Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 5. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Briefe aus der französischen Schreckensepoche.

Erster Brief.

Dein B** lebt noch, mein lieber M**, er ist den zahllosen Gefahren, die ihn bedroheten, glüklich entgangen, und benuzt die einzige sichere Gelegenheit, die er in einem ganzen Jahre gefunden hat, um Dich von seinem Schicksal zu benachrichtigen. Ich könnte zwar den ersten Theil meiner Erzählung dem Ueberbringer meines Briefes überlassen; allein ich kenne den guten Duval, er würde gerade das wichtigste übergehen, weil er von sich selbst reden müßte. Setze ihn auf die Probe, und Du wirst bald finden, daß seine Bescheidenheit ihn eben so schäzbar macht, als seine Treue, der ich meine Rettung verdanke.

Ich hatte ihn in Geschäften in die Stadt geschikt; die Neugierde, unsern Proconsul zu sehen, trieb ihn in die – Volksgesellschaft. Hier hörte er ein paar Bösewichter mich als einen gefährlichen Royalisten schildern, und sah, wie der Wüterich sich meinen Namen aufmerkte. Duval hinterbrachte mir diese Nachricht, und beschwor mich zu fliehen. Ich weiß wohl, sagte er, daß Sie unschuldig 2 sind; allein eben deßwegen müssen Sie fliehen. Ich begriff nur allzusehr, daß er Recht hatte; allein wie sollte ich den Ausspähern entgehen, und wohin sollte ich mich wenden? Ich hatte mich stillschweigend in einen Armstuhl geworfen: Duval sah mich eine Weile an, dann trat er mir näher: mein theurer Herr, sprach er, habe ich während meiner siebenjährigen Dienste Ihnen jemals Anlaß gegeben, an meiner Treue zu zweifeln? Nein, mein Freund, erwiederte ich. – Nun so überlassen Sie mir die Sorge Sie zu retten. – Ich ergriff ihn bey der Hand: Nimmermehr werde ich Dich mit in das Unglük ziehen, das mich bedroht; Du kennest unsre Blutgesetze. Fürchten Sie nichts, antwortete er, ich bin auf ein Mittel verfallen, das Ihnen den Weg nach der Grenze bahnen wird, ohne mich der mindesten Gefahr auszusetzen. Als ich die Ihrige erfuhr, dachte ich gleich, daß Sie in der Bestürzung sich vielleicht nicht würden zu rathen wissen; ich sann lange hin und her, und blieb endlich bey einem Einfalle stehen, den ich für den besten hielt. Ich gieng in die Distriktsverwaltung und verlangte einen Paß, um mich als Musikant zur Rheinarmee zu begeben, bey der, wie Sie wissen, mein Bruder als Jägeroffizier stehet. Ich erhielt den Paß ohne Schwierigkeit, und mit diesem Passe können Sie bis an die Ufer des Rheins 3 fortkommen; Sie dürfen nur meine Kleidung anziehen und Ihr Clarinet zu sich stecken.

Ich fiel dem guten Menschen um den Hals; sein Vorschlag war in der That der thunlichste, den man ersinnen konnte. Ich verglich vor dem Spiegel meine Gestalt mit dem Signalement des Passes: die Farbe des Gesichtes, der Augen und der Haare, zumal wenn ich diese rund schnitt, liessen keinen auffallenden Unterschied bemerken; an Grösse und Alter waren wir ohnehin einander gleich, und der Rest der Beschreibung war so unbestimmt, daß man unsre Physionomien hätte mit einander vergleichen müssen, um sie weniger auf mich als auf ihn passend zu finden.

Doch mitten unter dieser Vergleichung erschütterte mich plözlich der Gedanke: was wird aus deinem redlichen Diener werden, wenn du dir dieses Papier zueignest? Ich kann Deinen Paß nicht brauchen, sagte ich, indem ich ihn auf den Tisch legte; Deine Treue verblendet Dich, was willst Du ohne ihn anfangen? Auch dafür ist gesorgt, erwiederte er mit Lächeln, indem er ein anderes Papier aus der Tasche zog. Ich traf auf meinem Rükwege einen Wachtmeister an, der mit einem Rekrutentransport zu seinem Regiment zurükkehrt, das jezt am Oberrhein kantoniert. Ich nahm Dienste, hier ist meine Capitulation. Der Mann liegt 4 mit seinen Leuten im nächsten Flecken; ich habe ihm versprochen, diesen Abend zu ihm zu stossen, und morgen marschiren wir weiter.

Izt brach mir das Herz; ich warf mich dem edlen Menschen um den Hals; meine Thränen vermischten sich mit den seinigen. O mein einziger Freund! rief ich, wie kann ich Deine Treue vergelten? Durch eine schleunige Flucht, antwortete er. Hurtig, hurtig, Sie haben keinen Augenblik zu versäumen. Ich besann mich nicht länger; ich füllte meine Jägertasche mit etwas Wäsche und andern kleinen Nothwendigkeiten; Duval beschnitt mir die Haare, und gab mir seine im Passe beschriebene Kleidung. Ich habe dem Wachtmeister gesagt, fügte er hinzu, daß ich zu Hause meinen Ueberrock holen wolle; mein veränderter Anzug wird also keinen Argwohn bey ihm erwecken.

Mit nassen Augen und laut klopfendem Herzen vollendete ich meine Verkleidung. Ich langte aus meinem Schreibtisch alle meine Baarschaft hervor; sie bestand aus etwa zweyhundert Louisd'or in Gold und einer ungefähr gleichen Summe in Assignaten. Ich wollte meinen Reichthum mit dem guten Duval theilen. Sie brauchen das Geld nöthiger als ich, antwortete er, und nur nach einem langen Streite zwischen Großmuth und Dankbarkeit konnte ich ihn bewegen, zehn Louisd'or anzunehmen. 5 Er nähte mir mein Geld in meine Kleider, und bezeichnete mir den Weg, den ich nehmen sollte, um dem Wachtmeister mit seinen Rekruten auszuweichen. Wir hielten zusammen ein kleines Abschiedsmahl; unsre Thränen rieselten in die Becher, die wir auf ewige Freundschaft und glückliches Wiedersehen austranken, und nun befahl er mir, mich auf den Weg zu machen. Lange hieng ich sprachlos an seinem Halse. O Freund! dieser Augenblick war beydes der schröklichste und der süsseste meines Lebens.

Mit zwey Terzerolen in der Tasche, einem Säbel über die Schulter, einem dicken Knotenstok in der Hand trat ich in der Abenddämmerung mein Exil an. Ich hütete mich, einen einzigen Blick auf die Burg meiner Väter zurük zu werfen, darinn so lange Friede und Freude gewohnt hatten. Von tausend marternden Bildern umschwebt wanderte ich mit verdoppeltem Schritte den Fußsteig hinan, der längs dem Gebürge sich hinzieht. Mit einbrechender Nacht erreichte ich in einem kleinen Walde eine Melkerey, wo ich um ein Nachtlager anhielt. Da dieser Fußsteig weiter nichts als eine Abkürzung der Landstrasse war, so erwekte ich keinen Argwohn. Uebrigens wäre der blosse Anblick meines Passes und des auf meinen Ranzen 6 gebundenen Clarinets hinreichend gewesen, mich bey meinem friedlichen Wirthe zu legitimiren.

Des andern Morgens sezte ich mit Tages Anbruch meine Reise weiter fort. Ich vermied mit aller Sorgfalt die grössern Städte, wo ich unter den verschiedenen Depots der Regimenter bekannte Gesichter anzutreffen fürchtete, und wählte meine Herberge gemeiniglich in Dörfern und Höfen. Wohl zehnmal wurde mein Paß von den Ortsmunizipalitäten besichtigt und überall richtig befunden. Ein einzigesmal ward ich in einem kleinen Fleken angehalten, aber bloß um das Orchester einer Bauerhochzeit zu verstärken. Da der Maire des Dorfes der Brautvater war, so wäre es gefährlich gewesen mich seinem Commando zu widersetzen.

So erreichte ich endlich nach einem beschwerlichen Marsch die Ufer des Doubs. Ich hatte unterweges alle Zeit mein Schiksal zu überdenken und hundert Plane zu machen, wovon immer einer den andern verdrängte. Mein Vermögen war verlohren; der Aufenthalt in Frankreich zeigte mir nichts als Gefahren, eine schwartze, undurchdringliche Decke verbarg mir die Zukunft. Endlich hielt ich die Idee fest durch die Gebürge des Hochstifts Basel einen Weg in die Schweiz zu suchen, und mich von dort aus nach Constanz zu meinem Oheim, dem Bischofe 7 von R**, zu begeben, dessen Rath und Bekanntschaften meine weitere Entschlüsse leiten sollten.

Mit diesem Vorsatze verließ ich eines Morgens ein schönes Dorf auf der Strasse disseits Besançon. Kaum hatte ich eine Meile zurückgelegt, so kam eine Art Offizier hinter mir hergetrabt, der mich beym Vorbeyreiten steif ins Auge faßte. Ich hütete mich wohl mein Gesicht wegzuwenden, ungeachtet mir seine Züge nicht fremd schienen. Der Reiter sah sich nach mir um, ritt noch einige Schritte weiter, und hielt endlich stille. Ohne mich verdächtig zu machen durfte ich nicht zurükbleiben; der Augenblik war kritisch und ließ mir keine Zeit zur Ueberlegung. Ich nahm mich zusammen, und mit der unbefangensten Mine, welche die Ueberraschung mir anzunehmen erlaubte, wanderte ich vorwärts. Betrüge ich mich oder sind Sie es? rief eine bekannte Stimme mir zu, sehe ich nicht den Ritter von B** vor mir? Gott! mein lieber C**, wie treffen wir uns hier an? Er hatte sich vom Pferde in meine Arme geworfen. Stumm hielten wir uns einige Augenblicke umschlungen. Auf einmal sagte er: an Ihrem Aufzuge sehe ich, daß Sie unerkannt seyn wollen; eine Landstrasse ist der Ort nicht, wo wir uns unbemerkt sprechen können. Wir beschieden uns zwo Meilen von da in eine Dorfschenke, und C** sprengte voran, um die 8 Mahlzeit zu bestellen. Die Leute sind sicher, sagte er, und in unsern Tagen fällt es ohnehin nicht auf, wenn ein Inspektor des Fuhrwesens mit einem Feldmusikanten an einer Tafel speißt. Du erinnerst Dich doch, lieber Freund, des Vicomte von C**, der mit mir in Toulon unter den Seekadeten diente. Vier Jahre theilten wir ein Zimmer und wurden zu gleicher Zeit Schiffsfähndriche. Nachher wurden wir getrennt, und ich hörte seit einigen Jahren nichts mehr von ihm. Die Revolution und der Krieg brachen aus; seine Provinz hatte das Schicksal der meinigen; er war aber glücklicher als ich. Durch den Credit eines Freundes, der blos zum Schein die rothe Mütze aufgesetzt hatte, erhielt er eine Stelle beym Fuhrwesen der Armee, wo er bisher in unangefochtener Dunkelheit gelebt hat.

Gegen Mittag erreichte ich den Ort unsrer Vereinigung. Nach Tische giengen wir in einem Gärtchen, das hinten an der Schenke lag, spazieren. Ich hatte keine Ursache mich vor dem Vicomte zu verbergen; ich eröffnete ihm mein Schiksal und mein Vorhaben. In den wärmsten Ausdrücken der Freundschaft suchte er mich davon abzumahnen. Bisher haben Sie gethan, was Ihnen die Klugheit befahl, sagte er, ein Schritt weiter würde ihr Unglük unwiederbringlich machen. Unsre Grundsätze 9 können nicht verschieden seyn, unsre Hoffnungen aber sind es, wie ich sehe. Ich schmeichle mir zuversichtlich mit bessern Zeiten, und diese will ich gelassen erwarten. Ich biete Ihnen einen Plaz unter meinen Fuhrknechten an, und sage Ihnen im Vertrauen, daß mehr als einer unserer Brüder unter dieser Maske bisher seine Rettung gefunden hat. Ihr Paß schützt mich gegen alle Verantwortlichkeit und folglich gegen alle Einwendungen, die Ihre Delikatesse mir machen könnte. Ich stehe gegenwärtig im Städtchen Delsperg, das ich blos eines zufälligen Geschäftes wegen, welches mich nach Besançon rief, verlassen habe. Am Fusse des Montterible sind Sie so verborgen und so sicher als im Schooße der Alpen. Nach einiger Zeit will ich an Ihnen Fähigkeiten entdecken, die mich berechtigen werden, Sie zum Wagenmeister zu machen. Kurz, mein lieber M**, ich nahm das Anerbieten des edeln Mannes an, und hatte nicht Ursach es zu bereuen. Nach vier Wochen machte er mich zum Wagenmeister, und nun sind wir schon acht Monate lang unzertrennliche Gefährten. Mit meinen Untergebnen lebe ich im besten Vernehmen; die Weinflasche und ein mächtiger Schnurrbart haben mir bei ihnen den Ruhm eines braven Sanskülotte erworben.

Eines Tages mußte ich zu St. Hippolite an 10 der hochburgundischen Grenze eine Haberlieferung abholen. Der Ort liegt am Eingang eines lieblichen Thales. Mein Geschmak an kunstlosen Spaziergängen führte mich unvermerkt eine Meile von meinem Quartier in einen einsamen Grund, den ein kleiner Gießbach durchschlängelt. Hier traf ich einen ehrbaren Mann in einem dunkelgrauen Ueberrok an, der die frischen Ruinen einer Einsiedlerzelle mit tiefer Wehmuth zu betrachten schien. Sein Ansehen hatte etwas stillfeierliches, sein Gesicht war blaß aber nicht eingefallen, seine Haare fiengen erst an sich grau zu färben. Als er mich wahrnahm, wollte er sich entfernen. Bleibt, mein Freund, rief ich ihm zu, ich bin nicht gekommen, Euch zu stören: Ihr suchet die Einsamkeit, ich auch. Der Mann sah mich mit liebreichem Ernst an und nickte mir seinen Gruß zu. Seine Augen standen voll Thränen; ich reichte ihm meine Hand. Vater, sagte ich, indem ich die seinige drükte, wenn Ihr unglüklich seyd, so sind wir Brüder. Nun erheiterte sich seine Mine: Euer Rock hat mich betrogen, sprach er leise, vergebt mir, junger Mann; Ihr wißt . . . . Ich weiß mehr, als ihr mir sagen könnt, unterbrach ich ihn; doch dieser Rock, den mancher Henker entehrt, ist bisweilen auch eine schüzende Hülle ihrer Schlachtopfer. Laßt uns ein Weilchen hier ausruhen.

11 Wir sezten uns unter eine Zitterpappel auf die Ruinen der Zelle, deren Eingang der Baum vordem zu beschatten schien. Der Mann blickte den Baum zärtlich an. Den hat meine Hand gepflanzet, sagte er; acht Jahre habe ich unter seinem Schatten gewohnet. Ach, die Unmenschen haben meine friedliche Wohnung zerstört!

Ich. Ihr habt hier gewohnt? Ihr waret also ein Eremit?

Er. Das war ich, und vielleicht gab es keinen glüklichern.

Du weißt, mein lieber M**, daß ich nie ein Freund der frommen Müssiggänger war, die unter so mannigfaltigen Masken unter uns umherwandelten. Die Physionomie des Mannes hatte jenes glatte Gepräge nicht, das die meisten Bettelmönche bezeichnet. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm meine Verwunderung über den Gram zu bezeugen, womit er die Trümmer seiner Klause betrachtete. Vergebt mir, mein Freund, sagte ich, Eure Stirne trägt das Mahlzeichen eines Denkers und das Licht des Geistes funkelt in Eurem Auge; wie ist es möglich, daß Ihr eine Lebensart betrauern könnet, die der Aberglaube erfand, und . . . .

Er. Die Gleißnerey zu ihrem Dekmantel wählte. Nicht wahr, das wolltet Ihr sagen? Wisset, junger Mann, daß nicht bloß Bigotterie und 12 Heucheley die Klausen erbauten, das Unglück und der Lebenseckel haben auch die ihrigen. Jene bleiben immer, was sie waren; diese werden bisweilen Schulen der Weisheit für ihre Bewohner.

Diese Antwort überraschte mich; der Mann, der also sprach, konnte kein gemeines Wesen und sein Leben konnte kein Alltagsleben seyn. Es freuet mich, fuhr ich fort, daß ich mich in meinem Urtheil nicht betrog. Unglückliche können nur von Unglücklichen lernen. – Darf ich wissen, was für ein Schicksal Euch in diesen Winkel der Erde verbannte?

Er. Noch niemand hat mich um meine Geschichte befragt, weil noch niemand den Stoff einer Geschichte bey mir ahnete. Ich habe keine Ursache mehr sie zu verhehlen und als eine warnende Beylage zur Chronik menschlicher Verirrungen kann sie Euch vielleicht nützen.

Ich bin der Sohn eines nicht unberühmten Arztes aus der Grafschaft Burgund. Ich widmete mich dem Stande meines Vaters. Nachdem ich meine Studien in Montpellier vollendet hatte, begab ich mich in die Hauptstadt, um mich unter der Leitung eines unsrer größten Meister, der ein Freund meines Vaters war, in der praktischen Heilkunst zu üben. Hier wurde ich mit der Philosophie des Zeitalters bekannt. Voltaire, Helvetius, 13 HollbachDer Verfasser des Système de la Nature. wurden meine Orakel. Die Religion meiner Väter, von der ich ohnehin nur die Aussenseite kannte, erschien mir als ein Gewebe von Pfaffenmährchen und schamlosen Betrügereyen. Mit diesen Grundsätzen kam ich in meine Heimath zurük, wo der Tod meines Vaters und einige glückliche Kuren mir bald eine ansehnliche Praxis verschaften.

Bis in mein sechs und dreissigstes Jahr blieb ich unverheirathet, und die Liebe, nicht aber die Wollust war mir fremd; diese genoß ich hinter dem Vorhange des Geheimnisses mit aller Ueppigkeit eines sybaritischen Egoisten. Ein junges Frauenzimmer aus einer ehrbaren Familie, das ich das Glük hatte aus den Armen des Todes zu reissen, flößte mir eine edlere Leidenschaft ein. Zephyrine war schön, und die schmachtende Mine einer Genesenden gab ihren Reizen einen rührenden Zauber, der sich meines ganzen Herzens bemächtigte. Mein Stand, mein Vermögen, vielleicht auch einige persönliche Vorzüge verschaften mir ihre Hand.

Zephyrine war tugendhaft; unter der Leitung eines einsichtsvollen Oheims, der ihr ihren Vater ersezte, hatte sie ihren Verstand durch die Lesung der besten Schriften unsrer Nation gebildet, und das Beispiel ihrer rechtschafnen Mutter, die sie kurz vor ihrer Krankheit verlohr, hatte 14 ihrem Herzen jene unbefangene Frömmigkeit eingeflößt, die auf kein Lehrgebäude, sondern auf ein glückliches Naturell und auf eine redliche Liebe zum Guten gegründet ist. Ich genoß an ihrer Seite eine Glückseligkeit, von der ich zuvor keinen Begriff hatte. Anfangs hütete ich mich, sie mit meinen Grundsätzen bekannt zu machen; nach und nach schien mir dieser Zwang unnüz, und endlich ward er mir lästig. Ich fieng an über ihre Andachtsübungen zu lächeln, und als sie mich fragte: warum ich sie nicht mit ihr theilte? begnügte ich mich ihr einige Broschüren in die Hände zu spielen, welche gewisse Gebräuche und Mißbräuche der Religion lächerlich machten. Sie las sie mit Vergnügen. Unvermerkt gieng ich weiter. Candide, die philosophie de la nature, und selbst die Fragen über die Encyclopädie wurden ihre Lieblingslektüre. Zum Unglük war unsre Ehe kinderlos. Von den heiligen Berufsgeschäften der Mutter entfremdet, brachte Zephyrine, welche ohnehin die rauschenden Zerstreuungen nicht liebte, die Stunden meiner Abwesenheit (und diese mehrten sich täglich), in meiner Bibliothek zu. Was ihr forschender Vorwiz da für eine Nahrung fand, könnt Ihr errathen. Das eingesogene Gift würkte, der Gottesdienst ward ihr gleichgültig, und wenn ich mir eine Spötterei über die Religion 15 erlaubte, sah ich sie oft mit schlauem Lächeln mir Beyfall zuwinken. O Freund! was für ein gefährliches Orakel ist ein Gatte ohne Religion für ein unerfahrnes Weib, das ihn liebt. Dennoch liebte mich Zephyrine; aber nun sollte ein andrer mir ihr Herz rauben.

Im fünften Jahr unsrer Ehe ward ich mit einem jungen Arzte bekannt, der seinem Vater, welcher das Kriegshospital unsrer Stadt bediente, beigeordnet wurde. Er brachte von Paris meine Philosophie aber zugleich die frechste Sittenlosigkeit mit, die er unter der Hülle der Musen und Grazien zu verbergen wußte. Nie habe ich einen liebenswürdigern Satan gekannt. Sein Umgang bezauberte mich noch mehr als meine Gattin, und in weniger als einem Jahre war er unser unzertrennlicher Gefährte. Er besaß die Kunst der Deklamation in einem unnachahmlichen Grade. Auf unsern Spaziergängen, in meiner Gartenlaube, am Kamin war er unser Vorleser. Bald war es ein neues Schauspiel, bald eine profane Satyre, bald ein schlüpfriges Romänchen, womit sein gefälliger Eifer uns bewirthete.

Zephyrine fand täglich mehr Geschmack an dieser giftigen Speise, und endlich schlich sich mit ihr auch der Giftmischer in ihr unverwahrtes Herz. Ich bauete zu sehr auf ihre Treue, deren 16 Grundpfeiler ich doch selbst untergraben hatte, und war zu sehr von der scheinbaren Redlichkeit ihres Verführers verblendet, als daß ich den mindesten Verdacht hätte schöpfen sollen; im Gegentheil, je mehr der Geist meines Weibes sich emporschwang, je mehr sich ihr natürlicher Wiz ausbildete, desto mehr wuchs meine Liebe zu ihr; ich war stolz darauf, eine Philosophin zur Gattin zu haben. Ihre Reize, die in ihrer höchsten Blüthe standen, erhielten für mich durch die vermeintliche Verschönerung ihrer Seele einen neuen Glanz, und ich betete meinen Götzen nur um desto leidenschaftlicher an, da er das Werk meiner Hände war.

Die häufigen Besuche meines jungen Freundes, ob er gleich oft meine Abwesenheit dazu wählte, beunruhigten mich nicht; es schmeichelte meiner Eigenliebe einen Zeugen meines häuslichen Glücks zu haben, und wenn ich ihn mit einem Buch in der Hand an der Seite meines Weibes antraf, so freuete ich mich, daß ein so liebenswürdiger Gesellschafter die Sorge übernahm, ihr die Stunden ihrer Einsamkeit zu verkürzen. Ihr seht hieraus, junger Mann, daß meine Grundsätze meinen Verstand weit mehr als mein Herz verdorben hatten. Ich glaubte noch an Rechtschaffenheit, wie hätte sonst meine Verblendung so lange dauern, wie hätte der Urheber 17 meines Unglücks unbemerkt seinen höllischen Plan vollenden können?

Einst ward ich zu einem vornehmen Patienten auf das Land berufen. Die Krise, darinn ich ihn antraf, nöthigte mich, die Nacht und einen Theil des folgenden Tages bey ihm zu bleiben. Als ich nach Hause kam, war Zephyrine verschwunden. Ich erwartete sie bis gegen Mitternacht, allein vergebens. Ich eilte zu meinem Freunde; sein Bedienter sagte mir, er sey in aller Frühe verreist. Nun stieg in meiner Seele der erste Argwohn auf. Ich lief in meine Wohnung zurück; meine Baarschaft, die Zephyrine unter ihrem Schlüssel hatte, ihre besten Kleider und alle ihre Juwelen waren weg. Es war Sonntag. Meine Gattin war des Morgens ausgegangen, unter dem Vorwand eine Frühmesse zu besuchen. Sie hatte die Kirche nie ganz verlassen; sie diente ihr, wie ich nachher erfuhr, zum Vereinigungsorte mit ihrem Liebhaber, dem sie gewöhnlich in einen Garten folgte, den er seit einiger Zeit gemiethet hatte.

Nun war mein Unglück kein Räthsel mehr: Wuth und Verzweiflung bemächtigten sich meiner Seele; noch mehr, ich wollte dem Verräther seine Beute nicht lassen; warum sollte ich mich schämen es zu sagen? ich liebte die Treulose noch, das ganze Gewicht meiner Rache fiel auf ihren Verführer; ach! 18 mein Gewissen sagte mir noch nicht, daß Ich ihr Verführer war.

Durch meine ausgeschikten Kundschafter erfuhr ich, daß die beiden Flüchtlinge zwo Meilen von der Stadt Postpferde genommen, und die Landstrasse, die über Pontarlier nach Neufchatel führt, eingeschlagen hätten. Ich durfte nicht hoffen, sie unterweges zu erreichen, aber aufsuchen wollte ich sie, und dem Schänder meiner Ehre das Herz durchbohren. Nach einigen Tagen machte ich mich auf den Weg, ich folgte zu Pferd ihrer Spur, die ich izt verlohr, izt wieder fand, um sie wieder zu verlieren. Kurz, ich durchstreifte zween Monate lang die ganze Schweiz, ohne meine Beute zu erjagen, und endlich ward ich müde sie zu verfolgen.

Die mannigfaltigen Naturscenen, welche dieses herrliche Land mir darbot, die patriarchalische Einfalt seiner Landbewohner, die Ehrfurcht für Moralität, die selbst noch in den größern Städten herrscht, und mehr als alles dieses, die ernsthaften Betrachtungen, die auf meiner einsamen Wanderschaft in mir erwachten, und auf meinem schlaflosen Lager sich meiner Seele aufdrangen, hatten ihr nach und nach eine andere Stimmung gegeben. Ich konnte den Zuruf meines Herzens nicht mehr ersticken, das mich den Urheber meines Unglücks und den Tugendmörder meines Weibes nannte.

19 Ich beschloß in meine Vaterstadt zurückzukehren, und nahm meinen Weg durch die majestätischen Felsen des MünsterthalsMoutier grand val im Bistum Basel.. Schon hatte ich die Grenze meiner Provinz im Rücken, als ich in einer Dorfherberge einen alten Einsiedler antraf, dem die treuherzige Wirthin einen Becher Milch mit den Worten übergab: trinkt das, guter Vater, sie kömmt frisch von der Kuh und wird Euch wohlthun bey euerm Husten. Zitternd ergrif er den Becher und dankte der Wirthin mit heiserer Stimme. Ich trat ihm näher, er sah einer Leiche ähnlich, sein Gesicht war gelb und abgezehrt, sein hohles Auge erloschen. Ihr seyd krank, guter Alter, sagte ich zu ihm, indem ich ihn bei der Hand faßte. Sein Puls und seine keuchende Brust verriethen mir die lezte Periode der Schwindsucht. Er warf mir einen freundlichen Blik zu: Nicht wahr, es geht bald zu Ende? sagte er, indem seine dürre Hand die meinige drükte. Ihr seyd ernstlich krank, erwiederte ich, mich wundert, Vater, wie Ihr noch so aufrecht seyn könnet. Ich wohne nicht weit von hier, war seine Antwort, und wollte diese guten Leute zum Abschied noch einmal besuchen. Dieses sagte er in einem so ruhigen Tone, als ob er eine kleine Lustreise vorhätte.

Ich war betroffen, die stille Heiterkeit des Mannes erschütterte mich und machte meine Philosophie 20 irre. Ich beobachtete ihn schweigend, während ich ihn unterstüzte. Er blieb sich immer gleich, er sprach wenig, aber alles was er sagte, verrieth einen gesunden Verstand und ein herzliches Wohlwollen, dessen Ausdruck nichts von jenem frömmelnden Anstrich hatte, den die Leute dieser Art ihren Reden zu geben pflegen. Nun ergriff er seinen Stab um wegzugehen. Wartet noch einen Augenblick, guter Alter, das Gehen muß Euch sauer werden, in wenig Minuten hat mein Pferd abgefüttert, dann will ich Euch aufsitzen lassen, und nach eurer Zelle begleiten. Er nahm mein Anerbieten an; mit Mühe half ich ihm auf mein Pferd und ergriff den Zügel um es fortzuführen. Die Wirthin und ihre zwei Kinder standen vor der Thüre und schluchsten dem Greise, dem sie noch auf dem Pferde die Hand reichten, das rührendste Lebewohl zu, das ich jemals gehört hatte.

