Hermann Pies
Kaspar Hauser Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse
Hermann Pies

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V. Aufzeichnungen Prof. Dr. Hermann's über Hauser's Leben in seinem Käfig und seine Reise von da nach Nürnberg.D. 73 S. 107ff. Daumer bemerkt zu Hermanns Arbeit: »Professor Hermann zu Nürnberg, Lehrer der Mathematik am Nürnberger Gymnasium, nachheriger Staatsrat v. Hermann in München, mein vieljähriger vertrauter Freund, der sich sehr viel und sehr aufmerksam mit dem Findling beschäftigte, schrieb die Resultate seiner Unterhaltungen mit ihm sorgfältig auf und überantwortete mir ein Manuskript, welches ich seit jener Zeit bewahrt habe, und welches die nachstehenden Notizen enthält.« (D. 73 S. 107. Vgl. a. Note 6 S. 188) In der Zeit, da Hauser auf dem Vestnerturm wohnte, war es vor allem Bürgermeister Binder, der das Rätsel des Vorlebens Hausers zu lösen sich bemühte. Den Niederschlag seines Eifers finden wir in seiner »Bekanntmachung« (S. 240 ff.). Im Daumerschen Hause, wohin Häuser am 18. Juli 1828 übersiedelte, war es besonders Hermann, der die »Forschungen« Binders rastlos fortsetzte. Sein Aufsatz ist schon deshalb interessant, weil er unverhüllt die Art und Weise zeigt, wie man Hauser nach jeder Richtung hin »auspumpte«. Es ist gar nicht zu ermessen, wie viel durch diese und ähnliche Recherchen in Hauser hineingefragt, und wie das, was wir einmal die Erinnerungen Hausers nennen wollen, durch all diese Experimente entstellt und verzerrt wurde. Die Spuren dieser Einflüsse sind denn auch in den später entstandenen »Selbstzeugnissen« Hausers sowie in den gerichtlichen Vernehmungen über seine Herkunft unverkennbar. Dabei darf man jedoch vieles Echte, Unerfindbare darin nicht übersehen. Dies herauszustellen wäre eine ebenso mühevolle wie aufhellende Arbeit für den Psychologen.

Kaspar Hauser befand sich, so lang er zurückdenken kann, in einem Gemach von so geringer Breite, daß er, in der Mitte zwischen beiden Wänden auf dem Boden sitzend, diese am Boden erlangen konnte. Um die Arme wagrecht auszustrecken, wäre es zu schmal gewesen. Die Höhe vermag er nicht anzugeben, da er sich nicht recht erinnert, die Decke gesehen zu haben – wie er denn auch später nicht in die Höhe blickte oder das über ihm Befindliche noch nicht in Verhältnis zu sich bringen konnte, wovon unten mehr Beispiele vorkommen. Die Wände waren Steinmauern, der Boden scheint gestampfter Lehm gewesen zu sein, er vergleicht ihn mit festgetretenen Gartenwegen. Er lag auf Stroh, das am Kopf eine Erhöhung bildete. Ob das Stroh unmittelbar auf dem Boden oder auf Brettern lag, kann er nicht angeben, da er nicht nachsuchte; es scheint aber dick gelegen zu haben, da ihm später im Gefängnis zu Nürnberg der Spreusack hart und kalt vorkam. In der Wand, gegen die hin seine Füße lagen, waren oben (er bezeichnete eine Höhe von etwa 6 Fuß) wie er glaubt, nicht weit von der Decke, zwei kleine, unverschlossene, viereckige Öffnungen – er bezeichnete sie 6" hoch und 3" breit – die außen mit Holz verlegt waren, wie von einem Holzstoße. Von seinen Füßen war es noch eine kleine Strecke bis an die Wand; er gab eine Strecke von ein paar Fuß an. Sein Kopf lag gegen die Türe hin, deren Höhe und Gestalt er nicht angeben kann.

