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I

Eine dunkle Herbstnacht lag über dem Sandfellhof.

In leisem Wogen und Rauschen strich der Wind um seine Hütten, die sich mit ihren grasbewachsenen niedrigen Dächern kaum aus der Landschaft hoben. Sie lagen wie große Steinblöcke zu Füßen eines hochgereckten Bergkammes, der sich hinter ihnen in den Nachthimmel schob mit seinen mächtigen Basteien aus Basalt, in wilden Graten, um die der Nebel braute.

Doch fiel aus einer der Hütten noch matter Lichtschimmer über die karge Hofwiese hin, die sie umgab, obschon es bald auf die Mitternacht ging. Und er rührte von der kleinen Erdöllampe her, die mitten im großen Schlafraum des Hofes von der Decke hing.

Daß sie noch brannte, daran trug Magnusson die Schuld, der Altknecht von Sandfell, der keuchend in den Decken lag und mit schweißbedeckter Stirn zu den Balken hinaufsah, die über ihm von einer Seite der Wand zur andern liefen. Sein Keuchen stieß wie ein Messer durch die ruhigen Atemzüge der anderen, die mit ihm den Raum teilten, bis es mit einem abbrach und schwieg. Dann klangen ein paar leise gemurmelte Worte durch die Stille, ruhig und weich, und diese Worte kamen von den Lippen Hördis, der Bäuerin, die bei dem Kranken auf dem Bettrand saß und Wache hielt.

Es war um die Mitternacht.

»Sie kommen noch nicht«, sagte Hördis einmal zu dem Bauern hinüber, der sich auf seinem Lager aufgestützt hatte und auf den Kranken sah, »sie kommen noch nicht. Obwohl es schon auf die Mitte der Nacht geht!«

»Was macht er?« frug der Bauer zurück. »Willst du nicht schlafen? Ich werde aufstehen und bei ihm sitzen.«

»Bleib«, flüsterte die Frau, »er wird unruhig werden, wenn ich jetzt von ihm weggehe, und vielleicht kommen sie doch noch, – – man weiß es nicht. Anders wird er sterben – –« setzte sie noch leiser hinzu.

»Vier Tage ist er schon fort«, überlegte der Bauer, »vier Tage. Aber vielleicht hat er den Arzt nicht getroffen, der Knecht, vielleicht hat ihn ein anderer vor uns geholt!«

Die Bäuerin wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kranken zu. Sie sah zu dem alten Knecht hinab, in ein müdes, altes Antlitz, das zerfurcht und zerrissen war von einem langen Leben.

»Seid Ihr da, – – Bäurin?« kam es einmal von den Lippen des Alten, »seid Ihr da? – – – Verlaßt den Hof, Frau – der Gletscher – – der Gletscher – –«

»Glaubt mir, bleibt nicht auf dem Hof!« wimmerte er mit halb erloschener Stimme mühsam hinterdrein. Aber Hördis schob ihm die Decke wieder unter das Kinn, die er mit seinen zitternden Händen weggerissen hatte: »Schlaf, Magnus!«

»Bauer!« rief der Kranke und hob mit einer krampfhaften Anstrengung den mageren weißhaarigen Kopf aus den Kissen, »so glaubt mir, sie muß gehen, – er kommt, der Gletscher! Ihr alle – – geht fort vom Hof!«

»Der Hof ist sicher, Alter!« beruhigte ihn Thorgrimur und stand auf.

Er trat an die Seite seiner Frau und beugte sich zu dem Knecht hinab, »du sollst nicht sprechen, Magnus, es ist nicht gut für dich!« »Es ist ein Krater im Gletscher! Ein feuriger Krater. Die Berge werden über den Hof fallen, wenn er ausbricht, – Euer Hof liegt unter den Bergen, Bauer!«

»Schweig, Magnus! Schweig jetzt! – Du sollst nicht sprechen – –«

»Meine eigenen Augen haben ihn gesehen, – mit diesen Augen habe ich ihn gesehen und – und –«

»Schlaf, Magnus!«

Erschöpft fiel der greise Kopf des Knechts in die Kissen zurück. Die gefältelten Lider schoben sich langsam über seine trüben, wäßrigen Augen, und magere Knochenhände fuhren suchend über die Decken.

Sie suchten nach der Hand Thorgrimurs, des Bauern.

»Hörst du, Hördig?« rief dieser plötzlich und horchte mit vorgebeugtem Kopf nach draußen. Dumpfes Rollen lief durch die Nacht, wurde klarer und lauter – – stampfende Hufe.

Ein Hund schlug an.

Hufschläge dröhnten die Hofwiese herauf.

»Sie kommen –« flüsterte das Weib, mit übernächtigen Augen. »Sie kommen!« nickte der Bauer. »Olaf!« rief er gleich darauf. »Nimm die Laterne und geh vors Haus, – he – Olaf!«

Ein Knecht stand schläfrig von seinem Lager auf und zündete mit blinzelnden Augen eine Stallaterne an, die neben seiner Bettstatt auf den Dielen gestanden hatte. Und während er mit ihr in den Hausgang hinauslief, fuhr der Bauer in seine hohen Stiefel und langte sich die Jacke vom Haken. Die Leute waren erwacht und lauschten auf die Worte, die schwach von draußen hereintönten, wo der Jungknecht mit den Angekommenen sprach. Sigrid, die Großmagd, schnürte sich das Mieder über ihrer weißen Brust zusammen und schob dabei ihre Füße über die Bettkante hinaus. Mit ein paar schnellen Griffen zog sie die dicken Wollstrümpfe über ihre Beine. »So spät noch in der Nacht, – so spät!« murmelte sie verdrossen dabei und stand gähnend auf.

»Mach dich fertig«, sagte der Bauer vom Tisch her, »und sieh zu, daß du ein Essen auf den Tisch bekommst. Sie werden hungrig sein nach dem langen Ritt.«

Damit wandte er sich und schritt aus dem Raum.

»Es ist alles schon bereit«, rief ihm die Frau noch nach, »im Herd ist Feuer. – Wußte ich nicht, daß sie kommen würden?« seufzte sie auf, »wußte ich es nicht! – Sieh nach, Sigrid, die Teller – Brote – und das Fleisch. Trag schon auf!«

*

Draußen schnallten ein paar Männer die Sättel von ihren Pferden, und Olaf stand mit seiner Laterne bei ihnen und hielt das Licht über ihre Köpfe. Mit schweißigen Flanken tänzelten die Pferde unruhig zwischen den Reitern umher.

»Verdammt, das war ein scharfer Ritt, Thorgrimur!« rief einer von ihnen lachend, als er den Bauern kommen sah.