Mein Herz klopfte, es war gepreßt, es konnte die heisse Fluth kaum fassen, die es schwellte. Ich vermochte nicht zu sprechen, kaum hatte ich die Kraft, den Alten nach dem Wege zu fragen. Nach einer kleinen Stunde erreichten wir seine Klause. Ich hob ihn vom Pferde, und setzte ihn auf eine Bank, wovon Ihr hier noch die Trümmer erblicket. Ich setzte mich neben ihn: vielleicht, mein Vater, bin ich im Stand, Eure Leiden zu lindern. Ich bin ein Arzt, und will Euch aus der ersten Apotheke, die ich 21 antreffe, einige Arzneyen zusenden. Ich brauche, versezte er, keine Arzneyen mehr, mein guter Herr; vierzig Jahre habe ich in der Welt und fünf und dreyßig in dieser Einsamkeit gelebt. meine Wallfahrt ist vollendet. – Ich bewundere die Heiterkeit, womit Ihr mir dieses saget. – Wie so, mein Herr? sehnet Ihr Euch nicht am Abend eines mühsamen Tages nach dem Schlafe? Ich bin müde von meiner Wanderschaft und stehe am Rande meines Bettes, bereit, mich auszukleiden und zur Ruhe zu legen. – Oh, mein Freund! sagte ich, Ihr wisset nicht, wie viel dazu gehört, um mit dieser Gelassenheit vom Tode zu sprechen. Ich verstehe Euch nicht, erwiederte er, freylich mag der glückliche Mann in der Blüthe seines Lebens das Ziel desselben mit einem andern Auge betrachten, weil er es aus der Ferne erblickt, und bei dem Genusse des Gegenwärtigen das Zukünftige übersieht. Ach! seufzte ich, dieser glückliche Mann bin ich nicht; ich wähnte einst es zu seyn, aber ich selbst habe die süsse Täuschung zerstört. – Wenn's Täuschung war, so soll es Euch nicht gereuen, sie zerstört zu haben; man hat schon viel gewonnen, wenn man die Decke abgestreift hat, die uns die Wahrheit verbirgt. – Diese Rede drang mir ans Herz; Schaam und Verwirrung bestürmten es, eine unsichtbare Gewalt zog mich zum Greise hin; ich faßte den Entschluß, ihn bis an sein Ende nicht 22 zu verlassen, und mich an diese Säule zu lehnen, die noch im Hinsinken mir eine Stütze darbot.

Ich verließ den Einsiedler, nachdem ich ihn auf sein Lager gebracht hatte, und eilte in das nächste Städtchen, um einige Arzneyen für ihn zu holen. Bey meiner Rückkunft fand ich ihn todt auf seinem Bette. Seine Miene war die eines Schlafenden, den ein süsser Traum in sanfte Entzückungen wiegt. Seine rechte Hand ruhete auf einem abgegriffenen neuen Testament, das ihm zur Seite lag. Ein leiser Schauer ergriff mich, und dennoch verweilte mein Blick auf der ehrwürdigen Leiche. Ein brausender Strom von neuen Gedanken und Empfindungen öfnete sich den Eingang in meine Seele. Nur langsam erwachte ich aus meiner Betäubung. Ich steckte das Buch zum Andenken in meine Tasche, verschloß die Zelle und ritt nach dem Dorfe, wo ich den Eremiten angetroffen hatte, um der Wirthin seinen Tod anzuzeigen. Alles weinte bei dieser Nachricht, und nun erfuhr ich, daß der Einsiedler ehedem ein Kriegsmann war, den, wie die Rede gieng, ein unglücklicher Zweykampf, darinn er seinen Gegner erlegte, bewogen hatte, die Welt zu verlassen. Ich schoß die Kosten zu seiner Beerdigung her, und begleitete mit den Einwohnern des Dorfes den Redlichen zu Grabe.

Drey Tage blieb ich bei der guten Wirthin, die nicht müde werden konnte, mich von der 23 Frömmigkeit des Bruder Antons zu unterhalten, den, wie sie sagte, ihr Herr Pfarrer sehr hochschäzte. Sein Bild verließ mich nicht; ich beneidete ihm die heitere Stirne, die er mit sich in's Grab nahm. Meine ganze Philosophie, sagte ich zu mir selbst, reichte kaum hin, mich den Tod mit Gleichgültigkeit betrachten zu lehren, und dieser gewöhnliche Mensch konnte ihm mit frohen Blicken entgegen sehen. Nun fielen mir seine lezten Worte ein: man hat schon viel gewonnen, wenn man die Decke abgestreift hat, die uns die Wahrheit verbirgt. Wenn auch, dachte ich, das, was für ihn Wahrheit war, Hirngespinst ist, wenn auch die Hoffnung, die ihm sein Leben und seinen Tod versüßte, blosse Täuschung war, so ist es, Traun! die glücklichste Täuschung, der sich der Sterbliche überlassen kann, und es verlohnt sich wohl der Mühe, es zu versuchen, sich in diesen beneidenswerthen Zustand zu versetzen. Kurz, das Andenken an das Vergangene, die Furcht vor dem Gespött und selbst vor dem Mitleid meiner Mitbürger, die Melancholie, darein ich versunken war, und der natürliche Hang des Menschen zu den Extremen brachten mich auf den sonderbaren Entschluß, Bruder Antons Klause zu beziehen. Ich ließ sie ausbessern und so bequem als möglich einrichten, weil es mir nicht sowohl um die strenge Lebensart eines Anachoreten, als um die stille 24 Abgeschiedenheit eines Misantropen zu thun war. Doch nahm ich, um in meinem neuen Stande kein Sonderling zu scheinen, die Eremitenkutte an, und bezog nach wenig Tagen meine Zelle mit jener frohen Ungedult, womit ein Schiffbrüchiger in der ersten besten Herberge des festen Landes einkehrt.

Der Anbau und die Verschönerung meines kleinen Gartens beschäftigten mich in den ersten Wochen beynahe ausschließlich. Bisweilen besuchte ich die benachbarten Dörfer, um dem dürftigen Landvolk, das entweder hülflos zu Grunde geht, oder durch Quacksalber gemordet wird, in seinen Krankheiten beyzustehen. Einige glückliche Kuren erwarben mir in kurzer Zeit seine Liebe und einen Ruf, nach dem ich nicht strebte. Meine Klause verwandelte sich in eine reiche Vorrathskammer, die mich in den Stand setzte, das Elend der Gesunden eben sowohl, als die Leiden der Kranken zu erleichtern. Die Freudenthränen der Eltern, denen ich ein geliebtes Kind, und der Kinder, denen ich einen guten Vater, eine zärtliche Mutter wiedergab, fielen wie ein erquickender Balsam auf mein Herz, und öfneten es allmählich höhern Gefühlen.

Der Winter kam, meine Feldarbeiten hörten auf, ich brachte oft ganze Tage vor meinem kleinen Kamin zu, dem meine guten Nachbarn Holz im Ueberfluß zutrugen. In einer dieser müssigen Stunden 25 ergrif ich Antons neues Testament, das ich bisher als eine Reliquie aufbewahrt, aber noch nie geöfnet hatte: es fiel ein schmales Papier heraus, das ihm vermuthlich zum Zeichen diente. Ich las darauf folgende Worte aus Youngs Nachtgedanken: der Glaube ist nicht die Arbeit, sondern die Ruhe der Vernunft. Die Ruhe der Vernunft! rief ich, oh, die meinige bedarf der Ruhe! Vermuthlich hat sein Freund, der Pfarrer, ihn mit Youngs eremitischer Muse bekannt gemacht. Sonderbar, daß er sich gerade diese Stelle auszeichnete: hatte er vielleicht Zweifel? wenn er Zweifel hatte, so muß er sie besiegt haben, woher kam sonst seine Geduld in seiner beschwerlichen Krankheit, und seine Fröhlichkeit im Tode? Was würde ich nicht um die Aussicht geben, die noch in der letzten Minute seinem brechenden Auge vorschweben mußte!

Nun beschloß ich, die Quelle zu untersuchen, Aus welcher Bruder Anton einen Stoicismus schöpfte, der meine Weisheit beschämte. Anfangs konnte ich keinen Geschmack an einem Buche finden, das ich zu verspotten gewohnt war; es stand mit meinen Grundsätzen in einem zu grellen Contrast, um nicht auf jedem Blatte meine Vernunft zu empören. Unbegreifliche Dogmen und eben so unbegreifliche Wunder stellten sich ihrem Gang in den Weg. Oft legte ich seufzend das Buch auf die Seite, und 26 wünschte mir das Auge der frommen Einfalt, welches da göttliche Wahrheit sieht, wo ich nichts als Räthsel oder gar Ungereimtheiten erblickte.

Endlich schlug ich einen andern Weg ein, den das Evangelium selbst mir angab. Trotz aller Einwendungen meiner Dialektik versuchte ich es, seine Moral zum Prüfstein seines Werthes zu machen. Mein Urtheil blieb nicht lange zweifelhaft: Die erhabene Einfalt dieser Sittenlehre, die rührenden Muster von uneigennüziger Menschenliebe und heldenmüthiger Aufopferung, die ihr zu Belegen dienten, erwärmten mein Herz und zeigten ihm die Würde und Bestimmung des Menschen in einem ganz neuen Lichte. Die große Idee von einem Urquell der Vollkommenheit, aus dem alle vernünftige Wesen Weisheit und Glückseligkeit schöpfen sollen, lächelte mich an, und indem sie mir die Tugend als eine Aehnlichkeit mit ihm vorstellte, zündete sie in mir die Begierde zu ihm hinaufzusteigen.

Sie machte meinem Herzen eine Gottheit unentbehrlich, und half meiner Vernunft das System einer anarchischen Weltregierung bestreiten, das den sittlichen Vervollkommnungstrieb im Menschen erstickt und dem Leidenden nichts als das patet exitus des Seneka, das ist, den Selbstmord übrig läßt, wenn es ihm nicht gelingt, sich mit einer Unempfindlichkeit zu wafnen, die seiner Natur fremd ist.

27 Freylich wurde mir oft heute dunkel, was gestern mir hell war; aber auch in meiner Philosophie entdeckte ich häufige Dunkelheiten, und der bloße Gemeinsinn sagte mir, daß es in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens Pflicht sey, zwischen zween ungewißen Wegen denjenigen zu wählen, der den Wünschen und Bedürfnißen des Rechtschaffenen die meiste Befriedigung verspricht.

Wie war mir nun der Lehrer willkommen, der den Glauben aller gesitteten Völker an Unsterblichkeit zu einem Orakel der Gottheit erhob! Wie mußte ich den Einzigen lieben, der sich bloß darum an die Spitze der Menschheit stellte, um sie durch das Band der Vollkommenheit in einen moralischen Staat zu vereinigen, der grenzenlose Weisheit und grenzenlose Güte zu Grundpfeilern und die Ewigkeit zur Zeitrechnung hat! Seine Lebensgeschichte, diese Epopee der Tugend erschien mir nun in einem ganz andern Lichte, und oft wenn ich einen kunstlosen Zug seines großen Karakters las, rief ich mit Rousseau aus: Ah! ce n'est pas ainsi qu'on invente.

Hier unterbrach ich den Eremiten, dessen blaßes Antlitz eine himmlische Flamme röthete. Sie wissen nicht, seltener Mann, wie wichtig mir Ihre Erzählung ist; allein gestehen Sie mir aufrichtig, blieben Ihnen nun keine Zweifel mehr übrig? verstunden Sie nun alles, was die Biographen dieses 28 Menschenfreundes von seiner Person und von seiner Lehre aufgezeichnet haben? Ich erwartete diese Frage, erwiederte er mit freundlichem Lächeln; wenn es Menschen gibt, die keine Dunkelheiten in diesen Urkunden finden, so gehöre ich nicht unter ihre Zahl; allein was ich nach aller angewandten Mühe nicht verstand, das überschlug ich, weil es nicht für mich geschrieben seyn konnte. Ich gieng daran vorüber, wie an einer unleserlichen Inscription des ehrwürdigen Alterthums, und fand in dem ungleich größern Reste des Buches immer noch genug, um meinen Geist aufzuklären, mein Herz zu bessern, und selbst meinen Glauben an ein Lehrgebäude zu befestigen, das auch an mir den Namen einer fröhlichen Botschaft rechtfertigte.

Unter diesem genußreichen Geschäfte verstrich mir der Winter wie eine flüchtige Woche, und der wiederkehrende Frühling fesselte mich noch mehr an meine Einsamkeit. Mein Eifer meinen Brüdern zu dienen, erhielt nun eine edlere Nahrung, es that mir wohl in ihnen der Wohlthäter meines Meisters zu werden, der sich mit einer so rührenden Großmuth für den Schuldner derjenigen erklärt hat, welche seinen leidenden Brüdern beystehen würden. Keine Dogmen, keine Mysterien, nur Tugenden sind das Gewicht, das er in die Wagschaale seiner liebevollen Gerechtigkeit legen will, und dieser 29 majestätische Gedanke erhob meine Religion über alle Zweifel und Grübeleyen der Theologie.

Ohne alles zu glauben, was die Kirche glaubt, besuchte ich von Zeit zu Zeit die benachbarten Tempel. Anfangs that ich es bloß um die guten Landleute nicht zu ärgern, die mich Armen für einen Heiligen hielten. Nach und nach wurde das Wesentliche des Gottesdienstes mir ehrwürdig, und das Ausserwesentliche erträglich; kurz, nach zwey Jahren war mein Entschluß, in diesem reizenden Thale zu leben und zu sterben, entschieden, und ich meldete ihn dem vertrauten Freunde, den ich zum Verwalter meines Vermögens bestellt hatte.

Vier Jahre waren mir unter friedlichen Selbstbetrachtungen und unter der glücklichen Ausübung einer Kunst verstrichen, die das gutmüthige Volk troz aller meiner Protestationen für wunderthätig hielt, als ich eines Abends in einem zwo Meilen von hier gelegenen Flecken zu einer kranken Person gerufen wurde, die des Tages vorher auf der Landkutsche daselbst angelangt war und sich so übel befand, daß sie ihre Reise nicht weiter fortsetzen konnte. Ich folgte dem Boten in die Herberge und ward in eine abgelegne Kammer geführt, wo die Kranke lag. Eine Nachtlampe stand neben ihrem Bett auf einem kleinen Tische. Ich schlug den Vorhang zurück; sie hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Reichen 30 Sie mir Ihre Hand, Madame, sagte ich, indem ich mich über das Bett neigte. Sie wandte sich hastig um, stieß einen lauten Schrey aus, und fiel in die heftigsten Zuckungen. Ach! es war mein armes Weib; sie hatte mich erkannt und ungeachtet ihr kaum noch die Grundlinien ihrer vorigen Bildung übrig blieben, erkannte ich sie nun auch. Ich rafte alle meine Kräfte zusammen um meinen tödlichen Schrecken vor der Magd zu verbergen, die mich auf das Zimmer begleitet hatte. Alle Hülfsmittel der Kunst wurden an der Kranken verschwendet, allein vergebens, um Mitternacht verschied sie, ohne daß ich sie auch nur auf eine Minute zu sich selbst bringen konnte. Ihre Seele war entflohen, aber noch immer war ihr starrer Blick auf mich gerichtet, und ihr halb offener Mund schien meinen Namen aussprechen zu wollen.

Ich weiß, edler Fremdling, Sie erwarten von mir keine Schilderung meines damaligen Zustandes; die furchtbarsten Bilder der Hölle wären zu matt, zu farbenlos für mein Gemälde. Ich brauchte mehr als eine Stunde mich zu erholen. Der Wirth schrieb meine Erschöpfung dem Schrecken und dem Mitleiden mit der Verstorbenen zu und drang mir ein Glas Wein auf, das mich, weil ich dieses Getränk nur selten geniesse, würklich erquickte. Unter dem Vorwand, einige Kundschaft über den Stand und 31 das Vaterland der Verstorbenen einzuziehen, schlug ich ihm vor, ihre Taschen zu durchsuchen, die unter ihrem Hauptkissen lagen. Wir fanden einige Dukaten Geld und einen Brief, an dem ich sogleich die Unterschrift ihres Verführers erkannte. Er war aus Augspurg geschrieben. »Wir müssen uns trennen, Zephyrine,« hieß es darinn, »das Glück ruft mich nach Norden, wohin Du mir nicht folgen kannst. Beykommende Anweisung wird zu Deiner Rückkehr in's Vaterland hinreichen. Lebe wohl.«

Dieser Brief weckte meine schlummernden Leidenschaften wieder auf. Eifersucht und Rache kochten in meinem Busen. In dieser Fieberwuth würde ich den Bösewicht zerrissen haben, wenn er in meiner Gewalt gewesen wäre. Bald aber ergriffen mich ganz andere aber noch weit schädlichere Gefühle. Zephyrine lag als ein Schlachtopfer vor mir, das ich erwürgt hatte. Ich konnte ihren Anblick nicht aushalten; ich taumelte wie ein Trunkener von ihrem Sterbebette hinweg, und ohne den Anbruch des Tages zu erwarten, verließ ich diese Wohnung des Entsetzens. Vergebens suchte der Wirth mich aufzuhalten. Ich empfahl ihm die Beerdigung des Leichnams und eilte, wie von den Geistern des Abgrunds verfolgt, zum Flecken hinaus.

Die Nacht war finster. Todesstille lag auf dem Felde und Todesschauer beflügelte meine Schritte; 32 Zephyrinens Schatten schien mir zur Seite zu wallen; ich redete sie an; ich streckte die Arme nach ihr aus; ich beschwor sie mit gefaltenen Händen, dem Urheber ihres Unglücks zu vergeben. Zahllose Tage und Nächte brachte ich in Thränen zu, und ohne den Beystand eben der Religion, die ich so lange verachtet hatte, wäre die schauderhafteste Verzweiflung mein Loos gewesen. Allmählig heilte ihre wohlthätige Hand die Wunde meines Herzens; die Ruhe kehrte in meine Klause zurück und ich fieng wieder an, das Glück eines der Menschheit gewidmeten Daseyns zu schmecken, als die Revolution ausbrach. Im ersten Jahr änderte sie nichts in meiner Lage. Meine Ermahnungen und das Vertrauen, das ich mir bey dem Landvolk erworben hatte, trugen sogar vieles dazu bey, die Ränke der Aufwiegler zu vereiteln und Ruhe und Ordnung in meiner Nachbarschaft zu erhalten. Bey der Aufhebung der Klöster und Einsiedeleyen traten einige wackere Bauern zusammen, und kauften der Nation meine Klause ab; ach! sie wußten wie lieb sie mir war, und überliessen sie mir zum lebenslänglichen Genusse. Ich vertauschte blos meine Kutte mit einem Bürgerkleid, und fuhr fort hier zu wohnen, bis vor drey Monate eine zusammengerafte Räuberhorde unter dem Namen der Revolutionsarmee auch in dieses Thal drang und die Hütte des Friedens in einen Schutthaufen 33 verwandelte. Man hatte mich ihnen als einen verkappten Eremiten geschildert, und sie würden mich wo nicht des Lebens, doch gewiß der Freyheit beraubt haben, wenn nicht ein paar ehrliche Nachbaren mich gewarnt, und, so lange das Gewitter anhielt, mich bald in einem Keller, bald auf einem Heuboden verborgen hätten. Seitdem der Sturm sich gelegt hat, kann kein Bitten, keine Furcht mich abhalten, wöchentlich wenigstens einmal die Ruinen meines Asyls zu besuchen, in dem ich das höchste Gut des Lebens fand. Ach warum muß ich die süsse Hoffnung aufgeben, einst in dem Schoose dieser mir so heiligen Erde von meiner Pilgrimschaft auszuruhen!

Hier endigte der Mann seine Erzählung. Ich habe so viel möglich seine eignen, mir unvergeßlichen Worte beybehalten, ohne zu fürchten, Dich, mein lieber C**, durch ihre Weitläuftigkeit zu ermüden. Mit vollem Herzen dankte ich ihm für die lehrreiche Geschichte, die mir ihren Helden so ehrwürdig und so lieb machte und verließ ihn mit dem festen Vorsatze diese Gegend nicht zu verlassen, ohne ihn noch einmal besucht zu haben.

Bey meiner Rückkunft ins Hauptquartier erzählte ich meine Begebenheit meinem Beschützer. Den Mann können wir brauchen, sprach er, der Feldarzt im Lazareth zu Pruntrut ist zur Armee berufen worden und wir haben Mangel an tauglichen Subjekten. 34 Ich will deinen neuen Freund der Oberdirektion vorschlagen und bin gewiß, daß er ihr willkommen seyn werde. Ganz wohl, erwiederte ich, wenn ich nur seiner Einwilligung eben so gewiß wäre. Seine Menschenliebe, antwortete der Vicomte, wovon Du mir ein so einnehmendes Bild machst, bürgt mir dafür, und über dem würde diese Verpflanzung ihn vor allen Verfolgungen schützen, denen er in die Länge schwerlich entgehen dürfte Kurz, mein Freund, der Anschlag gelang; meine dringenden Vorstellungen, meine zärtlichen Bitten bewogen den edlen Roger, (dieses ist sein eigentlicher Name) die Stelle anzunehmen, welche die Oberdirektion ihm um desto williger übertrug, da Roger einem ihrer Mitglieder als ein sehr geschickter Arzt bekannt war. Sein Abschied von seinen ehrlichen Gastfreunden bewegte mich zu Thränen; er versprach bey ruhigern Zeiten zu ihnen zurückzukehren und seine Tage in ihrer Mitte zu beschliessen.

Kaum hatte er sein Amt eine Woche verwaltet, so ward er schon von den Leidenden, die seiner Pflege anvertraut waren, als ein Schuzengel betrachtet. Er behandelte sie mit warmer Theilnahme, und ohne sich an die gewöhnliche Regel zu binden, verweilte er oft Stunden lang an den Betten derjenigen, die seiner Hülfe oder seines Trostes am meisten bedurften. Denn da der Eintritt in die Lazarethe den 35 Geistlichen versperrt ist, so benutzt er mit weiser Vorsicht jede Gelegenheit, den Sterbenden, deren Herz er schon zuvor als Arzt gewonnen hat, als Bote der Religion ein Wort der Stärkung zuzuflüstern, wofür oft ihr letzter Blick, ihr letzter Hauch ihn noch segnet.

Vor vierzehn Tagen besuchte ich ihn, und um ein Augenzeuge seiner wohlthätigen Bemühungen zu seyn, ließ ich mich in den Krankensaal führen, wo er eben seine Runde machte. Kaum war ich hineingetreten, so rief aus einer Ecke eine Stimme: Gott! er ists! ja, ja, er ists! Ich warf einen Blick auf den Rufenden, und erkannte in ihm den redlichen Duval, dem ich meine Rettung verdanke. Ich flog auf ihn zu, ich drückte ihn an mein Herz; er hatte bey der Rheinarmee eine Schußwunde bekommen, und wurde mit einigen Cameraden nach den Bädern von Bourbonne geschickt. In Belfort überfiel ihn ein kaltes Fieber, und weil das dortige Hospital übersetzt war, so wurde er in das Pruntruter abgeführt. Dem guten Doktor war diese Scene ein Räthsel, als ich ihm aber die edle That dieses treuen Dieners im Vertrauen erzählte, so ward er ein vorzüglicher Gegenstand seiner Sorgfalt. Da ich hier zu Lande unter dem Namen Duval bekannt bin, so nannte ich den Patienten meinen Vetter, und unter diesem Titel konnte ich ihn mehrmals ohne Verdacht besuchen. Nun ist er wieder völlig hergestellt, und 36 da sein Weg ihn an dem Orte deines Aufenthalts vorbeyführt, so benutze ich diesen Kanal, um dir einen umständlichen Bericht von meinem Schicksal zu geben. Du siehst, mein lieber M**, daß es erträglicher ist, als ich es hoffen durfte, entschieden ist es noch nicht, und der Himmel weiß, was noch aus mir werden wird. Die Proscriptionen vermehren sich täglich, täglich umgeben uns neue Greuel. Mögest du, mein theurer Freund! dich unbemerkt durch die Gefahren hindurchschleichen, welche jedem Rechtschaffnen drohen. Ich lese beynahe kein Zeitungsblatt, ohne den Namen eines mir bekannten Schlachtopfers mit Thränen zu benetzen. Gott! wie lange wird dieser Zustand dauern? Melde mir ja, wie es dir und den Deinigen geht; Duval wird bey seiner Rückreise unfehlbar bey dir einsprechen. O möchte mir noch einmal das Glück zu Theil werden, meinen Busenfreund zu umarmen.

 
Zweyter Brief.

Duval ist noch nicht zurück, mein lieber M**, und ich schreibe Dir schon wieder, um dich vor allen Dingen zu bitten, ihm zu sagen, daß er mich nicht mehr in Delsperg, sondern im Feldlazareth zu Pruntrut antreffen wird. Die Ursache meiner Verpflanzung muß ich Dir erzählen.

Vor zween Monaten erhielt mein Freund Befehl, mit einer Division des Fuhrwesens zur Armee 37 aufzubrechen. Ich hatte eben so wenig Lust ihn zu begleiten, als ohne ihn hier zurück zu bleiben; meiner Verwandlung ungeachtet fürchtete ich bey der Armee erkannt zu werden, zu der noch erst kürzlich verschiedene Bataillons aus meiner Provinz gestossen sind und in Delsperg konnte mich die Abwesenheit meines Beschützers vielen Unannehmlichkeiten aussetzen, denen die Klugheit mir befahl, mich zu entziehen. Ich eröfnete meine Verlegenheit meinem netten Freunde, dem Doktor, den ich jede Woche besuchte, und bey jedem Besuche mehr schätzen und lieben lernte. Ich kann Ihre Besorgnisse heben, sagte er, wenn Sie sich entschliessen wollen, das Amt eines Spitalschreibers zu übernehmen. Der wilde Jakobiner, der es jezt versieht, bat mich erst heute noch, ihm zu einem einträglichern Posten zu verhelfen. Als Wagenmeister würde er sich besser stehen, und wenn Ihr Freund in diesen Tausch willigt, so wird Ein Wohnplatz uns vereinigen und Ihnen eine Sicherheit gewähren, die Sie so leicht nirgends finden würden. Ich besprach mich hierüber mit dem Vicomte, der den Vorschlag genehmigte und mir dadurch einen neuen Beweis seiner unbegrenzten Freundschaft gab. In vier und zwanzig Stunden war der Handel richtig. Die Trennung von meinem lieben C** fiel mir sehr schwer; er begleitete mich hieher nach Pruntrut, wo mein 38 Vorgänger mir mit grosser Freude sein Protokoll übergab und sein Quartier einräumte. Bruder, sagte er zu mir in seiner modischen Kraftsprache, die Bürgerin La Rive ist zwar eine Betschwester, aber sonst ein gutes Weib, die mir nichts abgehen ließ. Ich gab ihr für den Tisch, was mir beliebte; in Papier versteht sichs, auch wollte ich ihr nicht gerathen haben, zu muchsen. Sie wird dich auf den Händen tragen, wenn du ihr Crucifix und ihr Theres'chen unangetastet lässest. Dieses ist ein allerliebstes Geschöpf, ein Mittelding zwischen einer Magd und einer Gesellschafterin, aber scheu wie eine wilde Katze und keusch wie Susanna. Nur zweymal versuchte ich es, mit ihr zu fraternisiren, allein das erstemal glitschte sie mir wie ein Aal aus den Händen; das anderemal rief sie gar um Hülfe, und die Alte, welche flugs bey der Hand war, bat mich mit einem so heiligen Gesichte, das arme Mädchen ruhig zu lassen, wenn ich sie nicht zwingen wollte, den Commandanten, der leider keinen Spaß versteht, um Schutz anzuflehen, daß ich für das rathsamste hielt, meinen Eroberungsplan aufzugeben. Ich suchte mich anderswo zu entschädigen, und so blieben wir die besten Freunde. Mach es auch so, Bruder, oder wenn du willst, so versuche es, ob du bey der kleinen Mater Dolorosa glücklicher bist, als ich. Aber, bey Gott, ich würde dich beneiden, wenn du den 39 Weg zu ihrem Herzen und in ihre Kammer finden solltest, denn die traurige Mine abgerechnet, wäre das Mädchen würdig, in Mahomeds Paradiese zu figuriren.

Ich achtete wenig auf das Geschwäz, und als ich die Frau La Rive, welche die Wittwe eines Beamten des ehemaligen Fürsten ist, um die Gefälligkeit ersuchte, mich gleich meinem Vorgänger an ihren Tisch zu nehmen, war Therese nicht zugegen. Ich suchte die schüchterne Verlegenheit zu zerstreuen, womit die gute Frau meinen Antrag anhörte, und da wir allein waren, sagte ich zu ihr: fürchten Sie nicht, Madame, mir meine Bitte zu gewähren. Sie werden nie Ursache haben, Ihre Gefälligkeit zu bereuen. Mein Ton und besonders das Wort Madame erheiterte ihre Stirne, und als ich ihr sechs Louisdor mit den Worten übergab: die Zeiten sind schwer, es ist billig, daß ich voraus bezahle, so sah sie mich mit einem Erstaunen an, das keine Spur des Eigennutzes verrieth; sie schien mir blos sagen zu wollen: Du gehörst also nicht zu den Hummeln, die uns aussaugen.

Bey Tische sah ich Theresen, und fand, daß ihr jakobinischer Lobredner mir nicht zu viel von ihr gesagt hatte. Mahle Dir, mein lieber M**, eine schlanke Nymphengestalt von etwa neunzehen Jahren, mit schwarzen Augen und Locken und einer Stirne, 40 die der Thron der Unschuld und des Friedens ist. Nie habe ich diese beyden Mahlzeichen der Jungfräulichkeit inniger verschmolzen und schöner ausgeprägt gesehen. Ihre etwas blasse Gesichtsfarbe erhöht das reine Carmin ihres Mundes, der selten lächelt und dennoch eine Grazie nicht entstellen würde. Ich blickte sie während der Mahlzeit nur einmal an: sie schlug die Augen nieder; es war nicht Verwirrung, mein Blick konnte sie nicht erregen, sondern jene schöne Blödigkeit, die sich vor einem vorübergehenden Fremden zurückzieht, um ihn zu hindern, sie anzureden. Ich hatte den Muth nicht, sie zum zweitenmal anzusehen. Was ist diese Ehrfurcht gegen ein Dienstmädchen, wenn es nicht Ehrfurcht vor der Tugend ist?