Er hatte kurze Lederhosen an mit ledernemIch finde beigefügt: »schwarzem, wollenem.« (D.) Hosenträger, beides auf bloßer Haut, über diesen ein Hemd. Zur Bedeckung diente ihm eine grobe Wolldecke (Pferdedecke), die er, wenn er nicht schlief, auf den unbekleideten Füßen liegen hatte. Die Hosen waren hinten aufgeschlitzt, so daß er sie nicht zu öffnen brauchte.Er wußte auch nach seiner Ankunft in Nürnberg die Hosen nicht zu öffnen, noch den Hosenträger abzunehmen. (H.) Wenn er sich aufsetzte, so fühlte er, daß ihn etwas hinderte, sich nur etwa stark vorwärts gegen die Knie hin zu beugen,Wenn er ein Band, das ihm entfiel, aufnehmen wollte. (D.) noch weniger konnte er fortrutschen oder gar aufstehen; ja nicht einmal auf die Seite vermochte er sich zu legen, nur die Lage auf dem Rücken und ein kleines Rutschen gegen die linke Seite hin (etwa 2-3 Zoll weit) war ihm möglich. Als er, auf dem Boden sitzend, an der Hosenschnalle niedergehalten wurde, sagte er: so sei es gewesen. Was ihn aber hielt oder wie es festgemacht war, kann er nicht angeben, da er es nie untersuchte.

Neben ihm rechts an der Wand stand ein Krug mit Wasser und Brot. Links fast unter ihm war eine Vertiefung im Boden mit einem Holzdeckel bedeckt, der sich wegschieben ließ; in ihr stand ein Gefäß, in das er seine Notdurft verrichtete, wozu nichts nötig war als Wegschiebung des Deckels und jenes kleine Rücken nach links, das ihm seine Fessel erlaubte. War der Deckel auf der Öffnung, so mußte er Stroh auf seine Kante legen, damit sie ihn nicht drückte, weil er auf ihr lag. Er hatte zwei hölzerne Pferde und einen hölzernen Hund, etwa 1 Fuß hoch, die auf Brettchen mit Rollen standen. Mit ihnen zu spielen, ihnen jeden Bissen hinzuhalten, ehe er ihn in den Mund steckte, um sie fressen zu lassen, sie schlafen zu legen, war seine einzige Beschäftigung. Er erinnert sich nicht, ihren Namen gewußt zu haben; nur die Worte habe er zu ihnen gesagt: »Nit vo laf, do bleib.Hiernach hätte er also schon in seinem Käfig etwas sprechen können und zwar deutsch. Da er aber späterhin, als man die bekannten sprachlichen Experimente mit ihm anstellte, das Deutsche als eine ihm ursprünglich fremde Sprache bezeichnete, statt deren er früher an andere Sprachlaute gewöhnt gewesen, so ist wohl die Vermutung erlaubt, daß er in seinem Käfig zwar mit seinen Spieltieren gesprochen habe, aber in einer anderen Sprache. War er in Deutschland geboren und erst nach Ungarn gebracht worden, nachdem er schon angefangen, ein wenig deutsch zu plaudern, so konnten ihm auch wohl aus dieser frühesten Zeit ein paar Wörter geblieben sein. Es wird übrigens auch in Ungarn deutsch gesprochen. (D.) Er hat nie einen Laut von außen gehört und nie irgend Schmerz und Störung empfunden bis gegen das Ende seines Aufenthaltes in diesem Käfig. Den Wechsel von Tag und Nacht sah er an Dämmerung und Finsternis, wie es bei dem wenigen Lichte möglich war, das zu dem verlegten Fenster herein konnte. Die Zeit wußte er nicht zu messen, solange er in der völligen Ungestörtheit und Einsamkeit hinlebte. Wärme und Kälte der Luft scheint ihm nie beschwerlich gewesen zu sein, nur über das Stroh mit den Füßen herabzurutschen hütete er sich, da der Boden kalt war. Von einem erwärmten Körper wie einem Ofen, hatte er keine Vorstellung; am wenigsten weiß er etwas davon, daß der Ofen die oder jene Farbe gehabt, sowie er überhaupt leugnet, daß irgend etwas der Art oder sonst ein Gerät in seinem Gemache gewesen. Das Wort »einkenten« (nach bayerischer Mundart einheizen) habe ihm der Mann, der ihn nach Nürnberg gebracht, angelehrt mit der Anweisung, zu sagen, man habe ihm »einkent.«

