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Erstes Kapitel.

Die Winterstube in der Sölden, dem abgelegensten Hochtale des ganzen Reviers, war dicht besetzt. Acht Mann mußten sich in Feuerstelle und Gelieger teilen. An zweitausend Ster Nutz- und Brennholz mußten noch herabgefördert werden in das Tal. Bis Neujahr war der reinste Sommer, alles »arber« Schneefrei. bis zu höchst hinauf, und jetzt verschneite es seit Wochen jeden anderen Tag die Bahn, daß man mehr mit dem Schneeschaufeln als mit dem Holzziehen zu tun hatte.

Seit gestern war es aber ganz aus. Ununterbrochen senkte sich das dichte, schwere Geflock herab, daß der Tag gar nicht mehr durchkam; es blieb nichts übrig, als ruhig abzuwarten, und das tat man auch mit der stoischen Gelassenheit des Berglers, der mit der Natur nicht rechtet, immer im engen Verkehre mit ihr, ihre Launen und Grausamkeiten geduldig über sich ergehen läßt.

Das Holz ging nicht aus, der Tabak und der Proviant auch nicht, so war es schon zum Aushalten.

Die Alten träumten so dahin in der wohligen Wärme des Ofens, an ihren Pfeifen kauend, mit dem Behagen eines Arbeitstieres, das seine angestrengten Muskeln ausruhen läßt, – die Jungen waren unerschöpflich im Erzählen von Geschichten, gegenseitigem Hänseln, indem sie ein und denselben Stoff unzählige Male hin und her wälzten, ihren kurzen, längst verbrauchten Wortschatz immer wieder von neuem aufschüttelten.

Die Nacht war eingefallen, wenn überhaupt von einem Tage die Rede sein konnte. Man hatte abgekocht und saß um die Feuerstelle. Die gefüllten Mägen verliehen neue Lebenswärme.

Der »Zigarrentoni«, ein verwegen aussehender, schwarzer Bursche in mittleren Jahren, Tiroler, dem kurzen, karrierten Wolljanker nach, den er trug, spielte einen Landler auf der Mundharmonika. Er weckte lustige Erinnerungen an »Hax'n schlag'n und Kirchweih«, eine gewisse Sehnsucht an die fetten sommerlichen Weiden auf der Post, beim Wirt in der Klamm, an den Holzknechtball in T ..., welcher den festlichen Abschluß bildete. Rote Flanellröckerln, schlohweiße wollene Strümpfe, fein ausgenähte Schücherln, grelle Mieder, blonde und schwarze Zöpfe gaukelten vor den Augen der Jungen.

Das Leitmotiv war gefunden.

Der Zigarrentoni hatte Erfolg mit seinen tollen Geschichten, die er nun losließ.

Schallendes Gelächter begleitete jede, das immer rasch abgebrochen wurde, um mit offenem Munde auf einen neuen Anlaß zu warten; auch die Alten schmunzelten und horchten zu.

Der Zigarrentoni war ein ausgemachter Verächter des weiblichen Geschlechtes; er konnte ihm gar nicht Schlechtes genug nachsagen und brachte das alles mit einer Überlegenheit heraus, die sichtlichen Eindruck machte.

Das war einmal einer, der 's auskost' hat, der net alleweil d'rum 'rumschleicht wie die Katz' um den Brei – der's Anpacken versteht – und »g'rad' um das handelt sich's!« erklärte er seiner dankbaren Zuhörerschaft, »g'rad' darum! Da meinst, weiß Gott, was dran war an dera Liab, von der s' alleweil red'n und singa, halt was ganz B'sonderes und Fein's, was »Göttliches« hat der Student g'sagt, der beim Pfarrer g'wohnt hat, und bald d' as packst bei der Krips, nachher – no nachher hast an abg'riff'nan Pfennig in der Hand anstatt an Goldstück'l!«

Der Vergleich war verständlich. Allgemeines Gelächter. Recht hat er schon, der Toni, sogar die Alten nickten.