Ich sprach viel mit meiner Wirthin, die ohne geschwätzig zu seyn, die Unterredung nie stocken ließ. Sie wollte mir beweisen, daß ich ihr Vertrauen eingeflößt hatte, und die zwanglose Ruhe, womit Therese uns zuhörte, ließ mich muthmassen, daß ich ihr bereits von einer günstigern Seite bekannt war, als der rohe Sanskülotte, dessen Platz ich einnahm. Es war mir unaussprechlich wohl in dieser Gesellschaft, und ich konnte mich nicht enthalten, dem guten Doktor mein Glück zu rühmen, und ihm dafür zu danken. Ich kenne Ihre Wirthin, erwiederte er, es ist ein rechtschaffenes Weib; sie ließ mich vor 41 einigen Wochen in einer Krankheit berufen, in welcher die junge Therese sie mit einer so kindlichen Sorgfalt verpflegte, daß ich sie für ihre Tochter hielt; sie sagte mir aber, sie sey eine unglückliche Waise, die sie zu sich genommen habe. Das Mädchen selbst scheint nicht immer in der Dunkelheit gelebt zu haben, darein sie sich zu hüllen sucht. Sie wich aber auch den gleichgültigsten Fragen aus, die mir ein Licht über ihre Herkunft hätten verschaffen können. Ich wollte nicht unbescheiden seyn, und ich rathe Ihnen, mein Freund, das Geheimniß des armen Kindes zu ehren.

Ich folgte diesem Rath und lebte mehr als einen Monat in meiner neuen Freystatt, ohne Theresen anders als mit der Achtung zu begegnen, die ihr Geschlecht von mir forderte; es konnte mir aber so wenig als meinem Freunde entgehen, daß sie mit ihren äussern Reitzen eine Geistesbildung verband, die unmöglich das blosse Werk der Natur seyn konnte. Nach und nach nahm sie Theil an meinen Gesprächen mit der Frau La Rive; sie that es aber stets mit einer Behutsamkeit, die mich deutlich wahrnehmen ließ, daß sie unwissender scheinen wollte, als sie es wirklich war.

Eines Abends fiel die Unterredung auf die zahllosen Schlachtopfer der Revolution. Ich verbarg meinen Abscheu vor den Maasregeln nicht, wodurch man 42 seit einiger Zeit die neue Regierung zu befestigen sucht, und sprach mit inniger Rührung von dem unschuldigen Blute, das jeden Tag den Boden meines unglücklichen Vaterlandes benetzet. Therese hatte sich allmählich aus dem Gespräche zurückgezogen, plözlich fieng sie an zu schluchzen, ein Thränenstrom stürzte über ihre Wangen, sie verbarg ihr Gesicht in ihr Taschentuch, stand von ihrem Stuhl auf und verließ das Zimmer.

Die Wittwe war betreten; zum erstenmal schien sie sich vor mir zu fürchten. Fürchten Sie nichts, Madame, sagte ich, indem ich ihre Hand ergriff, und suchen Sie, ich beschwöre Sie darum, Ihre junge Freundin zu beruhigen; ich werde mir nie wieder erlauben, einen Gegenstand zu berühren, der für das Herz des guten Kindes zu schauderhaft ist. Oh, glauben Sie mir, auch unter denen, die Sie als Feinde betrachten müssen, giebt es noch Menschen. Wenn Sie mich nicht unter diese Menschen zählen, so reden Sie, und morgen verlasse ich Ihr Haus. Ich könnte Ihr Mißtrauen auf eine andre Art zerstreuen . . . . . Hier hielt ich inne; ich fühlte, daß ich schon zu viel gesagt hatte. Zum Glücke gab die Wittwe auf meine letzten Worte nicht acht; es that ihr weh, mich gekränkt zu haben, und sie versicherte mich mit Thränen in den Augen, daß sie nicht den geringsten Zweifel in meine Rechtschaffenheit 43 setzte. Allein, fügte sie hinzu, Sie wissen nicht . . . ach die arme Therese! Sie schwieg, und ich wußte unsre beyderseitige Verlegenheit nicht besser als durch meine Entfernung zu endigen.

Ich bedurfte der Einsamkeit, um dieser Szene nachzudenken, die einen tiefen Eindruck auf mich machte, und mir Theresen in einem neuen, aber freylich immer noch dunkeln Lichte darstellte. Doch vielleicht machte eben diese Dunkelheit sie mir noch interessanter; in den Augen der Einbildungskraft verschönert nichts mehr als ein Schleyer, und meine Fantasie ließ mich in dem Incognito, worein Therese sich zu verbergen schien, eine Person von meiner Caste, eine Märtyrerin der Tyranney erblicken, die sich unter der Maske einer Dienstmagd vor der Wuth ihrer Henker verbergen mußte. Gierig faßte ich diese Idee auf, sie bestätigte meine schon mehrmals gemachte Wahrnehmung, daß der Friede, der auf der Stirne des himmlischen Mädchens wohnte, nicht sowohl das Gepräge einer harmlosen als einer gelassenen Seele trug; es war die Stille, die auf einen Sturm, die Ruhe, die auf einen siegreichen Kampf folgte. Nun wurde Therese durch die Aehnlichkeit unsrer Schicksale mit mir verwandt, und diese Verwandschaft rechtfertigte vor meiner Vernunft die Leidenschaft, die schon einige Zeit in 44 meinem Herzen glimmte, und izt mit einer mir bisher unbekannten Gewalt aufloderte.

Du weist, mein Freund, daß ich die Liebe nie als eine ernsthafte Sache behandelte. Als der zweyte Sohn meiner Familie hatte ich keine Ansprüche auf das väterliche Vermögen, und mußte allen Aussichten auf eine anständige Heyrath entsagen. Einige vorübergehende Liebschaften, die man bey uns amours de garnison nannte, und wobey ich mirs zu einem Grundsatze der Ehre machte, den Frieden der Familie nicht zu stören, vielweniger die Unschuld zu bedrücken, hatten kaum die äussere Fibern meines Herzens gestreift, und als der Tod meines ältern Bruders mir mit dem Erbe meiner Vorfahren das Recht einräumte, in den Armen einer Gattin einen edlern Genuß zu suchen, so nöthigte mich die Revolution, alle Heyrathsplane auf bessere Zeiten zu versparen. Zwar kostete dieser Zwang mich nichts, weil ich den Gegenstand noch nicht gefunden hatte, der meinem Herzen jene reinen höhern Gefühle einflössen konnte, die allein fähig sind, es zu fesseln.

Diese Verwandlung war Theresen vorbehalten; sie lehrte es eine Liebe kennen, bey der die Sinne blos eine Nebenrolle spielen, und deren Wünsche durch die moralischen Reize ihres Gegenstandes genährt und veredelt werden. Allein ungeachtet das seltene Geschöpf in meinen Augen mehr war, als es 45 zu seyn schien, ungeachtet ich sogar die neue Ordnung der Dinge zu Hülfe nahm, um eine Verbindung auch mit einem Bürgermädchen zu entschuldigen, so behielt ich doch genug Herrschaft über mich, um Theresen meine Leidenschaft zu verschweigen. Was hatte ich ausser meinem Herzen dem guten Kinde anzubieten? Meines Standes, meines Vermögens und selbst meines Vaterlandes beraubt, konnte ich sie blos zur Gefährtin meines Unglücks machen, und indem sie ihre Hand in die meinige legte, zog ich sie mit mir in den Abgrund, der mich jeden Augenblick zu verschlingen drohte.

Doch was mein Mund ihr verschwieg, das mußten meine Blicke, meine erstickten Seufzer, meine Unterredungen ihr verrathen. Diese nahmen allmählig jenen sanftern, zärtlichern Ton an, den das Ohr des Mädchens, auch wenn es noch nie geliebt hat, von dem Tone der Höflichkeit und der blossen Achtung gar bald zu unterscheiden weiß. Therese muß diese Veränderung bemerkt haben: das lebhaftere Rosenroth, das ihre blassen Wangen färbte, wenn ihr Blick dem meinigen begegnete; die Vorsicht, womit sie ihre Ausdrücke abwog, sobald ich das Gespräch auf einen Gegenstand der Empfindsamkeit lenkte; die schüchterne Eile, womit sie mehrmals das Zimmer verließ, wenn ich mich allein bey ihr befand; alles dieses bewies mir, daß sie in 46 meinem Herzen gelesen hatte. Ob diese Entdeckung dem ihrigen schmeichelte oder nicht, war mir so leicht nicht zu errathen. Wenn sie mir auswich, so schien mirs, als ob sie mehr vor sich selbst, als vor mir sich fürchtete. Bey Tische und überhaupt in Gegenwart ihrer Pflegmutter, erwies sie mir hundert kleine Aufmerksamkeiten, die man einem völlig gleichgültigen Gegenstande nicht erweißt, ihr Gespräch war alsdann immer unbefangen, bisweilen munter und oft mit einem gewissen Accent des Zutrauens bezeichnet, den ich nicht anders als zu meinem Vortheil erklären konnte.

Vor einigen Tagen fiel die Unterredung bey Tische auf die Beispiele des weiblichen Heldenmuths, woran die tragische Geschichte unsrer Zeit so reich ist. Die Gelegenheit hiezu gab meine Wirthin, welche einst die Gattin des Minister Roland auf ihrer Schweizerreise kennen lernte. Ich würde diese Materie nie berührt haben; nun aber konnte ich mich nicht enthalten, von dem grossen Karakter dieses Weibes so viel zu erwähnen, als uns aus den öffentlichen Blättern bekannt ist. Auch wenn man von ihren Meynungen abgeht, sagte ich, so muß man doch diese neue Römerin bewundern. Ich bedaure ihren Mann, daß er nicht an der Seite eines solchen Weibes sterben konnte; doch gestehe ich, daß ich sie lieber zu meiner Freundin als zu meiner 47 Gattin gewählt haben würde. Und warum das? fragte Therese. Ey nun, erwiederte ich etwas verwirrt, als Gattin wäre sie mir zu wenig Weib gewesen, als Freundin hingegen hätte sie alles vereinigt was ich in einer Freundin suche: männliche Festigkeit mit weiblichem Zartgefühl verschwistert. Sie fordern viel von einer Freundin, versezte Therese. Ich fodere es, antwortete ich, weil ich weiß, daß es zu finden ist. Auch bedürfen diese Eigenschaften eben keines Blutgerüstes, um sichtbar zu werden: das Stillschweigen einer edeln Dulderin, der hohe Friede, der ihre Stirne erheitert und aus ihrem oft feuchten Auge hervorglänzt, sagen dem aufmerksamen Forscher, was er in einer solchen Freundin finden, was er von ihr erwarten kann. Ein namenloser Blick Theresens schien mir zu sagen: Wie? Du kennst mich? Er entwischte ihr wider ihren Willen, denn in der nemlichen Sekunde ließ ihr Auge den Vorhang vor dem Spiegel ihrer Seele niederfallen. Sie schwieg, ich schwieg auch, allein nie sprach mein Herz lauter, nie war es beredter, als während dieser Pause. Izt gieng Frau La Rive auf einige Minuten hinaus; vermuthlich schien es Theresen Ziererey ihr auf dem Fusse zu folgen; sie fieng an das Tischgeräth wegzuräumen. Ich trat ehrerbietig zu ihr hin und nahm sie bey der Hand: In Ihrem Herzen, edle Therese, liegen alle 48 Schätze der Freundschaft und Liebe vereinigt. Wohl dem Manne, für den es sich öfnet. Oh möchte ich Sie wenigstens meine Freundin nennen dürfen! Indem ich dieses sagte, drückte ich ihre Hand an meinen Mund. Therese war bestürzt, sie hatte Mühe sich aufrecht zu halten, ihre Hand lag zitternd in der meinigen; sie zog sie nicht eher zurück, als bis ihre Pflegmutter sich vor der Thüre hören ließ. Ich half Theresen, wie ich schon mehrmals gethan hatte, die kleine Tafel an ihre Stelle rücken und da die Stunde mich bald darauf in mein Hospital rief, so verließ ich das Zimmer, ohne eine Minute gefunden zu haben, sie noch einmal allein zu sprechen.

Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, mein lieber M**, daß ich mein Herz bei dem holden Mädchen zurück ließ. Selbst meinen Verstand brachte ich nicht mit in meine Schreibstube, und meine Feder wollte mir nicht gehorchen; gleichwohl hatte meine Arbeit Eile. Ich hatte einen langen Amtsbericht des Doktors ins Reine zu schreiben, und des folgenden Morgens sollte er abgehen. Gegen Abend brachte ich ihn endlich zu Stande. Roger las ihn durch und fand, daß ich nicht nur verschiedene Worte, sondern hin und wieder ganze Zeilen ausgelassen hatte. Ey, ey, Freund! wo haben Sie heute ihren Kopf? sagte er lachend, indem er mir das Papier 49 zurückgab. Ich erbot mich, zu Hause eine correctere Abschrift zu machen, und sie am folgenden Morgen mitzubringen.

Bey der Abendmahlzeit fand ich Theresen aufgeräumter als nie: alle ihre Bewegungen waren lebhafter, die Worte hüpften ihr von den Lippen und ein nettes Feuer blitzte aus ihren Augen, die mir noch nie so schön, so groß vorkamen. Diese Veränderung fiel mir auf, und du wirst dich nicht wundern, lieber M**, wenn ich sie als eine Folge der Szene dieses Tages zu meinem Vortheil auslegte. Indem ich mein Herz erleichterte, habe ich auch das ihrige erleichtert, ich habe die Scheidewand weggenommen, die uns vor einander verbarg. Nun wird Therese sich mir nähern, sie wird mir Freundin, sie wird mir mehr werden. Dieses waren die Gedanken, die meinen Geist während der Abendmahlzeit beschäftigten, und Du kannst leicht erachten, daß die Hoffnung, die in meinem Herzen aufkeimte, das Gelübde des Stillschweigens, das ich meiner Liebe auferlegt und schon zur Hälfte gebrochen hatte, nun vollends daraus verbannte.

So anziehend aber auch die Aussicht war, die meiner Einbildungskraft vorschwebte, so blieb mein äusseres Auge dennoch auf Theresen geheftet, die mir gegenüber saß. Die Heiterkeit ihres Geistes theilte sich dem meinigen mit; ich fieng an 50 geschwätzig zu werden, und erzählte ihr, daß ich heute in der Zerstreuung einen Schülerstreich begangen hätte, der mich nun nöthigte, die halbe Nacht an meinem Pulte zuzubringen. Lachend beklagte sie mein Schicksal, und gleich nach der Mahlzeit übergab sie mir ein Licht mit den Worten: je früher Sie anfangen, desto eher kommen Sie zur Ruhe. Dieses sagte sie mit einer so holden Mine und in einem so traulichen Tone, daß ich ihre Liebe in jedem Zug ihres Gesichtes zu lesen, und in jedem Silberlaut ihrer Stimme zu hören glaubte: Ich antwortete ihr nicht, allein indem ich das Licht ergriff, drückte ich ihre Finger sanft zwischen die meinigen, und es war, als ob sie den Druck erwiederten. Mein Herz war voll; ich machte ihr und der Wittwe eine stumme Verbeugung und begab mich hinweg.

Von tausend Amoretten umgauckelt lief ich wohl eine halbe Stunde mein Stübchen auf und nieder. Endlich setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Nun lagerten sich die Amoretten an mein Papier und es schlug zehn Uhr, ehe ich das erste Blatt meiner Abschrift fertig brachte. Bald aber hatte ich die Ungeschicklichkeit, mein Licht auszulöschen; es war halb eilf Uhr; um diese Stunde lag schon alles zu Bette, ich hoffte aber in der Küche noch eine glühende Kohle zu finden, daran ich mein Licht anstecken konnte. Leise wie ein Sylphe schlich ich die Treppe 51 hinunter; die offenstehende Küche lag neben der Wohnstube, und war durch eine Fensterthüre mit ihr verbunden. Die Helle, die mir durch dieses Fenster entgegen strahlte, zog meine Blicke an sich, und . . . . kaum traute ich meinen Augen, ich sah Theresen am Halse eines jungen Dragoners, der eben im Begriffe stand, Abschied von ihr zu nehmen.

Ein heisser Schauer überlief mich und mein Herz klopfte fürchterlich. Ich stund einen Moment an, ob ich die Thüre nicht öffnen, und die Heuchlerin beschämen sollte. Unterließ ich es aus Achtung für ihre oder für meine Ehre? das weiß ich nicht; genug, ich eilte wie von einem Gespenste verfolgt auf den Zehen zur Küche hinaus und hatte kaum noch mein Zimmer erreicht, als ich den Fremden fortgehen und Theresen ganz leise die Hausthüre verschliessen hörte.

Nun dachte ich nicht mehr an meine Arbeit; Schaam und Eifersucht folterten meine Seele; ich warf mich unausgekleidet auf mein Bette und überließ mich dem Sturme, der mich hin und her schleuderte. Eine Decke fiel mir von den Augen. Therese war nun nicht mehr die erlauchte Unbekannte, zu der sie meine Phantasie gemacht hatte; sie war ein gewöhnliches Mädchen, das einen beweinten Buhlen wiederfand oder ersetzte; eine schlaue Kokette, die mein Herz durch die Grimasse der 52 Empfindsamkeit und durch eine theatralische Heldenrolle täuschte. Nun war es mir offenbar, daß die Heiterkeit, die sie während des Abendessens belebte, die Hoffnung, ihren Geliebten zu umarmen, zum Grunde hatte, und daß sie mich blos darum mit einer so verführerischen Freundlichkeit zur Ruhe wies, damit ich ihre nächtliche Zusammenkunft nicht hindern möchte.

Diese Gewißheit brachte mich aus aller Fassung, und, zu meiner Schande sage ich es, sie erregte in mir den abscheulichen Gedanken, meine Entdeckung der Frau La Rive mitzutheilen. Doch kaum hatte ich ihn ausgedacht, so rüttelte eine unsichtbare Hand mich auf und Therese trat mit der stillen Majestät der Unschuld vor meine Seele. Wie? auch du willst mich verfolgen? sprach sie; mein einziges Asyl willst du mir verschliessen? was that ich dir? mit welchem Rechte nennst du mich treulos? Dann wäre ich es, wenn ich dir den Geliebten aufopferte, der deiner Eifersucht so verächtlich vorkömmt. Kennst du ihn besser als ich dich kenne? und wenn ich dich kenne? und wenn ich dich nach dem äussern Schein beurtheile, welchen Vorzug verdienst du vor ihm? Elender! ich fieng an dich zu schätzen, und nun muß ich dich verachten. Der Betrug ist auf deiner Seite; ich hielt dich für edel und du bist nichts als ein Verräther, den ich ewig fliehen werde. Ich schauderte zusammen, ich ächzte laut und verbarg mein 53 Gesicht in mein Kissen, das ich mit Thränen benetzte. Ich fluchte meinem Herzen, meinem Schicksal, und . . . . doch wie kann ich dir die schrecklichen Gefühle schildern, die meinen Busen zerfleischten. Ich kämpfte ohne zu siegen; ich riß das Bild Theresens aus meinem Herzen und immer fand ich es wieder darinnen, ich versuchte es sie zu hassen, aber dieser Haß war nichts als aufgebrachte gedemüthigte Liebe; allein sie erweckte meinen Stolz und dieser diente mir besser als meine Vernunft, und mein Haß. Ich schämte mich meiner Schwachheit, die ich Niederträchtigkeit nannte, und faßte den festen Entschluß, einer Geliebten zu entsagen, die mich verschmähte, und der meine berauschte Phantasie mehr Reitze und vielleicht doch auch mehr Tugend borgte als sie wirklich besaß.

Unter diesen Betrachtungen verstrich mir die Nacht, ohne daß es mir möglich war, ein Auge zu schliessen. Bey den ersten Strahlen der Morgenröthe verließ ich mein Lager und vollendete meine Arbeit, und sobald ich hörte, daß Therese die Thür aufschloß, ersah ich den Zeitpunkt, da sie in der Stube beschäftigt war, und machte mich aus dem Hause. Zwey Stunden lang lief ich wie ein Verrückter auf den Hügeln umher, welche diese Stadt umgeben. Dann brachte ich dem Doktor meine Arbeit. Der gute Mann erschrack über mein blasses verstörtes Gesicht, 54 er behauptete, ich hätte Fieber und wollte mir ein niederschlagendes Pulver aufnöthigen. Ich schrieb meine Unpäßlichkeit der Hitze der Nacht und der dadurch verursachten Schlaflosigkeit zu und suchte mich durch Arbeit zu zerstreuen. Des Mittags bat ich mich bey Roger zu Gaste; ich wollte Theresen den Triumph nicht gönnen, die Zerrüttung meines Gemüthes in jedem meiner Züge zu lesen. Die Stunde der Abendmahlzeit brachte ich auf einem einsamen Spaziergange zu, und erst bey einbrechender Dämmerung kam ich nach Hause. Therese empfieng mich mit einer so arglosen Freundlichkeit, sie bezeugte mir eine so zärtliche Unruhe über mein kränkliches Aussehen, daß . . . . kurz, es fehlte wenig, so hätte sie mich durch ihre offene unschuldige Mine mehr als jemals bezaubert. O Freund! nun fühlte ich erst die ganze Gewalt der Leidenschaft, die mein Herz beherrscht. Um ihm seinen Sieg zu erleichtern, muß ich es der unwiderstehlichen Macht dieses, soll ich sagen, bösen oder guten Engels entziehen, und bin daher entschlossen, ein anderes Quartier zu suchen. Ich hätte meinen Vorsatz bereits ausgeführt, wenn ich nicht vorgestern durch die Erscheinung meines lieben Vicomte wäre überrascht worden. Er hatte ein Geschäft in Hüningen, und konnte mir nicht so nahe seyn, ohne mich zu besuchen. Morgen wird er mich wieder verlassen, und da 55 er einen vertrauten Boten mit wichtigen Papieren an seinen Schwager abschickt, der in deiner Nachbarschaft wohnet, so werde ich ihm diesen Brief einschliessen, für dessen sichere Bestellung der Vicomte mir haftet. Ich weiß nicht, lieber M**, warum ich zwey Drittheile desselben mit der Erzählung einer Begebenheit angefüllt habe, über die ich nun erröthe. Doch ich war ja von jeher gewohnt, dich zum Vertrauten meiner Thorheiten zu machen. Das schlimmste ist, daß selbst die Zerstreuungen, die ich am Busen der Freundschaft genoß, mein Gemüth nicht aufheitern konnten und daß meine Melancholie nun im Ernst anfängt, meine Gesundheit zu bedrohen. Doch bin ich nur einmal aus der Insel der Calypso entflohen, so wird mit meiner Vernunft auch meine Gesundheit wiederkehren.

Lebe wohl, mein theurer M**, in wenig Wochen, vielleicht in wenig Tagen, erwarte ich das Vergnügen, ein Blatt von deiner Hand zu lesen.

 
Dritter Brief.

Nach einer langen stürmischen Nacht, in der alles um mich her wachte, und ich allein schlief; in welcher der Seiger der Chronologie um ein Jahrhundert fortrückte, indeß der Seiger meines Lebens stillstand, erhebe ich mich aus meinem Grabe, und sehe schon hoch am Himmel die Sonne, die den Auferstehungstag meines Vaterlandes beleuchtet, und höre noch in 56 der Ferne den Nachhall der Posaune, die seine Tyrannen vor Gericht foderte.

O Freund! wie vieles ist in den fünf Wochen geschehen, die über mich wegschritten, während ich in den Banden des Todes lag. Doch was auf dem grossen Theater geschah, weist du besser, und wußtest du eher als ich; nicht die Geschichte der Nation, sondern meine Geschichte bin ich Dir schuldig, und auch diese muß ich aus fremden Quellen schöpfen. Ich erinnere mich blos des Anfangs und des Endes meines langen langen Traumes. Meine Hand ist noch schwach, und der edle Roger, dem ich mein neues Daseyn verdanke, erlaubt mir mehr nicht, als täglich eine Stunde diesem Geschäfte zu widmen. Kaum kann ich selber meine Handschrift lesen, aber das Auge der Freundschaft wird sie schon zu entziffern wissen.

Zwey Tage nach dem Abgange meines letzten Briefes nahm die Unpäßlichkeit, deren ich am Schluß desselben erwähnte, eine ernsthaftere Wendung. Rasende Kopfschmerzen und eine allgemeine Ermattung hielten mich in dem Hause zurück, das ich meiner Ruhe wegen verlassen wollte. Roger besuchte mich; sein Auge verrieth, was sein Mund mir verschwieg. Er erkannte in meinem Zustande die Vorboten des bösartigen Fiebers, das seit einiger Zeit bey der oberrheinischen Armee wüthete, und in unserm 57 Hospital täglich einige Schlachtopfer hinraffte. Diese Epidemie war der Gegenstand des Berichts, dessen Abschrift meine lezte Arbeit war, und dessen Innhalt ich Dir geflissentlich verhehlte, um Dich nicht meinetwegen zu beunruhigen.

Aller Mittel ungeachtet stieg das Fieber jede Stunde und schon am fünften Tage verlohr ich alle Besinnung. Die gute La Rive verpflegte mich als einen Sohn; selbst Therese begleitete sie öfters auf mein Zimmer, und theilte ihre Sorgfalt. Als ich sie zum letztenmal sah, waren ihre Augen von Thränen feucht, und ihre Wangen todtblaß. Ich bemerkte es, mein Herz brach mir, ihre Thränen hatten meinen Haß ausgelöscht, ich reichte ihr und der Wittwe meine glühende Hand. Hören Sie auf, stammelte ich, einen Unglücklichen zu bedauern, für den der Tod eine Wohlthat wäre. Beyde weinten vor meinem Bette, als Roger hereintrat. Ich hörte, daß er ihnen einen Verweiß zuflüsterte, und sie fortschickte. Am nehmlichen Tage brachte er mir einen seiner Krankenwärter, dessen Pflege er mich übergab, und in der folgenden Nacht fiel ich in einen dämischen Schlummer, der vor meine Sinne einen dichten Vorhang zog. Er wurde zwar von Zeit zu Zeit emporgeweht, aber blos um mir ein Schattenspiel phantastischer Bilder zu zeigen, die wie flüchtige Träume vorüber flatterten.

58 Bald sah ich mich von den Trabanten der Tyranney verfolgt, die mich vor ihren Blutrath schleppten. Ich trozte meinen Richtern, und spie ihnen ins Angesicht. Bald glaubte ich meinen treuen Duval zu erblicken, der mich aus den Händen meiner Feinde befreyte, und mich in eine dunkle Höle verbarg; plözlich schreckte mich ein Licht, ich hörte menschliche Fußtritte, es war die Frau La Rive und Therese, die mich trösteten und mir Speise brachten. Ich küßte ihnen die Hände, ich dankte ihnen in den zärtlichsten Ausdrücken und beschwor sie, doch ja meinen Aufenthalt und wahren Namen keiner Seele zu entdecken. Bisweilen erschien mir Roger in Gestalt eines Einsiedlers, oder ich besuchte ihn bey den Ruinen seiner Klause und half ihm sie wieder aufbauen. Heil dir, du Mann Gottes! sagte ich einst zu ihm, als er wirklich vor meinem Bette stand, und mir den Puls befühlte. Heil dir! du willst mich zum Tode bereiten; oh ich fürchte ihn izt weniger als nie, du hast mich gelehrt, daß ich unsterblich bin. Ha, ha! fuhr ich mit Lachen fort, sie können mich nicht ganz tödten, und auch sie werden nicht ganz sterben, so sehr sie es wünschen müssen.

Alle diese Bilder, mein lieber M**, liessen auch nicht die kleinste Spur des Andenkens bey mir zurück; meine Freunde sind es, die sie beym Vorbeyfliegen aufgefaßt haben. Nur einer einzigen Szene, die 59 mich tief erschütterte, weiß ich mich zu erinnern. Ich sah Theresen still und hehr, wie das Bild der Andacht, neben mir auf den Knieen liegen. Sie hob die Hände gen Himmel, und trocknete ihre Thränen mit meinem Bettuche. Wie? rief ich, Therese weint um mich? Weinest du, daß du meine Liebe verschmähtest? daß du mich . . . . du weist es, wem du mich aufopfertest. Ich weiß es auch, ich sah ihn wohl, ach ich sah ihn den verhaßten Grünrock, dem du um den Hals fielst. Da kömmt er, da kömmt er! nein, das ist zu viel, ich werd es nicht leiden, daß er auf meinem Grabe dich küsse. Hinaus mit dir, hinaus! wo ist mein Säbel? Ich sprang auf; Therese verschwand, und der Dragoner verwandelte sich in meinen Duval, der mit seinem nervigten Arme mich umschlang, und wieder zu Bette brachte.

