ihnen zuzuschreien, daß es nicht wahr sei.
– Möglich? –
Und noch einmal las ich diese verblüffende Notiz.
Ich konnte meine Erregung nicht mehr zügeln. Ich hätte gewünscht, daß der Zug anhielte, ich hätte gewollt, daß er in einen Abgrund eilte: jenes monotone Fahren, wie ein schwerfälliger, dumpfer und schwerer Automat, ließ von Augenblick zu Augenblick meine Erregung wachsen. Unaufhörlich schloß ich die Hände und öffnete sie wieder, indem ich die Nägel in die Handflächen preßte; zerknitterte die Zeitung, brachte sie wieder in Ordnung, um die Nachricht wiederzulesen, die ich schon auswendig wußte, Wort für Wort.
– Wiedererkannt! Aber war es denn möglich, daß man mich wiedererkannt hatte? ... Im Stadium vorgeschrittener Verwesung ... puh! –
Ich sah mich für einen Augenblick dort unten in dem grünlichen Wasser des Grabens, faulend, aufgedunsen, entsetzlich, an der Oberfläche schwimmend ... Mit instinktivem Schauder kreuzte ich die Arme auf der Brust und betastete mich, drückte mich:
– Ich, nein; ich, nein ... Wer wird es gewesen sein? ... er ähnelte mir, sicherlich ... Vielleicht hatte er auch solchen Bart wie ich ... dieselbe Statur ... Und man hat mich wiedererkannt! ... Verschwunden seit mehreren Tagen ... Wenn schon! Aber ich möchte wissen, ich möchte wissen, wer sich so beeilt hat, mich wiederzuerkennen? Ists möglich, daß jener Unglückliche mir so ähnlich war? So wie ich gekleidet? Ebenso? Aber sie wird es gewesen sein, vielleicht, sie, Marianna Dondi, die Witwe Pescatore: oh! sie hat mich sofort herausgefischt, hat mich sofort wiedererkannt! Es wird ihr nicht wahr vorgekommen sein, können wir uns vorstellen! » Er ist es, er ist es! Mein Schwiegersohn! Ach, der arme Mattia! Oh mein armer Junge!« Und vielleicht hat sie zu weinen angefangen. Sie wird nur neben der Leiche dieses Armen niedergekniet sein, dem sie nicht einen Fußtritt hat geben können und zuschreien: »Steh doch auf von hier: ich kenne dich nicht«. –
Ich bebte. Endlich hielt der Zug an einer Station. Ich öffnete die Wagentür und stürzte mich hinaus, mit dem wirren Gedanken, irgendetwas plötzlich zu tun: ein dringendes Telegramm, um diese Nachricht zu dementieren.
Der Sprung, den ich aus dem Wagen machte, rettete mich: als wenn er mir jene dumme fixe Idee aus dem Gehirn geschüttelt hätte, erblickte ich wie in einem Blitz ... nun ja! meine Befreiung, die Freiheit, ein neues Leben!
Ich hatte zweiundachtzigtausend Lire bei mir und würde sie niemand geben müssen! Ich war tot, ich war tot: ich hatte keine Schulden mehr, hatte keine Frau mehr, keine Schwiegermutter mehr: niemand! Frei! frei! frei! Was suchte ich mehr?
In solche Gedanken versunken mußte ich in einer höchst seltsamen Verfassung auf dem Bahnsteig der Station gewesen sein. Ich hatte die Wagentür offen gelassen. Sah um mich einige Leute, die mir etwas zuriefen, ich weiß nicht was. Einer schließlich schüttelte mich und schob mich fort, indem er lauter rief:
– Der Zug fährt wieder ab!
– Aber lassen Sie ihn, lassen Sie ihn doch ruhig abfahren, lieber Herr! – rief ich ihm zu, meinetwegen. – Zugwechsel! –
Mit einemmal war mir ein Zweifel gekommen: der Zweifel, wenn jene Nachricht schon dementiert worden war; wenn man schon den Irrtum in Miragno erkannt hatte; wenn sich die Verwandten des wirklichen Toten plötzlich gemeldet hatten, um die falsche Identifizierung richtig zu stellen.