Wenn er morgens erwachte, fand er den Wasserkrug gefüllt und frisches Brot. Wasser hätte er oft mehr gewünscht, Brot war immer genug. Bevor er schlief, hatte er eine nicht feste Öffnung; nachher fand er das Nachtgeschirr oder die Vertiefung geleert. Die Leerung scheint während seines Schlafes geschehen zu sein. Ebenso alles, was zur Reinigung nötig war, wie z.B. das Wechseln des Strohes und das Anziehen eines frischen Hemdes, das ihn im Schlaf störte. Das Hemd wurde ihm bloß übergeworfen, sowie das alte leicht abzunehmen war, da Hose und Hosenträger unter ihm befindlich waren; es war über den Hosenträger in die Hosen gesteckt. Gewaschen scheint man ihn niemals zu haben; denn als er in Nürnberg gereinigt wurde, ging der Schmutz wie eine Haut von ihm ab.Seife vertrug er nicht, sie machte ihn krank. (H.) Die Angaben über die »Reinlichkeit« Hausers bei seinem Auftauchen gehen auf Aussagen des Gefängniswärters Hiltel zurück. Dieser äußerte sich darüber in seinen Verhören folgendermaßen:
Protokoll vom 3.11.29 (2100 F. 21 ff.): .... »sein Körper (war) soweit es nicht die Fußreise mit sich brachte, reinlich gehalten ....«
Protokoll vom 12.4.34 (2121 F. 1513 ff.): .... »wie ich K. H. gleich zur Aufsicht erhielt, war er schmutzig und hatte keinen Sinn für Reinlichkeit, doch erlernte er solche, wie auch Ordnung, durch meine Anleitungen in kurzer Zeit. .... Wie ich schon erwähnt habe, war K. H. am Körper ganz schmutzig, und als er nach zirka 8 oder 10 Tagen gewaschen wurde, fiel der Schmutz ab und K. H. sagte da in meinem Beisein zu meiner Frau: ›Mutter, die Haut‹.«
Von Ungeziefer litt er nie, auch fand sich in Nürnberg keines an ihm. Aus der Art, wie er hinten am Boden festgebunden war, erklärt sich's, warum er nie die Türe sah. Er konnte sich nicht nach ihr umdrehen und war dieser Bewegung auch wohl ganz ungewohnt. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, so daß er sie, um zu sehen, aus dem Gesichte streichen mußte. Eines Tages kam »der Du«, d.h. der Mann, der ihn nach Nürnberg führte, zu ihm und sagte ihm, er wolle ihn zu seinem Vater bringen, der habe viele andere, schönere Roß (wobei er auf die hölzernen Pferdchen deutete), die werde der ihm geben. Aber da müsse er lesen und schreiben lernen. Von dieser Rede habe er nichts verstanden, als daß, womit er seither gespielt, Roß heiße, was er jetzt erst gelernt; und daß er andere Roß erhalten solle, habe er daraus begriffen, daß der Mann mit seiner Hand von diesen weggedeutet.Trotz dieser ausdrücklichen und anschaulichen Erklärung Kaspars schien es doch, als ob die Rede des Mannes, die er damals zum ersten Male gehört zu haben sich entsinnt, nur dunkle Erinnerungen einer früheren Sprache in ihm aufgeregt habe, durch die ihm das Verständnis und Behalten derselben möglich geworden, wiewohl für das Behalten schon das starke Gedächtnis desselben spricht. (H.)