»Seid mir willkommen auf dem Hof und habt Dank, daß Ihr hergeritten seid. Ich glaube, er wäre noch in dieser Nacht gestorben ohne Euch!« fügte er hinzu, »Ihr kommt in der letzten Stunde!«

»Ihr setzt großes Vertrauen auf mich, Thorgrimur«, entgegnete der Arzt und ergriff den Bauern bei der Schulter, »zu großes vielleicht. Aber wir werden sehen, – gehen wir doch hinein zu ihm!«

»He, Olaf, nimm die Sättel mit in den Hausgang herein. Und die Pferde reitest du zur Koppel! Wen habt Ihr da noch bei Euch, Erlingur – – der andere?«

»Es ist ein Mädchen, Bauer, die Tochter meines Bruders im Westen. Sie wollte durchaus mit mir kommen, als sie hörte, daß es sich um einen ordentlichen Ritt handelte. – Her mit dir, Asdis! Laß dich besehen!« rief er lächelnd.

»Ich komme schon«, kam eine helle Stimme von den Pferden her, »aber siehst du, habe ich nicht recht gehabt, – der Rappe lahmt doch.» Du mußt nach ihm sehen, sobald du Zeit hast!«

»So ist sie nun«, scherzte Erlingur, »erst kommen die Pferde! Und wenn sie den Herrgott selbst begrüßen müßte oder den Teufel, so müßte sie doch erst wissen, ob nicht ihr Gaul am Ende hinkt. Es könnte ja wirklich sein, daß er hinkt, – das ist sie also!« Er zog sie am Arm vor den Bauern.

Das Mädchen wandte Thorgrimur ein Paar heller Augen zu und reichte ihm dann die Hand.

»Komm mit herein«, fuhr der Arzt fort, »wir dürfen keine Zeit verlieren!«

Olaf schwang sich auf eines der Pferde und trabte mit den Tieren zur Koppel hinaus. Der Bauer nahm das Licht auf, das er im Gras hatte stehen lassen, und leuchtete den Fremden in den Hauseingang hinein. »Da ist der Weg! – Hab Dank, Bergsvenn«, er reichte einem Manne die Hand, der drinnen stand und sein Zaumzeug über einem großen Holzhaken ordnete, »du hast dem Alten vielleicht das Leben gerettet mit deinem Ritt. Dank auch!«

Der Schein der Laterne fiel über Sättel und Zäume, die überall an der Wand des Ganges hingen. Schwarze Teerkleider waren zwischen ihnen an den grobgehauenen Balken aufgehängt, die die niedrige Decke stützten. Dazwischen staken ein paar Äxte mit ihrer Schneide in den Wandbrettern, und am Boden standen Kübel und Holzfässer umher, die mit Weidenringen umflochten waren.

»Seht euch vor«, sagte der Bauer und hob das Licht über seinen grauhaarigen Kopf, von dem ihm die Haare wild und ungeordnet über die Stirn hereinfielen, »es ist niedrig und eng hier! – Ich wollte schon manchmal umbauen – das alles hier«, erklärte er, »aber es fehlt an Holz. Es ist schwer herbeizuschaffen. Ein oder zwei Jahre wird es noch gehen. Die Knechte bringen Holz mit, so oft sie zur Küste reiten, aber es ist ja nicht viel, was ein Pferd zu tragen vermag – hier, geht hinein!« setzte er hinzu und hielt die Tür zum Schlafraum auf, »wir waren schon zu Bett, als ihr kamt. Nur Hördis, mein Weib, hielt Wache bei ihm. Sie wollte niemand anders zu ihm lassen!«

»Der Arzt ist da, Magnus!« sagte drüben die Frau zu dem Kranken. Aber der Alte gab kein Zeichen mehr, daß er verstanden hatte.

»Er stirbt!« flüsterte sie erschreckt, als der Arzt an ihre Seite trat, »helft ihm, Erlingur – er stirbt!«

»Gebt mir Euren Platz, Frau!« sagte der Arzt und schob sie sanft zur Seite, »Ihr habt Euch übernommen. Geht jetzt zu Eurem Lager und versucht zu schlafen.«

»Schlafen«, flüsterte der Kranke und schlug die Augen auf, »schlafen...«

Erlingur griff nach der dürren Hand, die schlaff über der Decke lag, und fühlte nach dem Puls. Ein dünnes Pochen hämmerte unter dem Geschling der hochgelaufenen Venen hervor, das gleich darauf aussetzte und wieder in langsamen Takten begann, bis es Schritt hielt mit dem raschen Ticken der Uhr, die der Arzt aus der Tasche gezogen hatte, wenn man die siebzig Jahre noch dazu rechnete, die der Alte auf dem Rücken hatte – nun, so konnte es leicht sein, leicht, daß das Herz nicht wieder anlief, wenn es das nächste Mal aussetzte. Die Bäuerin hatte recht.

Erlingur öffnete das Hemd des Alten auf der Brust und schob seine kräftige weiße Hand über die Rippen des alten Magnus, ließ sie liegen auf dem Herzen. Er beugte danach seinen Kopf nieder und horchte auf den Schall, den man vernahm, wenn man mit dem gekrümmten Mittelfinger die Brust abklopfte. Unruhig drehte Magnus sein Gesicht dabei in den Kissen hin und her, während er mit geröteten, zurückgesunkenen Augen von der Seite auf das kräftige kluge Antlitz des Arztes blickte. Erlingur drehte behutsam den Alten auf den Bauch, weil er auch noch den Rücken abhören wollte. Dann schob er seine Uhr, die er immer noch in der Hand hielt, in die Brusttasche seiner Jacke zurück und blieb einen Augenblick still sitzen, während die Hofleute um das Bett standen und auf ihn sahen. Er strich Magnus leicht über die eingefallenen Wangen mit den stachligen Backenhaaren: »Hörst du mich, Magnus?«

Der Alte wandte ihm das Gesicht zu und schaute ihn starr und schweigend an – gab es hier etwas zu reden? –

»Sie hätten dich nicht holen sollen«, sagte er am Ende und drehte sein Gesicht wieder zur Wand, »warum haben sie dich gerufen – dich. Was liegt an mir –«

Aber plötzlich drehte er mit einem Ruck seinen Kopf zurück, die Augen traten ihm schier aus den Höhlen, und er sank gleich darauf ächzend zusammen: »Sagt es ihnen – Erlingur – sagt es ihnen – der Berg – ich bitte Euch – der Berg kommt –«

»Er fängt wieder an«, flüsterte Thorgrimur dem Arzt zu, »er glaubt, daß der Berg über den Hof kommt, seit dem Tag, an dem das Beben war.«

»Das Beben?«

»Habt Ihr es nicht auch gespürt, im Osten drüben, – es sind doch nur zwei Tagesritte bis zu Euch!«

Erlingur schüttelte den Kopf. »Einer von den Alten hatte etwas davon gesagt, aber wir hielten es für Unsinn. Er redet viel dumme Dinge, der alte Gunnlaugur, – also hatte er doch recht, dieses Mal!« »Ja, – es war ein Beben in der Nähe, – in – der – Nähe. Es muß seinen Ursprung ganz in der Nähe gehabt haben, wenn nur wir es bemerkt haben!« sagte der Bauer nachdenklich, wie zu sich selbst. »Ein Feuerkrater – – ein Krater!« hatte Magnus gesagt.

