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Der alte Oddur hatte recht gehabt mit dem Bauern. Die Knechte bekamen ihn kaum mehr zu sehen. Er nahm auch nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten teil, sondern die Mägde mußten ihm in der letzten Zeit die Gerichte hinübertragen in seinen eigenen Raum. Und wenn sie dann wiederkamen, so wußten sie meist dasselbe zu berichten. Er hatte an seinem Tisch gesessen und sie kaum angesehen, als sie eintraten. In Papieren blätterte er, oder er saß da und hatte gar nichts vor.
»Er sinniert! Das tut er«, sagte die Kristin einmal. Und die Knechte nickten dazu. Und auch die Mägde.
»Jau! Er sinniert also!«
Aber keiner wußte, worüber.
Nur die alte Kristin war in diesem Fall wieder klug genug, um es zu erraten, aber sie redete nicht darüber, sondern sah nur manchmal lange und nachdenklich auf das Mädchen, aus dessen Gesicht in der Zeit aller Schein gewichen war.
Aber die alte Kristin wußte noch mehr. Sie sah, daß das Mädchen Asdis oft unruhig den Kopf hob, wenn irgendwoher die Stimme von Geir Thors kam. Und daß sie dazu auch noch rot wurde, – nicht selten.
Wo das hinaus wollte?
In einem Hof bei Hlidarenda hatten die Leute erzählt, daß Asdis »einen« von der Stadt hätte. Aber warum wurde sie dann rot, wenn der Bursche kam?
Das wußte die Alte nun doch nicht!
Als sie an einem Mittag mal zum Haus hinausschlurfte und an ihrem Stock zur Schmiede hinüberhumpelte, aus der Klirren und Hämmern kam, weil Geir Thors dort seinen Hengst beschlug, da hätte sie doch bald mit ihren alten Augen etwas gemerkt; denn wie sie näher kam, sah sie hinter der offenen Tür das Mädchen Asdis stehen. Sie stand richtig da und sah dem Jungen zu. Mit einem versonnenen Blick. Und ganz blaß war sie und ihre Lippen schmal.
Und darauf sah sie plötzlich mit ihren hellen Augen über die Wiesen hinaus, als ob sie dort etwas zu suchen hätte, und dann sah sie wieder in die Schmiede hinein, wo Geir arbeitete und sie gar nicht zu gewahren schien. Unverwandt hatte sie ihn betrachtet, bis sie dann plötzlich die alte Kristin sah. Da war ihr Gesicht mit einem Schlag rot geworden, als ob sie einer auf schlimmen Wegen ertappt hätte.
Kristin blieb stehen mit ihrem grauen, verwitterten und faltigen Gesicht, genau neben dem Mädchen. Auch Kristin sah jetzt in die Schmiede hinein, wo Geir eben ein Hufeisen glühte und zurechthämmerte, mit zornigen scharfen Schlägen.
Da hatten die beiden wohl miteinander geredet! stellte Kristin fest und mußte unwillkürlich an ihren Seligen denken: der hatte es auch immer so gehalten, jau, wenn sie mit ihm gesprochen hatte. Dann hatte er immer am liebsten gehämmert, daß der Amboß dröhnte und die Funken stoben. Jau, das war so seine Art gewesen. Und jetzt der Bursche. Es gab nichts Neues im Leben. Alles kam wieder herangerollt, nur die Leute waren andere, jau, jau!
Aber sie mußte sich doch wundern, daß die Tochter des Bauern hier vor der Schmiede stand, obschon sie sonst den Burschen kaum zu sehen schien und nur ein paar Worte für ihn hatte, kärgliche Worte, wenn sie bei der Mahlzeit am gleichen Tisch sitzen mußten. Für den Augenblick gab es nun allerdings anderes zu denken. Die Alte stampfte mit ihrem krummen Stock auf die hölzerne Türschwelle. »Zeit! Zeit! Da ist der Tisch schon angerichtet, und man wartet nur, daß es den Leuten gefallen soll zu kommen.«
»Hm!« setzte sie noch mißtrauisch dazu und sah an dem Mädchen hinauf und danach auf Geir, ehe sie forthumpelte.
Und richtig war es nachher bei der Mahlzeit dasselbe wie immer. Es fiel kaum ein Wort, weil die Tochter vom Hof auch keines sagte und am Ende nur den üblichen Tischsegen, ehe sie aufstand und weglief.
Die alte Kristin nahm sich von da an vor, ein wenig auf die beiden aufzupassen, ganz abgesehen davon, daß sie das heimlich immer schon getan hatte. Sie lief also nach einer halben Stunde wieder zur Schmiede hinaus, aber sie fand dort nur den Burschen, der dem Roten eben das letzte Eisen auf den Hinterhuf nagelte, worauf er die Spitzen der Hufnägel abzwickte und krummschlug und schließlich verfeilte. Asdis aber sah sie nicht.
Nur kam eines Tages ein Mann, den der Pastor von Hlidarenda zu dem Bauern geschickt hatte, weil er ihm einen Brief bringen sollte. Die Kristin stand dabei, wie Kjarval ihn aufbrach und las, was Sera Egil geschrieben hatte. Sie schaute nur so von der Seite ein wenig mit ihren schmalen Augenschlitzen auf Kjarval und sah, wie seine Hand samt dem Brief zitterte.
»Es ist gut!« sagte er zu dem Boten, »die Mägde haben wohl das Abendbrot gleich fertig, und du kannst dann warten!«
Aber Kristin hatte wohl gemerkt, daß es trotzdem nicht gut war mit dem Brief, wenn auch der Bauer das gesagt hatte. Und auch der Botenreiter war weggegangen und hatte nur einen scheuen Blick auf Kjarval geworfen. Ja, er wollte doch lieber gleich wieder reiten, weil es sicher zum Regnen käme noch vor Abend, hatte er gesagt.
Oddur wollte mit seinem Sattel in die Stube hinein, als der Bauer noch in der Tür stand. Ein Bügelriemen war abgerissen, und der Alte brauchte Pechdraht und eine Ahle, um ihn zu flicken. Da sagte Kjarval zu ihm und hatte dabei ein böses Lächeln um seinen Mund: »Hast du Lust, einen Ritt zu tun? Du wärst mir der richtige Führer. Es kommt morgen ein Gast auf den Hof, siehst du. Du müßtest ihn auf Gislis Hof abholen, weil er allein den Weg nicht finden kann nach Arnarholt. Willst du?«
»Also gut. Dann halt dich bereit morgen nachmittag!« sagte er, als der Alte geschmeichelt sein unglückliches Gesicht in Falten legte und zustimmte.
»Dann reitest du also morgen!«
Die alte Kristin wiegte bedenklich mit dem Kopf, als der alte Oddur nachher in der Stube saß und schmunzelte, weil der Bauer ausgerechnet ihn unter all den Jungfüchsen und kecken Burschen herausgesucht hatte. Richtig eine Ehre war es!
»Wenn es nun der ist?« fragte ihn die Alte plötzlich, »der aus der Stadt!«
»Ha?« Oddur legte den Kopf schief und vergaß zu priemen, obwohl er seine Tüte mit den Tabakbissen schon offen auf dem Tische liegen hatte und eben zugreifen wollte, »welcher denn wohl?«
»Nun, der,... der das Mädchen haben will!«
Oddur ließ geschlagen die Schultern hängen, als die Kristin darauf ausmalte, was sie alles wußte, und was die Leute wußten und was sie zu guter Letzt noch mit eigenen Augen gemerkt hatte. Und daß es ein Pastor war wie Sera Egil, nur jünger natürlich.
Oddur freute sich nicht mehr von da an. Er hockte trübe auf seiner Bank und kraulte sich auch dazwischen hinter seinen Ohren. Und überhaupt dachte er viel nach an diesem Abend.
Als das Mädchen Asdis an ihm vorbeikam, nachdem sie fast den ganzen Nachmittag draußen durch die Steppe getrabt war und ihr Gesicht vom Wind brannte, da hob er nicht einmal den Kopf, sondern starrte immer noch trübselig in die gleiche Ecke, daß es sogar dem Mädchen auffiel.
»Vielleicht will Euer Vater mit Euch sprechen!« schrie Kristin hinter dem Tisch hervor, wo sie saß und ein paar Löffel putzte, »geht einmal hinein zu ihm!«
Und als das Mädchen gegangen war, blieb sie immer noch hocken und wartete auf den Augenblick, da sie wieder in die Stube kam. Die Mägde hatten schon das Abendbrot auf die lange Tafel gestellt. Die alte Kristin wollte sehen, wie Asdis die Nachricht aufgenommen hatte, und ob sie sich darüber freute.