Da der Mann, wie sich Hauser später erinnerte, einen ungarischen Fluch ausstieß, und H. selbst ungarische Wörter verstand, gewisse undeutsche Wörter selbst noch zu Nürnberg auf dem Turme gebraucht haben will, wofür ihm der Gefangenwärter die deutschen gelehrt, so kann man vermuten, daß sich jener Mann, soweit er verstanden sein wollte, mit ihm in dieser Sprache verständigte, ihm aber zum Behufe der Aussetzung einige deutsche Wörter und Redensarten vorsagte und einprägte, die der Knabe nur mechanisch nachsprach und so auch in Nürnberg hören ließ. (D.) Dies habe er leise hinter ihm gesprochen. Darauf stellte der Mann einen niedrigen Stuhl (eine Art Schemel mit vier runden Füßen, wie er ihn bezeichnete) vor ihn, legte auf diesen Papier und sagte, er werde ihn seinen Namen schreiben lehren. Er schrieb nun »Kaspar Hauser« vor und führte dem Knaben die Hand beim Nachschreiben. Dieser behielt sogleich die ganze Reihe der Züge.Dies stimmt ganz mit der wunderbaren Gelehrigkeit und Gedächtniskraft, die H. in Nürnberg bewies. (D.) Darauf legte er ihm ein Gebetbuch vor, was er auch nach Nürnberg mitgebracht und sprach ihm, auf die Worte deutend, dieselben vor, die der Knabe dann nachsprach. Auch hier merkte dieser sogleich die ganze Reihe der Worte oder vielmehr Laute; ihren Sinn begriff er nicht. Um ihn gleichsam zu belohnen, zeigte ihm der Mann, daß er seine Pferdchen hin und herrollen könne, und verließ ihn unter dem Versprechen, bald wieder zu kommen. Das war gegen Abend geschehen. Als er am andern Morgen erwachte, richtete er sich wie gewöhnlich auf, um zu essen und mit seinen Pferdchen zu spielen. Es vergnügte ihn nun, sie auf dem Deckel des Nachtgefäßes hin und her zu rollen. Während er aber eines erlangen wollte, das er weiter von sich und vom Deckel hinabgestoßen, mußte er sich weiter vorwärts neigen und fühlte nun zum ersten Male das Hemmnis nicht mehr, das ihn bisher an der Stelle festgehalten. Allmählich suchte er nun vorwärts zu rutschen, was ihm auch gelang; doch ging er nicht weiter als um sein Pferdchen zu erlangen, da er unten mit seinen Füßen auf den kalten Boden kam, was ihm weh tat. Es scheint also, der Mann habe ihn an jenem Tage von der Fessel befreit, um ihn vorläufig an einige Freiheit der Bewegung zu gewöhnen; oder vielleicht, um ihm das Schreiben zu erleichtern, worauf er das Wiederanbinden unnötig fand, da er ihn bald zu holen gedachte. Nun rollte Kaspar den ganzen Tag sein Rößchen auf dem Deckel der Vertiefung hin und her und machte dadurch ein Geräusch, das ihm selbst weh tat, der vorher nie etwas gehört hatte. Dies mochte seinen Wärter beunruhigen; vielleicht hatte er auch nicht Zeit, ihn wieder anzubinden, da es Tag war; plötzlich öffnet sich die Türe und Kaspar mitten in seiner Freude an dem Leben seiner Spielkameraden (denn jetzt hielt er sie vollends für belebt und seinesgleichen; doch sagte er schon oben »Nit vo las«, wenn sie umfielen) erhält einen so heftigen Schlag auf den rechten Arm, daß man von der Wunde noch jetzt die Narbe sieht.Als er in Nürnberg ankam, war die Wunde mit einer trockenen Kruste bedeckt, die bald darauf im Gefängnis abging. Der Arm tat ihm nach dem Schlage mehtere Tage lang weh. (H.)
Man hat nicht ohne Anschein der Richtigkeit eingewendet, der Unbekannte hätte fürchten müssen, daß der Knabe infolge des Schlages weinen und schreien und sich daduich bemerklicher machen werde als durch das Rollen der Spielpferde. Ich vermute jedoch, der Mann habe die Besorgnis gehabt, H. möchte jetzt überhaupt aus seiner Dumpfheit erwachen, lebendiger werden, aufstehen, seine Stimme hören lassen usw. Darum habe er ihm in einem Momente, wo niemand zugegen war, den er zu fürchten hatte, in der Cile jenen Schlag versetzt. (D.)