»Feuer ist im Berg!« krächzte der Alte in diesem Augenblick mit unheilvoller Stimme aus den Kissen. Er mußte die Worte Thorgrimurs verstanden haben.

»Bringt mir Wasser«, befahl der Arzt und brach das Gespräch damit ab.

»Bringt Wasser her«, rief der Bauer zwei Mägden zu, die mit neugierigen Blicken das fremde Mädchen betrachteten, das mit dem Arzt gekommen war. Eilig rannten die Mägde zur Tür.

»Ich hätte ihn gerne in ein anderes Zimmer gelegt«, begann der Bauer wieder, »wo er Ruhe hat. Aber in dem anderen Raum haben wir Fleisch aufgehängt, wir haben erst gestern geschlachtet. – Kommt das Wasser endlich?« rief er zur Tür hinaus, »Weibervolk!«

»Asdis«, bedeutete Erlingur dem Mädchen, »willst du meine Tasche holen, ich habe sie auf den Sattel geschnallt!« Er wusch den Arm des Alten mit einem reinen Tuch, das die Bäuerin aus der Schublade gezogen hatte, dann nahm er Watte aus der Arzttasche, feuchtete sie mit einer klaren Flüssigkeit an und reinigte eine kleine Stelle am oberen Arm des Greises. Gleich darauf zuckte Magnus ein wenig zusammen, weil er einen feinen Stich an dieser Stelle verspürt hatte, und Erlingur löste die Kanüle von einer blinkenden Spritze, die er in der Hand hielt.

»Du wirst nun schlafen, Alter«, sagte er und sah mit ernstem Gesicht auf den Greis nieder, »vielleicht für immer!« fügte er für sich selbst hinzu und strich sich das Haar aus der Stirn. In diesen Jahren hing das Leben an einem Faden; die schwächste Dosis konnte zu stark sein für ein schwaches hämmerndes Herz.

Magnus lag noch ein paar Minuten mit offenen Augen und folge den Bewegungen Erlingurs. Dann fielen seine Blicke tiefer und tiefer. Die Lider schlossen sich zuletzt.

Der Arzt stand von seinem Platz auf.

»Wir müssen warten! Bis morgen!«

Die Leute legten sich wieder zum Schlafen nieder, als Erlingur nachher vom Tisch aufstand und dem Bauern Dank sagte für das Mahl und ihm die Hand reichte, wie es die Sitte des Landes gebot. »Ihr müßt vorlieb nehmen mit diesem Raum, Erlingur«, sagte der Bauer. »Wollt Ihr dort in der Ecke schlafen. Für das Mädchen hat die Frau auch ein Bett frei gemacht. Geir ist noch in den Bergen, mein Sohn, – sie kann in seinem Bett schlafen. Er kommt nicht vor zwei Tagen. Soll ich bei dem Alten wachen?«

»Er wird vor dem Morgen nicht erwachen. Ihr würdet umsonst bei ihm sitzen. Schlaft wohl, Bauer.«

Thorgrimur schraubte den Lampendocht herab, daß nur noch mattes Licht im Dimmer war.

Der Hof schlief. –

Die Mitternacht war vorüber.

*

Asdis lag lange wach in dieser Nacht. Sie hörte die ruhigen Atemzüge der Schlafenden um sich und sah unverwandt auf die matthelle Fensterscheibe in der Stirnseite des Raumes, die mit der Zeit klarer und schärfer aus dem Dunkel heraustrat, weil draußen schon das Grauen des Tages über das Land fallen mochte. Einmal hörte sie etwas durch das Zimmer gehen, und einige Augenblicke später sah ein erstauntes Hundegesicht über den Rand des niedrigen Lagers herein, auf dem sie ruhte. Sie streckte die Hand aus und streichelte das Tier, das seine Pfoten auf die Bettkante stellte und seine feuchte Schnauze in ihre Hand schmiegte. Zuletzt kam der zottige Kerl plötzlich auf ihr Bett gesprungen und legte sich am Fußende nieder. Er mochte es nicht anders gewohnt sein; sicher war es der Hund des Burschen, von dem der Bauer gesprochen hatte und der um diese Zeit noch in den Bergen ritt. Sein Name fiel ihr nicht mehr ein. Sie hatte ihn vergessen. Der Hund sah noch eine Weile durch das Dunkel zu ihr herüber. Wenn er den Kopf wandte, funkelten seine Augen in grünem Schimmer aus dem hellen weißen Gesicht mit der schwarzen Nase. Dann war sie die Einzige im Raum, die nicht schlief, denn auch der Hund hatte seine Nase auf die Läufe geduckt und ging im Traumland umher.

Aber plötzlich war wieder ein Laut im Zimmer. Ein bebendes Klirren, das über dem Atem der Schlafenden stand. Das Mädchen dachte vergeblich nach, woher es kommen mochte, bis mit einem Mal auch das Bett zu beben begann, auf dem sie lag, und das Klirren stärker wurde, daß es wie ein leises Singen zu hören war. Und nun wußte Asdis auch, daß das Geräusch von der Lampe kam, die über dem Tisch hing. Die Lampe klirrte.

Als sie einmal zufällig die Wand berührte, bemerkte sie, daß das Beben auch in den Brettern der Verschalung war. Der Hund richtete den Kopf hoch und sprang darauf mit einem leisen Plumps von ihrem Lager auf die Dielen hinab. Unruhig lief er von da an auf dem Boden hin und her und blieb schließlich winselnd bei der Tür stehen.

Dem Mädchen fielen die Worte des Knechtes ein, die er im Fieber gerufen hatte.

»Onkel! – Erlingur, hörst du?« rief sie leise durch den Raum. »Onkel!«

»Was ist, Asdis?«

»Horch, die Lampe!«

Verschlafen starrte der Arzt in das Dunkel: »Die Lampe?«

»Hör, wie sie klirrt!«

»Laß sie klirren, Asdis! – warum schläfst du nicht?« Eine Weile war es still. Bis Erlingur sich plötzlich aufsetzte: »Wirklich – sie klirrt!«

»Auch die Wand«, – flüsterte Asdis.