Das ermutigte ihn nur. »Aber so is mit all dem Sach', was ma' so glaubt, wenn ma' no der Dumm' is, mit d'n Teuf'l, mit die Geist'r – mit mehra no, was in die Büach'ln steht, mit Himm'l und Höll' –«

»Und mit dem Herrgott z'letzt a no', wenn ma' di' anhört!« ließ sich jetzt eine Stimme aus dem dunkelsten Winkel hören.

Ein junger, sehnig gebauter Mann sprang von dem Hackstock, auf dem er bisher schweigend gesessen; rötlich blondes Haar umgab in dichtem, kurzem Gelock die breite klare Stirne, die in ihrem festen, gedrungenen Bau einen starken Willen, aber auch zähe Verschlossenheit verriet.

Der Zigarrentoni zuckte höhnisch lachend die Achseln. »Das kann a jeder halt'n«, wia er will – du freili –«

»Was i freili? Um kein Haar glaubst du weniger als i, g'rad aufdrah'n möchst und der G'scheitere sei', – 's gibt ja gar kein', der net glaubt, 's kann kein' geb'n – das sag' i –«

»An d' Liab und an d' Teufl?« fragte der Zigarrentoni spöttisch.

Der alte Baperl, ein Mandl wie eine alte Wurzel, bekreuzigte sich rasch.

»Hast d's denn a scho' anpackt die zwoa – die ei' beim ›Firta‹, Schürze. den andern bei die ›Hörner‹?«

»Brauchst 's a gar net,« erwiderte der Blonde, »i hab viel net anpackt, was do da is –«

»Aber i hab's anpackt, Narr. Soll i 's euch verzähl'n – ja? – Also. –«

Man rückte lachend näher, daß die Köpfe dichtgedrängt im Feuerschein anglühten, nur der Zigarrentoni blieb im Dunkel zurückgelehnt, er setzte seine gestrickte Wollhaube noch schiefer, strich sich seinen spitzen schwarzen Vollbart, lachte wie in Erinnerung verloren in sich hinein und begann:

»Hüaterbua war i no auf der Grindl, im Tirolischen drent, a Rotzer, a richtiger no, a Madl war für mi damals wia an anderes Leut', net umg'schaut hab' i drum, mehr no, schmecka hab' i's net könna. – Auf der Alm war a alter Schweizer, a grantiger Teuf'l, aber liab'r war's mir do', als an Weibsbild diena müass'n. Da komm' i mal beim Gaissuach'n bis ins Bayerische 'nüber, – begegnet mir a Dirnd'l im Sonntagsstaat, blutjung, aber schö' – scho' damisch schö' – drein g'schaut hat s' wia s'Christkind'l selb'r in der Kripp'n, – und derschrock'n is, wia i aus die Latsch'n abi spring auf d'n Steig. Wohin denn nachher? frag' i. Da hat s' das Köpferl 'nein druckt und ganz rot is s' word'n. D' Almerin is krank word'n, sagt s', da hat mi d' Muatt'r – da hat s' aufg'schaut. Das war was, Leut! Wenn i hundert Jahr alt werd', könnt' i's net vergess'n, – g'rad als ob der ganze Himm'l aufgang.«

Der Zigarrentoni machte eine lange Pause, die Pfeife war ihm ausgegangen; die Hand in den schwarzen Bart vergraben, starrte er in das Feuer.

Jung und alt hing an seinem Munde, auch der Blondkopf war näher getreten.