Er sah bloß, daß ein ziemlich starker Stock noch ein Stück über seinen Arm vorragte. Der Schlag wurde also wahrscheinlich zur Türe hereingeführt, gegen die Kaspar immer mit dem Rücken gekehrt saß, und so eilig, daß weder seine Stärke, noch der Ort, wohin er traf, gehörig ermessen wurde; denn außerdem scheint eine so heftige Mißhandlung nicht im Plane seiner Pfleger gelegen zu sein.Der Schlag war vielleicht so gar heftig nicht; die Wirkung desselben erklärt sich aus der enormen Verletzbarkeit des Knaben, die sich auch in Nürnberg offenbarte. (H.)

Kaspar erschrak und wurde ganz still. Es wurde dreimal Tag und NachtDies ist die erste Angabe, daß er Zeit festgehalten. Ob er hätte über drei Tage merken können, ist zu bezweifeln, wenigstens den darauf folgenden Zeitraum weiß er nicht anzugeben. Überhaupt aber sieht man, daß ihn diese Begebenheiten zuerst veranlaßten, auch den gleichförmigen Wechsel von Tag und Nacht, den er bisher allein wahrgenommen, zu behalten. (H.)
Hier ist jedoch noch etwas zu bemerken. Es kam zu Nürnberg vor, daß Hauser bei Tage wähnte, es werde oder sei Nacht, weil ihn eine Schwäche mit Augenverdunklung befiel. Dadurch werden seine Angaben über den Wechsel des Tages und der Nacht in seinem Käfig und auf der Wanderung sehr zweifelhaft. Hermann selbst bemerkt dies am Ende seiner Aufzeichnungen. (D.)
bis der Mann wiederkam und versuchte, ob Kaspar noch seinen Namen schreiben und die Gebete sprechen könne. Das war der Fall. Nun wurden ihm seine Hosen aus- und andere, ebenfalls kurze aber viel weitere Lederhosen angezogen nebst Stiefeln und einem Kittel. Alles das geschah von hinten, ohne daß Kaspar ein Gesicht sah. Darauf sagte ihm der Du, er werde ihn jetzt zu seinem Vater bringen. Er zog ihn aus dem Gemach heraus, hob ihn auf und stellte ihn auf die Füße, wo sich aber Kaspar nur unterstützt erhalten konnte. Er setzte ihm einen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe auf; darauf stellte er ihn auf eine Erhöhung an der Wand, ihn anlehnend, damit er nicht umfalle, und nahm ihn auf den Rücken; Kaspar umfaßte den Mann am Halse und dieser die Beine Kaspars.Die Hände waren zusammengebunden, wovon noch die roten Spuren in Nürnberg zu sehen waren. (H.) Sobald Kaspar herausgekommen war, fühlte er kalte Luft, die ihm wehtat.