Aber Asdis schien nicht glücklich zu sein, als sie nachher mit dem Bauern kam, und der Bauer sich sogar an diesem Abend mit an den Tisch setzte, obwohl das schon lange nicht mehr der Fall gewesen war.
Geir Thors war überhaupt nicht gekommen. Nein, ein blasses Gesicht hatte das Mädchen!
Die Mägde flüsterten untereinander, und die Knechte hatten gespannte Gesichter, – sah die alte Kristin. Und dabei hatte sie doch nur der Großmagd ein wenig davon gesagt, wen der Bauer morgen erwartete, hm.
»Morgen kommt Besuch ins Haus, Leute!« sagte der Bauer einmal und sah auf und an dem Tisch entlang, »es ist ein junger Priester, der drüben dem Pastor helfen soll. Er wird morgen auf den Hof kommen, daß ihr es wißt.«
Asdis sah auf ihren Teller, während er sprach. Darauf sah sie zum Fenster und dann an die Wand, und schließlich bückte sie sich auf ihren Schoß hinab, weil da ein Brosam vom Tisch gefallen war. Nachher streifte sie den Platz, an dem Geir Thors sonst saß. »Wo ist denn Geir?« knurrte Kjarval.
»Bei den Pferden, er wollte noch reiten!« krähte Oddur zurück. Es war fast, als ob der Bauer erblaßte über dieser Antwort. Er hob gleich darauf die Tafel auf und ging, um nach dem Burschen zu sehen.
Andern Tags ward also die Ankunft des Pastors auf einem Hof erwartet, der eine halbe Tagereise nach Westen lag.
Gisli Magnussen hauste dort, ein pfiffiger Händler, der mitunter in großen Reisen mit seinen Waren über das Land geritten kam, um sie an den Mann zu bringen. Zu der Zeit lag er aber mit schwerem Reißen zu Bett und starte trübsinnig durch die Fensterscheiben nach draußen, wo der Regen in endlosen Schnüren vom Himmel hing. Außer ihm war noch ein alter Knecht auf dem halb verwahrlosten Hof, kein Weibsbild weit und breit war so mild; daß sie es länger als zehn Tage bei den alten Junggesellen ausgehalten hätte, die wie zornige Knurrhähne durchs Haus und durch die Ställe schlurften oder im Warenraum mit seinen vielerlei Kisten und Säcken herumkramten.
Oddur hatte gemeint, daß er den Fremden gut abholen konnte drüben, weil er ein Geschäft mit dem Händler hätte. Er ritt also durch die feuchten Wiesen davon und wählte den Weg durchs Moor, weil er kürzer war als der gewöhnliche Reitweg zum Händler. Richtig ein Wetter, dünkte es den Alten, um einen Pastor abzuholen, richtig. Die Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht, und der Schlamm spritzte manchmal bis an den Hals seines Pferdes hinauf, wenn er durch eine der öligen Pfützen ritt, die überall die Wiese durchbrachen und zuletzt zum großen Moor wurden. Der Teufel wußte, daß es kein Vergnügen war, auf dem dünnen Band dahinzutraben, das manchmal schaukelte und schnaufte, wenn das Pferd mit dem Huf unter die Rasendecke gestochen war und sich schnaubend wieder frei machte.
Aber Oddur kannte wie kein zweiter den schmalen Weg, der wieder herausführte aus der braunen Hölle. Verächtlich sah er vom hohen Sattel auf die Blasen hinab, die manchmal auf der trügerischen Decke zerplatzten. Ein Meter zu weit ab, nun, nur einen halben oder mitunter auch mal einen Fußbreit, wenn man zu dicht heranritt, es war eigentlich kein Spaß, wenn man die Sache bei Licht betrachtete.
Des Pastors wegen hätte ihn kein Hund vom Hof weggelockt, den Alten. Aber er brauchte nun einmal einen neuen Sattel, der Händler hatte zu jeder Zeit ein gutes Dutzend an der Wand hängen. Aber einer großen Stange hingen sie aufgereiht, schönes neues braunes oder schier weißes Leder, mit silbernen Beschlägen oder mit purpurrotem Samt ausgelegt, mit breiten vernickelten Bügeln. Und Oddur wollte für das Ende seines Lebens einen Sattel haben, auf dem es sich bequem und stolz zum Himmel fahren ließ, daß sie droben gleich sehen konnten, was für einen vornehmen Zuwachs sie da bekommen hatten. Das sollten sie, beim Teufel!
Natürlich wollte er auch bezahlen, was recht war, denn Oddur war kein Händler. Oddur verachtete die Händler, die nichts weiter tun konnten als den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Das war kein Christenwerk!
Aber Oddur hatte noch anderes im Sinn, worüber er sich den Kopf schon seit Tagen zerbrach. Das »Andere« stand ganz oben im Arzneischrank des Händlers. Eine besondere Medizin war es! Und ihrethalben legte er sich die Worte zurecht, die er zum Händler sagen wollte, wenn er das Moor endlich hinter sich hatte. Er linste vor sich hin, ob er noch den richtigen Weg hielt und ob nicht bald das Gehöft Gislis zu sehen war. Nun, das Pferd fand den Weg allein. Er war schon oft hier geritten. Er konnte ruhig weiter überlegen.
Gisli sollte heute steife Ohren machen! Er würde mit ihm herumstreiten, daß es eine Art hatte. Hier war Oddur! Oddur! Glaubte Gisli vielleicht, daß Oddur plötzlich sein Gehirn verloren hätte? Er wollte ihm zeigen, hier, – (dabei hob er einen Sattel von der Stange und warf ihn zu Boden!) – Leder nennst du das? Das sind Lumpen! Nichts als Lumpen! Vielleicht hat deine Großmutter sich nun endlich von ihrem Unterrock getrennt, den sie seit ihrer Hochzeit getragen hat. Dann hast du das Sattelgestell mit ihm überzogen, damit ehrliche Leute, hm, hm, damit also ehrliche Leute – ». Aber glaube nur nicht, daß der alte Oddur darauf hereinfällt!
Gisli sollte in Oddurs Vorstellung nun versuchen, ihn zu besänftigen. Dafür gab es ein Mittelchen. wie gesagt, stand es im Arzneischrank ganz oben auf der Leiste, so daß man es unmöglich sehen konnte, wenn man sich nicht den Hals nach hinten umbrechen wollte. Es war in einer grünen Flasche mit einem roten Papier darauf. Auf diesem Papier stand zwar »Terpentin«,aber Oddur wußte, daß das nur eine List war von Gisli, hihi, damit niemand auf den Gedanken käme –. Es war nämlich Sprit in der Flasche!
Oddur kämpfte verbissen mit seinem trockenen Gaumen und grübelte weiter.
Vielleicht auch konnte man es so erreichen: Man geht in den Laden hinein,– dabei sieht man sich gleichgültig um:
»Sei gesegnet, Gisli! – (Du alte dicke Ratte!)«
»Sei gesegnet und willkommen, Oddur!«
Jetzt müßte man schweigen, bis der andere wieder beginnen würde.
»Der Pastor ist nicht da.«
Oddur: »Noch nicht?« Eben deshalb war Oddur ja schon so früh geritten, damit er vor ihm eintreffen würde.
»Näää?« Schweigen.
»Willst du vielleicht etwas einkaufen derweil?«
»Näää!«
»So – ich dachte!«
»Nein! Deine Waren sind so schlecht, daß keiner mehr bei dir kaufen will!«
»Waas? fragt Gisli erschrocken und zitternd.
»Jau!«
Und dann: »Ich dachte, daß du Sprit hättest, vielleicht hast du wirklich Sprit?«
»Ja, Euer Gnaden, sofort!« – Gisli rennt mit rotem Kopf nach einer Leiter und klettert an dem Arzneischrank hinauf. »Hier, Euer Gnaden! Noch mehr?« und wirklich holt er das grüne Fläschchen herab.
Da, so konnte man es machen, dachte Oddur im Weiterreiten. Dieser Weg führte bestimmt zu der Flasche. Er grinste fröhlich vor sich hin, trotz des schlechten Wetters und des Pastors, wenn er sich die Herrlichkeit ausmalte, die auf ihn wartete. Er hatte selten einen so guten Gedanken gehabt, dünkte ihn. Der Schalk blitzte ihm aus seinem einen Auge, aber aus dem andern kam nur ein hohles Zucken, das dem Tod selbst entsprungen schien –
Das empfand auch der Pastor noch am gleichen Tag, als er mit Oddur von dem Hof des dicken Gisli wegglitt, um nach Arnarholt zu kommen. Die Nacht hatte sich schon über das Land gelegt, und weil Oddur sich ein gutes Handgeld in den Magen geschlürft hatte für den Heimritt, so schwankte er natürlich etwas im Sattel hin und her. Da er den neuen Sattel vorderhand noch zu schonen gedachte, hatte er ihn auf die Kruppe seines Pferdes gebunden. Er trug einen langen schwarzen Ölmantel über seinen eckigen ausgemergelten Schultern und hatte den Hut herabgekrempt, damit der Regen an ihm ablaufen konnte.