»Nachher bin i mitganga auf d' Alm, gered't hab' i nix, g'rad hinterher bin i ganga und ang'schaut hab i's. »B'suach mi a mal,« hat s' g'sagt, ganz schüchtern, »tat mi freu'n.« Goas Geis. hab i keine heim 'bracht. – Wie i dann am Heu g'leg'n bin, is mir erst komma. Da is d' Liab, von der s' so viel Wesen mach'n, nix anders. –

Von der Zeit an war i kein Goasbua mehr – ganz was Seltsam's ist mir in die Glieda g'schoss'n – als wenn d' ganze Welt zu kaufn wär'; und ganz fromm bin i 'word'n, jawohl, bet' hab' i wied'r. Nachher hab' i's an an Sonntag b'suacht in mein' neu'n G'wand. Das war a Tag, g'redt hab' i wied'r nix, g'rad ang'schaut hab' i 's und d' Hand druckt und so g'schami is g'wes'n; d'erschlag'n hätt i' mi' liab'r lass'n auf an Fleck, als g'rad a Buss'l wag'n. Dann bin i wied'r 'ganga, mit an glühheiß'n Kopf, und an Juhschrei hab' i' tan, als soll'n sie's bis ›Münga‹ 'nein hör'n. Das is d'Liab, hab' i mir denkt, d' Leut' hab'n scho' recht, – s' schönst' is scho' auf der ganz'n Welt.«

»Na also! Ja, der Toni –« rief man dazwischen, sichtlich enttäuscht von der Erzählung.

»Halt's auf, d' Hauptsach' kimmt ja erst.«

Der Toni drückte sich noch weiter in die Ecke zurück.

»Am Samstag hab' i' mi' wied'r aufg'macht, hart daß i 's derlitt'n hab' d' Woch' umma. A Wett'r is anzog'n, blitzt und donnert hat's und goss'n grad abi. Waschnaß komm' i auf d' Alm. D' Lad'n, die Tür'n all' zua. Vor'm Wett'r, natürli. Schleichst di' an, denk i – eina in d' Stub'n und g'halst und busselt. G'rad hoaß is mir aufg'stieg'n bei dem Gedanka. Scho' bin i auf der ›Bühn‹', da hör' i lach'n, wispern im Stübei drinn. A Lad'n hat net guat g'schloss'n, i schaug 'nein, – wer sitzt drinn? Der schwarze Jagerfranz'l, 's Dirndl auf sein Schoß. I wisch' mir d' Aug'n; das kann do' dei' Reserl net sein, das Weibsbild mit dem frech'n G'lacht'r, mit den sündhaft'n Aug'n, die 'hn g'rad g'fressen hab'n, den Schandjaga. – Wisch' mir's no amal, – druck's an d' Scheib'n, – sie war's scho' – 's Reserl, das i mir net anz'rührn traut hab', – war's scho'! Dann hat s' mein' Nam' g'nannt, und alle zwei haben's g'lacht, ganz narrat g'lacht und i – i hab' a g'lacht, ganz narrat g'lacht – und bin davon g'loff'n über d' Liacht'n, – bis unter die große Feucht'n, da hab i verschnauf'n woll'n, mir die ganze Sach' z'recht leg'n, da geht die Almtür, – der Jaga kommt außa mit sein' rot'n Hund, spekuliert umanand, steigt aba gegen mi'. – Da hab' i mein' Bergstock 'packt und hab' ang'legt auf ihn. Wenn du jetzt a Buchs wärst, is aufg'stieg'n in mir, – und nachg'fahr'n bin i, wia auf a Stuck Wild, 's war mir g'rad, als ob der Teufel selb'r hinter mir stand ruafet ›schiaß‹. Ganz kalt is mir 'word'n, z'letzt geht der Steck'n a los, wenn der Schwarze will, denk' i und setz' ab –«

Der Zigarrentoni schwieg plötzlich und zündete seine Pfeife am Feuer an.

»No und weiter? Jetzt muaßt scho' auserzähl'n!« ging von allen Seiten die Aufforderung.