Bevor ich mich also beglückwünschen konnte, mußte ich mich sehr wohl dessen vergewissern, mußte genaue und detaillierte Nachrichten haben. Aber wie sollte ich sie mir beschaffen?
Ich suchte in der Tasche nach der Zeitung. Ich hatte sie im Zuge liegen gelassen. Ich wandte mich um und betrachtete das verlassene Gleis, das sich aus der schweigsamen Nacht leuchtend löste, und ich fühlte mich wie verirrt, im leeren Raum auf jener elenden kleinen Durchreisestation. Ein noch stärkerer Zweifel packte mich dann: daß ich geträumt hätte?
Aber nein:
– Man telegraphiert uns aus Miragno. Gestern Sonnabend, den 28. .... –
Da stand es: Ich konnte das Telegramm auswendig hersagen, Wort für Wort. Daran war kein Zweifel! Jedoch, ja, es war zu wenig; es konnte mir nicht genügen.
Ich betrachtete die Station; las den Namen ALENGA.
Würde ich in dieser Gegend hier andere Zeitungen finden? Ich erinnerte mich, daß es Sonntag war. In Miragno war also heut morgen »Il Foglietto« herausgekommen, das einzige Blatt, das dort gedruckt wurde. Auf jeden Fall mußte ich mir eins verschaffen. Dort würde ich alle einzelnen Nachrichten finden, die ich brauchte. Aber wie sollte ich hoffen, in Alenga »Il Foglietto« zu finden? Gut, ich würde unter einem falschen Namen nach der Redaktion der Zeitung telegraphieren. Ich kannte den Direktor, Miro Colzi, oder Lodoletta, die junge Lerche, wie ihn alle in Miragno nannten, seitdem er als Jüngling unter diesem hübschen Titel seinen ersten und letzten Gedichtband veröffentlicht hatte.
Würde das nicht aber für Lodoletta ein Ereignis sein, wenn von Alengo aus eine Nummer seiner Zeitung verlangt wurde? Sicher mußte die am meisten »interessierende« Nachricht jener Woche und daher also das zugkräftigste Stück jener Nummer mein Selbstmord sein. Würde ich mich also nicht der Gefahr aussetzen, daß die ungewohnte Nachfrage irgendeinen Verdacht in ihm entstehen lassen könnte?
– Ach was! – dachte ich dann. Dem Lodoletta kann es nicht in den Sinn kommen, daß ich mich wirklich nicht ertränkt haben soll. Er wird den Grund der Nachfrage in irgendeinem anderen zugkräftigen Stück seiner heutigen Nummer suchen. Seit langem kämpft er tapfer gegen die städtische Behörde für die Wasserleitung und für die Gasanlage. Er wird vielmehr glauben, daß es wegen dieses seinen »Feldzuges« sei.
Ich ging in das Bahnhofsgebäude.
Zum Glück war der Kutscher des einzigen Wägelchens, nämlich dem der Post, noch da und plauderte mit den Eisenbahnbeamten: das kleine Dorf war ungefähr dreiviertel Stunden zu Wagen von der Station entfernt, und der Weg ging dauernd bergauf.
Ich stieg auf jene altersschwache gebrechliche Kalesche ohne Licht, und weiter gings in das Dunkel hinaus.
Ich mußte an so vielerlei denken; jedoch immer wieder erregte mich der heftige Eindruck, den ich bei der Lektüre empfangen, die mich so aus der Nähe berührte, hier in jener schwarzen unbekannten Einsamkeit, und ich fühlte mich für einen Augenblick im leeren Raum, so wie kurz zuvor beim Anblick des verlassenen Gleises. Ich fühlte mich furchtbar vom Leben losgelöst, wie ein Überlebender meiner selbst, verloren, in Erwartung des jenseitigen Lebens, ohne jedoch zu erblicken in welcher Weise.