So ritt er vor dem »neuen Pastor« her in die Nacht hinein und wandte ihm dabei hin und wieder sein Gesicht mit dem hohlen Auge und den blassen Wangen zu, daß Leif Halldorsson unwillkürlich an ein Skelett denken mußte, das ihm einmal auf einem Gang durch die Katakomben von Paris leibhaftig aus einer Nische entgegengegrinst hatte. Fröstelnd zog er die Schultern zusammen, sooft der alte Oddur sich nach ihm umdrehte, um zu sehen, ob er noch auf dem richtigen Weg hinter ihm war. Es wollte ihn dünken, daß der Boden unter den Füßen seines Pferdes zu schwanken begann, nur hin und wieder, – gewiß war das Gelände moorig, in dem sie ritten.
»Ja, es ist ein wenig sumpfig«, knurrte Oddur einmal, als der Prediger von hinten rief, ob der Weg sicher sei?
»Es ist gut, Pastor!« Oddur grinste noch hinterher. »Nur, man muß ihn eben kennen. Ihr tut gut, wenn Ihr Euch etwas hinter mir halten wollt, Hochwürden!«
Noch während er das sagte, führte er sein Pferd in einem rechten Winkel weiter, obwohl kaum ein Grund dafür zu sehen war und auf jeden Fall kein Weg. Nach einer weiteren halben Stunde hielt Oddur schließlich wieder den alten Kurs, und auch dafür war kein ersichtlicher Grund vorhanden. Der Alte ritt demnach nur nach seinem Gefühl, dachte der Prediger schaudernd und hörte mit bleichem Gesicht zu, wie das Moor unter den Tieren zu stöhnen und zu schwappen begann.
Einmal ritt Oddur durch einen Sumpfbach, der sich mitten durch das Moor schlang. Bis an den Sattel tauchte er in das schwarze Wasser hinein, nicht tiefer! Langsam hob sich der Leib seines Pferdes wieder aus den Fluten. Aber diesesmal hatte der Pastor am andern Rand abgewartet, ob der Alte wieder auftauchen würde. »Kommt, Hochwürden!« brüllte Oddur durch die Nacht, »sagte ich nicht, daß Ihr hinter mir reiten solltet?« Der Pastor ließ darauf sein Tier in die Fluten planschen, selbst der Gaul zitterte am ganzen Leibe, dünkte es ihn.
Vorne begann Oddur wieder zu denken. Bis jetzt war sein Kopf etwas schwer gewesen von Gislis Flasche. Aber allgemach begann er sich zu besinnen. Einmal lachte er laut vor sich hin, weil er plötzlich wieder auf einen Gedanken gekommen war. Er hatte an Geir gedacht und an das Mädchen. Es sollte ihm keiner sagen, daß sie nicht füreinander geschaffen waren. Jau, sie waren also richtig füreinander geschaffen. Das hatte er gewußt, als der Sandfellhof noch frei unter den Wolken stand und Rauch aus seinem Schornstein stieg. Hm, übrigens der Hof! Es wollte Oddur heiß in der Kehle aufsteigen, als er daran dachte, jetzt und hier, wo der Himmel über einem hing, als ob man selbst schon in einer Grabeskammer läge und das Wasser von den Wänden und Steinen troff. Als ob die Welt um einen verschwunden wäre für immer! Die beiden Jungen fielen ihm wieder ein, wie sie nebeneinander standen: Geir und das Mädel, ein stämmiger Bursche, hoch gewachsen, mit kecken Augen. Und das Mädchen mit wehendem Haar und einem stolzen Gesicht. Jau. Dann kam der Berg. Kjarval kam danach, und am Ende wieder das Mädchen. Nur daß sie jetzt nicht mehr Geir gehören sollte, weil da hinten einer ritt, der sie haben wollte.
Ja, Oddurs Gedanken begannen wirklich zu streiten, wie er vor dem andern herritt, der nun Gast seines Bauern werden sollte und doch nicht willkommen war auf dem Hof. Er wollte durchaus nicht begreifen, daß das Mädchen Asdis nach einem andern seine Wünsche schicken konnte als nach Geir Thors, was sollte ein Mädchen mit diesem hier gemein haben, das mit Männern um die Wette ritt und einen Vater hatte, der der erste Bauer war im weiten Kreis? Oder konnte sich vielleicht einer mit Kjarval messen? Und es war längst nicht mehr alles beim alten auf dem Hof von Arnarholt. Sogar die alte Kristin wollte nicht mehr anfangen zu keifen und zu wettern und zu flüstern, sondern sie saß nur da, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah auf das Mädchen. Die alte Kristin war immer nur ein Gerippe gewesen, jetzt aber wurde sie dick wie ein Brot, das eben aus dem Ofen gekommen ist. Was das zu bedeuten hatte? Sie mußte viel hinabschlucken jetzt, was sie vorher immer von sich gespien hatte. Darum wurde sie dick. Natürlich hatte sie das nicht hören wollen, als der alte Oddur einmal den Mägden eine Rede darüber hielt, »Und er wird immer magerer, weil ihn der Teufel reitet, der Lump!« hatte sie gekrält und ihm einen giftigen Blick zugeworfen, während sie ihren abgewetzten Stock hinter ihm herschwang. Hehe! Aber eines war sicher, daß das Mädchen selbst keine Augen machte wie eine Braut, die sich auf die Brautnacht vorbereitet. Hm, was wußte nun Oddur wieder von einer solchen ersten seligen Nacht? Aber natürlich hörte man so manches darüber!
Oddur lugte wieder ein wenig hinter sich. Sie waren jetzt mitten in der großen Ebene, die jedoch nur von außen her betrachtet eine Ebene zu sein schien, inwendig aber eine gähnende Grube war, dunkel und braun und ölig. Einmal machte Oddur ein bedenkliches Gesicht, denn er hatte die Zügel seines Gauls etwas zu hart angefaßt, und der Hengst drängte nun unter ihm weg, weil er der Stelle nicht traute, zu der ihn der Ruck des Zügels geführt hatte. Er schnaubte erschreckt und ging gegen den Alten an.
Da stob dem Knecht wieder ein Gedanke durch den Kopf, beinahe im selben Augenblick!
Etwas schwankend hielt er das Tier an und sah auf den Pastor, der einige fünf Meter hinter ihm kam.
Der Sprit begann ihm wieder im Kopf umzugehen, daß er sich im Sattel stützen mußte. Aber deshalb wußte er doch noch genau den Strich im Grund, wo der Weg aufhörte und die Ewigkeit begann.
»Hochwürden!« murmelte er langsam und verzog sein Gesicht zu einem Grienen, »Hochwürden!«
Der Prediger hielt sein Pferd nun auch zurück und sah aufmerksam auf den Alten, der wie der leibhaftige Tod vor ihm über dem Wege stand.
Ja, Oddur war ganz von seinen Gedanken erfaßt.
Wer wollte es nun sagen, wo der Pastor geblieben war? Das Moor war so groß! Und vielleicht konnte dann alles noch gut werden mit den beiden Jungen. Es mochte ja schauerlich sein, die Schreie eines Versinkenden zu hören und das Brüllen des armen Pferdes, das der schleichende Tod von hinten nach vorne auffraß, unerbittlich, so sehr es sich auch sträubte. Oddur konnte sich dieses Schreien ganz genau vorstellen.
Aber dann lachte er plötzlich leise auf und wieherte schließlich vor Lachen, wie er das nie vorher getan hatte. Er zeigte in das Dunkel hinaus, wo ein paar Irrlichter im Moor sprühten, sonst konnte man kaum einen Unterschied oder ein Merkmal im Sumpf und in der Nacht erkennen, und sagte lachend, so daß das Pferd unter ihm stieß: »Seht das Moor, Herr! Hihi, wie es leuchtet! Drüben, – seht! wie Kerzenflämmchen in der Kirche! Und – – – seid Ihr nicht ein Pastor, – – – Hochwürden?«
Sera Leif kniff den Mund zusammen, indem er auf den Knecht sah und sein verrücktes Gebaren. Ein Feigling war er nie gewesen, der junge Prediger: »Reitet weiter, Alter!« rief er ruhig Zu dem Alten hinüber, »Kjarval å Arnarholt erwartet mich noch heute zu Gast! Und mir dünkt, wir müssen eilen, wenn wir zu angemessener Stunde auf dem Hof sein wollen!«
Oddur sank plötzlich wieder im Sattel zusammen.