»Weiter!« begann der Toni, – »das will i scho' verzähl'«. D' Woch' d'rauf is s' Reserl auf mein' Schoß g'sess'n. Is oan Ding, hab' i mir denkt, wenn's scho' net anders is. S'Monat d'rauf is aus dem Steck'n a wirkliche Buchs worden, und wenn wir z'samm troff'n wär'n, der Jagafranzl und i – der Teufl hätt' net lang z'ruafn 'braucht ›schiaß‹, 's hätt' so a g'langt. Zum Glück hab'n s' 'hn versetzt, und die G'schicht war aus. Laß d's jetzt gelt'n, Ambros, daß i alle zwo anpackt hab', die Liab und den Teuf'l?«

Wieder bekreuzigte sich der alte Baperl, so andächtig er auch der Erzählung gelauscht.

Der Blonde aber trat auf den Zigarrentoni zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »No mehr laß' i dir gelt'n, Toni, a das –, daß ma' so a Load sein Lebtag nimmer vergess'n kann.«

»Nimma vergess'n kann, – i?« Der Zigarrentoni lachte in einer gezwungenen Weise. »Da kommst schön an, all's hab' i vergess'n, aber gar all's, d' Liab und den Teufl, den Himm'l und Höll' – und grad 'raus, wenn du 's do wissen willst – den Herrgott a!«

Man lachte nicht mehr. Der Baperl bekreuzigte sich zum dritten Male, stand auf und ging kopfschüttelnd der Kammer zu.

»Toni, gib' Obacht!« warnte der Blonde, »i mein' alleweil –«

Doch er sprach nicht aus. Alle Köpfe hoben sich mit einem Ruck, und der Toni sprang jäh von seinem Sitze. Ein seltsamer Ton drang herein, ein langgezogener, jämmerlicher Schrei. Er wiederholte sich mit gesteigerter Anstrengung, um dann ermattet zu ersterben.

Man blickte unwillkürlich auf Toni. Der Schauer des Geheimnisvollen ging durch den Raum, die frevelhaften Worte, die man eben gelassen angehört, lasteten auf allen.

»No, Toni,« meinte der Baperl, dessen Antlitz am wenigsten Unruhe verriet, »was d'rschreckst denn so?«

»I? Da lach i. Wird halt a Stuck Wild sein, das nimmer weiter kann im Schnee.«

Da ertönte wieder der Schrei – näher – ganz nahe – ein menschlicher Schrei, kein Zweifel –

Jetzt gab es keine Frage, kein Bedenken mehr; der Blonde war der erste draußen im Schneegestöber, das sich immer noch gleichmäßig herabsenkte durch die Nacht.

»Halloh! – ho!« tönte seine kräftige Stimme. – Keine Antwort. Es war wohl der letzte Schrei – der Todesschrei.

Der Schnee war tief und zähe, die Nacht stockfinster. Der einzige, Baperl, hatte den guten Gedanken, eine Laterne mitzunehmen und die Schneereifen anzuziehen, so kam er trotz seines Alters allen voran. Er hatte den Ruf genau verstanden. Der Unglückliche ist über den Paß gekommen, das Licht der Winterstube hat ihn irregeführt, in irgend einer der steilen Gräben ist er stecken geblieben.

Plötzlich wieder ein Laut, – aber der hatte gar nichts Menschliches mehr. Ein Bursche hinten lachte hell auf.

»Is ja a Katzl. No, i druck' mi'.«

»Und wenn 's a Katz is! Z'grund soll s' net geh', das arme Viech.« Mit diesen Worten grub sich der Blonde zum Laternenträger durch, während die anderen zögerten.

Jetzt war über die Richtung kein Zweifel mehr, ein steiler Graben zog sich quer durch das Paßtal, – da war es!

»S' is kei Katz, verlaß di' d'rauf, Ambros!« sagte der Baperl.

Jetzt standen sie vor dem Graben, bis über die Schenkel im Schnee. Das Flockengewirbel gestattete keinen Blick auf zehn Schritte voraus.