Der Mann ging nun mit ihm unmittelbar (ausdrücklich ohne vorher eben fortzugehen) einen Berg hinauf, den er grün vor sich sah.Eine spätere Erinnerung und Aussage ist die, daß er erst einen kleinen Berg, dann einen großen hinaufgetragen worden sei. Auf dem ersten habe ihn der Gang des Mannes stärker gestoßen als auf dem zweiten und die Luft sei ihm auf diesem kälter vorgekommen als auf jenem. Der erste, kleine, sei bald vorüber gewesen, und er sei von ihm nicht wieder abwärts getragen worden, wie von dem zweiten. Den Weg habe er auf dem ersten nicht gesehen, da sein Gesicht auf dem Rücken des Mannes gelegen, auf dem zweiten sei er ihm grün erschienen. Als er den ersten hinaufgetragen worden, sei er wie an Wänden angestreift. Alles dies gibt zu erkennen, daß der erste Berg vielmehr eine kleine, schmale Treppe, dagegen der zweite eine eigentliche, grün bewachsene Anhöhe im Freien gewesen. (D.) Er meinte Gras gesehen zu haben; doch kann er nichts angeben, als daß er Grünes vor sich sah, was er indes erst später bezeichnen lernte. Andere Farbe sah er nicht.Daß Kaspar bei Nacht von Farbe spricht, darf nicht verwundern, da noch jetzt sein Auge für Farbenunterschied bei (für ein gewöhnliches Auge) völligeer Finsternis empfänglich ist, sogar für Dunkelgrün und Schwarz, Dunkelbraun und Dunkelrot usw. (H.) Eigentliche Gegenstände unterschied er nicht. Die Kälte der Luft und die Heftigkeit des Windes griffen ihn an; er fühlte Kopfschmerz und weinte; es ging hoch hinauf und der Mann schnaufte stark. Bald nachdem sie oben angekommen, ging es wieder abwärts. Kaspar weinte noch, der Mann tröstete ihn; er komme bald zu seinem Vater, der gebe ihm schöne Rosse. Während des Absteigens sah Kaspar den Abhang vor sich, abermals grün. Er schlief im Hinabsteigen auf dem Rücken des Mannes ein. Beim Erwachen fand er sich auf dem Boden liegend; es war kalt; er lag im Grünen auf dem Gesicht; dies war überhaupt immer der Fall, so oft ihn der Mann niederlegte. Es war noch nicht ganz hell, als er erwachte. Nun richtete ihn der Mann auf und sagte ihm, er müsse gehen lernen. Er hielt ihn von hinten unter beiden Armen und hieß ihn beständig auf den Boden sehen, sonst könne er nicht gehen lernen.Es wurde hier wiederholt gefragt, ob er den Mann nicht gesehen. Er verneinte es entschieden; er habe sich auf dem ganzen Weg nie umgedreht, da ihm das Stehen und Gehen zu viel Aufmerksamkeit und Mühe gekostet. Auch habe er der Anweisung des Mannes, nicht vom Boden wegzusehen, strenge folgen zu müssen geglaubt. Überhaupt scheint Kaspar erst später den Blick erhoben zu haben. Denn nachdem er mit Bürgermeister Binder gesprochen hatte, erkannte er ihn das nächste Mal bloß an der goldenen Uhrkette wieder, auf die er das erstemal beständig geblickt. Erst zwei Monate nach seiner Ankunft in Nürnberg, als er schon einige Tage bei Daumer war, sah er den Mond und den Sternenhimmel zum ersten Male, was zu einem ergreifenden Auftritt veranlaßte. Schon oben wurde bemerkt, daß er sich der Decke seines Gemachs nicht recht erinnerte, obwohl er auf dem Rücken lag. (H.) Wankend und zitternd versuchte nun Kaspar seine ersten Schritte. Von der Kälte und dem starken Geruch des Bodens tat ihm der KopfErst seit kurzem sind Versuche angestellt worden über die Schärfe seines Geruchs, die alles übertrifft, was man sonst an Menschen wahrnimmt. So roch er z. B. das Blatt der Schafgarbe auf 6, gemeinen Nachtschatten auf 11 Schritte; ein Bein, das, drei Personen an die Nase gehalten, geruchlos schien, roch er auf 10 Schritte. Man denke sich nun die Wirkung der Ausdünstung des Bodens auf einen solchen Menschen! (H.) weh und er weinte. Der Mann redete ihm zu, immer nur leise, nicht heftig; geschlagen hat er ihn nie mehr seit jenem einzigen Schlag. Oft (alle 6–8 Schritte) mußte er niedergesetzt werden, um von der großen Anstrengung auszuruhen. Oft legte ihn der Mann; dann immer aufs Gesicht. Er lehrte ihn, wenn er geruht habe, zu sagen »mal komm!« Denn er ging immer etwas abseits, während Kaspar saß oder lag. Als es hell wurde, schmerzten ihn die Augen und er sah nichts mehr. Bald fühlte er auch Schmerz in den Beinen über den Knien und an den Füßen, wo ihn die Stiefel drückten. Wie oft er den Tag über aufgehoben und niedergesetzt worden, weiß er nicht mehr, er erinnert sich dessen auch auf dem ganzen Weg nicht weiter. Ebensowenig wurde er gefahren. Den Tag über gab ihm der Mann dasselbe Brot zu essen, das er bisher bekommen, und ließ ihn Wasser aus einer Glasflasche trinken, die er, wie Kaspar meint, in der Seitentasche stecken hatte. Wie es dunkel wurde, sah er wieder Grünes vor sich.Vielleicht deshalb, weil er überhaupt erst wieder sah. Er wird wohl, da ihn das Licht blendete, an einer Art von Tagesblindheit gelitten haben. Dagegen sah er im Finstern, wie sich bei uns auswies, sehr gut.