Du wirst Dich nicht wundern, lieber Freund, daß Duval in meinen Visionen eine Hauptrolle spielte. Sein Bild war meiner Seele zu tief eingeprägt, um sich nicht in alle ihre Träume zu mischen; aber freuen wirst du dich, wenn ich dir sage, daß dieser treue Diener nicht blos meiner Phantasie so nahe war. Am achten Tage meiner Krankheit kam er mit deinem Briefe hier an, und da er mein Quartier nicht wußte, so wollte er sich bey Roger darnach erkundigen. Von diesem erfuhr er meine Gefahr, und 60 sogleich war sein Entschluß gefaßt. Das Bad, sagte er, hatte mich ziemlich zurecht gebracht, allein auf meinem Marsch hat sich mein Bein wieder verschlimmert. Es bedarf einige Tage Ruhe, und diese Tage will ich bey meinem Herrn zubringen; rufen Sie seinen Wärter zurück, und überlassen Sie mir seine Verpflegung. Ein blosser Schein von Ihnen wird meine spätere Ankunft beym Regiment rechtfertigen. Ich kann ja ohnehin den Dienst noch nicht versehen. Roger umarmte den Redlichen und bewilligte seine Bitte, um so lieber, da er befürchtete, ich möchte durch meine Phantasieen mein eigner Verräther und der Krankenwärter durch den Lohn, den unsre Blutgesetze den Denuncianten versprechen, wohl gar verleitet werden, mich meinen Verfolgern in die Hände zu liefern. Von diesem Augenblick an wich der gute Duval nicht von meiner Seite, und als ich am drey und dreyssigsten Tage meiner Krankheit wieder zu mir selbst kam, war er der erste Gegenstand, den mein verneutes Auge erkannte. Nur in deinem Herzen, lieber M**, kannst du die Gefühle finden, wovon das meinige überwallte, als ich diesen Freund erblickte, und die rastlose Sorgfalt erfuhr, womit er mich verpflegt hatte.

Die glückliche Krise, welche die Natur vorbereitete, wurde durch die weise Kunst meines Arztes befördert. Mein Fieber fiel, der Schlaf stellte sich 61 wieder ein, und jeden Morgen erwachte ich mit einem neuen Kennzeichen der Besserung. Meine Kräfte kehrten allmählich zurück, und vorige Woche verließ ich zum erstenmal das Bette. Vater Roger wachte eben so streng über meine Genesung, als er über meine Krankheit wachte; er dehnte die Diät, der er mich unterwarf, auch auf das Gemüth aus, zu dem er anfänglich jeder lebhaften Bewegung den Zugang versperrte. Selbst mit Deinem Schreiben rückte er erst vor einigen Tagen hervor. Wüßte ich, sagte er, seinen Innhalt, so hätte ich es Ihnen vielleicht eher mitgetheilt. Wonnezitternd erbrach ich es, allein ich mußte den Doktor bitten, es mir vorzulesen. Ich hoffe, sagte er, indem er mir den Brief zurückgab, Sie sollen ihn bald mündlich beantworten. Ich sah ihn starr an; für Scherz fand ich die Rede zu bitter, für Ernst konnte ich sie nicht halten. Sie schweigen? fuhr er fort, nun so muß ich sprechen. Es ist Zeit, daß ich Sie von den grossen Ereignissen unterrichte, die sich gleich im Anfang Ihrer Krankheit zutrugen, und die man Ihnen bisher verhehlte, um Ihre noch schwachen Nerven nicht allzuheftig zu erschüttern. Izt erzälte er mir die Geschichte des 9ten Thermidors. Er mußte oft inne halten, oft das Gesagte wiederholen; bald konnte ich dem Strome der Begebenheiten nicht folgen, bald glaubte ich gar, daß die Reihe zu faseln nun 62 an den guten Doktor gekommen sey. Es brauchte Zeit, bis ich mich von meinem Erstaunen erholte, und an den glücklichen Einfluß glaubte, den diese neue Revolution auf mein Schicksal haben kann. Hoffen Sie alles, sagte Roger, die Thore der Gefängnisse sind geöffnet, und das Blut der Unschuld hört auf zu fliessen. Machen Sie, daß Sie bald gesund werden, damit auch Sie aus der Verborgenheit hervortreten und den Räubern ihre Beute entreissen können. Aus dem Briefe Ihres Freundes sehe ich mit grosser Freude, daß Ihre Güter noch nicht verkauft sind. Du kannst Dir vorstellen, mein lieber M**, daß diese frohen Aussichten nicht wenig dazu beytrugen, meine Herstellung zu beschleunigen. Täglich machte ich nun neue Plane, die ich bald vor meinem Duval, bald vor dem Doktor auskramte. Dieser belebte meine Hoffnung, und half meiner Einbildungskraft die schmeichelhaften Bilder ausmahlen, an denen sie sich weidete. Ich habe, sagte er neulich, einen Freund in Paris, an diesen werde ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben mitgeben, von dem ich in mehr als einer Hinsicht die beste Würkung erwarte.

Meine gute Wirthin ist nicht weniger beschäftigt, meine Genesung zu befördern. Ihre mütterliche Fürsorge kömmt meinen Wünschen zuvor, und seitdem ich wieder essen darf, bringt sie mir jedesmal selber 63 die Speisen, die der Arzt mir verordnete. Therese sah ich seit der Rückkehr meiner Besinnung nie; dieses befremdete mich, ich konnte mir sogar nicht verbergen, daß es mich verdroß. Ich ließ daher mehrere Tage verstreichen, ehe ich nach ihr fragte; endlich konnte ich mich doch nicht länger halten. Wie kömmt es, sagte ich zur Frau La Rive, daß ich Ihre Therese nie zu sehen bekomme? Ach! erwiederte sie, das liebe Mädchen ist schon vor mehr als vierzehn Tage verreißt; ihr Bruder, der sie einige Wochen zuvor besucht hatte, kam unvermuthet sie abzuholen. Diese Nachricht erschütterte mein Innerstes, und beschäftigte mich so ganz, daß ich gar nicht daran dachte, weiter zu fragen. Meine Seele verlohr sich wie in einem Labyrinthe drückender Gefühle und widersprechender Muthmassungen. Indem ich das Bild Theresens verfolgte, verlohr ich die Frau La Rive aus dem Gesichte, und als ich mich endlich wieder nach ihr umsah, hatte sie das Zimmer verlassen.

Ich wandte mich an meinen Duval und fragte ihn: ob er Theresens Bruder gesehen habe? O ja, erwiederte er, es ist ein sehr feiner junger Mensch, er steht unter dem Dragonerregiment, wovon das Depot in Belfort liegt. Denke dir, mein Freund, einen Bliz, der einen nächtlichen Wanderer um und um überströmet, so ward es plötzlich Licht in 64 meinem Verstande – aber eben so schnell wie der Schlag auf den Bliz folgt, traf ein glühender Dolch mein Herz. Ich sank in meinen Armstuhl zurück, ich hatte Mühe Odem zu schöpfen. Es währte lange, bis ich mich wieder erholte und als Roger mich besuchte, fand er eine fieberische Bewegung in meinem Pulse. Er schrieb es einer Uebertretung der Diät zu und gab mir einen ernstlichen Verweiß. Ich schwieg, weil ich ihm seinen Irrthum nicht benehmen konnte, ohne das Geheimniß meines Herzens zu verrathen. Duval aber nahm das Wort, und hielt meiner Mässigkeit eine Schutzrede. Es blies ihn, setzte er hinzu, plötzlich an, wie ein böser Wind, eben da wir vom Bruder der Jungfer Therese mit einander sprachen. Ach so, sagte Roger, es ist gut, daß ich daran erinnert werde; das liebe Mädchen hat mir aufgetragen, Sie noch tausendmal zu grüssen; Sie nahm den innigsten Antheil an Ihrer Krankheit, die bey ihrer Abreise auf dem höchsten stand.

Ein tiefer Seufzer war meine Antwort, als aber der Doktor mich verlassen hatte, konnte ich mich nicht enthalten, meinen Duval zu fragen: ob Therese gerne verreißt sey? Das weiß ich nicht, antwortete er, wenigstens war sie sehr betrübt. In der Nacht vor ihrer Abreise, dieses sagte er leiser, kam sie sogar auf Ihre Stube, vermuthlich um Abschied von Ihnen zu nehmen. Ich war gerade unten in 65 der Küche, um Ihnen eine Limonade anzubrühen; Sie waren aber nicht bey sich, Sie hielten sie vermuthlich für einen Mörder und schrieen nach Ihrem Säbel. Ich lief herauf, und sah noch das arme weinende Mädchen mehr todt als lebendig aus der Thüre stürzen. Ich nahm mir nicht Zeit sie auszufragen, und eilte zu Ihnen. Gott weiß, was ich für Mühe hatte, Sie wieder zur Ruhe zu bringen.

Du siehest hieraus, mein Freund! daß die Szene, deren ich oben erwähnte, nicht ganz Phantasie war. Die arme Therese! und ich Elender zog ihre Unschuld in Verdacht, ich erfrechte mich, sie bey dir zu verleumden. Wo finde ich dich, edles Mädchen, um zu deinen Füssen mein Verbrechen zu bekennen, und dich um Vergebung anzuflehen? Das Andenken meiner unsinnigen Eifersucht rächet mich schrecklicher, als du es wünschen könntest, wenn ich auch in der hassenswürdigsten Gestalt vor dir erschiene. Ja, Freund, dieses Andenken foltert mich Tag und Nacht; es verspätet meine völlige Genesung und mein guter Roger weiß nicht, was er aus meinem Zustande machen soll, ich verhehle ihm die Wahrheit, weil er ja doch keine Arzney für mein Uebel hat. Gestern verursachte er mir eine unverhofte Freude, er hatte ohne mein Vorwissen um Duvals Abschied geschrieben, dessen Bein durch die beständige Nachtwachen entzündet wurde. Sein 66 Bericht bewürkte den Abschied, er übergab mir ihn mit den Worten: Duval darf ihn aus keinen andern als aus Ihren Händen empfangen. Ich fiel meinem Freunde um den Hals, und er umarmte mit mir meinen treuen Diener, der an unsrer Brust das Geschenk seiner Freyheit vergaß. Von nun an, sagte ich zu ihm, bleiben wir ungetrennt: an meiner Seite sollst du deine Tage verleben, du hast dich für mich aufgeopfert. Die Hoffnung, mein Vermögen wieder zu erhalten, hat nun einen neuen Reitz für mich, es wird mich in den Stand setzen, meinem Retter ruhige Tage zu versichern.

Recht so, Freund! rief der Doktor: allein um Ihr Vermögen wieder zu erhalten, müssen Sie nach Paris reisen, und da nun Duval wieder ganz Ihre ist, so trage ich um so weniger Bedenken, Ihre Reise zu beschleunigen. Sie kann weit besser als ich die trübe Laune zerstreuen, die seit einigen Tagen Ihre Stirne umwölkt. Ich werde Ihnen für ein bequemes Carriol und zwey gute Pferde sorgen, so können Sie mit Gemächlichkeit reisen, und allen unangenehmen Begegnissen ausweichen, denen eine öffentliche Gelegenheit Sie aussetzen würde. Sie müssen fort, ehe die unfreundliche Herbstwitterung eintritt. Länger als bis zu Ende der künftigen Woche dürfen Sie nicht warten, zumal da Sie vermuthlich einen kleinen Seitensprung zu Ihrem 67 Freunde M** werden machen wollen. Bis um diese Zeit soll alles und besonders auch das Empfehlungsschreiben bereit seyn, das ich Ihnen versprochen habe.

Gestehe mir, Freund! daß wenn ich in der Liebe unglücklich bin, kein Mensch auf Erden in der Freundschaft glücklicher seyn kann als ich. Der edle Roger schloß meiner Dankbarkeit den Mund. Wenn Sie mir Dank schuldig zu seyn glauben, sagte er, so beweisen Sie mir ihn durch die Sorge für Ihre Gesundheit. Ich will ihm folgen, mein lieber M**, und die süsse Hoffnung, dich bald zu umarmen, wird meine Bemühung unterstützen. Da man sich nun wieder ohne Furcht der Post bedienen kann, so will ich ihr diesen Brief anvertrauen, an dem ich acht volle Tage geschrieben habe. Ich erwarte keine Antwort von Dir, sie möchte mich nicht mehr hier antreffen.

Noch ein Wort von Theresen. Ich nahm heute Gelegenheit meine Wirthinn zu fragen: ob sie nicht wisse, wo ihr Bruder sie hingeführt habe? Sie antwortete mit sichtbarer Verwirrung: das kann ich Ihnen nicht sagen, ich erwarte aber täglich einen Brief von ihr. Möchte er doch vor meiner Abreise einlaufen, kein Umweg würde mir zu gros seyn, um das seltene Mädchen aufzusuchen. Die La Rive weiß zuverlässig um ihr Geheimniß; allein, was habe ich Elender für ein Recht ihre Verschwiegenheit zu tadeln? Therese wird ihr ohne Zweifel den 68 Vorfall jener fatalen Nacht erzählt und ihr dadurch den Mund nur desto fester geschlossen haben. Zwar wenn sie mich liebte, so hätte sie ihr vielmehr aufgetragen, mir meinen Argwohn zu benehmen; oh es ist nur allzugewiß, daß sie es nicht der Mühe werth hielt, sich bey mir zu rechtfertigen. Dieser Gedanke zerstört alle meine Hoffnung; er läßt mir nichts als die traurige Pflicht übrig, diese unselige Liebe aus meinem Herzen zu verbannen. Werde ich es können? möchte ich es können! Vielleicht ist dieses Wunder Dir, mein theurer M**, vorbehalten, wüßte ich das, oh ich würde die künftige Woche nicht erwarten, mich in deine Arme zu werfen.

 
Vierter Brief.

Glücklich, mein lieber Doktor, sehr glücklich war bisher meine Reise. Eine laue Septemberluft, lieblich wie der Hauch des Mayen, umfloß mich, und die prächtigen Schätze der Natur, welche im Herbste giebt, was sie im Frühling versprach, schmückten überall die Baumgärten und Weinberge, zwischen denen mein Weg mich durchführte. Dieses Schauspiel erheiterte mein Aug und erfrischte mein Blut; es war mir, als säh' ich es zum erstenmal in meinem Leben. Während der Schreckenszeit hatte ich allen Sinn für die Wunderwerke Gottes und des Menschen verlohren. Auf den Strassen und in den Städten erblickte ich wieder unbewölkte Stirnen, die 69 niedergesenkten Augen, die ihre stillen Thränen verbergen mußten, öffneten sich wieder, und glänzten von Hoffnung und Freude. Nur hin und wieder schleicht ein finstrer Diener des Schreckens, der seine Wuth zu verbergen sucht, und mit hämischen Blicken den entronnenen Schlachtopfern nachschielt, nach deren Blut seine Zunge lechzte.

Ich begegnete disseits Langres einer grossen Anzahl dieser Erlößten, darunter sich vierzehnjährige Kinder befanden, die ihren Eltern in den Kerker folgten und nun mit ihnen zu ihrem Herde zurückkehrten. Alle rühmeten die edelmüthige Kühnheit, womit ein Theil der Einwohner ihnen ihre Gefangenschaft zu erleichtern suchte, und mein Herz half ihnen die guten Menschen segnen, welche es wagten, der Tyranney zum Troz, Balsam in die Wunden der Unschuld zu giessen.

Ich kehrte im Posthause vor der Stadt ein. In Erwartung meiner Abendmahlzeit bereitete ich mich, ein paar Zeilen an meinen Freund M** zu schreiben, als ein wilder Lärm mich an's Fenster lockte. Ein ansehnlicher Mann von ungefehr vierzig Jahren in hechtgrauer Uniform und mit einem ungeheuren Säbel hatte im Posthause Pferde gewechselt, und wollte eben davon reiten, als er von einem Offizier und vier Häschern angehalten wurde. Es entstand ein heftiger Wortwechsel. Der Fremde wollte 70 durchaus nicht absteigen, und als die Häscher ihn vom Pferde reissen wollten, zog er ein Terzerol aus der Tasche, und jagte sich eine Kugel durch den Kopf. Er that es mit so grosser Geschwindigkeit, daß es unmöglich war, ihn daran zu hindern. Eine unzählbare Menge Volks stürmte herbei; die Fragen uns Antworten braußten so bunt durch einander, daß ich von diesen kein Wort vernehmen konnte. Endlich erschien ein Friedensrichter, den der Offizier hatte berufen lassen; man begab sich in ein abgesondertes Zimmer des Posthauses, um einen Bericht über den Vorfall aufzusetzen.

Als dieses Geschäfte geendigt, und der Leichnam fortgeschaft war, fragte ich den Postmeister um den Anlaß und die nähern Umstände dieses schauerlichen Auftritts. Dieser Mensch, sagte er, ist einer von den Cannibalen, welche Avignon und Orange in Schädelstätten verwandelten. Er genos des Vertrauens unsrer Tyrannen, und durch diesen Schild bedeckt, eignete er sich einen Theil der Reichthümer zu, die er im Namen der Nation in Beschlag nahm. Man hat für mehr als hunderttausend Thaler Assignate und Juwelen bey ihm gefunden. Nach dem Sturze des Triumvirats ward er angeklagt, allein er rettete sich durch die Flucht. Man sandte ihm Steckbriefe nach, und er wollte mit einem falschen Paß als Arzt zur Rheinarmee reisen, als er ertappt wurde.

71 War er denn würklich ein Arzt? fragte ich. Ja wohl, versetzte der Postmeister, er stand ehedem am Kriegshospital in D . . . . a; hier entführte er eine Ehfrau und floh mit ihr, wie es heißt, nach Rußland, von wo er erst vor drey Jahren aber ohne sie zurückkam. Alles dieses hat mir der Offizier erzählt, der ihn anhalten sollte. Wissen Sie den Namen des Unglücklichen? – Er hieß Robert. – Mein Herz erstarrte; Grauen und Entsetzen banden mir die Zunge. Zum Glücke berichtete man mir, daß meine Mahlzeit mich erwarte, sonst hätte meine Bestürzung dem Wirthe verdächtig werden müssen.

Ich errathe die Gefühle, womit Sie mein ehrwürdiger Freund, diese Zeilen lesen werden. Das Gemählde, das ich vor Augen sah, wird auch vor den Ihrigen schweben; auch Sie werden ihn sehen, den Zerstörer Ihres häuslichen Glückes, wie er mit eigner Hand die zahllosen Verbrechen seiner schändlichen Leidenschaften rächet. Ich will Sie Ihren Betrachtungen überlassen, und Sie nur noch um eine Gefälligkeit bitten, wodurch Sie vieles zu der Gemüthsruhe beytragen können, die Sie mir so sehr empfohlen haben. Bey meiner Abreise erwartete Frau La Rive täglich Nachricht von Theresen. Bringen Sie dem guten Weibe einen Gruß von mir, und melden Sie mir alles, was Sie von dem edlen, liebenswürdigen Mädchen, und besonders von dem 72 Ort ihres Aufenthalts erfahren werden. Ein unzeitiger, fataler Schlaf hat mich des vielleicht einzigen Mittels beraubt, das meine Sehnsucht befriedigen konnte.

Vorgestern Nachmittags war es sehr warm; die Sonne brannte auf die Decke meines Carriols; ich hatte mich in eine Ecke geschmiegt, und fieng eben an einzuschlummern, als ich auf einmal jemanden rufen hörte: ey guten Abend, Bürger Duval! Duval antwortete nicht, allein ich bemerkte, daß er sich zum Carriol hinausbückte, und da die Stimme mir fremd war, so fand ich nicht für nöthig, meine Sieste zu unterbrechen. Erst des Abends beym Auskleiden fiel es mir ein, ihn zu fragen, ob ich träumte, oder ob ich diesen Mittag wirklich eine fremde Stimme ihn bey seinem Namen rufen hörte? Sie haben nicht geträumt, antwortete Duval, es war der Bruder der Jungfer Therese, der vorbeyfuhr und mich grüßte; ich wollte ihm nicht antworten, aus Furcht Sie zu wecken.

Ein Schauer überlief mich, ein unwillkührlicher Fluch starb mir auf den Lippen. Gern hätte ich mit meinem Bedienten gehadert, meine Vernunft erinnerte mich noch zu rechter Zeit, daß der arme Mensch unschuldig sey, und eher meinen Dank, als meinen Unwillen verdiene. Konnte er wissen, wie viel mir daran lag, mit diesem Reisenden zu 73 sprechen, und geschah es nicht aus Schonung für meine Ruhe, daß er seinen Gruß bloß durch ein Kopfnicken beantwortete? Gleichwohl konnte ich meinen Groll über die Launen meines Verhängnisses nicht verbergen, und ich sah es dem guten Duval an, daß er nicht klug aus mir werden konnte.

Auch Sie, mein edler Freund, können nicht wissen, warum diese Begebenheit so mächtig auf mich wirkte. Es ist Zeit, daß ich Ihnen sage, was ich Ihnen schon allzulang verhehlt habe. Die liebenswürdige Therese hat einen tiefen Eindruck auf mein Herz gemacht. Da Sie das vortrefliche Mädchen kennen, so werden Sie sich nicht über meine Liebe wundern. Lange hat meine Vernunft sie bekämpft, nicht weil ich sie für unedel, sondern weil ich sie für unzeitig hielt. Ich wollte die Ruhe dieser theuren Unglücklichen nicht stören, vielweniger sie an mein eignes Unglück fesseln. Ein einzigesmal überwältigte mich meine Leidenschaft: ich ließ Theresen einen Blick in mein Herz thun, und mir däuchte, daß die Gesinnungen, die sie darinn las, ihr nicht mißfielen.

Doch ach! ich machte mich gar bald durch einen schändlichen Argwohn ihrer Achtung unwürdig. Ich Elender erlaubte mir ihre Tugend in Zweifel zu ziehen, und ich habe nur allzuviel Ursache zu vermuthen, daß ich im Wahnsinne meiner Krankheit sie 74 so gar durch ungerechte Vorwürfe gekränkt habe. Ihre Abreise hinderte mich bey der Rückkehr meiner Vernunft ihr mein Unrecht abzubitten, von dem ich gleich in den ersten Tagen meiner Genesung überzeugt wurde. Das Gefühl meines Vergehens und der Unmöglichkeit es wieder gut zu machen, war die Ursache der Melancholie, die Sie an mir bemerkten, und die meine völlige Herstellung verzögerte.

Urtheilen Sie nun selbst, wie sehr es mich schmerzen muß, die sicherste Gelegenheit, Theresens Aufenthalt zu erfahren, versäumt zu haben, zumal da die günstige Wendung meines Schicksals mir nun erlauben würde, mein Stillschweigen zu brechen, und sie von der Aufrichtigkeit meiner Liebe zu überzeugen. Wer auch Therese seyn mag, so können Sie, mein väterlicher Freund, diese Liebe nicht mißbilligen; Theresens Reitze, und noch mehr ihre Tugend würden sie eines Thrones würdig machen, wenn die Tugend ihren Lohn auf einem Throne fände. Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich sie ausgespürt und sie gefragt habe: ob mein Herz und meine Hand sie für ihre erlittenen Unfälle entschädigen können.

Nun brauche ich meine Bitte um Nachrichten von Theresen wohl nicht zu wiederholen, noch Ihnen zu sagen, wie sehr Sie mich dadurch verbinden werden. Schreiben Sie mir unter der Adresse Ihres 75 Freundes, da ich Ihnen die meinige noch nicht geben kann. Spätstens in zehn Tagen werde ich in Paris eintreffen. Mein lieber M** wünschte mich zwar länger zu behalten, allein er ist zu sehr mein Freund, als daß er die Gründe meiner Eilfertigkeit mißbilligen sollte. Er kennet meinen Vater Roger schon ganz, und hofft ihn einst Herz an Herz um seine Freundschaft zu bitten. Er verdient sie, und wenn ich meine Geliebte nicht wieder finde, so werden mir immer zween eben so seltne Freunde übrig bleiben. Giebt mir das Schicksal mein Eigenthum wieder, so ist mein Plan gemacht: Sie ziehen zu mir auf mein Landhaus, und wir leben als ein paar Einsiedler mitten in den Stürmen, wo nicht ganz glücklich, doch gewiß unendlich glücklicher als die, welche sie erregen. Sie tragen Trost und Gesundheit in die Hütten der Armen, und ich baue das Brod, das wir mit ihnen theilen. Der treue Duval wird wechselsweis Ihr Kräutersammler und mein Almosenier. Besucht uns dann mein lieber M**, so feyern wir an ländlicher Tafel das Fest der Freundschaft und trinken mit ihm aus dem Kelch des ewigen Bundes. Da steht er eben hinter mir und behauptet: daß zur Vollendung des Gemähldes noch eine Eremitin fehle. Ich fühle nur zusehr, daß er recht hat. Leben Sie wohl, mein ehrwürdiger Freund, und helfen, o helfen Sie mir die Eremitin finden! 76

 
Fünfter Brief.

Gestern lieber M**, habe ich meine Wallfahrt geendigt. Die zweite Hälfte meiner Reise war ebenso vergnügt als die erste: ein heiterer Himmel über meinem Scheitel, ein heiteres Herz in meinem Busen haben mich bis hieher begleitet. Der Trübsinn, den ich zu dir brachte, war in deinen Armen verschwunden; das Allmachtswort der Freundschaft hatte ein neues Licht in meiner Seele geschaffen. Als ich in diese Hauptstadt einfuhr, wachte zwar meine schlummernde Melancholie wieder auf, und ein kalter Schauer ergriff mich bey Erblickung des Revolutionsplatzes, der das Blut so vieler Märtyrer getrunken hat. Ihre heiligen Schatten schwebten im Glanze der Unsterblichkeit vor meiner Seele; allein ich bewunderte sie mehr als daß ich sie beklagte, und mein thränenvolles Auge verweilte weniger auf ihren Wunden als auf ihren Palmen. Der Siegespomp ihrer Tugend verbreitete eine stille Feyer durch mein ganzes Wesen; die reine Atmosphäre, darinn mein Geist wogte, löschte meine Leidenschaften aus, und im Kreise dieser Großgestorbnen fand ich es klein, ihren Henkern zu fluchen..

In dieser Stimmung, wofür die Sprache keinen Namen hat, und die sich allmählich in eine Wehmuth auflöste, die ich mit keiner jemals genossenen Freude vertauscht hätte, brachte ich den ganzen Abend 77 zu Ein süsser Schlaf, in welchem lauter überirrdische Gestalten vor meiner Phantasie vorbey wandelten, und der bis weit in den Morgen dauerte, erquickte meine Lebensgeister, und ich verließ mein Lager so leicht, so munter, als hätte ich mich im Brunnen der Jugend gebadet. Ich hatte meine Herberge in eben der Strasse gewählt, die der Freund meines Roger bewohnet. Der Rest des Vormittags verstrich mir unter der Einrichtung meiner kleinen Wirthschaft; dann ließ ich mich bey meinem künftigen Beschützer anmelden, und um die Erlaubniß anfragen, ihn nach Tische zu besuchen, Sie wurde mir bewilligt. Ich traf ihn allein an. Mahle dir, mein lieber M**, einen schönen Greis von etwa fünf und sechzig Jahren, dessen freundliche Miene noch die Spuhren überstandner Leiden trägt, und dessen Anstand jene zwanglose Leichtigkeit verräth, die noch mehr die Frucht eines langen Aufenthalts in der grossen Welt, als einer ausgezeichneten Erziehung ist. Ungeachtet ich wußte, daß er ehedem General und Kommandeur des Maltheserordens war, so wurde ich dennoch durch seinen, ich möchte sagen erlauchten, Anblick überrascht. Das Heldenthum des Unglücks gibt den edeln Menschen eine Hoheit, die keine Lorbeerkränze, selbst die Majestät des Thrones, nicht geben können, und der Kommandeur hatte über ein Jahr in einer 78 rühmlichen Gefangenschaft geschmachtet, aus der er vor kaum zween Monaten befreyet wurde.

Seitdem er den Kriegsdienst verließ, bewohnte er ein Landgut am fruchtbaren Ufer des Doubs. Seine geschwächte Gesundheit und sein Geschmack an der Stille des Landlebens hatten ihn vom Schauplatze der Zeit entfernt. Diese Abgeschiedenheit schützte ihn gegen die Stürme der Revolution. Er lebte bis in den Sommer des vorigen Jahres unangefochten in seiner dunkeln Freystatt, als einer seiner alten Freunde, der als ein Anhänger der Girondisten ausser dem Gesetz erklärt worden, Schutz bey ihm suchte. Der Kommandeur besann sich keinen Augenblick; er verbarg ihn einige Wochen in seinem Hause, und beförderte seine Flucht in die Schweiz. Ein treuloser Bedienter, der um die Sache wußte, und wegen eines begangnen Diebstahls von seinem Herrn verabschiedet ward, verrieth ihn den Henkersknechten des Triumvirats, die ihn, ungeachtet er bettlägrig war, aufhoben, und nach Paris schleppen liessen. Man fand Mittel seinen Prozeß in die Länge zu ziehen; er glaubte sich bereits vergessen, als der geheime Beschützer, den er sich erkauft hatte, plötzlich die Hand von ihm abzog. Der Kommandeur erwartete nun täglich seine Anklagakte, als der 9te Thermidor die Szene änderte, und in das neue 79 Sicherheitskomite einen seiner ehemaligen Kriegskameraden beförderte, der nach wenig Wochen seine Freyheit bewürkte.