»Halloh! Ho! – G'rad an Laut gib!« rief der Ambros hinunter, während der Baperl die Laterne hoch hielt.

Jetzt klang es deutlich aus dem Graben herauf, das tierisch klingende Wimmern.

»A Kind'l is!« schrie der Baperl.

Der Ambros aber kollerte schon den Graben hinab, in eine Schneelawine gehüllt. Das Wimmern setzte jetzt nicht mehr aus und leitete ihn. Ein dunkler Fleck hob sich im matten Schneelichte aus dem gleichmäßigen Weiß ringsum, welches das Chaos der gefallenen Stämme und des Gerölles überzog. Keuchend arbeitete er sich durch. Von oben herab gaukelte der Strahlenkegel, welcher von der Laterne des Baperl ausging, jetzt streifte er gerade über den schwarzen Fleck – eine menschliche Gestalt – ein Gesicht trat aus der Nacht –

Mit einem Sprunge war er dort – griff danach – ein kleines Wesen blieb ihm in der Hand – ein Kind! Wirklich ein Kind!! Aber das Tuch, in das es gewickelt, an dem er zerrte in der Hast, löste sich nicht. Klar zu denken war nicht möglich. – Er bückte sich, seine Hand berührte einen zweiten Körper, eine eisige Hand. – In dem Augenblicke fiel das Licht der Laterne auf ein weißes Gesicht – ein Mädchengesicht – ein Totengesicht. –

Er kniete nieder, das wimmernde Kind im Arme. Es war jung und schön, das Gesicht – so schön, wie er noch keines gesehen. Schwarzes, loses Haar, in dem die Flocken hingen, schloß es ganz ein, ein tränenvolles Lächeln hatte den kleinen, bleichen Mund verzogen.

Ambros vergaß erst Kind und Hilfe über den Anblick, dann schrie er dem Baperl alles mögliche wirre Zeug hinauf, rieb das weiße Gesicht mit ein Paar Tropfen Schnaps, die er zum Glück bei sich hatte, und hielt das weinende Kind in seinen Armen. – Dann vergaß er alles, – die Brust bewegte sich unter seinen Händen, die Lippen öffneten sich, ein warmer Lebenshauch drang gegen sein Gesicht, das er dicht über die Unglückliche beugte.

Er hob den Körper aus dem Schnee, strich das Haar aus der Stirn und rief das ungereimteste Zeug. – Dann öffneten sich die Augen, erstaunt und groß waren sie auf ihn gerichtet, mit dem rätselhaften Ausdruck, den die Berührung mit einer anderen Welt aus langer Ohnmacht Erwachenden verleiht.

»Kind! Mein Kind!« waren die ersten Worte. Dann griff sie mit den Händen in dem Schnee umher. »Biela – wo – wo is Biela?«

Sie raffte sich auf, hielt mit beiden Händen Ambros an der Joppe fest und sah ihn in wilder, drohender Verstörtheit an.

Das war nicht mehr das liebe Engelsgesichterl von eben. Wie's nur möglich war! Ganz verdutzt reichte er ihr das etwa sechsjährige Kind, das jetzt keinen Laut mehr von sich gab.

Sie herzte und küßte es, stieß unverständliche Rufe aus; da kam schon der Baperl herab mit Hilfe.

Das Mädchen blickte geblendet, geängstigt umher, unwillkürlich schlang es die Arme um den Nacken des Ambros, seines Retters. Das feuchte Schwarzhaar, welches sich unter dem roten Kopftuch gelöst hatte, umhüllte es ganz.

Es wollte sich nicht tragen lassen, sein Kind nicht geben, doch bei dem ersten Schritt aufwärts versagten seine Kräfte, mit einer letzten Anstrengung übergab es das Kind Ambros, dann schwanden wieder seine Sinne. Kräftige Arme nahmen es auf. Ambros folgte mit dem Kinde.