»Hoh!« trieb er auf seinen Gaul ein und ließ ihm die regennasse Peitsche über die Schenkel sausen. »Gast, – jau! Der Gast des Bauern!« murmelte er vor sich hin.
Der Pastor dachte, – er dachte bei sich, wie ihm das Mädchen Asdis unter der Tür von Arnarholt entgegenkommen würde, – mit einem frohen Ausruf und mit Augen, in denen es schwamm und glitzerte von unterdrückter Freude. Sie mußte an sich halten, damit die Leute vom Hof nicht zuviel sehen konnten, nicht mehr, als dem Gesinde nun einmal offenbar werden durfte von dem, was die Tochter des Bauern in solcher Stunde empfand. Natürlich! Und er würde ihre Hand nehmen und spüren, wie sie zitterte, – – eine warme Hand, die ihn liebkoste und sich dann scheu wieder aus seinen Fingern löste, weil die Leute ja nicht zuviel sehen durften. Nicht zuviel!
»Nun ist alles in seiner Ordnung!« würde dann der Bauer sprechen, »Ihr wißt ja, Hochwürden«, redete er weiter und sah dabei mit einem stolzen Blick auf seine Tochter, »Sera Leif, was ich Euch damals in der Stadt sagte, daß Ihr kommen solltet, wenn Ihr Euer Amt erhalten hättet. Hier ist meine Tochter. Und nun –«
Sie saßen allein in den Räumen des Bauern. Leise hörte man die Knechte im Zimmer nebenan reden, weil sie wußten, daß der Bauer einen Gast bei sich hatte, einen Prediger. Und die Mägde sahen einander mit blanken Augen an und redeten so viel, wie eben Frauen redeten. Eine Predigersfrau! Ja, denn nun war es eine abgemachte Sache, in einigen Wochen war es so weit. War es nicht seltsam, daß Sera Leif unter den vielen Damen der Stadt, in all dem Zauber der Feste und der rauschenden Gesellschaften gerade das Mädchen Asdis erwählt hatte, daß sie sein Leben mit ihm teilen sollte, ein ganzes Leben? Und hatten nicht viele Mädchen gehofft, daß vielleicht ihnen das Glück winkte, das Glück eines Lebens an seiner Seite? Es waren Mädchen, deren Väter wohl gesehen waren bei Hofe, er aber hatte die Tochter eines Bauern erwählt. Und er bereute es nicht.
Die Knechte machten ihm – so malte er sich weiter aus – in den nächsten Tagen ehrfürchtig Platz, wenn er zwischen den Gebäuden umherging, und er dankte ihnen freundlich, aber ohne viel mit ihnen zu sprechen. »Ja, das Wetter!« sagte er wohl zu einem grauhaarigen Alten und nickte dazu. Und der andere rückte ein wenig am Hut, denn natürlich nahm der Knecht nicht den Hut ab wie die Stadtleute, wenn sie mit dem Pastor sprachen. Aber was wollte das schon bedeuten! Man las aus dem Gesicht des Alten, daß er stolz war, weil der Pastor mit ihm über das Wetter sprach. »Ja, das Wetter, Sera Leif –« sagte er und rückte wieder am Hut – – »
Aber der Pastor hatte ganz vergessen, daß er noch im Moor ritt zu dieser Zeit. Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht Oddur in demselben Augenblick sich wieder umgewandt hätte, als Sera Leif schnurgerade dort weiterritt, wo Oddur vorher sorgfältig einen Bogen gemacht hatte. Gerade an dieser Stelle war ein mannstiefes Loch im Grund, das selbst beim lichten Tag dem Bauern von Arnarholt einmal um ein weniges das Leben gekostet hätte.
Die dünne Rasendecke begann bereits unter den Hufen des Pferdes zu schlingern und zu wogen, als der Alte geritten kam und den Gaul beiseite zerrte und nach achtern, worauf er wieder schweigend weiterritt, als ob nichts geschehen wäre, und als hätte er dem Stadtmenschen nicht eben das Leben ein wenig verlängert.
»Warum habe ich ihn nicht reiten lassen, wenn er schon durchaus wollte?« schimpfte er sich nachher. »Dummkopf!«
Aber der Pastor hatte gar nicht bemerkt, wie nahe er der Hölle gewesen war. Nur hielt er sich jetzt dicht hinter seinem Vorreiter, bis nach einer guten Zeit ein paar Lichter trüb durch die Regenschleier blinkten, gelb und unscharf.
»Dort seht ihr den Hof, Hochwürden!« sagte der Knecht. Doch als der Prediger darauf fragte, wie es dem Bauern ginge und seiner Tochter, Jungfer Asdis, und ob alles wohl wäre und dergleichen Fragen mehr, da hielt es Oddur nicht für nötig, ihm eine Antwort drauf zu geben. Und Sera Leif wollte es vorkommen, als ob er nie einen mürrischeren und unheimlicheren Begleiter gehabt hätte als in dieser Nacht. Als die dunklen Hofgebäude über der Anhöhe von Arnarholt gegen die grauen Nachtwolken standen, für den Städter anzusehen wie ein paar rohgetürmte Felsen oder Erdhügel, aus denen eine dünne Lichtbahn in die Nacht fiel, da wollte ihn bald die Angst überfallen, die er schon im Moor empfunden hatte. Erst der grinsende einäugige Knecht, der sein Pferd vor ihm den lehmigen Reitweg hinaufführte, dessen Weichen und Läufe bis zum Rücken hinauf verdreckt waren, der strömende Regen, und nun die niedrigen unförmigen Hütten, – ein beklemmendes Gefühl legte sich Sera Leif auf die Brust, bald als hätte er Abschied genommen von der Welt und für immer.
Oddur koppelte die Pferde und ging vor ihm her zwischen den Gebäuden hindurch, bis er vor dem Wohnhaus haltmachte und die Tür zum Gang aufstieß, während plötzlich aus dem Nichts eine Meute von Hunden aufgetaucht war und den Fremden bellend umsprang.
»Tretet ein, Hochwürden!« knurrte der Alte in demselben Augenblick, in dem sich im Hintergrund eine Tür öffnete, in deren Rahmen er die hohe Gestalt des Bauern gewahrte. Kjarval å Arnarholt trat einen Schritt in den Gang hinaus und hieß Leif als seinen Gast willkommen, mit feierlichem Gesicht und gleicher Gebärde, ehe er ihn in die Hofstube führte, wo das Gesinde ihm mit neugierigen Augen entgegensah. Scharrend erhoben sich die Männer und Burschen hinter dem Tisch und von den Bänken, und jeder von ihnen sagte seinen Gruß, zuletzt auch die Mägde. Sera Leif ließ nachdem seine Blicke durch den niedrigen Raum gehen, weil er auf das Mädchen Asdis wartete. Doch wurde seine Geduld auf eine lange Probe gestellt, weil er nicht die Sitte des Landes kannte. Er hätte sonst wohl nicht geglaubt, daß die Tochter des Bauern einem Gast mit unbeherrschter Freude und einem klingenden Lachen entgegeneilen würde.
Mit höflichem Nicken beantwortete er die Fragen des Bauern nach seiner Reise und ob er ein gutes Pferd für den langen Ritt gehabt hätte. Die Thiorsa führte wohl nicht viel Wasser zu dieser Zeit, und der Lachsfluß? Es war ja nun mitten im Sommer, wer ihn über den Fluß geführt hätte? Etwa der Knecht Gislis? Sera Leif nickte und sah dabei verstohlen nach der Tür hin, durch die das Mädchen hereinkommen mußte. »Ihr seid doch nicht wohl durch das Moor gekommen, oder seid Ihr, Sera Leif?« fragte der Bauer plötzlich und sah auf die schmutzigen Stiefel seines Gastes. Der alte Oddur hatte sich in die unterste Ecke des Raumes gedrückt, weil er diese Frage schon lange erwartet hatte.
»Ja, wir ritten durch das Moor«, murmelte der Gefragte, der langsam unruhig zu werden begann.
Es war ein Glück, daß er in seiner Ungeduld vergaß, näher auf diesen Gegenstand einzugehen, obschon ihm unwillkürlich noch ein Schauer über den Rücken lief, als er daran erinnert wurde.
»Das Moor –« ging es unter den Knechten um, »das Moor, jetzt in der Nacht!«
Oddur war ganz klein geworden in seiner Ecke, man konnte bald nichts mehr von ihm sehen.
Zum Glück öffnete sich gerade jetzt die Tür – Asdis stand auf der Schwelle.
Sera Leif sprang von seinem Stuhl auf und eilte auf sie zu, um sie zu begrüßen, aber er blieb auf halbem Wege wie festgewurzelt stehen, während sie in feierlicher Haltung näherschritt und ihm die Hand entgegenhielt wie einem Fremden. Er sah bestürzt in ihr Gesicht und wußte nicht, wie ihm geschah.