Wie um mich zu zerstreuen, fragte ich den Kutscher, ob es in Alenga eine Zeitungsagentur gäbe.
– Wie meinen Sie? Nein, mein Herr!
– Verkauft man denn keine Zeitungen in Alenga?
– Ach so! Ja, mein Herr. Die verkauft der Apotheker Grotanelli.
– Gibts einen Gasthof?
– Ja, das Wirtshaus von Palmentino. –
Ich war vom Bock gestiegen, um es der alten Schindmähre etwas leichter zu machen, die mit den Nüstern an der Erde keuchte. Ich konnte den Mann kaum unterscheiden. Auf einmal zündete er sich die Pfeife an, da sah ich ihn ganz unvermittelt und dachte: – Wenn er wüßte, wen er fährt ... –
Aber plötzlich richtete ich an mich selber die Frage:
– Wen fährt er? Das weiß ich ja selber nicht einmal. Wer bin ich jetzt? Ich muß daran denken. Einen Namen, wenigstens einen Namen muß ich mir jetzt sofort geben, um das Telegramm zu unterzeichnen und um mich dann nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn man mich im Wirtshaus danach fragt. Es wird genügen, wenn ich vorläufig nur an den Namen denke. Sehen wir zu! Wie heiße ich? –
Ich hätte nie geahnt, daß die Wahl eines Namens und Zunamens mich soviel Mühe kosten und soviel unwiderstehlichen Hang in mir wecken sollte. Besonders der Zuname! Ich tat Silben zusammen, so ganz ohne etwas dabei zu denken: es kamen gewisse Zunamen heraus wie: Strozzani, Parbetta, Martoni, Bartusi, die mir direkt auf die Nerven fielen. Ich fand keine Eigentümlichkeit darin, keinen Sinn. Als ob im Grunde die Zunamen einen solchen haben müßten ... Ach, weiter, irgendeinen ... Martoni, zum Beispiel, warum nicht? Carlo Martoni ... Ho, der wär fertig! Aber gleich danach zuckte ich mit den Achseln: – Ja! Carlo Martello ... – Und die Manie begann von neuem.
Ich kam im Dorfe an, ohne daß ich einen festen Namen hatte. Gott sei Dank war er bei dem Apotheker nicht nötig, der auch noch Telegraphen- und Postbeamter war, Drogist, Papierhändler, Zeitungsverkäufer und ich weiß nicht, was noch alles. Ich kaufte eine Nummer der paar Blätter, die zu ihm kamen; Zeitungen aus Genua: Il Caffaro und Il Secolo XIX; ich fragte ihn dann, ob ich Il Foglietto aus Miragno haben könnte.
Er hatte ein Gesicht wie eine Eule, dieser Grottanelli, mit einem Paar runder, runder Augen wie aus Glas, auf die er von Zeit zu Zeit, fast mühselig, direkt knorplige Lider herabsenkte.
– Il Foglietto? Kenn ich nicht.
– Ist eine miserable Provinzzeitung, ein Wochenblatt – erklärte ich ihm. – Ich möchte es haben. Die Nummer von heute natürlich.
– Il Foglietto? Kenn ich nicht, – wiederholte er von neuem.
– Nun, das macht ja nichts, wenn Sie sie nicht kennen: ich bezahle Ihnen die Spesen für eine telegraphische Anweisung an die Redaktion. Ich möchte zehn, zwanzig Exemplare davon haben, morgen oder so bald als möglich. Geht das? –
Er antwortete nicht: mit starren, blicklosen Augen wiederholte er noch: » Il Foglietto? ... Kenne ich nicht.« Schließlich entschloß er sich nach meinem Diktat die telegraphische Anweisung auszustellen, indem ich als Adresse seine Apotheke angab.
Und am Tage darauf, nach einer schlaflosen Nacht, durchwühlt von einem stürmischen Wogen der Gedanken, in dem Wirtshaus des Palmentino, empfing ich fünfzehn Exemplare des Foglietto.