Es war ein bös' Stück Arbeit durch den fußhohen Schnee. Das »Waibats« hatte ein Gewicht, – und der Schnee war schon wieder gewachsen.

Vor der Stube stand der Zigarrentoni; er war kein Zugreifer. – Starr blickte er auf das Mädchen in den Armen der Knechte. Das Feuer am Herd warf seinen grellen Schein darüber.

»Sakra! Sakra! Was habt's denn da aufgabelt? – Da war ma glei' a Katz lieb'r.«

Die Wärme der Stube wirkte belebend auf die Fremde. Sie erhob sich von der Bank, auf die man sie gelegt. »Biela! Wo is Biela!« rief sie in einer fremden, weichen Betonung. Man reichte ihr das in ein graues Wolltuch gewickelte Kind, ein Mädchen, das mit trotzigem, feindseligem Blick umhersah.

Sie warf sich mit einer wilden Leidenschaft darüber, herzte und drückte es, in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend. Sie war gut gekleidet, aber nicht nach Brauch des Landes. Das rote Tuch turbanartig geschlungen, ein gleichfarbiges Mieder mit silbernen Knöpfen unter einer blauen Wolljacke gab ihr etwas Zigeunerhaftes, obwohl die Hautfarbe von blendender Weiße war. Ihre ganze Habe schien in dem Quersack zu stecken, welchen sie um die rechte Achsel trug. Das Gesicht zeigte einen Typus, der in der Gegend nicht zu finden war, ganz »herrisch«, meinte der Baperl.

Schweigend umstanden sie die Männer, verlegen fast. Solchen Besuch war man nicht gewohnt in der Winterstube.

Der Zigarrentoni hatte jetzt wieder seine Schneid' gewonnen. »Woher kommst denn bei dem Schnee mitt'n bei der Nacht a no? So was!«

»Von Brixen, Herr, – gestern bin ich fort,« erwiderte das Mädchen scheu.

»Und wohin willst denn?«

Das Mädchen zögerte. »Das – das weiß ich nicht – irgend wohin. Is mir alles gleich – will nur Brot verdienen für kleine – arme Biela –«

Die Worte wirkten, – Brot! Da hielt man Maulaffen feil, anstatt dem armen Madl was Warmes zu verschaffen in den kalten Magen.

Der Baperl holte die Pfanne mit dem übrig gebliebenen Kaffee, um sie an das Feuer zu stellen. Ambros lief zu seiner Proviantkiste und holte Brot und Butter, ein dritter brachte Schnaps. Im Nu stand eine dampfende Kaffeeschale vor der Fremden, ein dick aufgestrichenes Butterbrot lag daneben. Die Fremde gab zuerst dem Kinde, das gierig den warmen Trank einsog, dann genoß sie selbst.

Die Wangen röteten sich, wohlig aufatmend sah sie sich jetzt erst ihre Umgebung ohne Scheu an.

»Wäre jetzt schon tot mit Biela, wenn nicht wären gekommen gute Herrn.«

Aller Ernst, alle Angst war jetzt verschwunden aus dem Gesicht, das nun förmlich aufblühte in neuer Jugend. Die schwarzen, sprechenden Augen blieben auf Ambros haften, und ein holdseliges Lächeln spielte um die jetzt kirschroten Lippen.

»Ja, – Sie – Sie haben gerettet mich und arm Kind – ich vergesse nicht – nie – mein ganzes Leben nie – geben Sie mir Hand – geben Sie mir –«

Sie streckte ihm eine kleine, sonngebräunte Hand entgegen. »Ich bin nicht böse –«

Die Burschen kicherten und stießen sich. Die Art, die Sprache, alles war ihnen so fremd. Ganz »herrisch« nahm sich's aus, und doch war es ein armes Madl, viel ärmer als sie alle.