»Es muß irgendwo ein leichtes Beben sein«, sagte Erlingur leise. »Oder vielleicht ist ein Geysir in der Nähe, wenn ein Geysir in der Nähe eines Hauses liegt, so klirren die Fenster den ganzen Tag über. Schlafe. Das ist es!«

»Ja – es bebt mitunter,« brummelte Thorgrimur von seinem Bett her,« er war durch das Flüstern wach geworden. »Aber das hat nichts zu bedeuten«, fügte er hinzu, »hm, – es hat nichts auf sich. Seit einem Jahr fast klirren die Rampen im Haus hin und wieder. Es hat nichts zu sagen.«

Doch das Mädchen schlief nicht mehr in dieser Nacht. Stunde für Stunde horchte Asdis auf das Klirren der Lampe. Bis es plötzlich abbrach. Aber um diese Zeit rührten sich die Leute schon in den Betten, und einige Mägde kleideten sich im Dunkel fertig an, um das Tagwerk zu beginnen. Draußen schlugen manchmal die Hunde an, weil sie gewohnt waren, daß sich in dieser Stunde die Haustür öffnete und die Mägde mit dem Melkeimer zu den Kühen gingen, die da und dort im grauenden Morgen sich erhoben und brüllend im Nebel standen, der in den Mulden der Wiese kroch.

Es wurde Tag.

Sigrid hantierte schon draußen in der Küche herum, Teller klapperten und Töpfe, da kam plötzlich ein schwerer Tritt den Gang herauf, der nicht gut von einer Magd herrühren konnte. Die Tür ging auf, und ein kräftiger junger Bursche stand auf der Schwelle. Verwundert schickte er seine Augen die Wände entlang, wo die Leute noch in den Betten lagen und blinzelnd in den Morgen hineinsahen.

»Sailir – og blessadur« – »Seid gegrüßt und gesegnet!«

»Da ist er –« nickte der Bauer und hob den Kopf, und auch der Arzt machte einmal die Lider auf und zu, was so viel wie einen Gruß bedeuten sollte. Erlingur war noch müde von dem vergangenen Tag. Der Bursche lächelte Hördis zu, seiner Mutter.

»Er schläft –« sagte sie und gab damit die ganze Sorge wieder, die sie um den alten Magnussen gehabt hatte, daß sie über dem plötzlichen Erscheinen des Burschen doch zuerst an den Alten dachte.

Da riß der Neugekommene die Augen auf und starrte mit offenem Mund auf das fremde Mädchen, das auf seinem Lager schlief. Ja, sie war doch noch eingeschlafen, das Mädchen Asdis, und lag nun mit geröteten Wangen auf den Kissen, die Lippen leicht geöffnet wie bei einem schlafenden Kinde.

»Du bist schon da?« frug der Bauer dazwischen.

»Ja, Vater. Wir waren nicht mehr so weit ab vom Hof und dachten, – nun, wir sind dann die Nacht durchgeritten, Oddur und ich – nun sind wir da!«

»Der Arzt ist gekommen, – zu Magnus! Ich habe Bergsvenn zu ihm geschickt, weil wir glaubten, daß er sterben müßte sonst, hm! Er schläft immer noch, der Alte, vielleicht wird es nun wieder gut.«

»Jaha!« murmelte der Bursche und sah zu dem Lager des Alten hinüber. Aber dann hatte er seine Augen schon wieder bei dem Mädchen.

»Sie ist mit dem Arzt gekommen!« erklärte Thorgrimur, »wir haben ihr dein Bett gegeben, weil wir glaubten, daß du nicht zurückkommen würdest, nicht so früh –«

»Ja –«

»Bist du jetzt müde?«

»Nein, Vater.«

»Wo hast du Oddur gelassen?«

»Draußen bei den Schafen.«

»Habt ihr sie nun alle beisammen?«

»Die Schafe? – Ich glaube!«

»Sigrid ist schon in der Küche, sie soll dir Essen geben –«

»Ja«, erwiderte der Junge, aber er machte trotzdem keine Anstalten, hinauszugehen, sondern sah zwischen den Worten seines Vaters immer wieder verstohlen auf das fremde Mädchen, das in seinem Bett schlief. »Wann ist sie gekommen?«

»Der Arzt?«

»Ja«, sagte der Bursche und wurde rot dabei, »der Arzt!«

»Gestern, – heute nacht! Es war höchste Zeit, daß er kam! Geh nun hinaus – du wirst hungrig sein!«

»Nicht sehr – ich setze mich an den Tisch derweil. Es wird doch nicht mehr lange dauern bis zum Frühstück. Ich will auf den Knecht warten – er wird auch gleich hereinkommen.«

Thorgrimur nickte und schlug die Decken zur Seite, »ich werde aufstehen – wecke die Leute. Aufstehen! Es ist an der Zeit. Ihr könnt gerne noch schlafen, Arzt!« sagte er zu Erlingur, der wieder erwacht war, »Ihr könnt es brauchen, denk ich mir –«

»Morgen – Bauer! Wie steht es mit Magnus?«

»Er schläft noch –«

Der Arzt drehte den Kopf nach dem Kranken.

»Er ist ruhiger geworden, sieht es aus. Das Schlimmste wäre dann geschafft –«

»Ja – ruhiger –« bestätigte der Bauer und ging zu dem Altknecht hinüber, »viel besser –«

»Nun, Geir«, sagte Erlingur gähnend, »im Berg gewesen?«

»Jau, Arzt!«

»Müde?«

Der Bursche schüttelte den Kopf.

»Ja, in deinem Alter, da habe ich noch Berge versetzt – hm, man ist nicht mehr der Jüngste! Nicht wahr, Thorgrimur? Man merkt es erst, wenn man die Jungen ansieht, wie treibst du's?«

»Man arbeitet«, sagte Geir.

Da wurde auch Asdis wach.

Sie sah erst nur ein Paar lehmige Stiefel auf den Dielen stehen, wie sie so vor sich hin blinzelte, aber danach hob sie die Augen höher und sah auch den Burschen, der dazu gehörte. Einen gelben Haarbusch über einem braungebrannten Gesicht, aus dem ein Paar dunkle blaue Augen sie verwundert betrachteten.

»Das ist der Sohn vom Bauern«, hörte sie Erlingur sagen, der nun auf seinem Lager saß, »er heißt Geir!«

Sie strich sich die Haare aus den schlafroten Wangen und sah dann wieder auf den Burschen. »Der Sohn –« nickte sie.

»Ja –« murmelte Geir und ging zu ihr hin, um ihr die Hand zu geben, »ich heiße Geir!«

Das Mädchen Asdis bekam ein Lächeln um den Mund, wie der große kecke Bursche unbeholfen und eckig vor ihrem Bett stand und ihr seine Pranke entgegenhielt; sie ließ ihre warme Hand länger als nötig zwischen seinen Fingern liegen und sah an ihm hinauf: »Deine Mutter sagte, daß du nicht so schnell zurückkommen würdest. Nun habe ich dir dein Bett weggenommen. Und sicher bist du müde!«

»Nein«, sagte Geir laut und versuchte ein Lachen, um seine Verwirrung zu verbergen. Aber es blieb beim Versuch.