Hilflos hielt er ihre warme weiße Hand. Nun erst kam ein unterdrücktes Lächeln in das Gesicht des Mädchens. Sie nickte ihm zu und führte ihn zum Tisch, zu den andern, und bot ihm Platz. Es war das zweitemal, daß Sera Leif die Sitte des Landes nicht verstand: daß soeben nicht das Mädchen Asdis ihn begrüßt hatte, sondern die Frau des Hofes.
Obschon es bald auf die Mitternacht ging, war der Tisch zu einem großen Mahl gedeckt, an dem die Leute des Hofes teilnahmen, während das Mädchen zu Häupten des Tisches saß und für das Wohl eines jeden einzelnen von ihnen Sorge trug. Zu ihrer Rechten saß Sera Leif, ihr Vater zur Linken. Steif und gehemmt nur wurde gesprochen. Es war das Gastmahl.
Ungläubig hingen die Blicke des jungen Predigers an dem Mädchen, als sie ihr Haupt neigte und mit klarer Stimme den Tischsegen betete. Die Knechte rückten darauf hinter dem Tisch hervor und kamen in einer langen Reihe zu dem Bauern hingeschritten, um ihm die Hand zu reichen und für das Mahl zu danken. Dann wiederholte sich dasselbe mit Asdis. Sie legten ihre schweren Pranken in die zarte Hand des Mädchens: »Dank, Frau!«
»Dank!« Darauf polterten sie plaudernd aus der Stube und warfen wohl auch im Hinausgehn noch dem Pastor einen kurzen Blick zu. Die Mägde trugen ab. Das Mahl war zu Ende!
»Ich werde Euch zu Eurem Schlafraum begleiten!« sagte Kjarval å Arnarholt danach zu seinem Gast und führte ihn durch das Haus, nachdem er dem Mädchen gedankt hatte und gerade noch Zeit fand, ihr ein Wort zuzuflüstern, nur ein Wort!
Asdis blieb zurück.
Das war der Willkomm gewesen!
Es war der Willkomm auf dem freien Land, das nichts anderes so ehrte wie die Sitten der Vorfahren.
Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, als Leif allein war und sich auszukleiden begann. Dunkle Wolken jagten am Nachthimmel, und weit draußen im Westen lag der schwere Saum des Moores, über das er mit dem Knecht geritten war. Das Land ringsum war tot, flach, so weit das Auge reichte, und öde. In den Gedanken Sera Leifs war es wie ein Gegenstück zu den verschlossenen Gesichtern seiner Bewohner, den niedrigen, gedrückten Hütten, in denen sie hausten seit Hunderten von Jahren, und auf die sie gleichwohl stolz waren mit dem eigenwilligen Selbstbewußtsein des Bauern.
Was ahnte der Mann aus der Stadt von den Hochweiden, auf denen Tausende von Schafen Jahr um Jahr zogen, von Hang zu Hang und von Berg zu Berg? Was wußte er von den stolzen jagenden Herden der Pferde, die mit wehenden Schweifen und unbeschlagenen Hufen durch die Brüche brausten! Hatte er jemals geträumt, daß er auf dem Rücken eines schnaubenden Hengstes hinter ihnen hetzte, während der Sturm in seinen wehenden Haaren riß und der Schaum seines Pferdes in Flocken auf seine Wangen stäubte? Und hatte er auf den Bergen gestanden und über die Schlünde hingesehen, die so geheimnisvoll das Land zerrissen, zwischen denen die Berggeister geschäftig hin und her rannten und sie mit Leben erfüllten?
Nie war er auf einem müden Roß durch tiefen Schnee geritten, mit klammen Fäusten um die Zügel, auf denen der Atem des Tieres sich in glasigem Eis niedergeschlagen hatte und bei jedem Zügelruck in seinen Kristallen losbrach und wegstäubte. Wer dann seiner Heimat entgegenritt und seiner Hütte, dem war es oft, als ritte er in das Paradies. Und wenn noch ein Weib ihn am steinernen Herd erwartete und eine jubelnde Kinderschar, so ließ er wohl seine Blicke zurückfliegen über das Land, das die Hufe seines Pferdes an diesem Tag bewältigt hatten, und wieder voraus zum Ziel. Und mußte er dann nicht dieses Land lieben, in dem er lebte und kämpfte, und in dem das Glück ihn erwartete? Selbst dann hätte er es lieben müssen, wenn es nur eine Wüste von harten zerrissenen Felsen und Steintrümmern gewesen wäre und nicht die freie offene Steppe, die sich weit nach Norden bis zu den Bergen zog und im Süden erst ihre Grenze fand an dem weißen Gischt des Meeres.
Die Wolken schienen sich mit der Erde vereinigen zu wollen. Sie drückten tiefer aus den Höhen. Nur ein Bauer wußte daraus zu schließen, daß nach einer Stunde der Regen enden würde, daß Nebel über die Wiese kriechen würde, Nebel, der die Nacht hindurch noch auf dem Land stand, die Gräser benetzte und des Morgens dann im Licht der strahlenden Sonne weit über die Ebene hingleißen würde in Myriaden von grünen und roten funkelnden Tausternen, und daß die Erde dann schöner war als je zuvor.
Der Fremde streckte sich auf sein Lager hin und hörte auf das Klopfen und Rinnen des Regens, eine Möwe hörte er in der Nacht kreischen, ein Hund antwortete mit einem verschlafenen Knurren, und mitunter schlug eine Tür, die die Mägde zu schließen vergaßen, als die Nacht hereinbrach, weil sie doch heute einen Gast erwartet hatten, auf den sie neugierig gewesen waren.
Ein eigentümlicher strenger Duft war in dem Raum, in dem Leif lag und auf den Schlaf wartete. Er kam von den Rasen- und Torfstücken, aus denen die Wände der Bauernhäuser bis zur halben Höhe bestanden und die auch das Dach bedeckten. Erdgeruch war im Zimmer und auch draußen im Gang, war überall in den Räumen. Der herbe Duft der Erde begleitete den Bauern bis in seine Hütten hinein, in denen er schlief.
Auch in diesem Duft lag etwas von bäurischem Wesen. Feindlich und abweisend, so kam es Leif vor.
Und es war doch die Heimat des Mädchens, das er liebte!
In diesen Wänden war sie geboren und hatte als Gespielen nur die Knechte gehabt und die kräftigen vollbrüstigen Mägde, hier war ihre Jugend gewesen. Die wachsende Blume auf den rauhen Feldern des Landes.
Rauh war das Land! So dachte Leif zum andern Mal, weil er nichts wußte von der silbernen Herrlichkeit blinkender Tümpel und Seen, in denen sich schreiend und lachend weiße Vogelschwärme badeten, und auch nichts von kleinen Lämmern, die mit wedelnden Stummeln ihre rosigen Mäulchen in das Euter des Mutterschafs stießen und saugten und rissen, bis sie auf ihren schwachen Vorderläufen zusammenbrachen und nachher verträumt im grünen Gras lagen und im Schlaf blökten.
Die Gedanken Leifs wollten sich um das Mädchen ranken, er wollte ihr über das schimmernde Haar streichen wie oft vorher. Aber die strenge Tracht des Landes, in der er sie heute gesehen hatte, wies seine Hände zurück, ließ sie niedersinken. Und das leise, beinah schelmische Lächeln, mit dem sie ihn heimlich und forschend während des Gastmahls betrachtet hatte, selbst das verblaßte vor der Feierlichkeit, mit der sie ihn bewirtet hatte wie einen Landfremden.
Morgen wollte er zu ihr sprechen, ohne die vielen Augen der Knechte. Selbst ihr Vater sollte nicht zusehen dürfen, der stolze sichere Bauer, dem alle geistliche Würde und der Stand nichts zu gelten schienen, sondern nur das Alter. Und Sera Leif war im Vergleich zu ihm noch bald ein Junge, wenngleich er ein Prediger war, – er war noch ein Junge nach seinen Jahren.
Auf dem Hof draußen stampfte plötzlich ein Pferd, Bügel klirrten. Dann kam ein langsamer Schritt auf das Haus zu, während das Pferd sich trappelnd zu entfernen schien. Die Tür ging, und jemand bewegte sich an dem Gastzimmer vorüber den Gang hinauf, bis die Schritte verschwanden.
Es war Geir, der spät in der Nacht auf den Hof zurückgeritten kam.