In den beiden Zeitungen aus Genua, die ich, sobald ich allein geblieben war, in aller Eile durchflog, hatte ich keine Andeutung davon gefunden. Als ich den Foglietto entfaltete, zitterten mir die Hände. Auf der ersten Seite nichts. Ich suchte in den beiden inneren und plötzlich sprang mir ein Zeichen der Trauer in die Augen oben am Kopf der dritten Seite, und darunter mit fetten Buchstaben mein Name. So:
MATTIA PASCAL
Seit einigen Tagen hatte man keine Nachrichten von ihm: Tage voll schrecklicher Bestürzung und unbeschreiblichen Kummers für die trostlose Familie; Bestürzung und Kummer, geteilt von dem besseren Teil unserer Bürgerschaft, die ihn liebte und achtete wegen der Güte seines Gemütes, wegen der Fröhlichkeit seines Charakters und wegen jener natürlichen Bescheidenheit, die es ihm zusammen mit den anderen Gaben möglich gemacht hatte, ohne Demütigung und mit Resignation die ungünstigen Schicksalsschläge zu ertragen, durch die er aus leichtsinniger Wohlhabenheit in diesen letzten Zeiten in eine dürftige Lage geraten war.
Als nach dem ersten Tag unerklärlicher Abwesenheit die erregte Familie sich nach der Bibliothek Boccamazza begab, wo er in höchstem Eifer für sein Amt sich sonst fast den ganzen Tag aufhielt, um mit gelehrter Lektüre seine lebhafte Intelligenz zu bereichern, da fand sie die Tür verschlossen. Plötzlich erhob sich vor dieser verschlossenen Tür schwarz und zitternd der Verdacht, ein Verdacht, bald vertrieben von der Hoffnung, die einige Tage dauerte, aber allmählich immer mehr sank, daß er sich aus irgendeinem geheimen Grunde aus der Stadt entfernt haben könnte.
Aber, o weh! Die Wahrheit sollte leider die sein!
Der kürzliche Verlust seiner angebeteten Mutter und gleichzeitig des einzigen Töchterchens hatte nach dem Verlust des Erbgutes das Gemüt unseres armen Freundes tief erschüttert. So daß er vor etwa drei Monaten schon ein erstes Mal zur Nachtzeit den Versuch gemacht hatte, seinen elenden Tagen ein Ende zu bereiten, dort gerade in dem Graben jener Mühle, die ihn an den vergangenen Glanz seines Hauses und seine glückliche Zeit erinnerte.
... Kein größerer Schmerz,
Als im Unglück sich der glücklichen Zeit
Zu erinnern ...
Mit Tränen in den Augen und schluchzend erzählte es uns vor dem triefenden Leichnam ein alter Müller, treu und ergeben der Familie der alten Herren. Die Nacht war düster hereingebrochen; eine rote Öllampe war auf die Erde gestellt worden neben die Leiche, bewacht von zwei königlichen Carabinieri, und der alte Filippo Brina (wir erwähnen es zur Bewunderung für die Guten) sprach und weinte mit uns. Es war ihm damals in jener traurigen Nacht geglückt zu verhindern, daß der Unglückliche seinen gewaltsamen Vorsatz zur Ausführung brachte; aber dieses Mal war Filippo Brina nicht zur Stelle, um es zu verhindern. Und Mattia Pascal mag vielleicht eine ganze Nacht und die Hälfte des folgenden Tages in dem Wassergraben der Mühle gelegen haben.
Wir versuchen auch nicht die herzzerreißende Szene zu schildern, welche sich an Ort und Stelle ereignete, als vorgestern bei Einbruch des Abends sich die trostlose Witwe bei der unerkennbaren sterblichen Hülle des geliebten Gatten einfand, der dahingegangen war, um sich mit seinem kleinen Töchterchen zu vereinen.
Der ganze Ort hat Anteil genommen an ihrem Schmerz und hat es beweisen wollen, indem er der Leiche das letzte Geleit gab, und indem unser städtischer Assessor Cav. Pomino kurze und bewegte Worte des Abschieds an sie richtete.