»Ich muß noch nach den Pferden sehen«, murmelte er plötzlich und lief mit langen Schritten von ihr weg zur Tür, wo er seine Mütze vom Haken riß und in den Gang hinauspolterte.

Als nachher das Essen aufgetragen war und die Leute des Hofes sich um den Tisch gesetzt hatten, – Asdis und der Arzt saßen neben dem Bauern, wie es den Gästen geziemte, – mußte der Junge immer wieder auf das Mädchen sehen, obschon er einem Gespräch mit ihr auswich. Sein Vater schickte ihm einmal einen aufmerksamen Blick herüber, weil er sich über sein Schweigen wunderte, aber sein Blick glitt danach von ihm ab und blieb auf dem Mädchen liegen. Der Arzt folgte den Blicken des Bauern. Und plötzlich war es still um den Tisch.

Erlingur ergriff als erster wieder das Wort.

»Das ist also – hm, wieviel Schafe habt Ihr nun eigentlich, Thorgrimur?« fragte er und ließ dabei einen flüchtigen Blick über den Jungen gleiten.

»Fragt Geir – es mögen eine gute Anzahl Jungtiere dazu gekommen sein. Der Sommer war gut. Auch die Weide. Ja, auch die Weide!« Er strich sich mit den Fingern durch den Bart und sah auf Geir: »Ich denke, – nun, wieviel mögen es sein?«

»An zweihundert Stück, – aber ich habe sie nicht gezählt, noch nicht! Morgen wollte ich sie zählen! Oder heute. Ja.«

»Ja«, sagte er noch einmal hinterdrein und hatte dabei seine Gedanken überall, nur nicht bei den Schafen, um die es im Augenblick ging. »Schafe –« brummte er nachdenklich und schob sich einen Bissen in den Mund, »Schafe!«

Eigentlich verstand nun keiner, was er damit sagen wollte. Und es war wieder still am Tisch.

»Sind sie fett in diesem Jahr?« fragte der Arzt, um überhaupt etwas zu sagen.

»Ja, sie sind fett!«

»Und die Wolle –«

»Gut ist sie.«

»So.«

Der Bursche schob unversehens Gabel und Messer von sich und rückte den Stuhl zurück. »Bist du fertig, Oddur?« rief er einem Knecht zu, der am untern Ende des Tisches saß.

»Hm, – was ist?«

»Wir wollen wieder zu den Schafen hinaus!«

»Hat das nicht Zeit?«

Aber Geir antwortete nicht mehr darauf. »Dank fürs Mahl!« sagte er über den Tisch und wandte sich zum Gehen.

»Du kommst dann –« rief er noch in der Tür.

»Hm –« räusperte sich Erlingur, »er ist kurz angebunden. Hat er das von dir, Thorgrimur?«

»Frag die Frau«, sagte der Bauer lachend, »er scheint seine Tage zu haben – oder es ist sonst ein Grund, wer weiß!«

»Hm«, knurrte der Knecht vom unteren Ende der Tafel; er machte sich so seine eigenen Gedanken, wo andere Leute nichts zu sehen schienen. Der Bauer hob den Kopf und sah ihn an: »Was ist, Oddur?«

»Ich meinte nur so –« grinste Oddur und stiefelte zur Tür, »ich meinte nur!« Aber niemand erfuhr, was Oddur an diesem Morgen meinte –

*

Geir werkte schon bei den Schafen herum, als der Knecht zu ihm herauskam. Der Alte humpelte zu dem Pferch hin, in den sie die Schafe nach dem Ritt eingetrieben hatten. Sorgfältig stengte er das Gatter hinter sich und lief durch die dichtgedrängten Wollrücken zu dem Burschen.

»Warum hattest du es so eilig – drinnen? Wolltest du nicht noch schlafen nach dem Essen? Und jetzt rennst du schon wieder den Schafen nach, daß andere Leute hungrig vom Tisch aufstehen müssen! Ha?«

»Halt ihn fest!« sagte Geir und schleifte einen stoßenden Hammel zu ihm hin, »man könnte ihn noch schlachten! – Wir haben nicht genug Fleisch für den Winter!«

»Na – und –?«

»Red nicht so viel!«

»Ich? Red' ich vielleicht, Hölle und Teufel!«

»Jau!« knurrte der Bursche, »bring ihn vor die Hürde. Er ist fett. Draußen bindest du ihm die Beine zusammen, damit er nicht davonläuft. So –«

Oddur humpelte brummend davon. –

Richtig war Oddur nur zu gebrauchen, wenn er im Sattel saß. So oft er auf dem Erdboden entlang gehen mußte, sank seine Laune auf den Gefrierpunkt. Und schuld daran war sein Bein.

Vor zwanzig Jahren hatte ihm ein halbwilder Hengst mit einem gutgezielten Hufschlag das Knie zerschmettert, daß der Arzt ratlos vor so viel Knochensplittern stand und schon sein Messer wetzte und mit der blauschimmernden Säge liebäugelte, die in dem weißen Schrank seines Zimmers hinter spiegelnden Glasscheiben lag. Aber Oddur hatte um sein Bein gekämpft wie ein Bär um sein Junges. Und das will ja nicht wenig sagen. Auf jeden Fall hatte der Arzt damals vor Wut seine Pinzette an die Wand gefeuert, mit der er eben noch ein wenig in der Wunde herumgewühlt hatte, während Oddur fluchte, wie eben nur ein isländischer Reiter fluchen kann, und zum Schluß noch den Segen der Hölle auf den Weißkittel herabwünschte. Er flog danach aus dem Haus trotz seines verdammten Beines, denn schließlich kann auch ein Arzt nur ein gestrichenes Maß an guten Wünschen vertragen.

Aber Oddur hatte gegrinst, als er endlich aus dem Hause war, in dem man sein Bein in Spiritus legen wollte. Er bat einen Knecht, daß er ihn auf sein Pferd setzen sollte, dann wollte er sehen, daß er auf den Hof zurückkäme. Und tatsächlich schaffte er es auch. Die Sache wäre wohl am Ende noch übel ausgegangen, wenn nicht der Arzt Gewissensbisse bekommen hätte und einen Tag später hinter ihm dreingeritten wäre, um nach dem fluchenden Tollkopf zu sehen, wie er Oddur nannte. Und so kam der Knecht mit einem steifen Knie davon.

»Und jetzt?« fragte er, als er wieder bei dem Burschen stand, und sah dabei in der Runde herum, wo die Schafe Kopf an Kopf warteten und auf die beiden Männer blickten.