Der Boden war den Tag über eben gewesen. Der Mann legte ihn auf das Gesicht und er schlief ein. Als er erwachte, war's noch finster, er fühlte Kälte und zum ersten Male Nässe; darüber klagte er weinend. Der Mann sagte ihm, er schütte ihn nicht an, es schütte vom Himmel; jetzt wisse er, daß es geregnet habe, doch sanft; denn er hörte kein Plätschern.Dies ist überhaupt im Walde, wo er wahrscheinlich lag, selten der Fall. (H.) (D. H.) Noch ehe es tagte, hob ihn der Mann auf und er mußte wieder gehen. Es tat ihm alles weh. Er sah kein Hindernis im Wege, wie etwa von Bäumen, nur Grünes. Als der Tag kam, schmerzten ihn seine Augen wieder. Als es helle geworden, war der Boden nicht mehr so grün, sondern weißer und mehr glatt (eben); nur hatte er Gruben. Er deutete auf einem Spaziergang auf kleine Lachen, die der Regen gebildet, leugnete aber, daß es Geleise gewesen, die man ihm zeigte. Den zweiten Tag setzte er sich recht vielmal nieder und wurde von dem Manne stets durch das Versprechen schöner Pferdchen bei seinem Vater wieder aufgetrieben. Gegen Abend besserte sich das Kopfweh etwas, das Gras, das er jetzt deutlich sah, ging ihm bis über die Knöchel herauf; er glaubt Blumen daran gesehen zu haben. Wieder legte ihn der Mann, als es dunkel, auf das Gesicht nieder ins feuchte Gras, welches das ganze Gesicht verhüllte. Dies war ihm wegen der Feuchtigkeit und des starken Geruchs recht peinlich und er versuchte oft aufzustehen, aber er konnte nicht. Am dritten Morgen abermals Versprechungen, ihn bald zum Vater zu bringen, oftmaliges Niedersetzen. Noch konnte er nicht weiter als etwa 20 bis 30 Schritte gehen, ohne sich zu setzen. Nun führte ihn der Mann nur mehr mit einem Arm und endlich mußte er allein gehen, was aber, wie er es zeigt, so wankend und langsam ging, daß 100 seiner Schritte kaum 30 der gewöhnlichen gaben. Nachdem er oft war niedergesetzt worden, sagte endlich der Mann, nun kämen sie bald zum Vater. Er setzte ihn, zog ihm die Lederhosen aus und graue Tuchhosen an; ebenso wechselte er ihm das Hemd und den Kittel. Statt des großen Bauernhutes mit breiter Krempe erhielt er einen runden, den der Mann gehabt, und dieser setzte jenen auf. Die Stiefel behielt er an.Die Lederhosen seien so weit gewesen, daß sie über die Stiefel herabgegnngen. (H.) Der Mann scheint den Kittel mit ihm getauscht zu haben, obwohl Kaspar weder hierüber, noch ob derselbe einen Bündel getragen, sicher ist. Nun ließ ihn der Mann vor sich hergehen, der Weg war weiß. Wenn es oft geschehen, so habe er sich noch dreißigmal gesetzt, von da an, wo er die Kleider gewechselt, bis zur Stadt. Der Mann sagte ihm, in dem großen Dorfe wohne sein Vater; er sah aber nichts davon, da er auf den Boden blickte. Endlich stand der Mann mit ihm still, gab ihm einen Brief in die Hand, sagte zu ihm, er solle ihn Hinhalten und verlangen, ihn hinzuweisen, und verließ ihn unter dem Versprechen, bald wieder zu kommen. Gegen die Stadt her stieg der Weg etwas an. Er wisse gewiß, über keinen Steg gekommen zu sein, da er sich jetzt noch fürchte, über einen zu gehen. Ob über eine Brücke, wisse er nicht. Pflaster fühlte er erst in der Stadt. Ausdrücklich versichert er, nie über einen Berg gekommen zu sein, den ersten ausgenommen. Er habe, als ihn der Mann verlassen, viele Häuser um sich gesehen; doch habe er damals nicht gewußt, was er sehe; erst später habe ihm der Gefängniswärter gesagt, es seien Häuser. Auf dem ganzen Wege ist ihm nie irgend ein lebendes Wesen begegnet.