Alles dieses wußte ich noch nicht, da ich dem ehrwürdigen Greise Rogers Empfehlungsschreiben übergab. Er führte mich an einen Sofa, setzte sich neben mich, und bat mich um die Erlaubniß den Brief zu lesen. Als er damit fertig war, rückte er näher zu mir, er faßte meine Hand, indeß sein Blick mit väterlichem Wohlwollen auf meinem Gesichte verweilte. Er schien einige Momente nachzudenken, dann sagte er lächelnd: Unser Freund beehret mich mit einem Vertrauen, das ich werde zu rechtfertigen suchen; noch vor wenig Wochen selbst ein Geächteter und mit dem politischen Fluche belegt, der auf unsrer Caste ruhet, vermag ich nichts durch mich, und kann bloß im Verborgenen wirken. Allein rathen kann ich Ihnen, und Sie der Hand entgegen führen, die meine eignen Fesseln brach. Haben Sie Ihre Papiere bey sich? Ich überreichte ihm die Zeugnisse, welche meinen ununterbrochenen Aufenthalt auf dem Boden und selbst im Dienste der Republik bewiesen, den schmeichelhaften Abschied, den mein Freund R** mir ertheilte, als ich meine Stelle bey dem Fuhrwesen abgab, und das nicht minder schmeichelhafte Attestat, das mein guter Doktor mir vom Kriegskommissär und vom Direktor meines Spitals ausgewirkt hatte. Vortreflich! sagte der 80 Kommandeur, indem er meine Dokumente durchlas, Ihre Lage ist unendlich vortheilhafter, als es die meinige war. Ich glaube nichts zu wagen, wenn ich Ihnen einen erwünschten Ausgang verbürge. Lassen Sie mir Ihre Papiere, ich werde diesen Abend noch mit der Person sprechen, die Ihnen dienen kann, und Ihnen morgen bey Tische von meiner Unterhandlung Bericht abstatte; ich trage kein Bedenken, Sie an meine frugale Tafel zu laden; wer aus dem Felde kömmt, weiß vorlieb zu nehmen.

Nun lenkte er das Gespräch auf meinen lieben Doktor. Aus allen seinen Reden konnte ich schliessen, daß er ihn schätzte und liebte. So lange er in D . . . e wohnte, sagte er, war er mein Arzt und mein Freund, und als er sich entfernte, ließ ich ihm durch meinen Verwalter seine ökonomischen Angelegenheiten besorgen. Diese Aeusserung führte mich ganz natürlich auf die Geschichte seiner Gattin; er wuste sie nicht so umständlich als ich, und das Schicksal ihres Verführers konnte ihm noch nicht bekannt seyn. Ich erzählte ihm die Katastrophe, davon ich Zeuge war. Er hörte sie mit Entsetzen an. Der Unglückliche! sagte er zuletzt, er hat mir manche trübe Stunde gemacht; ich lag krank, als er Zephyrinen entführte, und er wählte zur Ausführung seines Bubenstückes gerade die Zeit, da Roger, um mein Leben zu erhalten, vier und zwanzig Stunden an 81 meinem Bette zubrachte. Können Sie's glauben, daß dieser Umstand mich Jahre lang peinigte, zumal da die Flucht der Ungetreuen ihren Gatten zu einem Entschlusse brachte, der ihn mir und der Gesellschaft raubte.

Unvermerkt verstrich mir eine Stunde an der Seite dieses treflichen Mannes. Die unsichtbare Vermittlung unsers gemeinschaftlichen Freundes hatte uns einander so nahe gebracht, daß er kein Bedenken trug, mir die Geschichte seiner Gefangenschaft zu erzählen, wovon ich dir die Hauptzüge oben mitgetheilt habe. Ich wollte sein Vertrauen erwiedern, allein er unterbrach mich. Versparen Sie Ihre Erzählung auf morgen, es ist sechs Uhr, uns zu dieser Stunde kann ich meinen Freund am sichersten sprechen. Ich gehe sonst wenig aus, und werde für Sie jederzeit zu Hause seyn. Ich verließ ihn mit tiefgerührter Seele; seine ruhige, prunklose Güte hatte mich gefesselt; ich glaubte an der Seite meines Vaters zu sitzen, und würklich ist es mir kaum deutbar, daß ich erst heute seine Bekanntschaft gemacht habe.

Morgen, liebster Freund, werde ich dir mein Tagebuch fortsetzen, jezt muß ich abbrechen, wenn ich den Abgang der Post nicht versäumen will. Mein armer Kopf schwindelt ohnehin vom ungewohnten Lerm, der mich überall umbrauset. Möchte ich doch 82 bald das Gewühl dieser Stadt verlassen, und das friedliche Haus meiner Väter beziehen können, unter dessen Dach ich die einzigen unvermischten Freuden genossen habe, diese Freuden werde ich freylich nicht wieder finden, aber ich werde wenigstens ein Bild mit mir nehmen, das mir meine Einsamkeit verschönern, und gleich einem himmlischen Cherub der Thorheit den Eingang in mein kleines Paradies verwehren wird. Lebe wohl.

 
Sechster Brief.

Ich schreibe dir, liebster M**, um Mitternacht und noch ist es nicht still, nicht einsam genug um mich; ich möchte nichts hören, als die Schläge meines Herzens, keine Zeugen meines Daseyns haben, als dich. Alles Aeussere ist mir fremd, die Welt liegt mir im Wege. Ich muß jede Minute dieser scheidenden Stunde für mich allein haben. Oh Freund, wie wehe thut dem Leidengewohnten der Abschied vom ersten glücklichen Tage! Ich wills versuchen, dir den heutigen zu beschreiben; schon zehnmal ergriff ich die Feder, und legte sie wieder hin, weil ich nicht jeden Strich zu einem Gedanken, nicht jedes Wort zu einem Gemählde machen konnte.

Gestern nach drey Uhr (du weißt, man speißt hier sehr spät) gieng ich zum Commandeur. Ich las in dem offenen, heitern Gesichte, womit er mich empfieng, daß er mir eine gute Botschaft anzukündigen 83 hatte. Ihre Sachen gehen nach Wunsch, sagte er, heute oder morgen wird der auf Ihre Güter gelegte Beschlag aufgehoben werden; dieses hat mir gestern mein Freund versprochen. Nun ertheilte er mir einen umständlichen Bericht von seiner Unterredung mit diesem Freunde, von den getroffenen Maßregeln, und von den Schritten, die ich nun selber thun muß, um das Geschäfte zu endigen. Dieser so schleunige Erfolg übertraf meine Erwartung; mein Herz schwoll von Dankgefühlen, zu denen mein Mund vergebens Worte suchte. Der edle Greis unterbrach mich immer, er fragte mich nach der Lage, nach der Beschaffenheit meiner Güter, er sagte mir, daß er meinen Vater gekannt habe; kurz, er ließ nichts unversucht, um meiner Erkenntlichkeit ein Stillschweigen aufzulegen.

Nun schlug es vier Uhr, und bald darauf rief uns ein Bedienter zu Tische. Der Commandeur ergriff mich bei der Hand, und führte mich in ein kleines Speisezimmer, das seinem Kabinet gegenüber lag. Der erste, der einzige Gegenstand, den ich erblickte, war . . . . Therese. Ein ätherischer Blitz fuhr durch alle meine Adern. Gott! sagte ich leise, und blieb stehen. Sie erkannte mich nicht gleich, sie hatte mich nur in der Uniform und mit einem Knebelbart gesehen. Sie that einen Schritt vorwärts, und indem sie mich grüßte, rief sie: 84 ists möglich? . . . . Herr Duval? Nicht doch, sagte der Commandeur, es ist der Ritter von Beaumont. Ihr Gesicht flammte. Itzt bekam ich die Sprache wieder. Duval und Beaumont sind eins, mein Herr. – So, so, erwiederte er, ungefehr wie Therese Goutier und Clementine von Rochefort eines sind. Ich verstummte, ich staunte wechselsweise sie und den Commandeur an. Therese lächelte. Kommen Sie, kommen Sie, unsre Suppe wird kalt, sagte der Greis, der sich an unsrer Verwirrung weidete, bei Tische werdet Ihr volle Zeit haben, einander Eure Räthsel aufzulösen.

Wir setzten uns; Therese machte die Wirthin . . . Ich sah nur sie. Wohl sechsmal hieß der Commandeur mich essen, endlich gab er mir selbst den Löffel in die Hand. Die Gegenwart des Bedienten kam mir trefflich zu statten; ich war in mich selbst verlohren. Wie kömmt Therese hieher? was ist sie dem Commandeur, dessen Tochter sie nicht seyn kann, dessen Namen sie nicht führt? Unter diesen Gedanken trieb ich mich herum, als der gute Alte, der Mitleid mit meiner Verlegenheit hatte, zum Bedienten sagte: wenn wir etwas brauchen, wollen wir klingeln, meine Nichte wird die Teller herumgeben. Also sein Nichte; meine Geliebte die Nichte meines Wohlthäters; ich fühlte, daß mir eine Freudenthräne in's Auge stieg.

85 Für einen alten Bekannten, sagte der Commandeur, thun Sie sehr fremd mit meiner Nichte; oder meynen Sie etwa, sie habe mir nichts von einem gewissen Herrn Duval erzählt, der in Pruntrut ihr Hausgenosse war? Vielleicht nur zuviel, dachte ich, und dieser Gedanke trieb mir den Angstschweiß aus. Sie wissen nicht, mein Herr, antwortete ich schüchtern, wie sehr der neue Bekannte Ursache hat, sich bey dem Fräulein für den alten Bekannten zu schämen. Der Augenblick, Theresen meine Abbitte zu thun, war freylich sehr ungeschickt gewählt; doch mein gepreßtes Herz mußte sich Luft machen, und nun finde ich, daß ich wohl that seinem Instinkte zu folgen. Den ganzen Abend hätte ich keine Gelegenheit mehr dazu gefunden. Ey, ey! ist das wahr, Clementine? fragte der Commandeur lächelnd. Ich wüßte es nicht, das muß Ihnen Herr Duval . . . . . der Ritter erklären, erwiederte sie mit einer Verlegenheit, die jeden ihrer Reitze erhöhte. Doch schnell faßte sie sich wieder, und um von dieser Materie abzubrechen, sagte sie zu mir: darf ich fragen, wo jener andere Duval hingekommen ist, der Ihnen in Ihrer Krankheit eine so rührende Anhänglichkeit zeigte? Den habe ich bey mir, versetzte ich, und werde mich in meinem Leben nicht mehr von ihm trennen. Wer war denn dieser Duval? fragte ihr Oheim. Das Muster eines rechtschaffenen 86 Bedienten, war meine Antwort, die mir Anlaß gab, die Geschichte meiner Flucht und die häufigen Proben der Treue zu erzählen, die der Redliche mir gegeben hat.

Therese, oder wie ich sie hinfort nennen will, Clementine war tief gerührt; ihr Oheim, der während meiner Erzählung Messer und Gabel niedergelegt, und sich alle Gewalt angethan hatte, mich nicht zu unterbrechen, rief nun: Herr, den Mann muß ich kennen! vergessen Sie ja nicht, ihn morgen mit zu Tische zu bringen. Ich faßte seine Hand, die ich enthusiastisch drückte. Vergeben Sie mir, mein Herr, sprach ich innigst bewegt, dieses Wort sagt mir mehr, noch weit mehr von Ihnen, als alles, was Sie für mich gethan haben; ich werde Ihrem Befehle folgen. Clementine strahlte wie ein Engel, ihr Blick schien mir zu sagen, recht so, Freund, das habe ich erwartet.

Da unsere Güter kaum eine Tagreise von einander liegen, fuhr der Commandeur fort, so hoffe ich, daß Sie künftig Nachbarschaft mit uns pflegen werden; ich kann den Augenblick kaum erwarten, der mich in meine Einsiedeley zurückführen wird. Ein wichtiges Geschäfte, das aber auch zu Ende geht, hat mich bisher hier festgehalten. Ich fodere das Vermögen meiner Nichte und ihres Bruders zurück, deren Vater in den Mauren von Lyon den Tod des Helden starb. Clementine verbarg eine Thräne, 87 ihr Oheim sah sie zärtlich an: verbirg sie nicht, mein Kind! allein keinem edeln Manne darf dein Vater unbekannt bleiben. Dann wandte er sich gegen mich; als er mit dem Sohne sich in die Stadt warf, übergab er mir die Tochter. Der Sohn entrann der wüthenden Rache der Eroberer, er nahm Dienste unter einem Dragonerregiment. Er hätte auswandern können, allein der brave Jüngling that es nicht, um mich nicht der Gefangenschaft auszusetzen; er wußte nicht, daß ich bereits meine Freyheit verlohren hatte.

Das Wort Dragoner jagte mir all mein Blut ins Gesicht. Clementine bemerkte es, und ihre Verwirrung glich der meinigen. Sie stand auf, um das Caffeegeschirr hervorzulangen. Zum Glück war ihr Oheim zu sehr mit seiner Erzählung beschäftigt, um unsre Verlegenheit wahrzunehmen. Sie wissen, fuhr er fort, die Ursache meines Verhafts; ich konnte ihn voraussehen, und wäre ihm vielleicht durch die Flucht entgangen; allein ich lag damals am Podagra darnieder, und in der Nacht, da meine Wohnung von den Trabanten der Tyranney umzingelt wurde, wachte Clementine an meinem Bette. Ich bat sie, sich zu retten, sie wollte nicht; ich mußte ihr befehlen sich zu verbergen, sie gehorchte mir mit Thränen. Noch war kein Verhaftsurtheil gegen sie ergangen; dieses geschah erst nach ihrer Flucht. Doch das soll sie selbst Ihnen erzählen. Auch ich, 88 sagte Clementine, habe meine Rettung einem treuen Diener zu danken. – Goutier, der Gärtner meines Oheims, verbarg mich einige Tage in seiner Wohnung, während im Schlosse die Siegel angelegt wurden. Dann ließ er mich die Kleider seiner Tochter anziehen, und da er mir keinen Paß verschaffen konnte, gab er mir den Taufschein des Mädchens, den er bey Gelegenheit eines ihr zugefallenen Vermächtnisses enthoben hatte. Alsdann begleitete er mich in einer dunkeln Nacht über unwegsame Gebürge und durch dichte Waldungen nach einem Dorfe sechs Meilen von dem unsrigen, das wir noch vor Tag erreichten. Er brachte mich zu einem alten Priester, den er um Schutz für mich anflehte. Dieser beherbergte mich einige Tage; dann gab er mir einen Brief an die Frau La Rive, deren Verwandter er war, worinn er mich ihr als eine flüchtige Lyonerin auf das dringendste empfahl, ohne ihr mein Geheimniß zu entdecken. Ich kam glücklich bey ihr an, und mein Taufschein erleichterte ihr meine Aufnahme. Wie es mir bey der rechtschafnen Frau gieng, brauche ich nicht zu sagen; ihre mütterliche Liebe, wovon Sie Zeuge waren, verläugnete sich keinen Augenblick, und die Trennung von ihr fiel mir sehr schwer, ungeachtet ich an der Seite meines Bruders in die Arme eines Vaters zurückkehrte.

Ich wagte es, Clementinen zu sagen, mit 89 welcher Befremdung ich nach der Rückkehr meiner Vernunft ihre Abreise vernahm, und wie sehr ich über mich selbst zürnte, als ich die Gelegenheit verschlief, die der Zufall mit anbot, von ihrem Bruder den Ort ihres Aufenthalts zu erfahren. Ein ähnlicher Zufall, sagte sie, führte mich mit meinem Ferdinand zusammen, von dem ich seit unsrer Trennung nichts wußte; ich hatte ihn für todt beweint, als er mich eines Tages in Pruntrut überraschte. Er hatte einige Wagen mit Feldgeräthschaften von Belfort aus dahin begleitet und sein Quartier in unsrer Nachbarschaft bekommen. Ich saß am Fenster, er gieng vorbey: wir erkannten uns im gleichen Augenblicke, und er kam in meine Arme geflogen, ehe die frohe Bestürzung mir erlaubte, der Frau La Rive zu sagen, wer er sey. Nie werde ich den Antheil vergessen, den die gute Frau an unsrer Freude nahm, und die Sorgfalt, womit sie uns unser Geheimniß verbergen half. Hier warf mir das göttliche Mädchen einen Blick zu . . . . O Freund. wie gern wäre ich zu ihren Füssen gesunken. Es lag kein Vorwurf darinn, sondern der stille, schonende Triumph der Unschuld; ja wenn ich mich nicht sehr betrüge, so erwähnte sie dieses Auftritts absichtlich, um den Eindruck auszulöschen, den ihre nächtliche Zusammenkunft mit ihrem Bruder bey mir gemacht hatte. Es war ein grosses Glück, sagte der 90 Kommandeur, daß Ihr Euch antrafet, sonst würde ich vielleicht noch jezt nichts vom guten Ferdinand wissen. Goutier, an den ich gleich nach meiner Freylassung schrieb, konnte mir bloß deinen Aufenthalt anzeigen. Vermuthlich ist Ihr Neffe zu seinem Regiment zurückgekehrt, sagte ich zum Kommandeur. Ey freylich! erwiederte er, er ist im Requisitionsalter, mein Freund macht mir aber Hoffnung, daß er als Adjutant bey einem wackern General angestellt werden soll.

Nach Tische schlug der Kommandeur mir eine Parthie Schach vor: Clementine setzte sich mit ihrer Arbeit bey uns nieder. Du kannst dir einbilden, mein lieber M**, daß meine Gedanken auf einen ganz andern Gegenstand, als auf das Schachbrett geheftet waren. Ich spielte wie ein Schüler. Ich sehe wohl, sagte der Commandeur, als ich die zweyte Parthie verlohr, ich muß Sie in die Lehre nehmen, Sie sollen mich jeden Abend dazu bereit finden, und treffen Sie mich allenfalls nicht zu Hause, so kann meine Nichte mein Amt übernehmen. Ich glaube, daß ich ihm meinen Dank sehr albern ausdrückte, mein Herz glühte, und ich fürchtete beydes zu viel und zu wenig zu sagen. Der vortreffliche Mann behielt mich beym Abendessen, das aus einigen Tellern mit auserlesenen Früchten bestand. Die Unterredung wurde allgemein, und 91 Clementine, welche nun nicht mehr Therese war, entzückte mich durch die mannichfaltigen Schätze ihres Geistes, die aus allen ihren Reden hervorschimmerten. Ich weiß, mein lieber M**, du wunderst dich über die kalte Ordnung, womit ich dir jede Szene dieses festlichen Abends schildere. Beym Anfang meines Briefs war ich traun nicht dazu gestimmt; auch erwarte ich deine Danksagung für die Gewalt, die ich mir anthat, um dich durch jede Stufe der Ueberraschung zu führen, wovon noch izt meine wonnetrunkene Seele sich kaum erholt hat. O Freund! wie reichhaltig kann die Biographie eines einzigen Tages werden, und wie vieles habe ich noch mit Stillschweigen übergangen! Wirst du dich nun wundern, daß ich erst nach eilf Uhr die Gesellschaft des himmlischen Wesen verließ, in deren Mitte ich so unaussprechlich selig war. Ich vergaß dir zu sagen, daß der Kommandeur mir einen Brief von meinem lieben Roger zustellte, den er kurz vor Tisch erhalten hatte. Ich steckte ihn in meine Schreibtasche, und las ihn erst, als ich nach Hause kam; morgen werde ich dir ihn abschreiben; dagegen bitte ich dich, ihm den gegenwärtigen mitzutheilen. Der trefliche, unvergleichliche Freund! nun hoffe ich mehr als jemals ihn einst zu besitzen, oder mich wenigstens mit dem Kommandeur in seinen Besitz zu theilen. Sollte der Wunsch meines Herzens erfüllt werden, so 92 würde Clementinens Bitte mit der meinigen vereinigt, gewiß alle seine Einwendungen besiegen. Clementine! noch kann ich mich nicht an diesen Namen gewöhnen, so melodisch er auch meinen Ohren klingt. Gerne möchte ich Clementinen wieder in Theresen verwandeln, um als Gutsherr dem Dienstmädchen meine Hand zu reichen. Sobald der Beschlag aufgehoben ist, werde ich ihrem Oheim meine Absichten eröffnen. Es schlägt drey Uhr, die Feder entfällt mir. Gute Nacht!

 
Siebenter Brief.

Wenn Sie, lieber Freund, dieses Blatt erhalten, werde ich nicht mehr nöthig haben Ihnen Theresen aufsuchen zu helfen, und die Eremitin, denke ich, wird auch schon halbwege gefunden seyn. Seinem Beichtvater und seinem Arzte, sagte das Sprüchwort, soll man nichts verschweigen; hätten Sie Ihren Arzt zu Ihrem Beichtvater gemacht, so würde er Sie um einige Wochen früher hergestellt, und Sie würden die liebe Entflohene um einige Wochen früher eingeholt haben. Glauben Sie übrigens nicht, mein Freund, daß ich vor Theresens Abreise wußte, wer sie war. Hätte ich's gewußt, so würde ich mich der Schwesterstochter meines alten Freundes entdeckt, und wahrscheinlich Vollmacht von ihr erhalten haben, ihr Geheimniß meinem neuen Freunde mitzutheilen. Daß ich sie für einen leidenden Engel 93 hielt, der sich in einen Schleyer verhüllte, welchen ich nicht zu berühren wagte, eröffnete ich Ihnen gleich bey Ihrer Ankunft; daß aber diese schöne Unbekannte das Fräulein von Rochefort war, hat mir erst während Ihrer Krankheit ein glücklicher Zufall geoffenbahret.

Ich hatte so eben Ihr Bett verlassen und befand mich bey der Frau La Rive um ihr Nachricht von Ihrem Befinden zu geben, als Ferdinand hereintrat. Ich sah ihn ehedem als einen Knaben von 14 bis 15 Jahren bei seinem Oheim, und erkannte ihn sogleich. Von ihm erfuhr ich beides die Gefangennehmung und die Freylassung meines Freundes, dessen langes Stillschweigen ich den Zeitläufte zuschrieb. Von ihm erfuhr ich, daß Therese seine Schwester sey, die seit dem Tode ihrer Mutter bis zum Ausbruche der Revolution in einem Kloster erzogen wurde.

Ihnen, mein Theuerster, der die Freundschaft kennt, der nun meinen lieben Kommandeur kennen muß, Ihnen der sich so oft mit mir vereinte um der trauernden Therese ein besseres Loos zu wünschen, Ihnen darf ich die Gefühle nicht schildern, wovon mein Herz bei dieser Entdeckung überfloß. Ich gab dem vortrefflichen Mädchen einen Brief an ihren zweiten Vater mit, worinn ich ihn mit meinen spätern Schicksalen bekannt machte. Schon damals 94 vergaß ich meinen Beaumont nicht. Ich meldete dem Kommandeur, daß die Krankheit eines Freundes mich nöthige, meinen Brief abzubrechen. Rette ich ihn, wie ich hoffe, setzte ich hinzu, so werden seine Geschäfte ihn nach Paris rufen, und dann sollten Sie ihn kennen lernen, er verdient auch Ihr Freund, und ins Ohr gesagt, er verdient noch mehr zu werden.

So sehr Sie mir Ihre Liebe verbargen, so war sie mir doch schon damals nicht entgangen; in Ihrer Krankheit entdeckte ich vollends Ihr ganzes Geheimniß, Sie verriethen es mehr als einmal in Ihren Phantasien. Selbst Therese bedurfte des letzten nächtlichen Abentheuers nicht, um davon überzeugt zu werden, und ich glaube nichts zu wagen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie den Weg zu ihrem Herzen gefunden haben. Die Aengstlichkeit, womit sie sich immer nach Ihrem Zustand erkundigte, der warme, dringende Ton, womit sie mir bei ihrem Abschied ihre Grüsse an Sie auftrug, sind mir Bürge für meine Behauptung. Ihr Zartgefühl und das Incognito ihres Liebhabers legten ihr eben die Zurückhaltung auf, wodurch Sie, mein edler Freund, das Maas der Hochachtung gehäuft haben, die Sie mir schon bei den Ruinen meiner Klause einflößten.

Nun haben Sie nicht mehr nöthig, Ihre Liebe zu bekämpfen, und Ihr Herz zum Stillschweigen zu 95 verdammen; auch Duval kann sein Incognito ablegen und zugleich mit Theresen hinter dem Vorhange hervortreten. Hoffentlich ist es bereits geschehen. O was wollte ich darum geben, daß ich hätte Zeuge dieser Szene seyn können! Ja, mein Freund, wenn auch das Siegel des Geheimnisses mir nicht den Mund geschlossen hätte, so würde ich dennoch Clementinen den wahren Namen ihres Liebhabers verhehlt haben, um ihr die Freude einer Ueberraschung zu verschaffen, die sie für den Aufschub dieser Entdeckung so reichlich entschädigen wird. Selbst der kritische Augenblick, worin das gute Kind Sie verließ, würde mich abgehalten haben, mein Stillschweigen zu brechen. Wären Sie unter der Macht Ihrer Krankheit erlegen, so würde Clementinens Schmerz desto grösser gewesen seyn, wenn sie erfahren hätte, daß der Anbeter des Dienstmädchens des Fräuleins würdig war. Ich weiß, ich habe nicht nöthig, Sie um Nachrichten von dem Fortgang Ihres Geschäftes und Ihrer Liebe zu bitten.

Vom schauerhaften Ende des unglücklichen Robert sage ich nichts; möge sein Richter ihm vergeben, wie ich ihm vergebe. Gesetzt auch, es wäre unnüz, es wäre kindisch, die göttliche Gerechtigkeit um Gnade für einen Missethäter anzuflehen, so gestehen Sie mir, Freund, der Irrthum ist zu menschlich, zu schön, um die Religion einer fühlenden Seele 96 zu entstellen, um eine Gottheit zu beleidigen, die Liebe gebeut, und selbst lauter Liebe ist. Wer das Daseyn dieser Gottheit läugnet, würde freylich über meinen Aberglauben die Achseln zucken, aber vor Ihnen, edler Beaumont, darf ich mich nicht verbergen, selbst in Ihren Fieberträumen haben Sie mir die süsse Ueberzeugung bestätigt, daß wir gleichförmig denken. Oh wahrlich ohne diese Ueberzeugung hätte ich meine Hand nicht ausgestreckt, um Sie Ihrer Geliebten entgegen zu führen, ich weiß nur allzuwohl, was für ein fürchterlicher Gefährte ein Mann ohne Religion für ein frommes, zutrauliches Geschöpf ist, das sein Schicksal mit ihm verbindet. Nein, lieber Freund, wenn Ihre Philosophie nicht über die Wolken und jenseits des Grabes hinausblickte, so hätte ich Clementinen vor Ihnen verstecken, ich hätte sie vor Ihnen warnen müssen: Doch alsdann wären wir auch keine Freunde geworden, und Ihr Herz würde mir keinen Platz in Ihrer Einsiedeley angewiesen haben.

O glauben Sie mir, mein Bester, dieser Plan hat großen Reiz für das meinige; aber auch das Versprechen, das ich meinen guten Thalbewohnern geleistet habe, ist mir lieb und heilig. Fahren Sie nur erst die Eremitin heim, dann wollen wir sehen, was zu thun ist. Da unsre Gesetzgeber einen neuen Kalender gemacht haben, so kann ich ja wohl auch 97 einen machen; ich kann das Jahr in drey Theile theilen, wovon zween Ihnen und meinem ältern Freunde, der dritte den Nachbarn meiner ersten Klause gewidmet seyn können. Gott! welch' eine himmlische Aussicht öffnest du mir für den Winter meines Lebens! allein ehe ich meinen jetzigen Posten verlasse, muß ich erst so viele Kranke heilen, so viele Sterbende trösten, als du mir zusendest. Dann erst wird es mir erlaubt seyn, die Ruhe zu suchen, und in den Armen der Freundschaft meine Tage zu beschliessen. Bis dahin, mein Theurer, werde ich aus der Ferne Sie segnen, wie ich Sie jetzt aus der Ferne an mein Herz drücke.

 
Achter Brief.

Ich schrieb dir, mein lieber M**, vor drey Tagen. Vor drey Tagen? wie lächerlich kömmt mir dieses Zeitmaß vor: Es giebt für mich keine Tage, keine Stunden mehr, ich kenne nur Momente, in deren jedem der Genuß einer unendlichen Seligkeit liegt. Nun will ich's versuchen, den goldnen Faden meines Tagebuchs wieder aufzunehmen, wo ich ihn damals niederlegte. Noch muß ich nachholen, daß mein guter Duval, den ich schon auf der Schwelle meines Zimmers mit den Worten grüßte: »Therese ist gefunden, sie ist die Nichte des Kommandeurs, meines Beschützers,« in stummer Verzückung vor mir stehen blieb, und sich die Augen rieb, 98 um gewiß zu seyn, daß er nicht träume. Der Strudel meiner Freude rüttelte ihn auf, und riß ihn mit fort. Es war gut, daß er sich von meinem Rausch anstecken ließ, ein kalter Zuschauer würde mich rasend gemacht haben. Nun, nun, dachte ich's doch, sagte er endlich, daß diese Jungfer Therese was rechtes seyn müßte; sie hatte etwas so feines, so huldreiches, so vornehmes in ihrem Gesichte, in ihren Manieren, in ihrem Gange, daß man sie für kein gemeines Mädchen halten konnte. Nach einer Pause fuhr er schmunzelnd fort: wäre das nicht eine Gemahlinn für Sie? wenigstens haben Sie in Ihrer Krankheit unaufhörlich von ihr gesprochen, und ich bin gewiß, daß sie Ihnen recht gut ist. Als es so gefährlich um Sie stand, waren ihre Augen immer roth geweint, und im Augenblicke, da sie verreiste, sagte sie, indem sie mir die Hand reichte; ich möchte doch ja wohl Acht zu Ihnen haben. Diese Erzählung gab meinem Wonnetaumel eine neue Nahrung. Ich sagte dem ehrlichen Duval, daß er morgen mit Theresen bei ihrem Oheim zu Mittag speisen sollte. Seine Augen wurden feucht: oh da sind Sie gewiß Schuld daran. Der General, antwortete ich, will den Mann kennen lernen, dem ich so vieles zu danken habe. Ich will wohl mitgehen, versetzte er, denn dieser General muß ein braver Mann seyn; allein es that mir immer weh, wenn Sie und Herr 99 Roger es mir so hoch anrechneten, daß ich als ein ehrlicher Kerl handelte; da wird mich nun der Herr General auch als ein Wunderthier ansehen, und da werde ich wie ein dummer Junge vor ihm stehen.