»Wolle besehen! Dort fangen wir an. So!« Er hob den Arm und wies in eine Ecke des Pferchs. Aber weil diese Ecke dem Hof zulag, konnte es ihm nicht entgehen, daß drüben das fremde Mädchen mit wehenden Haaren vor der Tür stand und einen Sattel auf der Schulter trug, mit dem sie zur Pferdekoppel ging. Er ließ den Arm wieder sinken und starrte ihr nach, während der Knecht leise durch die Zähne pfiff und mit dem Kopf wackelte: »Teufel, Teufel!«

Es dauerte recht lange, bis der Junge sich wieder auf seine Arbeit besann, dünkte es dem Alten. Viel zu lange!

»Wolltest du nicht, hm, – die Schafe –«

»Schweig, Dummkopf!« knurrte Geir.

»Ich?«

»Jahau!«

»Ich!« Der Alte funkelte zornig aus seinem einen Auge den Jungen an – hm, ja, Oddur war auch einäugig, – aber dann flog ein breites Grienen über sein Gesicht: »Oh, der alte Oddur ist nicht dumm«, grinste er, »und er sieht verteufelt gut. Siehst du, hm, also das Mädchen –«

»Schweig!«

»Hm, also was ich noch sagen wollte, hm –« schmunzelte er, »siehst du, da kommt sie ja geritten!«

Ja, Oddur hatte ein gutes Auge.

Das Mädchen ritt drüben aus der Koppel. Aber als sie vom Sattel aus das Gatter wieder an seinen Platz gerückt hatte, das das Gehege verschloß, wandte sie ihren Grauen und ritt jenseits des Hofes auf die Steppe hinaus, bis sie hinter den Hütten verschwunden blieb.

»Weiter!« sagte Geir und stapfte zu der Ecke hinüber. »Den da, den Hammel!« kommandierte er und wartete, bis Oddur den Kerl bei den gewundenen Gehörnen hatte, »her mit ihm!«

Aber als der Knecht den Bock auf den Rücken geworfen hatte, damit Geir die Bauchwolle besehen könnte, – er wartete gebückt, daß er kommen sollte – hm, er drehte sich also nach ihm um, warum er nicht kam, – da sah er den Jungen wie ein Standbild im Grase stehen und dem Mädchen nachblicken, das inzwischen wieder hinter den Häusern hervorgekommen war und weit draußen in der Steppe dahinritt.

»Du«, schrie er erbost, während der Hammel sich mit aller Gewalt zu befreien suchte, »komm jetzt, ich hab' ihn! Da fängt man nun einen Bock und hält ihn fest, und derweil –«

»Mach das Gatter auf und laß die Schafe auf die Wiese hinaus«, sagte der Junge plötzlich, »es hat Zeit bis morgen!«

Der Alte spuckte seinen Priem mitten zwischen die Tiere, daß eines von ihnen einen erschreckten Satz machte: »Da sieh einer! Was hab' ich nun gesagt!«

Dann schwieg er einen Augenblick lang und sah mit seinem lebenden Auge zwinkernd nach dem Punkt in der Ferne, der zusehens kleiner wurde:

»So ist das also! So!«

Aber Geir schien ihn nicht einmal zu hören. Er ging aus dem Pferch und schritt zu den Hofgebäuden hinüber. Und kurze Zeit darauf ging er mit einem Sattel zur Koppel.

*

»Soll ich mit dir reiten?« fragte er das Mädchen, als er seinen Falben bei ihr zügelte.

Sie hatte ihr Pferd quer gestellt und sah ihm entgegen.

»Ich dachte, daß du zu arbeiten hättest«, lachte sie, »sonst hätte ich dich gebeten, mir das Land zu zeigen, das zu eurem Hof gehört. Du hattest es eilig, heute morgen!« Es klang ein wenig spöttisch, rund heraus gesagt.

»Wir sind schon an der Grenze der Steppe«, sagte Geir und überging ihre Bemerkung, »dort drunten liegt der Fluß. Und hinter ihm der Sand. Fünf Tagereisen weit ist dann nichts als Sand.«

»Euer Hof liegt einsam.«

»Es kommen selten Menschen zu uns. Der Arzt und manchmal der Händler, das ist alles.«

Er gab seinem Hengst die Hacken und trabte wieder an. »Komm, wir reiten weiter!«

»Du hast ein gutes Pferd«, sagte sie und sah auf den Falben, der mit wehendem Schweif und stechenden Hufen über die Sandlöcher der Steppe zog, daß der Graue ihm kaum zu folgen vermochte.

»Wir haben die beste Zucht im Osten«, rief er stolz zurück, »auch der Arzt reitet Pferde von uns!«

»Ja, er sagte es mir.« –

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander.

Dann hielt der Bursche plötzlich seinen Hengst zurück: »Wir könnten in den Berg reiten«, meinte er, »erst dachte ich, daß wir Nebel bekommen würden, aber nun steht die Sonne am Himmel. Willst du?«

Das Mädchen nickte. Lächelnd wechselte sie die Richtung.

Eine Stunde später hielten sie auf einer Berghöhe, von der man weit über das Land blicken konnte. Im Osten lag der Sandfellhof als ein kleiner Haufen von Hütten unter den hohen Felsen, die hinter ihm anstiegen. Während man vom Tal aus diese Felswand nur wie eine riesige Mauer sah, die mit ihren Zacken in den Himmel stieg, blickte man von diesem Platz auf hochgetürmte Bergriesen mit verschneiten Häuptern, deren Grundfesten von unabsehbarem Eis umzogen wurden, das sich in einem schimmernden Gletscherrücken dem Norden entgegenwölbte und im Horizont verlor.

Die Felsmauer über dem Hof war nur ein kleiner Vorposten von unzähligen Berghäuptern und Spitzen und Graten, die alle von dem gewaltigen Eisfluß des Gletschers umschlungen wurden.

»Der Vatna!« sagte Geir und sprang aus dem Sattel. »Nirgends sieht man ihn so schön wie von dieser Stelle aus, den Gletscher.«

Grüne dunkle Spalten zerrissen die Decke des Eises, soweit das Auge reichte. Wülste von brauner Erde und zerschrammtem Gestein hatten sich an ihren Rändern hochgehoben, frisch gebrochenes Geröll und nasse schiebende Erde. Moränen umschlangen die Granitflächen der Berge und liefen in schwarzen Strichen auf dem Scheitel der Eiszungen dahin.