Ambros wurde vorwärts gepufft, die kleine Hand verschwand ganz in seiner Faust, und feuerrot wurde er bis unter das blonde Gelock hinauf. Jetzt sah sie wieder gerade so aus wie dort im Graben, wo er sie gefunden hatte, wie die Muttergottes mit dem Kind'l, aber gerade so.

»Darf doch hier bleiben die Nacht mit kleiner Biela?« fragte sie.

»Mußt schon, Madl,« erklärte der Baperl, »wie kamst denn 'nunter nach Seedorf?«

»Seedorf? Kann ich bekommen Arbeit in Seedorf?« fragte das Mädchen weiter.

»Arbeit? Mitten im Winter? Das wird sich hart machen, mei' Madl!« meinte der Baperl.

»Was machst denn nachher für a Arbeit?« mischte sich der Zigarrentoni ein. »Für Bauernarbeit schaugst d' grad net her. Und a Kind dazua, paßt a net jed'n.« Das Mädchen schwieg und nickte traurig mit dem Kopfe, die immer noch scheue Kleine an sich pressend.

»Was hast denn fürerst trieb'n?« fragte der Zigarrentoni rücksichtslos weiter, mit mißtrauischem Blicke die Fremde musternd.

»O, war alles gut – junger Mann – schöner Wagen, schöne Pferde, ein Löw', ein Bär, zwei Wölf' und seltene Vogel – alles vom Vater bekommen. Is wohlhabender Mann gewesen, der Vater, aber immer Unglück – viel Unglück mit die Tier – dann is Vater gestorben und Mann und Löw' in einem Jahr. – Hab' ich so lieb gehabt den Löw'!«

»Den Löw'?« Der Zigarrentoni lachte. »No und den jungen Mann net a a bisl?«

Die Fremde warf jäh den Kopf auf. »Nein, habe ich nicht.« Es flammte lodernd in ihren dunklen Augen. »Er war nicht gut mit mir und Biela, – er hat getrunken, mich geschlagen. Der Löw' hat ihn totgebissen. Er hat es oft gesehen, wie er mich geschlagen, – das hat ihn bös gemacht – und dann – dann war es aus. Tiere wurden mir genommen vom Gericht – ich und Biela saßen auf der Straße –«

Alles schwieg, mit offenem Munde die Fremde anstarrend. Die abenteuerliche Erzählung, das Fremdartige der Ereignisse beschäftigte vollauf die schlichte, einförmige Phantasie. Ein Frauenzimmer, das einen Löwen zum guten Freunde hatte, das war ihnen noch nicht vorgekommen, und Bären und Wölf' noch dazu! Und wie sie das erzählt hat vom Totbeißen, daß einem ganz kalt über'n Rücken 'nunterg'lauf'n ist, und jetzt schaut s' wieder drein, als ob s' keine fünfe zähl'n könnt', so liab und guat. Der Zigarrentoni aber trat dicht vor sie hin, sein Hüt'l rückend und den schwarzen Bart sich streichend. »Mei' Frauerl, da wird s' dir nur halbat pass'n bei die Küah, wenn du solche Viecher g'wöhnt bist, – g'rad 'raus, i nehmat di net, wenn i a Bauer wär'.« Er beugte sich dicht zu ihrem Ohre, »als Dirn net.«

»Aber i nehm' s', und damit hat das G'red a End'.«

Der Blonde sprach die Worte, der die ganze Zeit über kein Auge von der Fremden verloren.

»Jawohl, i! Schaug nur so, Toni, i nimm' s', der Lawiner.«

»Du?« Der Zigarrentoni stemmte die Arme in die Seite und sah ihn feindselig an. »Das is ja Dein Vater, der Lawiner.«

»Mein Vater wird's mir net weigern, und am End' ist das mein' Sach'. Magst Frau?« wandte er sich an die Fremde, »g'rad bis d' was bess'res find'st. Soll dir nix fehl'n beim Lawiner, dir net und der Klein' net.«

Die Fremde gab sich keine Mühe, ihre Freude zu verhehlen. »Is Ernst? Wirklich mit Ihnen? Ich und Biela? Oh, wie will ich arbeiten, alles, alles! Oh, ich kann arbeiten, viel arbeiten, aber wenn Vater – Ihr Vater nicht will?«

»O, der will scho', kümmer di' net, Frauerl, der will scho', wenn er di sieht, verlass' di drauf.« Der Zigarrentoni sagte es mit einem höhnischen Blick auf Ambros, welcher diesem das Blut ins Gesicht trieb.