Von den Kleidern, die er mitgebracht, ist Kittel, Hose und Hemd noch vorhanden, auch der Hut. Die Stiefel sind vom Gefängniswärter in den Abtritt geworfen worden, »weil sie so schlecht gewesen«. Kittel und Hose sind von grobem, grauem Tuch. Der Kittel ist ein Frack (wie von einem Bedienten) gewesen; wo er abgeschnitten, ist er nur leicht verstochen. Die Hosen sind von demselben Tuch vielfach geflickt und haben neben eine Tasche, wie zu einem Waidmesser oder Besteck. Beide schmutzig und von sehr üblem Geruch; das Hemd hat am Hals Haften und Schlingen und am Ende des Brustschlitzes einen Buchstaben ec mit rotem Garn eingenäht. Es ist grob, doch nicht sehr zerrissen.

Einzelne Worte, die er von seinem Führer gehört, und das Gebet, das er sprechen konnte, zeigten die altbayerische oder doch oberpfälzische Mundart. Doch ist dabei sehr zu bedauern, daß man im ersten Unterricht oder vielmehr der ersten Behandlung desselben nicht sorgfältiger gewesen. Denn dadurch z. B., daß der Gefängniswärter den Auftrag erhalten, ihn sprechen zu lehren, hat der Knabe eben erst recht die altbayerische Mundart sich angewöhnt, da die ganze Familie des Mannes sie spricht; und nun läßt sich nicht mehr ausmitteln, was er mitgebracht oder hier erhalten hat. Nach Kaspars Aussage hat sein erster Inquirent, Herr Polizeiaktuar Hüftlein, jenen Auftrag dem Gefängniswärter gegeben, nachdem er selbst dem armen Menschen, trotz des lautesten Schreiens, sich nicht verständlich machen konnte.

Auf die nachholend gestellte Frage, wie oft er unterwegs seine Notdurft verrichtet, erwiderte er, weder Öffnung gehabt noch Wasser gelassen zu haben. Er habe nur zweimal zu essen bekommen, jedoch öfters getrunken. Dazu kommt, daß er noch in Nürnberg zweimal Verdunklung des Gesichtes fühlte, einmal bei Binder und einmal bei Daumer, wo ihm Nacht zu werden oder zu sein schien. Ähnlicher Art, meint er jetzt selbst, könne das damalige Nachtwerden auf dem Wege gewesen sein. Das alles zusammengenommen deutet wohl mit ziemlicher Sicherheit auf einen nur eintägigen Weg hin. Denn da er erst am andern Tage nach seiner Ankunft in Nürnberg Öffnung hatte, während er im Käfig täglich ganz regelmäßig zu Stuhle war, da auf der Reise seine Nahrung sich nicht veränderte und die Erkältung im feuchten Grase eher auf Erregung von Durchfall schließen läßt, so ist es höchst unwahrscheinlich, daß er 4 Tage lang ohne Öffnung gewesen sein sollte.


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