»Das ist der Vatna!« sagte der Bursche noch einmal und nahm Asdis die Zügel ihres Pferdes aus der Hand: »Steig ab, ich weiß einen Platz drüben. Und einen kleinen Fluß. Oder einen Bach. Die Erde ist dort noch grün, weil der Boden an dieser Stelle wohl wärmer ist als anderswo. Auch der Bach ist nicht kalt. Selbst im Winter nicht. Es ist kein Gletscherbach, sondern er kommt aus einem richtigen Quell in der Erde. Ich habe schon in ihm gebadet.«

Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm in eine kleine Mulde hinab, während er vor dem Mädchen herschritt und an seiner Seite die Pferde führte: »Siehst du, dort unten ist ein kleines Hochtal. Und da ist auch der Fluß, weiter unterhalb stürzt er über einen hohen Felsbruch in die Tiefe. Aber es ist ein gefährlicher Weg dorthin, und man kann ihn nicht gehen mit den Pferden.«

Nach kurzer Zeit fiel zur rechten Hand eine kleine Halde ab, die mit grobem Sand und Steinen aufgefüllt war und in steiler Senkung zu der Talmulde hinabführte. Geir nahm die Pferde kurz am Maul und stampfte durch den losen Schutt bergab. Mißtrauisch setzten die Tiere ihre Hufe auf und schnaubten ängstlich, wenn der Sand unter ihnen zu weichen begann und losgetretene Steine vor ihnen herhüpften, klingend auf den Boden des Tals hinaussprangen. Drunten ließ der Bursche die Pferde frei.

»Sie können nirgends aus dem Talkessel heraus«, meinte er, »und über den Bach werden sie nicht gehen. Bleikur kennt übrigens das Tal«, sagte er und nickte zu seinem Falben hinüber, der in schnellem Trab davonlief, »ich bin schon oft mit ihm hier gewesen.«

»Eine Wiese! Mitten in den Bergen!« rief das Mädchen Asdis und lief zu dem Bach hinüber. »Und das Gras ist noch grün, obwohl im Tal schon alles verdorrt ist.«

Geir hatte sich auf einen Felsblock gesetzt und sah ihr nach, wie sie mit kurzen schnellen Schritten über das Gras lief. Die Sonne flimmerte in ihrem hellen Haar und stand in einem leuchtenden Rand um ihren Körper. Asdis lief mitten in die Sonne hinein, die als feuriger Ball im Osten über dem Gletscher stand. Wie ein gleichmäßiger Teppich lag die Wiese hier im Tal, aber über ihr war wie ein Bild aus den Schöpfungstagen der wilde zerrissene Leib des Gletschers, der in den Strahlen der Sonne gleißte und ihr Licht in tausend Farben brach.

Nach einer Weile stand Geir auf und ging zu Asdis hinüber. Die Pferde grasten schon ein gutes Stück in die Wiese hinein. Gemächlich schritten sie vorwärts und hatten die Köpfe auf dem Boden, daß die Zäume wie Schlangen hinter ihnen herschleppten. Mit schlagenden Schweifen stapften sie immer weiter und rupften die Halme aus dem Grund. Eine Möwe flog schreiend über die Mulde hinweg in der Richtung zum Hof, vor dem manchmal wie kleine Punkte ein paar Menschen standen und zwischen den Gebäuden hin und her liefen.

»Erlingur wird dich jetzt suchen«, lachte Geir und wies zu der Siedlung hinab, »ich habe niemandem gesagt, daß ich mit dir hierher reiten würde. Zuerst wußte ich selbst nicht, ob wir bis zu diesem Platz reiten sollten. Ich war immer nur allein hier. Aber dann dachte ich, während wir ritten, du solltest ihn auch sehen. Ich wollte ihn dir zeigen, bevor du weiterreitest«, schloß er und machte eine große Bewegung durch die Luft, – »das wollte ich!«

»Herrlich ist es hier«, sagte das Mädchen und sah ihn mit einem langen Blick an.

Geir wußte nicht, was er mit diesem Blick anfangen sollte. Er starrte ihr ins Gesicht und in die hellen Augen und bearbeitete währenddem seine Stiefelschäfte nachdrücklich mit dem Peitschenriemen, den er noch in den Händen hielt. Dann sah er plötzlich auf die Seite, wo die Pferde standen und das Fressen ganz vergessen hatten. Aufmerksam schauten sie mit ihren klugen Köpfen zu den beiden herüber. Geir wollte sich eben besinnen, was ihre Neugier erregt haben mochte, als Troll, der Schafhund, mit freudigem Bellen an ihm hochsprang und dann jaulend zu dem Mädchen lief. Wie ein weißer Strich war er danach bei den Pferden und umsprang sie kläffend, daß sie mit holprigen Sätzen davontrabten, weil die schleppenden Zügel sie am Gehen hinderten.

»Sieh, da hat er uns gefunden«, rief der Bursche hastig. »Ich hatte ihn ganz vergessen über – über dem Ritt. Willst du die Pferde in Ruhe lassen, Troll! Komm her, komm!«

»Komm jetzt!«

»Laß ihn doch«, sagte das Mädchen dazwischen, »er spielt ja nur, er ist noch jung. – Mir ist heiß«, meinte sie dann und warf sich ins Gras, »wir könnten hier ein wenig liegen, bevor wir heimreiten. Der Tag ist noch lang. Und Erlingur sagte, daß wir nicht vor morgen reiten könnten. Er müßte noch ein wenig nach dem Altknecht sehen. Und dann ist da auch noch der Rappe. Müde bin ich«, lachte sie und ließ den Kopf zurücksinken, daß ihre Haare durch das Gras flossen. »Wie die Kräuter duften! Bald wie im Frühling.«

*

Der Bursche stand immer noch bei ihr und rührte sich nicht vom Fleck. Er spürte ein wunderlich weiches Gefühl für das Mädchen, dessen Gesicht mit geschlossenen Augen zwischen den zitternden grünen Gräsern lag. Ihre Lippen standen ein wenig offen, wie er sie am Morgen auf seinem Lager gesehen hatte, und die Arme lagen leicht und mit gelösten Händen über dem Leib. Er wußte nicht, warum er sie immerfort betrachten mußte wie eines der Bilder, die er bisweilen in einem Buch des Pastors gesehen hatte, wenn er auf dessen Hof im Osten gewesen war. Wie eines dieser Bilder war sie, die man ohne Aufhören betrachten konnte.

Ernst und wortlos sah er auf sie nieder.

Am Himmel schwammen ein paar kleine weiße Wolken. Die Sonne war nun höher gekommen. Es roch scharf und würzig aus der Erde, nach Lehm und frischen Krumen.

Klar und nahe standen die Linien der Berge um den Horizont. Und weit im Süden schimmerte die See in einem lichten Band herüber.

»Warum legst du dich nicht auch ein wenig nieder«, fragte sie einmal und schlug die Augen auf, »die Sonne ist noch warm, – man könnte beinahe schlafen.«

»Schlafe«, nickte er und dachte, daß er sie dann länger noch anschauen könnte. »Ja –«

»Hast du nicht gesagt, daß man baden kann in dem Bach, er hätte warmes Wasser! – Wir werden baden, hörst du. Herrlich wird es sein.« Sie hatte sich mit einem Ruck aufgesetzt und sah auf den spiegelnden Lauf des kleinen Flusses.