Am folgenden Tage (es war vorgestern) stellte ich ihn dem ehrwürdigen Greise vor; er schüttelte ihm freundlich die Hand, und Clementine bewillkommte ihn mit bezaubernder Güte. Ein solcher Empfang mußte ihm Muth machen. Dieses geschah auch; nur wenn man von ihm selbst sprach, gerieth er in Verlegenheit. Bey Tische hieß ihn der Kommandeur neben sich sitzen, und schwatzte unaufhörlich mit ihm. Dieses drang dem guten Menschen an's Herz: Herr General, rief er endlich im Enthusiasmus seines Dankgefühls aus, Sie sind noch stark und munter, wenn Sie wieder ins Feld gehen wollen, so zerreisse ich meinen Abschied, und marschiere mit; wir schlagen uns jezt nicht mehr für die Jakobiner. Du vergissest, mein Sohn, sagte der Kommandeur, daß der Ritter sich nicht mehr von dir trennen will. O ja doch, antwortete er, für einen oder zwey Feldzüge wird er mich schon fort lassen; länger wird der Krieg wohl nicht mehr dauern; komme ich dann mit noch einigen Wunden zurück, so ist es Zeit genug, daß ich hinter den Ofen sitze, und in Ihrer Nachbarschaft werden die Wunden nicht ausbleiben, mein Herr hat mir erzählt, 100 daß Sie vier schöne Narben aus dem siebenjährigen Kriege heimgebracht haben. Mit mir ist's vorbey, sprach der Kommandeur, indem er ihm liebreich auf die Schultern klopfte, und wenn du nur mir zu lieb in den Krieg ziehen willst, so magst du deinen Abschied immer in der Tasche behalten. Nun so bleibe ich auch zu Hause, erwiederte er, ich hätte nur gern mit meinem Kopf oder mit meiner Brust einen Hieb auffangen wollen, der auf Sie gemünzt war. Jetzt reichte ihm Clementine ein Glas Burgunder. Es ist ein Landsmann, mein Sohn, sagte der General, und ich hoffe, wir werden künftig noch mehr als eine Flasche mit einander leeren. So oft Sie mich besuchen, bringen Sie ihn mit. Sehr gern, Herr Kommandeur, erwiederte ich, es wird für uns alle beyde ein Fest seyn, uns im Glanze Ihrer Tugend zu sonnen.

Nach der Mahlzeit entfernte sich der bescheidene Duval, wir unterhielten uns noch lange von ihm. Endlich holte der Kommandeur sein Schachbrett herbey, um mir, wie er sagte, Revanche für gestern zu geben. Ich erhielt sie wirklich, denn ich gewann die Parthie. Machen Sie nun eine mit meiner Nichte, sagte er, ich will indessen zu meinem Freunde gehen, und mich nach Ihrer Angelegenheit erkundigen. Clementine nahm seine Stelle ein, und er verließ uns. Mein Herz klopfte; die schönste 101 Verwirrung mahlte sich in den Zügen des himmlischen Mädchens; so reizend sah ich sie noch nie. Wir sassen einander gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen; die Steine lagen noch unaufgestellt auf dem Tische, und ich hatte es schon mehrmals umsonst versucht, meine Lippen zu öffnen, als der Kommandeur mit strahlender Miene wieder ins Zimmer trat. Ich bin dem Bedienten meines Freundes unten an der Thüre begegnet; da lesen Sie, was er mir schreibt. Das Billet enthielt die Nachricht, daß meine Sache zu meinem Vortheil entschieden sey. Das ist Ihr Werk, sprach ich, und fiel meinem Wohlthäter um den Hals, er küßte mich mit väterlicher Zärtlichkeit. Clementine war von ihrem Stuhl aufgestanden, die Freude blitzte aus ihren Augen. Ihr Oheim sah sie liebreich an. Du darfst ihm wohl auch einen Kuß geben, mein Kind, sprach er, indem er sie bey der Hand herbeyzog. Clementine reichte mir ihre hochglühende Wange. O frage mich nicht, lieber Freund, was ich empfand, als ihre Wange die meinige berührte. Nun wäre es Zeit gewesen, zu reden, und ich konnte nicht reden, aber eine Thräne entglitt meinem Auge, und Clementinens Wange faßte sie auf. Sie wischte sie nicht ab, ich sah sie wie einen Thautropfen am Busen der jungen Rose vertrocknen.

Der vortrefliche Greis labte sich eine Weile an 102 unsrer Verwirrung. Clementine sank auf ihren Stuhl, denn ich konnte bemerken, daß ihre Bewegung unwillkührlich war. Ich schwieg noch immer. Morgen nach Tische, sagte der Kommandeur, (es versteht sich, daß Sie bey mir speisen) werde ich Sie zu meinem Freunde, und in die Canzley des Comite führen; täglich müssen wir nun die Ausfertigung des Urtheils betreiben; die Geschäfte sind so gehäuft, daß nur diejenigen Sollicitanten abgefertigt werden, welche die Bescheidenheit bey Seite setzen.

Nun fiel das Gespräch auf mein Vorwerk, ich mußte ihm seine Lage, seine Bestandtheile, seine Einrichtung beschreiben. Zum erstenmal in meinem Leben ward ich ein Landschaftsmahler; mein Schlößgen, mein Garten, meine Aecker und Wiesen, mein Forellenbach und mein Rebhügel, alles mußte meinem Pinsel herhalten. Das Erbe meiner Väter lag wie ein neugefundenes Land vor meinen Augen, und wahrlich das ist es im buchstäblichen Verstande. Clementine hörte mir mit heiterer Gefälligkeit zu, und mischte bisweilen eine Frage unter die ihres Oheims. Und dieses schöne Gut, sagte er zuletzt, haben Sie als ein Eremit bewohnt. Ja, mein Herr, versetzte ich tief bewegt, aber nicht weil ich das Einsiedlerleben vorzog, sondern weil ich noch nicht wußte, wo ich die Gefährtin suchen sollte, der ich bey dem Talent den Einsiedler zu beglücken, den Muth 103 zutrauen konnte, die Einsiedeley zu beziehen. Schüchtern sah ich Clementinen an, ihr Antlitz glich dem Antlitz Aurorens, ihr Auge senkte sich in ihren Busen, und ich bemerkte, daß meine Antwort selbst ihren Oheim überraschte, doch schien sie ihm nicht zu mißfallen.

Um Clementinen aus ihrer Verlegenheit zu ziehen, sagte er zu ihr: ich habe deine Parthie mit dem Ritter unterbrochen, laß sehen, ob du glücklicher seyn wirst, als ich. Ey, versetzte sie, lieber Onkel, Sie wissen nicht, daß es bald Zeit ist, unser Abendbrod einzunehmen, wir wollen die Parthie auf morgen versparen. Sie stand auf, und befahl dem Bedienten die kleine Tafel zu decken. Anfänglich nahm sie wenig Antheil an unserm Tischgespräche; die gute Laune des Kommandeurs mochte sie eine Rückkehr zum vorigen Gegenstande besorgen lassen; nach und nach aber verschwand dieser jungfräuliche Zwang, der sogar nichts mit der Affektation gemein hat. Sie goß wieder Geist und Leben in unsre Unterredung, und es war abermals Mitternacht, als ich wonnesatt in meinem Quartier anlangte. Die Nachricht, die ich mitbrachte, verursachte dem ehrlichen Duval einen neuen Jubel. Der Kommandeur ist sein Held; wohl zehnmal sagte er: hören Sie, das ist ein unvergleichlicher Mann. Wir verplauderten noch eine ganze Stunde, und wenn ich 104 ihn nicht zu Bette geschickt hätte, so würde der Tag uns noch beysammen gefunden haben.

So weit war ich gestern mit meinem Briefe, als das liebliche Herbstwetter mich einlud, vor Tische den Garten der Tuilleries zu besuchen. Ich wandelte in einer Welt umher, und ward es nicht gewahr; ich trug meine Welt in meinem Herzen. Die Stunde der Mahlzeit rückte heran; ich war bereits auf meinem Rückwege begriffen, als ein acht bis neunjähriger Knabe in einem abgetragenen, aber sehr reinlichen Matrosenkleide zu mir trat, und aus einem niedlichen Körbchen, das an seinem Arme hieng, mir einen Strauß anbot. Der Knabe glich einem Liebesgott: Unschuld und Zärtlichkeit sprachen aus seinen Blicken; sie durchdrangen mein Herz. O lieber M**, wenn eine edle, reine Glut unsern Busen erwärmt, so verbreitet sie ein sanftes Wohlwollen über alles, was uns umgibt. Ich nahm dem Kinde den Strauß ab, und legte ihm einen kleinen Thaler in sein Körbchen. Ach, mein Herr, mein lieber Herr, haben Sie sich nicht betrogen? ist das alles für mich? rief der Knabe, indem er mit weinenden Augen zu mir hinaufblickte, und meine Kniee umarmte. Ja, mein kleiner Freund, es ist für dich, antwortete ich, indem ich seine Backen streichelte, die ein paar dicke braune Locken beschatteten. O Dank, Dank, lieber Herr! ach meine Mutter, meine gute 105 Mutter! was wird sie sagen? so reich waren wir schon lange nicht mehr. Deine Mutter? mein Kind; wer ist deine Mutter? wo ist sie? O mein Herr, sie ist krank, sie weint immer, sie wohnt . . . . sie wohnt . . . . ich weiß nicht, wie die Strasse heißt, aber es ist nicht sehr weit von hier, oh sie ist so gut, und so unglücklich. Seitdem mein Vater . . . (hier trat er dichte zu mir) sie haben ihn getödtet; sagen Sie das keinem Menschen, meine Mutter hat mir's verboten, allein ich weiß, Sie werden es niemanden sagen, Sie sind ja auch gut.

Das Herz brach mir; führe mich zu deiner Mutter, mein Kind; komm! Ich ergriff ihn bey der Hand; der Knabe blieb stehen, und sah mich steif an. Fürchte nichts, lieber Kleiner, ich will deine Mutter sprechen. Wollen Sie das? nun wohl; aber . . . . er legte den Finger auf die Lippen. Sey ruhig, mein Sohn, ich werde ihr nichts sagen. Der Knabe gieng an meiner Hand durch verschiedene Strassen. Von Zeit zu Zeit sah er mich an, ich war gerührt, meine Blicke sagten es ihm, und flößten ihm Muth ein. Je weiter wir giengen, jemehr beschleunigte er seine Schritte. Dort, dort wohnt sie! rief er endlich, als wir ein enges Gäßchen einschlugen, dort in jenem schwarzen Hause. Es war wirklich ein altes, rauchigtes Gebäude, und nun traten wir in die Thüre. Wir stiegen, oder vielmehr wir kletterten, 106 vier Treppen hinauf. Jetzt klopfte er an einem Dachstübchen an. Mach auf, liebe Mutter, ich bin's. Ich hörte langsam schleichende Fußtritte, die Thüre ward geöffnet. Eine bleiche abgezehrte Person, die sich kaum aufrecht hielt, stand vor mir. Sie wankte zurück, als sie mich wahrnahm. Erschrecken Sie nicht, Madame, sagte ich, Ihr liebenswürdiges Kind . . . . Der Knabe unterbrach mich. Da sieh, sieh, liebe Mutter, was er mir gegeben hat. Er hob den Thaler empor, und legte ihn ihr in die Hand. Ich danke Ihnen, mein Herr, möchten Sie sich nicht einen Augenblick niederlassen, erlauben Sie, ich bin zu schwach. Sie setzte sich, und der Knabe rückte mir einen alten Strohstuhl vor seine Mutter hin. Ein Nährahmen lag neben ihr auf einem Tische, über welchem an einem Florband ein Miniaturbildniß hieng. Es stellte einen Offizier in blauer Uniform mit dem Ludwigsorden vor. Dieses Bild, Madame, sagt mir, daß ich mich im Heiligthume der leidenden Tugend befinde, vermuthlich sind Sie Wittwe? Ja mein Herr, die Wittwe eines edeln, rechtschaffenen Mannes. Ihre Thränen flossen. O weine nicht, liebe Mutter, sagte der Kleine, indem er ihre Hand ergriff, dieser gute Herr da kann ja nichts dafür, daß . . . . Er warf sein Auge auf das Gemählde; sie schloß ihm den Mund mit einem Kusse. Es war kein unbescheidener Vorwitz, Madame, der mich 107 hieher führte; darf ich Sie um Ihren Namen fragen? Man kennt mich in diesem Hause unter dem Namen der Wittwe Latour. Ich weiß genug, Madame. Ich zog meine Brieftasche heraus, als wollte ich mir ihren Namen aufmerken, in der That aber um ein Assignat heraus zu langen. Sie erlauben mir doch, Madame, Sie wieder zu besuchen? Ach, mein Herr, was wollen Sie in der Wohnung des Unglücks thun? Es verehren, antwortete ich, indem ich aufstand, das Assignat auf den Tisch legte, und so geschwind ich konnte, davon eilte.

Es war bald fünf Uhr, als ich beym Kommandeur ankam; man saß bereits zu Tische. Ey, ey! rief er, wir glaubten, Sie hätten uns vergessen, geschwind setzen Sie sich; allein Sie sehen mir so niedergeschlagen aus, was ist Ihnen begegnet? Doch nein, essen Sie zuerst, dann sollen Sie mir antworten. Mein Herz war beklommen, ich konnte wenig essen. Clementine sah mich bisweilen an, meine Miene schien sie zu beunruhigen. Beym Nachtisch wiederholte der Kommandeur seine Frage, und ich erzählte meine Begebenheit. Nur unterließ ich, um Clementinens willen, bey dem Berichte des Knaben der Todesart seines Vaters zu erwähnen; dem ungeachtet schwammen ihre schönen Augen in Thränen. Da müssen wir hingehen, rief der Kommandeur, wenn wir von unserm Besuche zurückkommen. 108 Lieber zuvor, sagte Clementine mit leiser, schluchzender Stimme. O Freund! dieses Wort war Engelsmusik für mein Herz, dessen Segen sie in meinen Augen lesen konnte. Du hast recht, mein Kind, erwiederte ihr Oheim, es möchte hernach zu spät werden; kommen Sie, mein Freund, ich sehe ja doch, daß Sie keinen Appetit haben. Zum erstenmal nannte er mich seinen Freund. O mein Herr, rief ich, indem ich ihn umarmte, jeder Tag meines Lebens soll dem heiligen Bestreben gewidmet seyn, diesen Titel zu verdienen.

Auf meinen Arm gestützt, machte er sich mit mir auf den Weg. Wir mußten hundert Wagen ausweichen, die nach den Schauspielen und andern Sammelplätzen des Wohllebens hinrollten. Sehen Sie, sagte der Kommandeur, wie die neuen Reichen sich mit dem Raube ihrer Schlachtopfer brüsten. Die Hälfte des Geldes, das sie diesen Abend den Histrionen und Buhlerinnen darwerfen, würde hinreichen, tausend hungrige Familien, die sie arm gemacht haben, zu sättigen. Schon standen wir am Eingange der Trauerhöhle; auf meinen Ruf öffnete der Knabe die Thüre. Wir traten hinein, die Wittwe lag auf ihrem elenden Bette. Sie richtete sich erschrocken auf; der Kommandeur nahte sich ihr: Vergeben Sie, Madame, daß ich Sie in Ihrer Ruhe störe, allein ich konnte meinem Freunde die Ehre 109 nicht allein lassen, die Ihr liebes Kind ihm heute verschaffte. Die Wittwe neigte sich tief vor dem majestätischen Greise, dann wandte sie sich zu mir: oh mein Herr! nicht mein Kind, ein Engel Gottes hat Sie zu mir geführt.

Der Kommandeur hatte sich im Stübchen umgesehen, und das Gemählde über dem Tisch erblickt. Ist dieß das Bild Ihres Gatten? fragte er hastig. Ja, mein Herr, erwiederte die Wittwe mit zitternder Stimme. So seyn Sie mir willkommen, Weib meines Jugendfreundes, meines theuren, unvergeßlichen Vernon, ich weiß, daß er am 10ten August . . . er konnte nicht ausreden, seine Thränen fielen auf die Hand der Wittwe, die er an seine Brust drückte; die meinigen, lieber M**, fallen auf dieses Blatt; erlaube mir, meine Erzählung abzukürzen. Vernon diente unter der ehemaligen Leibwache des Königs; er war ein inniger Freund des Kommandeurs. Da aber dieser auf seinen Gütern lebte, so hatte er ihn schon über zwölf Jahre nicht mehr gesehen, viel weniger kannte er seine Gattin, die er erst vor zehn Jahren geheyrathet hatte. Sein Tod stürzte sie in das äusserste Elend; die Verwandten ihres Mannes waren alle ausgewandert; bey ihren eignen, welche selbst arm waren, und größtentheils in den Gefängnissen schmachteten, konnte sie keine Hülfe suchen. Sie ernährte sich durch ihre 110 Nadel, und durch das Geld, das der kleine Lolo bisweilen nach Hause brachte, seit einigen Wochen aber lag sie an einem dreytägigen Fieber darnieder, und eben jetzt war ihr Mangel aufs höchste gestiegen. Erlauben Sie mir, Madame, sagte der Kommandeur, daß ich Ihnen einen Arzt sende; ehe wir andere Plane machen, müssen wir vor allen Dingen für Ihre Gesundheit sorgen, denn ich hoffe, Sie werden mir das Vergnügen nicht versagen, Sie von nun an unter meine Familie zu zählen. Das Bild der Wittwe; oh Freund! dazu giebt es keinen Pinsel, keine Farben; aber ich weiß, vor deiner Seele schwebt es in seiner ganzen traurig heitern Würde.

Der kleine Knabe wand sich am Kommandeur hinauf; er hieng ihm an den Hals; sein Mund klebte an seinen Wangen. O! lieber, lieber Herr, rief er, Sie wollen meine Mutter gesund machen; jeden Morgen, und jeden Abend will ich für Sie beten; und auch für Sie (hier wandte er sich nach mir) auch für Sie, nicht wahr Sie sind der Sohn dieses guten Mannes? oh gewiß, gewiß ist er Ihr Vater. Ja, liebes Kind, das ist er, mein wahrer Vater. Ein zärtlicher Blick des Kommandeurs bejahete meine Aussage; er küßte den Knaben, er preßte ihn an seine Brust. Hast du, sprach er zu ihm, keine Sträuße mehr? O ja! noch sechs. Er entglischte den Armen des Greises., und holte sein Körbchen herbey. 111 Der Kommandeur nahm einen davon, und verbarg unter die übrigen einige Louisdor. Ein nothwendiges Geschäft ruft uns ab; morgen, Madame, werden Sie uns erlauben, uns nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen. Er verbeugte sich ehrerbietig und ohne ihre Antwort zu erwarten, wischte er mit mir zum Zimmer hinaus, weil der Knabe so eben mit einem grossen Freudengeschrey die Goldstücke in seinem Körbchen entdeckt hatte.

Stillschweigend wandelten wir unsre Strasse fort, was hätten wir uns sagen sollen? jeder las in des andern Seele. Der Kommandeur stellte mich seinem Freunde vor; er empfieng mich mit einer wohlwollenden Achtung, welche mir bewieß, daß die Greuel der Schreckenszeit die edeln Gesinnungen zwar zurückhalten, aber nicht vertilgen konnten. Bis morgen, sagte er, soll Ihr Arrete unfehlbar ausgefertigt werden. Wir giengen hierauf in die Kanzley, und der Sekretär, dem die Ausfertigung aufgetragen war, wiederholte mir dieses Versprechen.

Nun eilten wir nach Hause; Clementine erwartete uns mit Ungedult. Wir mußten ihr die Szene, wovon unser Herz noch so voll war, mit den kleinsten Umständen erzählen, und was der Kommandeur verschwieg, hatte ich die Freude zu ergänzen. Er gab Clementinen seinen Strauß, sie küßte ihn, und steckte ihn an ihren Busen. Sein erstes 112 Geschäft war, seinen Bedienten mit einem Briefe an einem ihm bekannten Arzt zu schicken, den er dringend bat, unsre Patientin unverzüglich zu besuchen, und ihr seine ganze Sorgfalt zu schenken. Dieses wäre so was für meinen lieben Roger, wie gern hätte ich ihn herbey gezaubert; allein da er unser schönes Tagwerk nicht mit uns theilen konnte, so soll er wenigstens unsre Empfindung mit uns theilen. Ich bitte dich, mein guter M**, ihm auch diese Blätter zuzuschicken.

Den ganzen Abend umwehte uns eine sanfte Melancholie, und dennoch, lieber M**, gehört auch er unter die schönsten meines Lebens. Was für eine herrliche Reliquie ist ein Tuch, das eine abgetrocknete Thräne der Tugend verwahret, und diesen Schatz brachte ich gestern mit mir nach Hause. O Clementine! welch eine reiche Quelle neuer, hoher Gefühle hast du in meinem Busen aufgedeckt! Ja, Freund! wen ein gutes Weib nicht gut machen kann, an dem würde selbst das Fegefeuer seine Kraft verlieren. Gestern legte die Feyer des Tages meiner Liebe ein Stillschweigen auf, oder vielmehr, das Unglück einer schuldlosen Familie erlaubte mir nicht, an meinem Glücke zu arbeiten, aber heute, diesen Morgen noch, sobald mein Brief gesiegelt ist, werde ich zum Kommandeur eilen, und ihn um die Erlaubniß bitten, seiner Nichte ein Herz anzubieten, das durch 113 die Verbindung mit dem Ihrigen nur erst ihrer würdig werden kann. Lebe wohl, Bester, und auch Sie, lieber Doktor; mein nächster Brief wird an Sie gerichtet seyn. Gott! was wird er enthalten.

 
Neunter Brief.

Ihre Weissagungen, lieber Gottesmann, der kühnste, herrlichste Plan meiner Phantasie, der feurigste, süsseste Wunsch meines Herzens, alles, alles ist erfüllt. Erfüllt? ja, ja, glauben Sie mir's, ob ich gleich selbst es kaum noch glaube, Clementine, denken Sie sich das, ist meine Braut! Ich berufe mich auf die Briefe, die ich an meinen lieben M** schrieb, und die er Ihnen ohne Zweifel mitgetheilt hat. Sie wissen also, daß ich, und wo und wie ich Theresen gefunden habe. Was sage ich? Sie wußten ja vor mir, daß ich sie finden würde. Sie, Sie, mein väterlicher Freund, mein gröster Wohlthäter, haben mich ihr ja in die Arme geführt. Nun lassen Sie mich Ihnen meine Erzählung fortsetzen. Sie ist auch für dich, liebster M**, dir schicke ich sie zu, damit du sie zuerst lesen, und dann meinem, nein unserm Roger übersenden sollst. Unmöglich kann ich zweymal erzählen, was ich im Taumel meiner Freude kaum noch denken, kaum einmal mit blassen, magern, nervenlosen Worten aufs Papier werfen kann. Sehen Sie, wie sie zittern vor meinem Herzen, das ihnen ihre Untreue, ihre Ohnmacht vorwirft.

114 Ich überblicke das Geschriebene, werden Sie nicht, mein lieber Doktor, einen Rückfall in mein hitziges Fieber für mich befürchten? Befürchten Sie nichts, aber lassen Sie mich Athem holen. Warum wollte ich Ihnen auch im Augenblicke schreiben, da ich von Clementinen mit der Bürgschaft meines Glückes, mit ihrem Herzen in meiner Hand zurückkam. Doch wird das meinige wohl jemals leiser schlagen, wird mein Blut jemals kühler durch meine schwellenden Adern rollen, wenn ich von Clementinen reden, wenn ich die Worte niederschreiben werde: Clementine ist mein!

Heute gieng ich schon vor zwölf Uhr zum Kommandeur, mein fester Vorsatz war, ihm zu entdecken was er schon wußte. Ich traf ihn nicht an, sein Bedienter sagte mir, er sey vor einer Stunde mit dem Fräulein ausgefahren. Vermuthlich, um freye Luft zu schöpfen, dachte ich. Es war ein milder, herrlicher Morgen; ich beschloß ein gleiches zu thun, unterweges fiel mir aber unsre Patientin ein, ich besann mich anders, ein Besuch bey ihr war doch wohl der schönste Spaziergang. Ich eilte nach ihrer Wohnung, ich öffnete sachte ihre Thüre, sie war nicht verschlossen. O Freund, welch ein Anblick, die Kranke saß aufrecht in ihrem Bette, Clementine stand vor ihr, und reichte ihr eine Arzney, Lolo hielt ihren Fächer in der Hand und betrachtete das 115 Gemälde. Ich blieb stehen, eine stumme Anbetung war mein Gruß. Nun hatte die Kranke getrunken; ein freundliches Kopfnicken des göttlichen Mädchens bewillkommte mich, indem sie den Arzneybecher auf ein Tischchen stellte, das neben dem Bette stand. Lolo ließ seiner Mutter nicht Zeit ein Wort zu sagen. Er sprang auf mich zu; ach lieber, guter Herr, kommen Sie auch wieder zu uns? Er wollte mir die Hände küssen, ich umarmte ihn. O denken Sie, denken Sie nur, Mama hat wohl geschlafen, und der Arzt, der gestern Abends noch bey uns war, versicherte mich, sie werde ganz gewiß gesund werden. Da sehen Sie nur, wie heiter ihre Augen sind, das macht, sie weint nicht mehr; o sehen Sie nur, sie ist schon wirklich besser. Sagt Ihr liebes Kind die Wahrheit, Madame? fragte ich, indem ich mir einen Stuhl unten an das Bett Clementinen gegenüber setzte. Ja, mein Herr, erwiederte sie, die Hälfte meines Lebens brachten Sir mir gestern wieder, und diese himmlische Erscheinung (auf Clementinen weisend) hat ihr Werk vollendet.

Lolo. Ihr Vater, lieber Herr, der gestern Abends mit Ihnen kam, hat die schöne Dame zu uns gebracht; nicht war, es ist Ihre Schwester?

Clementine erröthete.

Ich. Nein, liebes Kind.

Lolo. Ah! nun weiß ichs; es ist Ihre Frau. 116

Ich. Hätte ich eine Welt, so würde ich sie darum geben, wenn sie das wäre.

Lolo sprang zu Clementinen und faßte mit beyden Händen ihren Lilienarm, den er mit der zärtlichsten Inbrunst küßte. O seyn Sie es, Liebe! seyn Sie seine Frau! er ist ja auch so gut, ja gewiß so gut, wie Sie, Sie hätten es nur gestern sehen sollen. Ein röthlicher Schatten überzog die bleichen Wangen der Mutter: Verzeihen Sie ihm, Mademoiselle. Clementine zwang sich zu lächeln, sie wußte sich kaum zu fassen; allein ihre Verwirrung verrieth keinen Unwillen. So gern ich die Bitte des kleinen Schwätzers unterstüzt hätte, so war doch hier nicht der Ort zu einer Liebeserklärung.

Um ihrer Verlegenheit ein Ende zu machen, fragte ich sie halbleise: wo haben Sie denn Ihren Herrn Oheim gelassen? – Er ist zu seinem Freunde, dem Repräsentanten, gefahren und wird mich wieder hier abholen. Wirklich, glaube ich, hält sein Wagen vor dem Hause. Ich gieng ans Fenster; es war so. Der Kommandant stieg eben heraus; ich eilte hinunter, um ihm den Arm zu geben. Ach so, Sie sind auch hier! sagte er froh überrascht, als er mich erblickte. Ja, mein Herr, ich war in Ihrer Wohnung und traf niemanden an; ich benutzte diese Zwischenzeit, um unsre Kranke zu besuchen, und fand . . . . was Sie vermuthlich nicht suchten, nicht wahr? Den 117 ganzen Morgen lag Clementine mir an, ich möchte sie doch zu unsrer interessanten Wittwe begleiten; ich mußte wohl der lieben Quälerin gehorsamen; nun können sie mit uns nach Hause fahren.

Wir blieben noch ein Viertelstündchen bey der Kranken. Beym Weggehen sagte der Kommandeur zu ihr: Auf Wiedersehen, Madame, bald hoffe ich sollen wir nähere Nachbarn werden. Ich brauche Ihnen die Sorge für Ihre Gesundheit nicht zu empfehlen. Er gieng voran, und überließ mir Clementinen; ich reichte ihr die Hand, und half ihr die halsbrechende Treppe hinabklimmen. Ich wagte es ihre Hand zu drücken; oh sie mußte es fühlen, daß ich mein Herz hinein legte. Im Lohnwagen saß ich gegen ihr über; nur selten wagte ich es sie anzublicken. Mit meiner Zurückhaltung zufrieden richtete sie mehrmals das Wort an mich; himmlische Ruhe sprach dann aus ihrem Auge und aus den Accenten ihrer süssen Stimme. Ihr Oheim war ausserordentlich aufgeräumt. Was heute geschah, mein lieber Beaumont, sagte er, soll nicht mehr geschehen; wir werden unsre Kranke nie mehr ohne Sie besuchen: es scheint ohnehin, daß wir vor Ihnen keine geheimen Expeditionen machen können. Du siehst, Clementine, er hat einen Genius, der ihm alles verräth. Nicht alles, mein Herr, erwiederte ich. Nun, nun, 118 versetzte er, vielleicht will er Ihnen nur nicht alles auf einmal sagen.