Wir senden der armen, in tiefe Trauer gestürzten Familie und dem fern von Miragno weilenden Bruder Roberto unsere innigst empfundenen Beileidsbezeugungen, und zerrissenen Herzens sagen wir zum letztenmal unserem guten Mattia: Vale, geliebter Freund, vale! –
Auch ohne diese beiden Anfangsbuchstaben hätte ich Lodoletta als Verfasser des Nekrologs erkannt.
Vor allem aber muß ich gestehen, daß der Anblick meines Namens, der dort unter dem schwarzen Strich gedruckt stand, so sehr ich auch darauf gefaßt war, mich wirklich nicht nur nicht erfreute, sondern mein Herzklopfen derartig beschleunigte, daß ich nach ein paar Zeilen die Lektüre unterbrechen mußte. Weder die »furchtbare Bestürzung und der unbeschreibliche Kummer« meiner Familie machten mich lachen, noch die Liebe und Achtung meiner Mitbürger für meine schönen Tugenden, noch mein Eifer für das Amt. Die Erinnerung an jene traurigste Nacht auf Stia, nach dem Tode der Mama und meiner kleinen Tochter, was wie ein Beweis, vielleicht der stärkste, meines Selbstmordes gewesen war, überraschte mich zuerst, wie eine unvorhergesehene und unheilvolle Teilnahme des Zufalls; dann aber verursachte sie mir Gewissensbisse und Demütigung.
Oh, nein! ich hatte mich nicht wegen des Todes der Mama und meiner kleinen Tochter getötet, so sehr ich auch vielleicht in jener Nacht den Gedanken daran gehabt hatte! Ich war entflohen, wahrhaftig, verzweifelt; aber nun kehrte ich zurück aus einem Spielhaus, wo mir das Glück in der seltsamsten Weise gelächelt hatte und noch immer lächelte; ein anderer hatte sich dagegen für mich getötet, ein anderer, irgendein Fremder, dem ich das Bedauern der fernen Eltern und der Freunde stahl und den ich dazu verurteilte, – welch höchste Verspottung – all das über sich ergehen zu lassen, was ihm nicht gehörte, falsches Mitleid und schließlich die Leichenrede des gepuderten Pomino!
Das war der erste Eindruck bei der Lektüre dieses meines Nekrologs im Foglietto.
Dann aber dachte ich, daß jener arme Mann sicher nicht durch meine Schuld gestorben war, und daß ich, wenn ich mich wieder lebendig machte, doch ihn nicht auch wieder lebendig machen könnte; ich dachte, daß ich, seinen Tod benutzend, in der Tat nicht nur seine Eltern nicht betrog, sondern ihnen sogar noch etwas Gutes erweisen würde: für sie war der Tote ich, nicht er, und sie konnten ihn für verschwunden halten und hoffen, ihn eines Tages wieder erscheinen zu sehen.
Blieben meine Frau und Schwiegermutter. Sollte ich eigentlich an ihre Sorgen um meinen Tod glauben, an all jenen »unaussprechlichen Kummer«, an jenen herzzerreißenden Schmerz des Trauerstücks Lodolettas? Es genügte doch, zum Teufel, dem armen Toten langsam ein Auge zu öffnen, um zu bemerken, daß ich es nicht war. Und selbst angenommen, daß die Augen auf dem Grund des Grabens geblieben wären, – eine Frau wird nicht, kann doch nicht so leicht einen anderen Mann mit ihrem Gatten verwechseln.
Sie hatten sich beeilt, mich in jenem Toten wiederzuerkennen? Die Witwe Pescatore hoffte wohl nun, daß Malagna, gerührt und vielleicht nicht frei von Gewissensbissen wegen meines barbarischen Selbstmords, der armen Witwe zu Hilfe käme? Gut denn: waren sie zufrieden, so war ich ganz zufrieden!
– Tot? Ertrunken? Ein Kreuz, und man spricht nicht mehr davon! –
Ich erhob mich, streckte die Arme aus und tat einen sehr langen Seufzer der Erleichterung.