Als Sera Leif anderntags erwachte, gleißte die Sonne durch das kleine Fenster zu seinen Häupten. Ihre Strahlenbahnen fielen wie goldene Balken durch den Raum und zauberten ein Lichtmuster auf die langen Bodendielen und die Tür. Und als er den Blick wandte und auf die Steppe hinausschaute, dehnte sich grünes frisches Gras bis zum Horizont. Vogelstimmen jubelten durch den taufeuchten Morgen. Ein paar Rinder zogen mit gehörnten Stirnen und großen feuchten Augen über die Weide, und vor der Scheune balgten sich die Hunde.
Freude funkelte über diesem Morgen. Glück!
Es war das Land – das offene, freie, atmende Land, das nun erwacht war unter einem blauen, weitgespannten Himmel.
Ein junges weißes Füllen strich am Haus entlang und rupfte Gras von der Rasenwand, mit der die Hütten umbaut waren. Und auf dem Dach gegenüber saß eine große Raubmöwe und schaute mit schnellen ruckenden Blicken um sich – das war der Morgen.
Jemand pochte an die Tür des Gastzimmers, ein leises scheues Pochen. Und als Sera Leif zur Antwort rief, ging die Klinke nieder, und Leif Halldorsson starrte mit weitgeöffneten Augen auf das Bild, das sich ihm bot. Er glaubte zu träumen.
Ein festlich gekleidetes junges Weib stand auf der Schwelle. Im langen buntgewirkten Seidengewand. Ihre Hüften waren von einem vielgliedrigen Gürtel aus funkelndem, gelbem Gold gehalten. Goldene schmale Kettchen schlangen sich durch das runde Mieder mit den schwellenden Kuppen der Brüste, über die die langen blonden Flechten des Haupthaares fielen. Mit einem herzlichen Lächeln und rot überhauchten Wangen trat das Mädchen Asdis an sein Bett und bot ihm aus silbernen Geräten den Morgentrunk.
Sera Leifs Hand zitterte, als er die Gefäße berührte und ihre Finger streifte, die die Platte hielten. Atemlos betrachtete er das junge Weib, – Asdis, das Mädchen, das sein war. All die drückenden Gedanken der Nacht waren ausgelöscht. Er fieberte nach ihrer Hand, nach ihrem Munde und nach ihrem Gruß. Stammelnd griff er nach ihrem Arm und wollte sie zu sich niederziehen, wollte ihre Lippen berühren, sie umfangen, wissen, jetzt, sofort, daß sie sein war, immer, immer. In der leuchtenden Sonne – im erwachten Morgen!
»Du hast mich gequält in der Nacht mit deinen Worten. Ich war wie ein Fremder!« stieß er leidenschaftlich hervor und suchte nach ihren Augen, weil er fühlte, wie ihr Leib bebte und sie ihm widerstand, während ihr Lächeln jäh verblaßte.
»Leif!« flüsterte sie, »Leif! Besinne dich! Ich kam, um dir den Gasttrunk zu bringen. Es ist nicht die Stunde jetzt!« sagte sie beinahe unhörbar und trat von seinem Lager zurück um hinauszugehen. Doch bevor sie die Tür öffnete, tastete sie nach ihren Flechten, ob sie noch wohlgeordnet über die Schulter fielen.
»Die Mägde haben schon angerichtet, Sera Leif!« sagte sie dann laut und klar, als sie durch die Tür trat.
Leif sah, wie die Klinke von außen niedergedrückt wurde, sich wieder aufrichtete, er hörte noch ihre Schritte, – sie ging. Das Wunder war verblichen.
Erst jetzt wurde Sera Leif gewahr, daß er die Gastfreiheit verletzt hatte, indem er sich von seinen Gefühlen hatte hinreißen lassen.
Zum drittenmal stand das freie Land gegen ihn mit seinen alten feierlichen Gesetzen, die es dem Leben seiner Menschen gegeben hatte.
Sera Leif wußte nicht, daß auch der Bettler, der nach Arnarholt kam, ein Gast war wie er. Auch ihm reichte die Frau des Hofes den Morgentrunk an seinem Lager.
Im Süden des Hofes lag eine Lagune mit stillen Wassern, die nur durch einen schmalen Durchbruch mit dem Meer verbunden war, das vor ihr mit Rauschen und gischtenden Wellen wogte.
Möwen stiegen in Wolken von den Rändern des flachen Sees auf, wenn einer vom Hof sich ihnen näherte. Aber auch Enten und Schwäne ruderten auf dem blanken Wasser umher, und wenn die Sonne in der Mittagshöhe vom Himmel brannte, lagen Seehunde im warmen Ufersand, faul und unbeweglich wie runde Walzen.
Wenn die Flut schwoll nach jeder zwölften Stunde, schob sich die Brandung in sprühenden Kämmen über den niedrigen Sandwall hinein, der die Lagune von dem großen Bruder Atlantik trennte. Und für eine Zeit begann der Wasserspiegel sich zu trüben und brodelte unter den Stößen der langen wandernden Wellenzüge, die über ihn hereinbrachen.
Die Seehunde glitten mißmutig und zögernd von ihren Ruheplätzen ab, schwammen durch die Lagune hindurch und krochen an ihrem jenseitigen Uferrand wieder auf den trockenen Sand hinauf, um tief und ungestört weiterzuschlafen, während die Vögel kreischend über die Wellen hinstrichen und nach allerhand Getier fischten, das mit der Flut über die Sandbank hereingeschwemmt war, Schalentiere und Muscheln oder Schwärme kleiner Fische, die springend und glitzernd dicht unter der Oberfläche des niedrigen Gewässers dahinstürzten und einen Ausweg suchten vor den spitzen Schnäbeln der Gefiederten, denen sie nicht mehr wie im freien Meer durch schnelles Tauchen entgehen konnten.
Der Tisch war gut gedeckt zur Zeit der Hochflut.
Und das Leben, das sie brachte, die schwirrenden Flüge der Enten und die kreischenden Scharen der Möwen, das Leben wollte fast nicht zur Ruhe kommen danach.
Es war kein Wunder, daß das Mädchen Asdis seit ihren frühesten Kinderjahren an den Ufern der Lagune zu liegen liebte und Stunde um Stunde über das Meer hinsehen konnte, ohne sich zu rühren, mit der Vertieftheit des Kindes oder den halbwachen suchenden Gedanken des erwachenden jungen Weibes, das den Geheimnissen des Lebens entgegenreift mit einem drängenden unruhigen Leib, über dem es nun sinnt und träumt und Wünsche hat, die sich erst spät, spät erfüllen sollen. Spät, wenn man die Stunden zählt, die Jahre, die sie schon wuchsen und wurden, die Gedanken und das Sehnen, von dem die Jungen glauben, daß es einmal zur Ruhe kommen werde, einmal, wenn sie ihre Kraft verströmen könnten in starker Liebe, – als ob die Menschen nicht bis zu ihrem Tode von diesem Sehnen getragen würden und erst dann starben, wenn sie nichts mehr besaßen, um das sie kämpfen konnten!
Es war natürlich, daß das Mädchen Asdis ihren Gast zu der Lagune hinausführte, die so viel von ihrem Leben gesehen und erlauscht hatte, zu dem stillen blinkenden Wasser im Süden von Arnarholt. Während sie neben Sera Leif durch die feuchten Wiesen ritt, war es ihr, als ob das ganze Bild ihrer Jugend sich wieder vor ihr aufrollte und in einer langen Kette alle die kleinen und oft so unbedeutenden Geschehnisse an ihr vorüberzogen, die ihr als Kind begegnet waren.
Sie sah sich wieder am See sitzen als kleines Mädchen, das noch nicht so alt war, daß die Mägde es für nötig hielten, trotz alles Bittens und vieler Tränen, ihr die Haare in Zöpfen zu flechten, wie die Erwachsenen sie trugen. Ihre Mutter hatte sie kaum gesehen, weil man sie früh bei dem Kirchlein von Hlidarenda begraben hatte, so früh, daß dem Kind keine andere Erinnerung geblieben war als das Gefühl von einer großen Wärme und Zärtlichkeit, mit der eine hohe blonde Frau sie umhüllt hatte.
Das kleine Mädchen hatte einst an dem blanken Wasser gesessen und so viel Unerhörtes und Wichtiges gesehen an jenem Tag, daß es sich nicht trennen konnte von dem Ort, selbst als die Sonne schon lange hinter das Meer getaucht war und blaue Schatten sich über das Land und die Wiesen schlichen. Es kauerte an einen Stein gelehnt im warmen Sand und schlief darüber ein in der milden Sommernacht. Als es wieder erwachte, ritten viele Reiter in der Lagune umher, von einem Ende zum andern, und schienen eifrig etwas zu suchen, – viele dunkle Reiter kreuzten das Gewässer und riefen oft mit dumpfen Stimmen einander an. Und die kleine Asdis sah hinter ihrem Stein hervor auf das gespenstische Treiben und wagte nicht, sich zu rühren, damit nicht einer der Männer sie erblickte. Die kleine Asdis fürchtete sich.