Geir hatte plötzlich einen roten Kopf. Er sah verlegen auf Troll, der neben dem Mädchen kauerte und hechelnd die Zunge aus den Fängen rollte. »Ich weiß nicht«, sagte er, »es ist schon im Herbst, vielleicht ist das Wasser jetzt kühl. Es kann zu kalt sein! – Er ist schnell gelaufen«, meinte er dann mit einem wichtigen Blick auf den Hund, »aber gefunden hat er uns doch. Er hat eine gute Nase. Jeder Spur kann er folgen.«

Er sandte einen verstohlenen Blick zu Asdis hin, während er sprach und sah, daß sie schon die langen Stiefel von den Beinen gezogen hatte und die Strümpfe. Sie stülpte sich noch schnell das dicke Wollhemd über den Kopf, das sie bis zum Gürtel trug. »Fein wird das, baden!« rief sie fröhlich, »kannst du schwimmen?«

»Der Bach ist nicht tief genug dafür«, sagte Geir verwirrt und wollte sich wegwenden, doch streckte das Mädchen gerade in diesem Augenblick die Arme in die Höhe. »Hilf, zieh, die Ärmel sind zu eng!« Er bückte sich nieder und streifte ihr die Bluse über den Kopf, und es war gut, daß sie dabei nicht sein Gesicht sehen konnte, – es war in diesem Augenblick nicht besonders klug.

Es wollte nichts helfen, daß er sich einen Dummkopf nannte und sich zum Teufel wünschte mit seinem hölzernen Gehaben. Als ob die Leute vom Hof nicht oft zusammen in der warmen Quelle badeten, die hinter Sandfell lag. So oft sich die Gelegenheit bot, hatten sie dort geschwommen, und niemand hatte dabei jemals einen Unterschied gemacht zwischen langen oder kurzen Haaren. Einmal hatte er die splitternackte Sigrid an ihrer langen Mähne gepackt und sie unter Wasser gezogen, und sogar am Ufer hatte er sich mit ihr noch herumgebalgt. Und das schlimmste war, daß die Magd ihn damals zuletzt noch auf den Boden gelegt hatte wie einen kleinen Jungen, und er war zu der Zeit doch schon ein Bengel von guten vierzehn Jahren gewesen. Er hatte ihr das lange nicht vergessen. Aber hier war das nun eine andere Sache, wenn er auch selbst nicht wußte, warum. Man fühlte das, – es war etwas anderes jetzt.

»Ich will nicht baden«, sagte er plötzlich und warf dem Mädchen den Wollkram wieder zu, den er noch in der Hand hielt. Aber Asdis hatte zu der Zeit schon ihr Leinenhemd von sich gestreift und lief in ihrer ganzen strahlenden Nacktheit in den Bach hinaus. Das Wasser spritzte um sie, daß sie in einer sprühenden Wolke zu stehen schien. Sie hatte seine Worte nicht mehr gehört.

»Schön ist es!« prustete es aus der Wolke heraus, »komm!«

»Warum bist du immer noch draußen?« rief sie nach einer Weile, und die Wolke sank plötzlich in nichts zusammen, »wolltest du nicht baden?« »Ich bade sonst allein hier«, knurrte er und verwünschte sich, noch während er sprach, »sonst – meine ich.«

Das Mädchen stand plötzlich still im Bach. Sie hielt die Hände vor sich und sah mit ungewissen Augen nach dem Burschen. Als ob sie nichts davon wüßte, zog sie langsam ihre Arme an den Leib und bedeckte ihre kleinen festen Brüste mit den Händen. Sie schüttelte unwillig ihren Kopf, daß die Haare um sie flogen.

»Was meinst du damit?«

Geir stand wie ein Stück Holz am Ufer und kriegte seine Augen nicht von ihr los. Er mußte wieder an die Bilder denken, die er in den Büchern des Pastors gesehen hatte und die man immerfort anblicken konnte. Die Sonne spielte in ihren Haaren, und das Wasser lief in hellem Blau an ihren Knien vorbei, daß sich ihr Spiegelbild aus der Tiefe zu heben schien. Auch der Gletscher leuchtete im Wasser wider.

»Geh weg!« sagte Asdis plötzlich in seine Gedanken hinein. »Geh zu den Pferden hinüber, – ich – ich möchte mich wieder anziehen. Geh!«

Aber sie stand noch eine Weile am selben Platz, als er gegangen war. Und obwohl jetzt höchstens noch die Berge sie sehen konnten oder Troll, der Schafhund, hielt sie immer noch ihre Hände über die kleinen Brüste.

Warum hatte er so seltsame Blicke gehabt – und warum badete er nicht auch! dachte sie und sah an ihrem Leib hinab, über den die Wassertropfen rannen. Dann watete sie dem Ufer zu und nahm die Kleider aus dem Gras, um sich anzukleiden.

Sie ging danach nicht zu dem Burschen hinüber, sondern kletterte die Halde hinauf, in der die tiefen Huflöcher der Pferde standen. Als sie einmal zurücksah, stieg Geir in den Sattel, und wenig darauf kam er in vollem Galopp die Heide heraufgeprescht, mit schnaubenden Pferden, die polternd ihre Hufe in den Sand stemmten. Die Peitsche klatschte und der Hund sprang bellend um die erregten Tiere.

»Warum gehst du«, rief er und riß seinen Pferden die Trense ins Maul, daß Grey mit schlagenden Hufen stieg, »warum wartest du nicht?«

»Gib mir mein Pferd«, sagte sie ruhig und sah in die funkelnden Augen des Burschen, »gib her, es ist nicht gewohnt, daß man es schlägt.«

Sie ritten danach schweigend auf den Hof zurück. –

*

Am nächsten Morgen brach der Arzt wieder nach dem Osten auf und das Mädchen mit ihm.

Den Rappen ließ er auf den Sandfellhof.

»Vielleicht«, meinte er, »vielleicht reiten Eure Knechte einmal nach dem Westen.« Sie könnten dann das Pferd zu Kjarval bringen, seinem Bruder. Es sei ein Pferd von Arnarholt. Es wäre nicht gut, während eines langen Rittes ein lahmendes Tier am Zügel zu führen. Nun, – man könnte sehen!

Und Thorgrimur nickte. »Natürlich!«

Da war das erledigt.

»Seid gesegnet, Arzt!« rief ihm die Bäurin noch zu, und Erlingur winkte zurück.

Die Leute von Sandfell waren wieder allein.

Geir sattelte an diesem Tag seinen Falben und ritt in den weiten Sand des Westens hinaus.

Erst spät in der Nacht hörte Hördis ihn zu seinem Lager gehen. Im gelben Lampenschein hatte sie sein Gesicht gesehen. Es war müde, und die Augen waren wild.

Sie hatte den Jungen noch nie so gesehen.

»Komm herüber, Geir«, sagte sie leise zu ihm, »komm einmal.« Aber danach hörte sie, daß er sich schon niedergelegt hatte.


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