Wir stiegen aus, und folgten ihm in sein Cabinet. Er näherte sich mir mit einer unaussprechlich heitern Miene. Ich muß das Stillschweigen Ihres Genius ergänzen, lieber Freund, und Ihnen die Ausfertigung Ihres Arrete ankündigen. Er zog es aus der Tasche und übergab es mir, indem er mich in seine Arme schloß. Die lauten Schläge meines Herzens redeten für mich. Lächelnd wie ein Schutzengel, der eine gute That feyert, stand Clementine neben ihrem Oheim. Erlauben Sie mir, mein Vater, sprach ich zu ihm, Ihnen zu zeigen, warum dieses Dokument mir theuer ist; erlauben Sir mir, es mit meiner Hand Clementinen anzubieten; hätte ich es früher besessen, so würde ich es mit meiner Hand Theresen angeboten haben. Der Kommandeur war tief bewegt, eine Zähre glänzte in seinem Auge, das Clementinen einen liebreich-fragenden Blick zuwarf. Sie bemerkte den Blick nicht; der Ueberraschung süsser Schrecken (süß darf ich ihn jetzt nennen) hatte ihre Sinne betäubt. Diese Pause benahm mir den Odem: es war mir wie einem Ertrinkenden im Nu des Untersinkens; das Leben des Menschen hat nur Einen solchen Moment. Ich weiß nicht, wo ich noch die Kraft fand zu sagen, oder vielmehr zu stammeln: nehmen Sie sich Bedenkzeit! Ich 119 brauche keine, versetzte der Greis, ich kenne Sie noch mehr durch Sie selbst als durch meinen Freund Roger; und Du, Clementine, brauchst Du Bedenkzeit? Ich kenne ihn ja länger als Sie, flüsterte sie, indem sie ihr Rosenantliz in ihres Oheims Busen verbarg. Fragen Sie, mein theurer Roger, fragen Sie die Seligen des Himmels, was mein Herz bey diesen Worten empfand. Ich wollte mich ihr zu Füssen werfen, sie hielt mich auf, sie faßte meine Hände, und drückte sie sanft zwischen die ihrigen. Nicht doch, sagte sie, vor diesem hier lassen Sie uns niederknieen und ihn um seinen Segen bitten. Der Kommandeur schloß uns beyde in seine Arme. Meine Kinder, schluchzte er, meine lieben Kinder, seyd glücklich, umarmt euch, versiegelt euern Bund mit dem Kusse der Freundschaft, sie ist der Liebe sicherster Bürge. Ich drückte Clementinen an mein Herz, ich hörte die Worte des ihrigen, es sprach laut das Gelübde des meinigen nach. Wir weinten beyde. Heilig und hehr war die Szene: wie ein Patriarch stand der fürstliche Greis vor uns, er sah liebevoll auf uns herunter, und sein Silberhaar schimmerte wie ein Diadem um seine Schläfe.

Nach einer Weile verließ er das Zimmer, er wollte uns allein lassen. Der gute Vater! Er betrog sich, wenn er glaubte, daß seine Gegenwart mir im Wege stand. Werden Sie nicht lächeln, mein 120 Theurer, wenn ich Ihnen sage, daß dieser so lang, so sehnlich gewünschte Augenblick, den ich gestern noch mit einem Jahre meines Lebens erkauft hätte, mich in eine Art von Verlegenheit setzte? Nur eine gemeine Leidenschaft wird in der Einsamkeit kühn; die veredelte Liebe fühlt selbst am Ziel ihrer Wünsche eine gewisse religiöse Schüchternheit, die der schönste Triumph der weiblichen Tugend ist. Mit dem Gewande der Unschuld geschmückt erscheint die Braut ihrem Geliebten gleichsam in der Glorie einer wohlthätigen Gottheit, die auch dann, wenn sie in menschlicher Gestalt zu ihm herabsteigt, ihm noch Ehrfurcht einflößt. Das alles wußte ich nicht, aber nun erfuhr ich es, und diese Erfahrung war mir ein neuer Beweis, daß ich durch Clementinen besser geworden bin; eine neue süsse Ahnung, daß ich durch sie noch besser werden würde. Ich setzte mich neben sie, ich ergriff ihre Hand, ich preßte sie einige Minuten schweigend an meine Lippen; sie schwieg auch, und wandte mit ihr Antliz zu. Himmlische Zufriedenheit sprach aus ihrem Auge; das Bewußtseyn eigenen Glückes war nicht der herrschende Zug ihrer unaussprechlich liebreichen Miene; nein, das Gefühl war es, einen Glücklichen gemacht zu haben, und dieser Ausdruck, Freund, dieser unübersetzliche Ausdruck ist der Adelsbrief einer schönen Seele, der Geburtsschein ihrer Verwandtschaft mit den Engeln.

121 Noch saßen wir so in traulicher Stille beysammen, noch hatten kaum einige leise Seufzer, einige abgerissene Töne, die keine Worte waren, keine Worte seyn sollten, weil es keine unentweihte Worte giebt, diese heilige Stille unterbrochen, als unser Vater wieder hereintrat, und uns zu Tische führte. Nur allmählig bekamen wir die Sprache wieder, und es brauchte nicht weniger als das Talent des unvergleichlichen Mannes, um sie uns wieder zu geben. Er wußte wohl, daß er nicht von unsrer Liebe, nicht von unsrer Verbindung sprechen müsse, um die Unterredung zu beleben; diesen Gegenstand wollte er unsern Herzen auf den Augenblick vorbehalten, da der Wonnesturm sich ganz gelegt haben würde. Er redete von unserm Besuche bey Constantien, so heißt unsre schätzbare Kranke. Wißt Ihr, Kinder, das Projekt, das ich unterdessen gemacht habe? Unser Hauswirth will mir ein ganz artiges Zimmer gerade über uns für sie einräumen, und sein Weib will mir für eine Wärterin sorgen. So haben wir sie in der Nähe, und du Clementine kannst desto besser über ihre Verpflegung wachen. Morgen wollen wir sie aus ihrem Gefängniß erlösen.

Malen Sie sich, mein Beßter, die Freude meiner Geliebten, Sie können es, denn Sie haben Clementinens Herz am Bette der guten La Rive kennen gelernt. Von der Mutter mußte unser 122 Gespräch nothwendig auf ihr Kind fallen, und nun erzählte ich dem Kommandeur die Szene dieses Morgens. Ich sagte ihm, wie dringend der holde Knabe Clementinen gebeten habe, meine Frau zu werden. Nun gut, versetzte er lachend, so müssen Sie morgen mit, und ihm selber sagen, daß sie seine Bitte erhört hat. So kamen wir nach und nach auf unsre eignen Angelegenheiten zurück: Du, liebes Mädchen, sagte er zu seiner Nichte, indem er ihre Backen streichelte, wirst mich nun bald, wenigstens dem Scheine nach, verlassen, und da denke ich, Constantia wird mir gern Deine Stelle ersetzen wollen. Den Knaben, wenn sie sich von ihm trennen kann, vermache ich Euch, meine Kinder. Beaumont kann sich besser als ich mit seiner Erziehung abgeben, er muß sich ohnehin vorläuffig in den Vatergeschäften üben. Höchstens noch vierzehn Tage bleiben wir hier, dann machen wir uns mit gesammter Hand auf den Weg, denn bis dahin, hoffe ich, wird unsre Patientin hergestellt seyn. Am Tage vor unsrer Abreise wollen wir in der Stille Eure Verbindung feyern, Ihr seyd es doch zufrieden? Ich warf mich dem Besten unter den Menschen um den Hals, Clementine weinte auf seine Hand, die sie auf ihr Herz drückte. Unsern ersten Rasttag, mein Sohn, so fuhr er fort, halten wir bey Ihrem Freunde M**, den ich kennen muß, und der Ihre Gattin 123 wird kennen wollen. Dann geht der Zug nach Beaumont; hier bleiben wir einige Tage, bis Ihr die nöthigsten Einrichtungen in Eurem neuen Hauswesen getroffen habt; ich sage die nöthigsten, denn ich muß in meine liebe Einsamkeit zurückeilen, ehe die rauhe Witterung eintritt, sonst möchte das Podagra mir den Rest meines Planes vereiteln. Und was ist das für ein Plan? fragte Clementine mit dem Lächeln einer Grazie. Ey! das sollst Du schon erfahren, mein Kind, meynst Du, ich werde alle meine Schubsäcke auf einmal ausleeren? mich dünkt, ich hätte für heute genug gesagt. Ja wohl, guter Vater, erwiederte ich, ich werde mehr als einen Tag brauchen, um mein Auge an die paradiesische Aussicht zu gewöhnen, die Sie ihm geöffnet haben.

Noch lange nach der Mahlzeit blieben wir beysammen sitzen und spannen die Entwürfe unsers großmüthigen Wohlthäters immer mehr aus. Clementine war die himmlische Parze, deren Rosenfinger die goldnen Faden dreheten, und Sie werden mirs glauben, wenn ich Ihnen sage, daß das Schicksal Constantiens sie am meisten beschäftigte. Wir beschieden uns auf den morgenden Vormittag, um als Boten der Freude bey der edeln Dulderin zu erscheinen. Als die Stunde des Aufbruches schlug, war es mir, als gienge ich nach einem fremden Welttheile zu Schiffe, und schon glaube ich ein Jahr von 124 meiner . . . . weg mit jedem Beywort . . . . Braut entfernt zu seyn. Ach Freund! Ihre ganze Seele schwebte auf ihren Lippen, als sie meinen Abschiedskuß erwiederte.

Duval hüpfte hoch auf, als ich ihm mein Glück verkündigte; hätte ich ihn nicht gehabt, ich würde es den Sternen des Himmels und den Vögeln meiner Tapete erzählt haben. Als ich das erste Blatt dieses Briefes geschrieben hatte, warf ich mich auf mein Bett; doch ich konnte, ich wollte nicht schlafen, meine Seele wiegte sich in einem Strudel von Wonne; allein, und ich freue mich es Ihnen sagen zu können, sie blieb nicht immer auf der Erde. O lieber Freund! zum erstenmal in meinem Leben fühle ich die Wollust, die in dem Gedanken liegt, daß ein höheres, unendliches Wesen unser Schicksal regiert, und daß unsre Natur sich verherrlicht, wenn wir einen Blick des Dankes zu ihm erheben. Leben Sie wohl.

N. S. Grüssen Sie mir ja meine Wirthinn, und geben Sie ihr Nachricht von meinem Glücke; ich weiß, die gute Frau wird warmen Antheil daran nehmen. Clementine wird ihr nächstens selber schreiben, sie hat in ihrem wie in meinem Herzen ein unvergeßliches Andenken zurückgelassen.

 
Zehnter Brief.

Mein letztes Schreiben, liebe Freunde, wird Euch auf das Stocken meines Briefwechsels vorbereitet 125 und mich im Voraus bey Euch entschuldigt haben. Dennoch macht mein Herz mir Vorwürfe, daß ich acht volle Tage vorbey lassen konnte, ohne Euch Nachricht von mir zu geben, ohne Euch achtmal zu wiederholen, daß ich glücklich, unaussprechlich glücklich bin. Ich betrachte diese Saumseligkeit als eine Versündigung, nicht nur an der Freundschaft, sondern selbst an der Liebe. Allein wenn Ihr wüßtet, wie schnell mir in meiner Wonnetrunkenheit die Tage verfliessen, wenn Ihr erwäget, daß ein Bräutigam die wenigen Stunden, die er dem Liebhaber abdarben kann, den Geschäften des neuen Hauswirths widmen muß, so bin ich gewiß, Ihr werdet mich billiger als mein eigenes Herz beurtheilen.

Erwartet kein Tagebuch mehr von mir, dazu bin ich unfähig; wo würde ich die Zeit und die Geduld hernehmen, eine Periode meines Daseyns zu zerstückeln, in der nichts vergangen, alles gegenwärtig ist. Also nur eine grobe Skizze der festlichen Szenen, die sich in meinem Gedächtnisse voran drängen, nur einige Ansichten aus dem Elysium, darinn ich am Arme der Venus Urania umherwandle.

Ihnen, mein theurer Roger, Ihnen der Clementinen kennet, brauche ich nicht zu sagen, daß ich nie von ihr scheide, ohne einen neuen Reiz, eine neue Tugend an ihr entdeckt zu haben; und Dir, lieber M**, brauche ich es auch nicht zu sagen, 126 bald wirst auch Du sie kennen, und mir gestehen, daß die glücklichsten Züge meiner Copie dennoch weit, himmelweit unter dem Urbilde geblieben wären. So sehr das himmlische Mädchen mich liebt, so sehr ihr Herz jeden Anlaß ergreift, um dem meinigen zu antworten, so schien sie doch diese Tage über weniger mit mir als mit Constantien beschäftigt. Allein eben diese scheinbare Nachläßigkeit war mir ein köstlicher Beweis ihrer Liebe. Jeder ihrer Blicke, jede ihrer Mienen sagte mir: du weißt schon, daß ich dein bin; du bist glücklich, allein dort ist eine, die es nicht ist. Constantia fühlt den ganzen Werth dieser Aufopferung; sie weiß, was Clementine mir ist und was ich ihr bin; und, o meine Freunde, Ihr hättet Zeugen des Auftritts seyn sollen, da unser Vater ihr zu gleicher Zeit unser Verlöbniß und ihre Verpflanzung ankündigte, Ihr hättet ihr verklärtes Angesicht, Ihr hättet ihre Zähren sehen sollen, als er ihr ein Asyl auf seinem Gute anbot, als er den kleinen Lolo fragte, ober Clementinen zu seiner zweyten Mutter annehmen wolle? und den Knaben selbst, wie er um uns her hüpfte, wie er bald des Greises, bald Clementinens, bald meine Hand ergriff, und sie an sein pochendes Herz preßte, dann zu seiner Mutter hintaumelte, sein Gesicht auf ihren Busen legte, und mit halberstickter holdseliger Stimme fragte; nicht 127 wahr, ich kann doch immer Dein lieber kleiner Lolo bleiben? O ich sage nicht zuviel, meine Freunde, aber ich sage alles, wenn ich Euch versichere, daß diese Szene ein Seitenstück, eine Fortsetzung des vorigen Abends war, da unser Vater Clementinen an seiner und meiner Brust zu meiner Braut weihte.

Seit vorgestern hat das Fieber Constantien verlassen, und heute speißte sie mit uns zu Mittag. Sie war einem Auferstandnen ähnlich, der zum erstenmal an der Tafel der Seligen erscheint. Es ist ein vortrefliches Weib, deren Gesellschaft dem Kommandeur Clementinen ersetzen wird, und niemand weiß besser, als ich, wie viel dazu erfordert wird, ihm Clementinen zu ersetzen. Je mehr ihre Kräfte wiederkehren, je mehr entfalten sich die herrlichen Eigenschaften ihrer Seele und selbst die Spuren ihrer ehemaligen Schönheit. Es ist eine von jenen glücklichen Physiognomieen, deren Reize nicht sowohl in der Regelmäßigkeit als im Ausdruck ihrer Züge liegen, und die eben darum, wenn sie zu welken beginnen, bloß einem verblichenen aber nicht veralteten Charaktergemälde gleichen. Sie übergab uns ihren kleinen Liebling mit einer Entschlossenheit, die gemeines Mutterherz und zugleich das edelste Vertrauen bezeichnete. O wir werden es rechtfertigen 128 dieses Vertrauen! sagte ich ihr, und Ihre Freundschaft soll der Preis unsrer frohen Bemühungen seyn.

Der Arzt findet gar keine Schwierigkeit, unsre liebe Genesende in sechs bis acht Tagen mit uns abreisen zu lassen; Freund M** kann sich also auf ein paar Gäste mehr gefaßt halten. Auch neben Clementinen wird diese neue Bekanntschaft seine Aufmerksamkeit fesseln; und Ihnen, mein theurer Roger, prophezeihe ich einen reichhaltigen Genuß mehr, wenn Sie nach Solanges kommen, um den Drittel Ihres moralischen Jahres an der Seite Ihres alten Freundes hinzubringen. Der eigentliche Tag unsrer Verbindung ist noch nicht festgesetzt; sobald sie aber vollzogen ist, werde ich den ehrlichen Duval als Kurier zu Dir, lieber M**, abschicken, um Dich von unsrer Ankunft zu benachrichtigen.

Neulich bat mich dieser treue Diener um die Erlaubniß, meiner Braut seinen Glückwunsch abzustatten. Sie und der Kommandeur trugen mir auf ihn mit zu Tische zu bringen. Clementine flog ihm mit unbeschreiblicher Freundlichkeit entgegen und reichte ihm ihre Hand. Du darfst ihre Hand wohl küssen, mein Sohn, sagte der Kommandeur, der sich an seiner stummen Entzückung ergötzte. Nein, das darf er nicht, rief Clementine, und gab ihm einen herzlichen Kuß, dem eine Freudenzähre des Redlichen nachrollte. Nicht wahr, mein Freund, 129 fuhr sie fort, indem sie sich nach mir wandte, Duval muß einer von den Zeugen unsers Bundes seyn, er hat Ihnen so lange seinen Namen geliehen, daß es mir immer eine angenehme Erinnerung seyn wird, ihn auf meinem Trauschein zu lesen. O liebes, liebes Fräulein, erwiederte er mit brechender Stimme, Sie sind ein Engel von Güte, warum kann ich nicht alle meine übrigen Lebensjahre zu den Ihrigen legen! doch das wird, das muß der liebe Gott thun. Nicht doch! sagte der Kommandeur, indem er ihn auf die Backen schlug, der liebe Gott weiß, daß unser Vaterland Mangel an guten Menschen hat, er wird Euch alle lange beysammen leben lassen. Und Sie mit, Herr General, auch unter den Beßten giebt es nicht viel wie Sie. Wenn Du das glaubst, mein Sohn, so wirst Du dich wohl nicht weigern eine Frau von meiner Hand anzunehmen. Ich habe auf meinem Gute eine hübsche muntere Brünette, ein wackeres Mädchen, das ich Dir zukuppeln möchte. Clementine klopfte hüpfend in die Hände: ist dieses eines von Ihren geheimen Projekten, die Sie uns neulich verhehlten? Nun ja, rief der Kommandeur lachend, ist es nicht billig, daß der wahre Duval die wahre Therese heyrathe? Freylich, freylich! rief Clementine am Halse des vortreflichen Mannes. Ich habe auch ein Projekt, sagte ich, und könnte es in keinem schönern Augenblicke 130 an den Mann bringen. Ich zog meine Brieftasche heraus. Sie haben es wohl gar schriftlich aufgesezt, sagte Clementine. Nicht ich, sondern der Notar, unser Nachbar. Duval muß auch wissen, wo er seine Braut hinzuführen hat. Ich übergab ihm eine gerichtliche Versicherung des lebenslänglichen freyen Genusses des Hofgütchens, das eine Viertelmeile von Beaumont liegt. Du kennest es, lieber M**, es kann seinen Mann ernähren, und mit diesem Jahre geht gerade die Pacht zu Ende. Duval war betäubt, seine Lippen bebten, sie versagten ihm die Sprache. erst in meinen Armen kam er wieder zu sich. Szenen dieser Art giebt die Feder nur an, sie zeichnet sie nicht aus.

O meine Freunde, hat man wohl Recht das Wohlthun unter die Lieblingsgeschäfte der Gottheit zu zählen; nicht Duval, ich war der glücklichste von uns beyden. Und meine Clementine! ich las ihren Beyfall in ihren blitzenden Augen. Hier muß ich abbrechen. Glucks Iphigenia wird heute aufgeführt, und Constantia hat sich mit uns vereinigt, um ihre holde Wärterin zu bewegen, dieses herrliche Schauspiel zu besuchen. Lebt beyde wohl, ich werde Euch schwerlich vor dem Krönungstage meiner Liebe noch einmal schreiben. 131

 
Eilfter Brief.

Morgen, lieber Doktor, morgen um diese Mittagsstunde wird Clementine ihre Hand, und mit ihr den Himmel in die meinige legen; morgen wird ihr Mund mir vor der Welt das süsse Bekenntniß wiederholen, daß sie mein, auf ewig mein ist. Alle vorläufigen Förmlichkeiten sind erfüllt, ein kleines Brautmahl ist angeordnet, und auf vier Uhr sind die Postpferde bestellt, die uns noch bis Meaux bringen sollen. Von dort ist es eine mässige Tagreise nach Mericourt, wo wir wenigstens einen Tag im Schoose der Freundschaft ausruhen werden.

Wundern Sie sich nicht über die Gelassenheit, womit ich Ihnen das alles schreibe? O Freund! sie ist nur scheinbar, Sie sollten mein glühendes Gesicht sehen, Sie sollten das laute Aufbeben meiner Brust hören. Sie sollten in meiner Seele die namenlosen Gefühle lesen, womit ich Ihnen jeden Zug dieser entzückenden Botschaft hinzeichne. O warum sind Sie nicht bey uns? warum können nicht auch Sie einem Feste beywohnen, das Ihre Freundschaft in der Stille veranstalten half! Sie allein fehlen und noch, Sie wissen noch nicht, was für ein unerwarteter, lieber Zeuge unsre Verbindung mitfeyern wird. Die Freude strömt von allen Seiten in mein Herz. Hören Sie, was mir verwichenen Montag begegnete.

Sie werden sich erinnern, daß ich mit 132 Clementinen und unserm Vater die Oper Iphigenia besuchen wollte. Dies geschah. Unser Auge war bloß auf das hinreissende Schauspiel geheftet, unsre Seele schwamm in Glucks göttlichen Harmonien, ohne auf die glänzende Menge zu achten, die den Saal füllte, als ich nach dem ersten Akt an der Thür unsrer Loge ein leises Klopfen hörte. Ich schloß auf, und mein Freund R** stand vor mir, er, ohne dessen Zuspruch und Beystand ich vielleicht jetzt in Teutschland als ein Exulant herumirren, ohne den ich weder meinen Roger noch . . . o mein Herz schaudert! . . . noch meine Clementine gefunden haben würde.

Ich stürzte ihm in die Arme; Clementine und ihr Oheim staunten uns an; ich konnte ihnen bloß den Namen des Fremden nennen, der meine Umarmung so herzlich erwiederte. Mehr brauchte ich auch nicht; sie kannten meinen lieben R** aus meiner Erzählung, und theilten meine Freude. Ich stellte ihn dem Kommandeur, ich stellte ihm meine Braut vor. Nach den ersten Augenblicken der Bewillkommung sagte er lächelnd zu mir: ich habe Ihnen, mein Freund, zwar keine Braut, aber ein gutes, liebes Weibchen vorzustellen, das ich in Teutschland erbeutet habe, und im Begriffe bin, auf mein Gut bey Fours heimzuführen; dort sitzt sie gegen, uns über. Schon lange haben wir Sie beobachtet, 133 ohne von Ihnen bemerkt zu werden. Wir sahen eine schlanke reizende Blondine, die unsern Gruß mit einer Freundlichkeit erwiederte, die uns zu erkennen gab, daß wir ihr nicht alle fremd waren.

Ich folgte meinem Freund in seine Loge. Amalie, so heißt seine junge Gattin, ist nach Clementine die einnehmendste weibliche Gestalt, die ich je gesehen habe: ein Auge blau wie Gottes Himmel, ein blendend weisses mit der Farbe der aufblühenden Rose belebtes und von dichten silberblonden Locken umstrahltes Gesicht neigte sich mir entgegen; einen kleinen fremden Accent ausgenommen, den aber ihr Mund verschönert, spricht sie unsre Sprache sehr rein und ziemlich geläufig. Unsre Unterredung konnte nur kurz seyn; er mußte mir aber seine Wohnung aufschreiben, und ich verließ ihn mit dem Versprechen, ihn am folgenden Morgen zu besuchen. Ich muß mich kurz fassen: Amalie war bey meinem Besuche gegenwärtig; meine Geschichte, die ich ihrem Gemahl erzählen mußte, interessierte sie über allen Ausdruck, und flößte ihr ein sehnliches Verlangen ein, mit Clementinen näher bekannt zu werden. Täglich sahen sich seitdem die beyden Freundinnen, denn das sind sie geworden, und mußten es werden. Der Magnetismus der Sympathie, das weiß ja mein Roger, wirkt eben so schnell und eben so mächtig, als der Blitzstrahl der Liebe.

134 Es ist für R** und mich eine wahre Wollust, diese zwey schöne Seelen so innig verschwistert zu sehen. Dem ersten Ansehen nach ist Amalie etwas kalt, allein diese scheinbare Kälte ist weiter nichts, als der Ernst, der ihre Nation bezeichnet, ihr Herz verschließt ein reines stillflammendes Feuer, und ihre Empfindsamkeit hat einen gewissen feyerlich hohen Karakter, den unsre Frivolität leicht verkennen, wo nicht gar für romantische Ueberspannung halten würde. Diese schöne exotische Pflanze wird in den paradiesischen Gefilden der Touraine herrlich gedeihen. Clementine ist von dem holdseligen Weibe bezaubert, und diese ist es nicht weniger von Clementinen. Der Leichtsinn, die Ueppigkeit der Pariser-Schönen hatte sie von den Französinnen zurückgeschreckt, die sie als eine steife Vandalin angafften, und behohnlächelten. Clementine, die wie sie, ganz Natur ist, hat sie mit ihnen wieder ausgesöhnt; sie hat in ihr ein Herz gefunden, das die Sprache des ihrigen verstand, und dessen Saiten, wenn ich so reden darf, bey der ersten Berührung den Ton des ihrigen angaben. Ihre nahe Trennung von meiner Verlobten thut ihr sehr weh. Die beyden liebenden Geschöpfe haben einen wöchentlichen Briefwechsel unter sich verabredet, bis ruhigere Zeiten die Erfüllung eines noch schönern Projekts begünstigen, nehmlich eines wechselseitigen jährlichen 135 Besuchs von einigen Wochen, und mit dieser Aussicht suchen sie sich zu trösten.

Wenn viele von Amaliens Landsmänninnen ihr gleichen, so muß ich gestehen, daß unsre weibliche Erziehung mit der teutschen keine Vergleichung aushält. Etwas Zeichnung und Musik, und wenn es hoch kam, ein Schattenriß von Erdkunde und Geschichte, dieses war bisher die ganze pädagogische Mitgift der französischen Töchter aus den gebildetern Ständen. Amalie besitzt das alles in keinem gemeinen Grade, und verbindet damit noch eine genaue Bekanntschaft, nicht nur mit unsern, sondern auch mit den englischen und italienischen Klassikern, die sie zum Theil in ihrer Grundsprache liest. Glauben Sie nicht, daß wir das alles von ihr erfahren, oder aus ihren Reden wahrgenommen haben; nein, mein Freund, ihr selbst merkt man nichts an, als einen hellen männlichen Verstand, und jenes enthusiastische Hochgefühl des Schönen, das zwar die Natur giebt, aber die Cultur veredelt, und welches auch die geflissenste Bescheidenheit dem Kennerauge nicht ganz verbergen kann. Was ich Ihnen von Ihren Talenten und Kenntnissen schreibe, weiß ich aus dem Munde ihres Gemahls, der sie bloß wegen dieser und wegen der noch weit schätzbarern Vorzüge ihres Herzens geheyrathet hat. Diese letztern konnte sie mir so leicht nicht verbergen: ein Umgang von 136 sechs Tagen war hinreichend, mich zu überzeugen, daß sie den Glanz ihrer Geistesgaben durch jene hohe Einfalt, jene himmlische Güte, jene stille Energie des Karakters verherrlicht, wodurch Therese mich fesselte, und Clementine sich des Herzens dieser interessanten Ausländerin bemächtiget hat.

Jeder andere als Sie, lieber Doktor, würde das Lob eines fremden Weibes im Munde ihres Bräutigams sehr unzeitig finden; vor Ihnen scheue ich mich nicht mit meiner Schilderung. Ich fühle, daß die wahre Liebe weder ungerecht, noch neidisch ist, und es thut mir wohl, einen Freund zu haben, der so glücklich ist, als ich. Mich dünkt, man kann nicht, oder doch nicht lange, allein glücklich seyn, und dann ist es so süß, eine fremde Schönheit zu mahlen, an der man die Züge seiner Geliebten erkennt. Allein über meiner Mahlerey hat die Stunde geschlagen, die mich zu meiner Braut ruft. Ich will diese Epistel unvollendet in meine Brieftasche stecken, und sie als Gatte Clementinens in Mericourt fortsetzen. Als Gatte Clementinens!!!

Das soll er nicht; Clementine selbst will ihn fortsetzen, sie selbst will dem Freunde ihres zweyten Vaters sagen, daß sie seit vorgestern das glücklichste unter allen Geschöpfen Gottes ist. Das will mir nun Beaumont nicht zugeben, und hieraus entstand unser erster Zank. Mit der ganzen 137 eigensinnigen Majestät eines Eheherrn will er mir nur den zweyten Rang auf der seligen Höhe einräumen, auf der ich die reinste Himmelsluft athme; ich will ihm aber weisen, daß ich auch meinen Kopf habe, kurz, daß ich eine Frau bin, mit der sich nicht so gut auskommen läßt, als ers von der sanften schüchternen Braut erwartete.