Aber unversehens war doch einer der Männer zu ihr hinübergeritten und wurde sie gewahr. Er sprang mit einem Freudenschrei vom Pferd und drückte sie an seine Brust. Und erst im letzten Augenblick hatte Asdis ein angstvolles Weinen unterdrückt, weil sie sah, daß der große starke Mann ihr Vater war.
Das war die erste Erinnerung, die das Mädchen Asdis mit der Lagune verband, die wie ein silberner Streifen sich allmählich vor ihnen aus dem Grase hob.
Und viele andere folgten ihr, – Punkte und Marksteine auf ihrem Weg bis zu diesem Tag, an dem sie mit einem Manne zur Lagune ritt, dem sie viel von dem geschenkt hatte, was auf diesem Lebensweg in ihr herangereift und geworden war. Und der nun gekommen war und sie begehrte.
Stumm ritt das Mädchen dahin.
Die Bilder wechselten.
Sie dachte an eine Nacht vor wenigen Tagen, in der ein anderes Gesicht sich über sie gebeugt hatte – im Traum! Und was sie nie vorher in ihrem Leib gespürt hatte, das war plötzlich aufgerauscht und zum Leben gekommen, als diese Augen auf sie hinabblickten, während sie – schlief.
Und Unruhe war seitdem in ihr.
Sie ließ ihr Pferd an dem kleinen Bach trinken, der über Steine in vielen Windungen zum See hinlief und sich in fröhlichem Geplauder mit ihm vereinigte. Und als sie den Sand der Lagune erreicht hatte, sprang sie aus dem Sattel und setzte sich am Ufer nieder, während der Graue und das Pferd Leifs einträchtig nebeneinander zum Gras zurücktrotteten und zu weiden begannen.
Auf das Meer sah sie hinaus; Sera Leif saß an ihrer Seite und sprach davon, was ihn bewegte. Er wandte seine Augen nicht von ihrem erglühenden Gesicht, während er von seiner Liebe sprach und seiner Hoffnung. Und von seinem Glück, das nur in ihr ruhte und ohne sie zerrinnen mußte.
Sie fühlte seinen Arm um ihre Schulter und seine Hand über ihrem Haar, und gab ihm ihren Mund, als er sie bat, – ihre warmen weichen Lippen, zitternd vor Erwartung. Doch löste sie sich darauf behutsam von ihm und sah wieder stumm auf die Wellen hinaus, sah übers Meer, aber ihre Augen waren geschlossen dabei. Ihre Erwartung galt einem Traum.
Nur Sand und Steppe und das große Meer waren um sie, und doch war es ihr, als sähe sie einen Gletscher, der mit grünen Eisrücken und getürmten Berghäuptern bis in den Himmel stieg.
»Deine Liebe, Asdis –«, flüsterte der Pastor und wollte sie umfangen und liebkosen. Seine Hand streifte zärtlich über ihre atmende Brust und ihren Arm. Und wie im Traum ließ das Mädchen es geschehen, daß er sie berührte. Doch sprang sie mit einemmal zitternd auf und strich sich verwirrt durch das Haar. Stumm ging sie zu ihrem Pferd und begann heimwärts zu reiten.
»Bist du da, Tochter?« fragte Kjarval å Arnarholt, als sie mit ihrem Gast auf den Hof hineintrabte. In seiner Stimme schwang Sorge mit und Kummer. Zärtlich hob er sie vom Pferd herab und nahm die Zügel des Grauen.
»Es erwartet Euch drinnen einer«, sagte er zu Sera Leif, »der Pfarrer von Hlidarenda ist gekommen, um Euch seine Pfarre zu zeigen. Vielleicht hören wir am nächsten Sonntag Eure Predigt«, scherzte er, »aber seht Euch vor«, meinte er noch danach, »es ist nicht leicht, es den Bauern recht zu machen, weil sie selbst gewohnt sind, zu säen und zu ernten. Doch geht nun hinein zu Sera Egil. Er hat Euch mit Ungeduld erwartet!«
Noch am selben Abend ritt der Greis mit seinem jungen Amtsbruder dem Kirchlein zu, das mit seinem steilen schlanken Turm in den Vorläufern des Berges stand.
Er führte ihn nicht zuerst zum Pfarrhaus, sondern ritt an ihm vorbei die kleine gewundene Steigung zu der hölzernen Kirche hinauf, wo er sein Tier anhielt und einen großen unförmigen Schlüssel aus der Tasche seines Pastorenrockes hervorholte.
»Der Herr segne Euren Eintritt, Kandidate!« sagte er freundlich, als der Schlüssel kreischend das Schloß geöffnet hatte und das Portal sich auftat. »Es ist eine arme Pfarre, hier im Osten«, erläuterte er darauf, indessen seine schweren Reiterstiefel auf die gelockerten Steinfliesen des Mittelgangs hindröhnten. Kahl und karg standen die Bänke an den Seiten, poliert waren sie zwar, doch nur durch den Gebrauch der Kirchleute, die seit einem guten Jahrhundert auf ihnen gesessen hatten, jeden Sonntag, den der Herr seither gegeben hatte.
Sera Egil schritt auf den Altar zu. Und fast war es dem Vikar, als hätte sein Gang sich plötzlich verändert, – der Greis hatte sich aufgerichtet und sein Blick flößte Ehrerbietung ein, seine Augen schauten durchdringend und klar. Seine linke Hand trug er an der Brust, als läge die Bibel zwischen ihren Fingern. Er trat die zwei abgeschliffenen Stufen zum Altar hinauf und hob wie flüchtig die rechte Hand über den Jungen, im Zeichen des Kreuzes:
»Der Herr segne Euch, Leif Halldorsson, an dieser Stätte, an der Ihr wirken wollt. Ein Leben lang war es mir gegönnt, Worte des Lebens von diesen Stufen aus zu sprechen. Des Lebens!« klang es nach, »vergeßt es nicht, wenn ich drüben im Freithof liegen werde, Worte des Lebens!«
Er sah die kahlen wenigen Reihen der Bänke hinab, als ob er Abschied nehmen wollte von ihnen, und sah zu den Fenstern auf, durch die Abendröte fiel, in der Berge draußen lohten, senkte sein Haupt und trat langsam die Stufen herab – ein Greis!
Auch Leif hatte unbewußt den Kopf geneigt vor der Erscheinung des armen Bauernpfarrers in seinem altmodischen grobgeschnittenen Rock, der nun wieder wie verwandelt vor ihm stand und ihn am Arm ergriff. »Kommt, Leif Halldorsson, ich will Euch noch die Orgel zeigen! Es kommt selten einer von der Stadt, der sich darauf versteht, eine Orgel auszubessern, wenn es not tut, – es fehlen deswegen ein paar Stimmen, – doch wenn man sie durch die Begleitung ersetzt, dann kann man kaum bemerken, daß sie fehlen, die Stimmen.« Sera Egil blieb vor einem niedrigen Harmonium stehen und schlug den Deckel der Manuale auf. »Hier und hier! Ihr müßt Euch ein wenig üben, bevor Ihr zu ihr singt vor der Gemeinde! Oder ich werde Euch begleiten, wenn Ihr wollt! Doch kommt nun zum Haus hinüber!« sagte er mit seinem freundlichen abgeklärten Lächeln. »Es wird sich alles geben. Und wie ich Euch schon sagte, ich werde Euch auf der Orgel begleiten.«
Als er schon vor das Portal getreten war, sah er die Sonne hinter den Bergen untergehen und ging darauf wieder in das Dunkel der Kirche zurück, wo im Mittelgang zwei Seile aus dem Turm herabhingen, in deren Ende jeweils eine Adlerklaue eingeknotet war. Der Abendsegen klang über das Land, das zum Schlafen ging, hinauf zu den trotzigen eisbedeckten Höhen des Blauen Berges und hin über die Markar, die unterhalb des Pfarrwesens mit dreißig breiten Armen durch die Steppe floß, mit schmutzigen Gletscherwassern, die auf der breiten Stromfläche in Wirbeln dahintrieben. Ein paar kärgliche Holzkreuze lugten hinter der Kirche hervor, schief und gedrückt, neben ihnen zwei neugezimmerte Kreuze, die noch nicht lange an diesem Ort sich erheben mochten.
Sera Egil drehte seinen großen Kirchenschlüssel im Schloß und kam herbei.