»Lass' das mein' Sach' sein, Frau,« sagte dieser, »der red't gar viel, wenn der Tag lang is.« Dann rüstete er die Lagerstätte in der Ecke, die sonst der Forstgehilfe einnahm, wenn er in der Stub' übernachtete.

Jeder bot seine Decke an, jeder wollte dem Schützling was Gutes tun. Die Ermattung kam erst jetzt zur Geltung. Ambros fing noch einen letzten dankbaren Blick auf; dann entschlief die Fremde, das Kind fest im Arm.

Sorgfältig jedes Geräusch vermeidend, die harten Stimmen gewaltsam dämpfend, krochen die Männer in das Gelieger, eine respektvolle Lücke lassend, zwischen der Mutter mit dem Kinde.

In der anderen Ecke lag Ambros auf dem Rücken und starrte in die kleine Flamme des Öllämpchens oben auf dem Querbalken, das heute ausnahmsweise brannte. Der Kopf glühte ihm. Das war sein erstes Erlebnis. Das blasse Gesicht im Schnee, g'rad wie von einer Heiligen unten in der Seedorfer Kirche, aufg'wachs'n bei Löwen und Bären und Wölf'. Und der Löw' hat ihren Mann zerrissen, aus Zorn, weil er sie g'schlag'n hat. Ja, da kann ma' auch zornig werd'n, wenn ma' auch kein Löw' is. Das begriff er ganz gut. Er sah den Mann verbluten unter der Tatze der Bestie. Ganz recht is ihm g'scheh'n, wia kann ma denn so a liab's Wes'n schlag'n. Was der Vater sag'n wird, wenn er sie bringt. »Der will scho', wenn er die siecht!« Wia er das g'sagt hat, der Toni. Er hat ihn wohl verstanden. Wenn das wär'? Wenn der Vater desweg'n – und was gang's denn ihn an! Will er denn was von der Person? G'fall'n darf s' einem do'. – Und wenn's ihm amal gang, wia dem Toni damals auf der Alm, wenn er seh'n müaßt. – Aber der hat's ja liab g'habt, sein Reserl – und er denkt ja gar net.

Unruhig wälzt er sich auf die andere Seite; er hob sich etwas, um zu sehen, ob sie schlief. Ein breiter Rücken nahm ihm die Aussicht – der Toni! Aufrecht saß er da, den Kopf in die Hand gestützt, und blickte unverwandt auf die Fremde in der Ecke.

Das ärgerte ihn; was hatte der Mensch so zu gaffen. Eben wollte er ihn darum anreden, da ließ sich der Toni schwer zurückfallen und atmete tief aus.

Jetzt hatte Ambros ein wohliges Gefühl, er gedachte ihres dankbaren Blickes, ihres warmen Händedruckes. »Da kannst' lang' wart'n Toni,« flüsterte er vor sich hin. Dann verlangte die Natur ihr Recht, er schlief ein.

Es war eine unruhige Nacht in der Stube. Ein ständiges Stöhnen, Aufsprechen, Hin- und Herwälzen. – Der alte Baperl schrie einmal laut auf: »Der Löw'! Halt 'hn auf!«

Nur die Mutter mit dem Kinde rührte sich nicht; der Schein des Öllämpchens übergoß sie mit einer feierlichen Glorie, inmitten der schnarchenden Männer, des alten Gerumpels an den geschwärzten Holzwänden.


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