Ich beschlich ihn, als er sich eben hinsetzte, um weiter zu schreiben; noch mehr, ich hatte den Vorwitz auf die letzte Seite hinzuschielen; er drehte sich um, und ärger hätte er mich nicht bestrafen können, er übergab mir die bereits geschriebenen Blätter. Das erste, was ich erblickte, war der Name Amalie. Nun konnte ich nicht mehr großmüthig seyn, und ihm den Brief ungelesen zurück geben. Ich las und fand und fand, daß er von dem trefflichen Weibchen noch zu wenig gesagt hatte. Ja, lieber Freund, zu wenig; vor acht Tagen glaubte ich noch nicht, daß mein Abschied von Paris mich Thränen kosten würde. Die Trennung von Amalien hat mich Thränen gekostet, und Beaumont, selbst mein Beaumont konnte sie nicht alle wegküssen. Eine solche Freundin war das letzte Geschenk, womit die Vorsehung das Maas ihrer Güte gegen mich häufen wollte. Durch sie hoffe ich meines Beaumont immer würdiger zu werden. Amaliens Briefe und Rogers mündliche Lehren finden noch vieles an mir 138 auszubessern; unterdessen will mein Geliebter mich behalten, wie ich bin. Doch ich übernahm es ja, Ihnen sein Tagebuch fortzusetzen; es könnte leicht zu einem wirklichen Buche anwachsen, wenn es mir nicht an der Zeit und am Talent gebräche, eine treue Geschichte der zween letztverfloßnen Tage zu entwerfen. O sie waren schön, beydes kurz und lang wie Tage der Ewigkeit und heilig wie sie.

Gegen Mittag wurden wir getraut, unsre Herzen gaben dieser Feyerlichkeit die Würde wieder, welche unsre neuen Gesetze ihr genommen haben. Die Gottheit hörte unsre Gelübde, und als wir unsre Hände fest in einander preßten, warf sie, das weiß ich, einen weihenden Blick auf sie herab. Nach der Ceremonie verließ uns der gute Duval, um nach Mericourt voran zu reiten, und uns die Postpferde bis Meaux zu bestellen; wir aber fuhren mit R** zu Amalien um sie zu unserm stillen Liebesmal abzuholen. Sie drückte mich mit einer Innbrunst, mit einer Zärtlichkeit an ihr Herz, ihre Thränen fielen so hell, so warm auf das meinige, daß sie mir wie ein Engel vorkam, vom Himmel gesandt, unsern Bund einzusegnen. Ihre ganz weisse Kleidung begünstigte diese süsse Illusion, und gab ihr etwas unbeschreiblich feyerliches, das selbst auf meinen Oheim den tiefsten Eindruck machte.

Der majestätische Greis trat zwischen sie und 139 mich, legte unsre Hände in einander, und sagte: »nun will auch ich eine Trauung vornehmen: liebt euch, Kinder, liebt euch ewig, Gott schuf euch zu Freundinnen.« Wir waren unaussprechlich gerührt, und unsre beyden Geliebten waren es so sehr als wir. Beaumont führte mich seinem Freunde, und dieser führte ihm Amalien in die Arme; dann umringten wir den ehrwürdigen Patriarchen, und küßten ihn alle mit kindlicher Ehrfurcht. Sie können sich vorstellen, mein lieber Doktor, welch' eine Stimmung wir nach dieser Szene an die Brauttafel brachten. Heiterer Friede wehte unter uns, innige Wonne und innige Liebe ketteten uns an einander. Wir fühlten uns überschwänglich glücklich, und eben darum sprachen wir wenig. Gegen vier Uhr trennten wir uns, einige Wermuthstropfen flossen in den Becher unsrer Freude. Lassen Sie mich über diesen Augenblick wegeilen.

Amalie war bis nach Meaux der vornehmste Gegenstand unsrer Gespräche; daß auch sie sich mit uns beschäftigte, beweißt mir das liebevolle herrliche Briefchen, das man mir bey unsrer Ankunft in Mericourt zustellte. Sie schrieb es unmittelbar nach unsrer Trennung, und benutzte die eben abgehende Post, um mir damit vorzueilen. Es trägt die Spuren ihrer Thränen, die ich mit den meinigen wieder auffrischte. Doch diese Ueberraschung 140 war nicht die einzige, die mich hier erwartete. In der Lindenallee, die zum Schlosse unsers gütigen Wirths führt, empfiengen uns sechs 12 bis 15jährige Bauermädchen, und eben so viele Knaben in Schäferkleidern. Alle hatten zierliche Körbchen an den Armen; sie waren mir Blumen angefüllt, die sie im Augenblicke, da wir ausstiegen, auf unsern Weg streuten. Eine liebliche Hirtenmusik ertönte aus einer der beyden Lauben, die auf jeder Seite der Allee angebracht sind. Die Knaben und Mädchen vereinigten sich, und sangen ein von M** auf unsre Verbindung verfertigtes Liedchen, das ich Ihnen hier beylege. Bey den Schlußzeilen

Non ce n'est pas pour la Vertu
Que l'amour a des ailes

trat ein unbeflügelter allerliebster kleiner Amor aus der andern Laube, und überreichte mir und meinem Beaumont einen Strauß von Immerschön; dann umringte uns die holde Gruppe; der kleine Amor mit einem Myrtenzweig in der Hand trat voran, und so wurden wir in die Halle der Gastfreundschaft eingeführt.

Aus dieser Bewillkommung können Sie auf die ganze Aufnahme schliessen, die wir hier gefunden haben. M** ist ein edler, warmer Freund, und ein treflicher Gesellschafter. Die Gerechtigkeit und Milde, womit er jederzeit seine Unterthanen 141 behandelte, hat sie während der Revolution zu Beschützern seiner Person und seines Gutes gemacht, und selbst zur Zeit der Schreckensregierung haben die Zeugnisse der Ortsmunizipalität ihm zum Schilde gegen die Tyranney gedient. Wir dachten morgen zu verreisen, allein wir mußten seiner Bitte nachgeben, und ihm noch einen Tag schenken, doch hat er uns dagegen versprechen müssen, uns übermorgen nach Beaumont zu begleiten, welches nur vier Meilen von hier liegt. Er entschuldigte sich anfangs mit allerhand dringenden Geschäften; auf meine Frage aber: ob er denn seiner neuen Freundin ihre erste Bitte versagen wolle? hat er sich endlich ergeben. O mein theurer Freund, was für ein süsses Gefühl ist es geliebt zu seyn, und mit wie vielem Rechte kann ich nicht sagen, daß ich eben so glücklich in der Freundschaft bin, als in der Liebe! Der morgende Tag ist einem herbstlichen Feste gewiedmet. Wir werden in einer grossen Reblaube speisen, die den Weinberg unsers Freudenschöpfers krönet. Constantia nimmt einen herzlichen Antheil an jedem Genusse, den seine sinnreiche Freundschaft uns zubereitet; täglich wird ihre Stirne heiterer, und die Farbe ihrer Wangen lebhafter. Lolo glaubt sich in eine Feenwelt versetzt; sein Aug ist beständig auf seine Mutter geheftet, man sieht ihm an, wie wohl es ihm thut, sie froh zu sehen. Duval geht 142 schon heute nach Beaumont voran; dieses ist um so nöthiger, da wir nicht wissen, wie es in unserm Schlößchen aussieht. M** hat uns zwar versichert, daß nicht alle Mobilien verkauft sind, und unser Quartiermeister Duval verspricht uns mit zuversichtlicher Miene, uns und unsre Gäste unterzubringen. Leben Sie wohl, theurer Freund, mein guter Oheim grüßt Sie; er ist um zwanzig Jahre jünger geworden. Sobald wir in Solanges angekommen sind, werden wir Ihnen wieder schreiben; nichts fehlt mir mehr zu meinem Glücke, als Ihr Seegen.

 
Zwölfter und letzter Brief.

Seit vorgestern, lieber Doktor, sind wir in Solanges. Es war sehr nöthig, daß wir endlich einen Ruheplatz fanden, um, nicht von den Beschwerlichkeiten unsrer Reise, sondern von den süssen Stürmen auszurasten, die seit einigen Wochen uns immer aus einem Wonnestrudel in den andern geschleudert haben. Ich fühle es, mein theurer Freund, daß unsre Seele eben so wenig die Kraft hat, das Uebermaaß der Freude als des Grames zu tragen, und daß ihr beym Vollgenusse moralischer Güter die Abspannung eben so nöthig ist, als einem von Gesundheit strotzenden Körper das Fasten. Lesen Sie nur weiter, und sagen Sie mir dann, ob ich nicht Gefahr lief, an einer Ueberladung von Glückseligkeit zu sterben.

143 Mit Clementinen im Arme, von unserm zweyten Vater, meinem theuren M** und der edeln Constantia begleitet, kam ich heute vor acht Tagen in Beaumont an. Duval empfieng uns mit meinen vier Pächtern und ihren Familien in Feyerkleidern, am Thore meines Schlosses. Die Freude, womit die wackern Leute mich und ihre neue Gebieterin bewillkommten, hatte so gar nichts vorbereitetes, sogar nichts ceremonielles an sich, es war ganz der naive Ausdruck liebender Herzen. Ich umarmte sie alle Groß und Klein; Clementine reichte ihnen die Hand, und erwiederte ihren Gruß mit der ihr eigenen Anmuth.

Die Revolution hat den Menschen die Maske abgenommen, indem sie die Bande der Abhängigkeit löste. Mein Vater und ich hatten dafür gesorgt, daß unsre Pächter reich werden konnten, und sie sind es geworden. Gleichwohl haben Uebermuth und Eigennutz, an denen die Ehrlichkeit so vieler unsrer Landleute scheiterte, die Herzen dieser Rechtschaffnen nicht vergiftet, ihre Miene war freyer und traulicher, als zuvor, aber eben darum mußte die Art von Huldigung, die sie uns leisteten, uns desto mehr schmeicheln. Sie war freywillig, und floß aus dem Innern, und zu einer Zeit, da der Undank vielleicht nicht mehr unter die patriotischen Tugenden, aber doch gewiß noch nicht wieder unter die entehrenden 144 Laster gerechnet wird, fanden es diese unverdorbenen Menschen noch immer so natürlich dankbar zu seyn, daß es ihnen dabey nicht einmal einzufallen schien, diese Dankbarkeit für eine Pflicht zu halten. Sie werden bald hören, daß es ihnen nicht an einem Beyspiel fehlte welches sie zum Gegentheil hätte verleiten können.

Nach einigen Minuten verliessen sie uns, und wir traten in mein Haus. Ich fand mit Erstaunen, daß in den vornehmsten Zimmern nicht das mindeste verändert war; die gröste Reinlichkeit herrschte darinn, alle Mobilien waren in dem nemlichen Zustande, und an der nemlichen Stelle, wie im Augenblicke meiner Flucht. Wir wandelten noch in den Gemächern des ersten Stockwerks umher, und ich war mit Clementinen beschäftigt unsern lieben Gästen ihre Zimmer anzuweisen, als ein frohes Geräusch mich an das Fenster lockte. Freund, welch' ein Anblick stellte sich uns dar! Eben die vier Pächter-Familien, die uns vor einer halben Stunde verlassen hatten, zogen von Duval angeführt, der auf seinem Clarinet einen Marsch bließ, und von einem hochbepackten vierspännigen Wagen begleitet, zum Hofe herein. Die Weiber und die erwachsenen Mädchen trugen verdeckte Körbe auf den Köpfen, die Kinder giengen auf den beyden Seiten des Wagens, dessen Pferde mit Bändern geziert waren. 145 Die vier Männer kamen zu uns herauf; der älteste, ein Greis von siebzig Jahren; redete mich an: lieber Herr, sagte er, wir haben es nicht hindern können, daß man Ihr Hausgeräthe verkaufte, aber soviel an uns war, haben wir es gehindert, daß nichts davon in fremde Hände fiel. Der einzige Colla, der schon lange ein schlechter Mensch war, hat uns unsre Freude ein Bischen verdorben; Sie kennen ihn, und wir haben mit grossem Vergnügen gehört, daß Sie ihm den braven Bürger Duval zum Nachfolger auf seinem Hofe gegeben haben. Mit dem Herrn Rittmeister hier (auf meinen Freund M** weisend) sind wir auch nicht ganz zufrieden; die besten Sachen hat er uns, wie Sie sehen, vor der Nase weggefischt; er behauptet, daß ihm, als Ihrem alten Freunde der Vorzug gebühre, als ob wir nicht auch Ihre alten Freunde wären.

Ich fiel dem ehrwürdigen Maturin um den Hals, ich umarmte seine Gefährten, wir schmolzen alle in Thränen. Clementine stand in einer namenlosen Entzückung da, vielleicht fand sie, daß der Mann, für den man das that, ihrer Liebe würdig war. Sie näherte sich dem Greise, und küßte ihn auf die Stirne; dann faßte sie mich bey der Hand, sie drückte sie noch nie so vest, und flog mit mir dem edeln M** in die Arme: der sich hinter den Commandeur und Constantien verborgen hatte. Diese 146 folgten unserm Beyspiel. O lieber Roger, was war das für ein Moment! er soll uns künftig zum Maßstabe dienen, wenn Clementine und ich uns einen Begriff von den Gefühlen der Unsterblichen machen wollen.

Unterdessen waren die Weiber und Mädchen in den Vorsaal heraufgekommen, und hatten mit Duvals Hülfe ihre Körbe niedergesetzt. Sie enthielten mein Porzellan und allerhand anderes Geräthe, das auf dem Wagen hätte Schaden leiden können. Dieser war mit Tischen, Stühlen, Commoden, Betten und andern Mobilien angefüllt, die sich in meinem zweyten Stockwerk befanden. Duval hatte in meinem Gartensaal eine hübsche Collation auftragen lassen, die vornehmlich aus den Früchten meines Gartens bestand; er sagte es Clementinen, und diese bat die ganze Gesellschaft, ihr zu folgen. Als der Kommandant die zahlreichen Weinflaschen erblickte, womit die Tafel besetzt war, sagte er lachend: nun, nun, ich sehe, daß der Keller dieses Hauses eben so wenig Plünderung litt, als seine übrigen Gemächer. Clementine wies der ganzen Gesellschaft ihre Plätze an, und nahm den ihrigen neben dem alten Maturin und seinem ehrwürdigen Weibe, einer Mutter von sieben Kindern und zwölf Enkeln, welche alle zugegen waren. Wir blieben wohl eine Stunde bey Tische, während der ich es mehr 147 als einmal umsonst versuchte, meinen Wohlthätern die Empfindungen meines Herzens auszudrücken. Clementinen gelang es nicht besser, als mir; allein ihr seelenvolles Auge, in welchem immer eine Freudenzähre glänzte, war weit beredter, als es ihr Mund hätte seyn können. Ihre Blicke irrten beständig auf den frohen Gesichtern unsrer ländlichen Gäste umher, die hinwieder von ihrer Leutseeligkeit noch mehr als von ihrer Schönheit entzückt, kein Auge von ihr verwandten. So übereilte uns die Abenddämmerung, und unsre guten Landleute verliessen uns, nachdem sie den Wagen in meine Scheune geführt hatten. Beym Abschied umarmte Clementine die Hausmütter, und lud die vier Familien auf den folgenden Sonntag zu Gaste.

Des andern Morgens machten wir allen unsern Besuch, und wären sie nicht schon ganz von meiner Gattin bezaubert gewesen, so würden sie es nun geworden seyn. Nach dieser Szene, mein lieber Doktor, brauche ich Ihnen weiter nicht zu erzählen wie wir unsre Zeit in Beaumont zubrachten; es wird Sie auch nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß es mir nicht möglich war, meine guten Bauern zu bewegen, den Ersatz ihrer Auslagen anzunehmen; mehr als zweymal durfte ich ihnen sogar mein Anerbieten nicht wiederholen, ich hätte ihnen ihre Freude verdorben. Das Fest, das Clementine ihnen 148 gab, war eines der herrlichsten meines Lebens; das Vergnügen strahlte auf allen Gesichtern, und eine treuherzige Vertraulichkeit verbannte allen Zwang. Nach der Mahlzeit nahmen wir, Duval und ich, unsre Clarinette zur Hand, und formirten das Orchester eines Balles, den Clementine mit dem ältesten Enkel Maturins, einem flinken achtzehnjährigen Jüngling, eröffnete, und wobey niemand, selbst unser Oheim, nicht müssig blieb, der auf dem ganzen Vorwerk nur der Papa Kommandeur heißt. Bey unsrer Abreise vereinigte sich wieder die gesammte Colonie auf meinem Hofe: ihr Abschied war so rührend, als ihr Empfang und ihre Segenswünsche waren von Schluchsern begleitet. Unser Vorreuter Duval mußte einige Augenblicke zurückbleiben, und jedem, der vier Hausväter einen in Clementinens und meinem Namen geschriebnen Brief übergeben, dem eine Quittung für die Pacht des laufenden Jahres beygelegt war. Die Ausdrücke, womit wir dieses kleine Zeichen unsrer Erkenntlichkeit begleiteten, lassen uns nicht befürchten, daß sie es ausschlagen werden. Was mußten das für Teufel seyn, denen es gelang, solche Menschen in Raubthiere zu verwandeln? und wie erquickend ist mir der Gedanke, die Zahl der Beweise vermehren zu können, daß es ihnen nicht bei allen gelungen ist.

Wir brauchten keinen vollen Tag, um von 149 Beaumont nach Solanges zu kommen, wo wir Ihren lieben, herrlichen Brief antrafen, der sich nur Herz an Herz beantworten läßt. Sein Ueberbringer empfieng uns am Schlage des Wagens: eine neue, süsse Ueberraschung, die wir unserm guten Oheim verdanken, der seinen Neffen ohne unser Vorwissen hieher beschieden hatte. Clementine stürzte ihrem Bruder mit einem lauten Schrey in die Arme, sie weinte an seinem Halse, und als ob sie es bereuete, daß sie mich über ihren Ferdinand einen Augenblick vergessen konnte, ergriff sie mich hastig bey der Hand, und zog mich an seine Brust. Hier ist dein neuer Bruder, der Gatte deiner glücklichen Schwester. Seine heisse Umarmung sagte mir, daß er Clementinens Herz hat, und daß er in dem meinigen die Gesinnungen antraf, die es ihm auszudrücken suchte, als ich ihm von Paris aus meine Verbindung mit seiner Schwester ankündigte.

Im Hofe bewillkommte uns der ehrliche Gärtner Goutier mit seiner Tochter Therese; ihre Freude ihren angebetenen Herrn und Clementinen wieder zu sehen, läßt sich nur mit derjenigen vergleichen, womit meine guten Bauern mich in Beaumont empfiengen. Der edle Greis konnte sich der Thränen nicht erwehren, als er in seine reitzende Wohnung trat, die er noch vor drey Monaten nicht hoffen durfte, wieder betreten zu können. Alles war 150 darinn unversehrt, weil selbst unter der Schreckensregierung das Eigenthum der Gefangenen vor ihrer Verurtheilung nicht veräussert, sondern blos in Beschlag genommen wurde.

Als wir eine Weile ausgeruht hatten, führte uns Ferdinand in den Speisesaal, wo eine niedliche Mahlzeit uns erwartete. Duval mußte mit zur Tafel sitzen, die Therese mit den schönsten Herbstblumen bestreuet hatte. Das gute Mädchen bat sich die Ehre aus, ihre Gebieterin bey Tische bedienen zu dürfen. Unser Oheim hatte Recht, als er sie eine hübsche muntere Brünette nannte. Duval warf ihr manchen verstohlnen Blick zu, der dieses Urtheil bestätigte, und als ihn gestern der Kommandeur fragte, wie sie ihm gefiele, sagte er: Herr General, ich stehe mit Leib und Seele unter Ihrem Commando; machen Sie nur, daß die Festung sich bald ergiebt, ich werde die Capitulation mit meinem Blute unterschreiben. Morgen will der Kommandeur mit dem Vater und Clementine mit der Tochter sprechen. So viel wissen wir schon, daß ihr Herz frey ist; dieses läßt uns hoffen, daß die Heyrath noch vor unsrer Rückreise nach Beaumont zu Stande kommen werde; dann giebt es wieder ein paar glückliche Menschen mehr in der Welt.

Gestern morgens lagen wir im Fenster unsers Schlafzimmers und ergötzten uns an dem von der 151 Sonne vergoldeten Rebhügel, der den Garten unsers guten Vaters krönet, als dieser ganz sachte hereingeschlichen kam, und sich dem Nachttische Clementinens näherte. Ich bemerkte ihn im Augenblicke, da er eine prächtig gestickte Brieftasche darauf hinlegte; er winkte mir zu schweigen, und wollte bereits wieder hinauswischen, als ihn auch meine Gattin wahrnahm. Sie sprang ihm nach. Bleib, bleib, mein Kind, rief er, indem er die Thüre hinter sich zuzog, ich war incognito hier. Nun wies ich ihr die Brieftasche; unter der Aufschrift: an meine Tochter Clementine, enthielt sie ein Brautgeschenk von dreytausend Thalern in soliden Pariserwechseln. Diese Summe, sagte sie freudig, indem sie mich umarmte, wird hinreichen, unserm Freunde M** den Preis Ihrer Mobilien zu vergüten. Freylich, mein lieber Doktor, möchte es noch eine Weile anstehen, bis die Nation mir diesen Ersatz leistet. Immerhin, wollte Gott, es hätte niemand der Revolution grössere Opfer gebracht, als ich, und jedermann wäre für die seinigen, wie ich, entschädigt worden. Ferdinand muß übermorgen wieder nach Belfort, er will diesen Brief mitnehmen, und Ihnen, mein lieber Doktor, eigenhändig überliefern, zuvor aber will Clementine noch einige Zeilen anhängen.

152 »Ja das will ich, mein edler Freund, und bin so stolz, zu glauben, daß ich mir den angenehmsten Theil desselben vorbehalten habe. Den 9ten dieses reisen wir, nehmlich mein Oheim, Beaumont und ich, von hier nach Mömpelgard, wo wir am folgenden Tage im Gasthofe zur Wage einzutreffen, und Sie, lieber Doktor, mit der Frau La Rive zu finden hoffen. Wir werden die drey Tage, die unser schönes langes Brautfest krönen sollen, an einem dritten Orte ruhiger als in Pruntrut feyern können, und Ihnen muß es leicht seyn, für diese kurze Zeit einen Urlaub zu erhalten. Wir bringen meiner Pflegemutter ein kleines Andenken mit, das ihr nicht unsre Erkenntlichkeit, vielleicht aber unsre Liebe beweisen kann. Ferdinand, der wie Sie, unsern Sammelplatz in wenig Stunden erreichen kann, wird unsern Wonnekreis ergänzen. Es ist keine von meinen kleinsten Seligkeiten, mich an dem zärtlichen Bande zu weiden, das ihn an seinen neuen Bruder kettet. Auch mein guter Oheim sieht sie mit Entzücken Arm in Arm umherwandeln, er nennt sie nur die zween Nebenbuhler, und hat seine herzliche Freude mit meinem Beaumont, über jenen Irrthum zu scherzen, der mir ein so rührender Beweis seiner Liebe war. Nebenbuhler sind sie auch in der That, wenn es darauf ankömmt, mich rathen zu 153 lassen, ob ich eine glücklichere Gattinn, oder eine glücklichere Schwester bin.

Unser zweyter Vater brennet vor Ungedult nach einer beynahe zehnjährigen Trennung seinen besten Freund wieder in seine Arme zu schliessen. Sage ihm, sprach er zu mir, daß man in meinem Alter mit dem Lebensgenusse wuchern muß, und daß nur er mir noch fehlt, um den Abend meines Daseyns zu dessen schönster Periode zu machen. Er wird wohl einen geschickten rechtschaffnen Mann finden, der ihn in seinem jetzigen Posten wenigstens zum Theil ersetzen kann; aber mir kann niemand, mir darf niemand meinen Roger ersetzen.

Auch Ihren neuen Freund M** werden Sie bey uns finden, er hat uns bey unsrer Trennung in Beaumont das Versprechen wiederholt, daß er noch vor dem Ende des Monats hier eintreffen werde, und Constantia, die während unsrer Abwesenheit die Weinlese besorgen will, o schon diese allein verdient, daß Sie uns wenigstens auf einige Wochen nach Solanges zurück begleiten. Vielleicht ist es der höchste Grad menschlicher Grösse, wenn man, ohne sein eigenes Unglück zu vergessen, dennoch mit ganzer Seele an Andrer Glücke Theil nehmen kann. Dieses kann Constantia: jede unsrer Freuden ist auch ihre Freude, sie bringt stets hie sanfteste Heiterkeit in unsern Zirkel, aber täglich verschließt sie 154 sich auf eine Stunde, die sie dem Umgange mit dem Geist ihres Gatten widmet. Sie hat sein Bildniß unter das meines Oheims aufgehängt, das sie in ihrem Zimmer antraf, und beyde mit einer Kette von Cypressen und Spätrosen umschlungen. Wie vieles könnte ich Ihnen noch von diesem vortreflichen Weibe erzählen, aber nein! Sie selbst müssen kommen und mit eignen Augen sehen. Leben Sie wohl, ehrwürdiger Freund, in sechs Tagen sind wir in Ihren Armen.

N. S. Ich reisse den Brief wieder auf; selbst meinem Ferdinand gönne ich die Freude nicht Ihnen zu sagen . . . . O lesen Sie, lesen Sie. Gestern Abends saßen wir bey Tische; Duval meldete einen Fremden an, der meinem Gemahl einen Brief von M** zu übergeben habe. Er war im Vorzimmer. Beaumont wollte hinausgehen. Laß ihn hereinkommen, sprach mein Oheim, und hole ihm einen Teller. Ein grosser ansehnlicher Mann trat herein; Constantia that einen Schrey und sank in Ohnmacht. Papa, Papa! rief Lolo indem er von seinem Stuhl aufsprang. Er war es, es war Vernon. Er warf sich auf seine Gattin, er ergriff ihre kalte Hand, er bedeckte sie mit Küssen und Thränen. Ach ich Unbesonnener! rief er, meine Ungeduld macht mich zu ihrem Mörder. In wenig Minuten brachten wir sie wieder zu sich. Freund! 155 dieser Moment . . . . die Sprache versagt mir, es giebt keine Sprache ihn zu schildern. Nun erst umarmte Vernon seinen alten Freund, der noch immer unbeweglich auf seinem Stuhle saß, auch er war einer Ohnmacht nahe. Nein, auch nicht der seligste Augenblick unter den seligen, die ich genoß, reicht an diesen, er liegt über dem Gebiete, himmelhoch über dem Gebiete der menschlichen Einbildungskraft. Nur noch einige Worte von Vernons Schicksal.

Er entgieng wie durch ein Wunder dem Blutbade vom 10ten August. Ohne die größte Gefahr konnte er nicht in seine Wohnung fliehen und suchte seine Sicherheit im Walde von Boulogne. Hier brachte er die erste Nacht und den folgenden Tag zu. Am zweyten Morgen erreichte er ein Dorf acht Stunden von Paris; hier gab er einem Bauer einen Brief an Constantien, dessen Bestellung er mit einem Louisd'or vorausbezahlte. Der Kerl nahm das Geld, und zerriß den Brief. In der Nacht setzte Vernon seine Reise fort, dieses that er auch in den fünf folgenden Nächten; des Tages blieb er meist in Hölen und Gebüschen stille liegen. Endlich erreichte er eine einsame Köhlerhütte in einem Forste; die Thränen, die der Mann und sein ehrliches Weib über die tragischen Vorfälle der letzten Tage vergossen, gaben ihm den Muth sie um ein Asyl zu 156 bitten. Es ward ihm gerne bewilligt. Vier Monate blieb er bey diesen guten Leuten. Endlich konnte er es nicht länger ausstehen von seiner Gattinn und seinen Kindern getrennt zu seyn; er beschloß alles zu wagen und nach Paris zurück zu kehren. Einen ungünstigern Augenblick konnte er nicht wählen. Vergebens suchten seine redlichen Gastfreunde ihn aufzuhalten; er verließ sie und schon am folgenden Tage ward er, weil er keinen Paß hatte, von den Häschern angehalten, und in ein Gefängniß nach Bourges geschleppt, wo er bis nach dem Sturze der Tyrannen schmachten mußte. Zweymal fand er hier Mittel an seine Gattinn zu schreiben, seine Briefe blieben unbeantwortet, weil sie so wenig als der erste ankamen.

Nach seiner Befreyung eilte er in die Hauptstadt zurück; da aber Constantia ihre Wohnung und ihren Namen verändert hatte, so war es ihm nicht möglich sie auszuspüren. Nach drey Wochen nöthigte ihn der Mangel, Paris zu verlassen, und die Freystatt anzunehmen, die einer seiner Mitgefangenen ihm in einem Dorfe, drey Meilen von Mericourt anbot. Wir waren nur eben von Beaumont abgereist, als er zufälliger Weise von meinen. Oheim und seinem Besuche in Mericourt sprechen hörte. Er flog zu unserm Freunde und erfuhr von ihm das Leben und den Aufenthalt seiner Gattin. Dieses alles wird Ihnen mein Bruder umständlicher erzählen. 157 Unser Vater kann sich nicht entschliessen, sich so schnell von seinem wiederauferstandenen Freunde zu trennen, obgleich bereits auch er sein Anerbieten angenommen hat, mit Constantien unter seinem Dache zu wohnen. Wir verreisen also erst den 12ten von hier, sonst aber bleibt alles bei unserer Abrede. Wie lieb müssen Sie uns seyn, daß wir selbst nach einer solchen Szene uns noch Freude, große Freude bey Ihnen versprechen.

Clementine.

 


 


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