»Es ist das Land!« sagte er leise, als ob er die Gedanken seines jungen Amtsbruders erraten hätte, »seht, dort drüben bin ich geboren, dort unter der Felsspitze. Ihr seht sie wohl, der Bergrücken hinter ihr, der nach Süden verläuft, unter ihm steht ein Hof, Hamragardar, der Hammerhof! Dort wurde ich geboren vor bald achtzig Jahren.«
Und obschon es nur hundert Meter bis hinab zum Pfarrhaus waren, kletterte er auf seinen Schimmel und ritt bis zur Haustür.
»Tretet ein, Leif Halldorsson!«
Bald gingen Reden unter den Bauern der benachbarten Höfe um, die zum Kirchspiel gehörten. Und im Mittelpunkt dieser Reden stand Sera Leif, der Vikar des Pastors. Die einen lobten seine Predigten und wußten zu erzählen, wie schön er seine Worte setzen konnte.
»Vielleicht wird er noch ein Bischof«, sagte die blinde Ahne des Bauern von Storolfsvoll, die keinen Kirchgang versäumt hatte, obwohl sie der Bauer, ihr Sohn, jeden Sonntag wie eine Packlast neben sich herführen mußte, während sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Pferd saß und nur bisweilen fragte, ob jetzt vielleicht bald der Lummenfelsen zu sehen wäre, – oder später, wie weit es noch sei bis zur Markar. Aber kam das Wegstück, das durch die alten zerfressenen Lavafelsen führte, so merkte sie das von allein, weil dort die Hufschläge der Pferde nicht mehr dumpf und hohl klangen, sondern hell und scharf, daß sie trotz ihrer blinden Augen die gereckten Steintrümmer um sich zu sehen vermeinte, genau wie sie aus dem Krächzen eines Kolkraben schloß, daß der Vogel sich jetzt drüben zur rechten Hand von einem Felsen löste und langsam durch die Windungen der Schlucht strich, bis er dicht vor den Nasen der Pferde über den Weg schoß – klatsch!
Das letzte hatte sie nun wiederum an dem erschrockenen Zittern ihres Pferdes gemerkt und daran, daß es plötzlich mitten im Trab hielt und nicht mehr weiter wollte. Wohl! Da mußte der Rabe jetzt über den Weg geflogen sein!
»Schön predigt er schon, der junge Pastor!« Das sagten all die Leute vom Kirchspiel.
Doch seit dem Tag, da die Ahne nicht mehr zum Kirchlein reiten konnte, weil sie sich zum Sterben niedergelegt hatte und daraufhin dann auch richtig gestorben war – sie war so sanft hinübergegangen, daß ihr Sohn, der Bauer, zuerst wirklich nicht gewußt hatte, ob sie nicht vielleicht doch bloß schliefe und nach einiger Zeit wieder erwachen würde, – seit der Zeit sagten die Leute auch noch etwas anderes. Sie meinten, daß Sera Egil stets den Leuten die Augen zugemacht hätte, wenn sie ihren letzten Atemzug getan hatten. So war es auch immer Sitte gewesen. Doch der neue Pastor hätte am Sterbebett der Ahne gestanden und hätte das nicht getan, obwohl der Bauer lange darauf gewartet hätte, weil es doch so der Brauch war.
Nun hatte die Ahne zu Lebzeiten zwar immer ihre Augen geschlossen gehabt, weil sie ihr ja ohnehin nichts nützten, aber in der Sterbestunde waren sie offen geblieben. Als der Bauer deshalb den jungen Prediger bat, daß er mit seinen geweihten Händen die Lider des Weibes schließen möchte, da hatte der Vikarius nur mit blassen Lippen die Alte betrachtet und hatte keine Antwort gesagt, sondern nur mit einem so eigentümlichen, abweisenden Blick auf den Bittsteller gesehen, daß der Bauer zuletzt stumm an das Totenlager getreten war, weil er dachte, daß es auch einem Sohn gut anstehe, seiner Mutter diesen letzten Dienst zu erweisen.
Sera Leif war gleich darauf gegangen und hatte den Imbiß, der in der Stube für ihn angerichtet war, damit er sich vor seinem Ritt erfrischen könnte, nicht einmal berührt. Der Bauer hatte wohl nichts gesagt, aber deshalb hatte er doch auch nichts vergessen davon. Und zum Begräbnis bat er Sera Egil, den Greis, daß er den Segen über das Grab sprechen sollte.
So kam es, daß die Bauern und Mädchen, als am Sonntag danach Sera Leif seine Predigt beendet hatte, nicht andächtig auf den Bänken sitzen blieben und viele von ihnen auch nicht die Nummer des Psalms in ihrem Gesangbuch aufgeschlagen hatten, den sie nachher singen sollten. Sie saßen nur schweigend da und blickten auf den jungen Priester mit sonderbar kühlen Augen. Ein wenig später murmelten sie untereinander, anstatt zu singen, und jene, die sangen, hatten darauf schwache und dünne Stimmen, weil sie den Chor der vielen Männer nicht hinter sich hörten, der sie sonst getragen hatte. Als Sera Leif schließlich am Ende die Arme hob und der Gemeinde den Segen gab, hatte er das Gefühl, als ob viele von den Bauern keinen Segen haben wollten, so wie sie aussahen. Aufmerksam zwar, aber unbewegt blickten die Bauern auf ihn.
So weit reichte die Macht der blinden Augen der Ahne, die er nicht geschlossen hatte, weil er sich davor gescheut hatte, einen erkaltenden Leichnam zu berühren, der doch ein ganzes Leben lang warm gewesen war wie er selbst und zudem viele Früchte aus seinem Schoß herausgeboren hatte.
Der alte Oddur machte sich seine eigenen Gedanken um all diese Dinge, die er seit der Ankunft Sera Leifs hören und sehen mußte. Und zu sehen gab es viel, wenn man seine Augen offen hielt. Es fiel kein frohes Wort mehr auf dem Hof, seit Wochen schon nicht mehr. Und wenn der alte Oddur auch kein Bauer war, sondern nur ein Knecht, so merkte er doch, daß es so nicht weitergehen konnte und daß man einen Strich unter diese Rechnung setzen mußte, auch wenn sie nicht von selbst aufgehen wollte.
Es kam wieder die Zeit heran, wo auf Arnarholt emsiges Treiben herrschte, die Berge waren schon des öfteren über Nacht verschneit. Und wenn auch der Schnee nicht weit ins Tal herabreichte, sondern nur dünn und wie feiner Zucker die Kuppen und Bergspitzen bedeckte, eines Tages hatten doch die Knechte vom Hof aus gesehen, wie ein schwerer Schneesturm in Nordost über die Schroffen des Eyasjallegletschers hereinfegte und wirbelnde Fahnen über seinem Eisrücken in den Himmel standen. Kjarval hatte sich die Sache angesehen und nichts weiter gesprochen, aber am dritten Tag nachdem kamen ein paar lange Keile unter den Wolken nach Süden geflogen, heisere Schreie hörte man in der Herbststille über dem Hof. Die Wildgänse verließen die Nordinsel und machten sich auf den Weg zu wärmeren Küsten.
Da gab Kjarval å Arnarholt den Befehl, alles für den Berg zu rüsten, zum Abtrieb der Schafe. Es schien, daß der Winter in diesem Jahr früh über das Land kam.
Die Knechte machten sich daran, die Geräte nachzusehen, die sie im Berg brauchten. Sie flickten die Zeltblahen zusammen, die den Sommer über auf dem Dachboden gelegen hatten, und drehten neue Schnüre oder schnitzten an den Holzpflöcken herum, mit denen das Zelt im Boden verankert wurde. Andere richteten Sättel her und Taue, und wieder andere setzten neue Bahnen auf ihre Ölmäntel oder machten feste Sohlen unter die Stiefel. Ein emsiges Treiben war über den Hof gekommen. Die Mägde buken und räucherten Fleisch, und selbst die Hunde wurden aufgeregt und sahen mit wedelnden Ruten zu, wie die Männer ihre Vorbereitungen trafen.
Doch einmal horchten die Männer plötzlich auf, – das war, als der Bauer ihnen sagte, daß in diesem Jahr Sera Leif mit ihnen in den Berg reiten wollte.
Geir Thors legte den Hammer aus der Hand, mit dem er eben ein paar kupferne Nieten in ein langes Lederband geschlagen hatte, weil der Rote neue kräftige Zügel brauchte und die alten schon ganz schwach und brüchig geworden waren. Er legte den Hammer beiseite und ging danach weg. Und das Mädchen Asdis sah ihm mit einem Blicke nach, der dem alten Oddur ins Herz schnitt.
Die Knechte murmelten unter sich, daß sie gerne allein reiten wollten, und überdies sei es ein gefährliches Reiten im Berg, und der Pastor säße noch nicht sicher genug im Sattel dafür.
Aber es blieb dabei, was der Bauer gesagt hatte.
Sera Leif wollte mit in den Berg.