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Zweites Kapitel

Professor Cassan war in seinem Nachmittagskolleg über die Knorpellehre so zerstreut, daß er die drolligsten Verwechslungen machte.

So mußte der Gelenkknorpel eines Ichneumon in seiner Hand längere Zeit zur Demonstration eines diesem entsprechenden Kinderknorpels dienen, an dem er eine besondere Art von Degenerierung zeigen wollte, bis ihn ein Schüler der vordersten Reihe auf seinen Irrtum aufmerksam machte.

Sonst im Eifer des Lernens über die festgesetzte Stunde, unberührt von allem Fußgeschlürf und Getrampel, hinausgehend, schloß er heute eine Viertelstunde vor der Zeit und verstand es, seinen jungen Hörern, die ihn sonst täglich auf dem Korridor mit teils ernsthaften, teils humoristisch gemeinten Fragen umdrängten, blitzschnell zu entwischen.

Das Erstaunen war aber noch größer, als man den Professor beim Verlassen des Universitätsgebäudes hastig in einen bereitstehenden Wagen steigen sah, in dem zwei Herren saßen, die ihn offenbar erwartet hatten.

Er winkte den ihm erstaunt Nachblickenden, sichtlich befriedigt über sein Entkommen, lustig zu, bis das Gefährt an der Ecke verschwand.

Der Cassan läßt sich in einem Wagen abholen! Das war eine unerhörte Tatsache, die in Verbindung mit dem Ichneumon zu allen erdenklichen Kombinationen Anlaß gab, die in der Folge nicht ohne Bedeutung sein sollten.

Von den beiden Herren, die mit Cassan im Wagen saßen, war der eine ein behäbiger, schwer atmender Mann, der Besitzer des Grundstückes, das der Gelehrte heute endgültig erwerben sollte, der andere jüngere, ein Architekt, sein Vertrauensmann.

Der Dicke erklärte Cassan die große Zukunft des Baugrundes. Die Stadt müsse sich nach dieser Seite hin ausdehnen. Er denke selber nicht daran, zu verkaufen, wenn ihm nicht die Geschichte über den Kopf wüchse.

Cassan lächelte nur schweigend in sich hinein, wie die schwulstigen Finger des Mannes ihm die Tausende vorrechneten, die in fünf Jahren an dem Grunde zu verdienen waren, oder warf dem jungen Architekten einen verständnisvollen Blick zu.

Wie glücklich fühlte er sich doch mit seinen großen Ansichten diesem trockenen Spekulanten gegenüber.

Der Wagen fuhr durch die ganze Stadt, dann die Chaussee hinauf, zwischen Tiergarten und Wall hindurch.

Cassan sah unwillkürlich auf das Viertel hinab und dachte des blonden Knaben von gestern. Wart nur, Kleiner, ich vergess' dich nicht!

Aus dem zoologischen Garten heraus tönte das klagende Brüllen eines Löwen. Emir trauert um seinen Liebling und stimmt seine Totenklage an.

Cassan wünschte ihm jetzt von Herzen Genesung, so voll war er augenblicklich der Liebe.

Der Wagen fuhr immer noch weiter. Die Vorstadt hörte auf. Äcker begannen. Ein einfaches Dorf lag am Waldrand.

Der Dicke verteidigte seinen Grund immer hitziger, je weiter man ins Feld hinausfuhr. Lassen Sie sich nicht irremachen, Herr Professor! So einer Stadt wachsen immer mehr Füß'! In zwei Jahr is heraußen – ich steh' Ihnen dafür!

Lieber nicht, mein Herr! bemerkte Cassan. Ich will ja gerade –

Der Architekt warf dem Unvorsichtigen einen warnenden Blick zu.

Endlich hielt der Wagen.

Ein richtiges Dorf schmiegte sich an eine bewaldete Höhe. Ein Bach mit starker Strömung floß mitten durch und trieb einige Mühlen, deren Geklapper man herüber hörte. Ringsum Felder, von kleinen Waldparzellen unterbrochen, stattliche Gehöfte.

Jetzt lag noch Schnee. Im Sommer, wenn die Flur grünte, mußte das ein herrlicher Winkel sein!

Vom Norden her reckte die Stadt bereits ihre Fangarme danach aus, ein Umstand, den der Grundbesitzer nicht zu betonen versäumte.

Der Platz, um den es sich handelte, lag auf einem erhöhten Punkt, weite Aussicht gewährend; ein Teil war noch mit Wald bewachsen.

Cassan war entzückt von der Lage. Alles stimmte! Auf eine ländliche Umgebung, auf den wohltuenden Einfluß der freien Natur baute er seine größten Hoffnungen.

Der Architekt hatte die größte Mühe, den Ausbruch seiner Begeisterung zu dämpfen, die dem Spekulanten nicht entging.

Ein ansehnliches Terrain wurde abgemessen, der Preis ausgehandelt.

Als dieser, dank den geschickten Einwendungen des Architekten, dessen Gewandtheit Cassan stumm bewunderte, die einmal von dem Gelehrten festgesetzte Summe noch nicht erreichte, ruhte er nicht mit weiterem Zukauf, bis diese Summe voll war.

Er hätte sich vor sich selber geschämt, davon etwas abzuzwacken, das Handelsgenie des Architekten für sich auszunützen. Außerdem wuchs schon jetzt, da er gewissermaßen auf dem realen Boden seines längst gehegten Traumes stand, sein Plan ins Ungemessene, Phantastische. Der Architekt konnte ihm nicht mehr folgen.

Da sprach er von ausgedehnten Gartenanlagen, Badehäusern, Sportplätzen, Stallungen für eigenes Milchvieh, Werkstätten aller Art. Und mitten darin erhob sich ein wahrer Palast mit Versammlungs- und Bibliothekszimmern, Studien- und Schlafsälen.

Der Architekt mußte Cassan immer wieder daran erinnern, daß er ja kein buen retiro für reiche Leute, sondern eine schlichte Erziehungsanstalt für arme oder verwahrloste Kinder errichten wolle, deren Aufenthalt doch in keinem zu schreienden Kontraste mit ihren späteren Lebensbedingungen stehen dürfe.

Der unpraktische Gelehrte, der Theoretiker kam auch hier wieder zum Vorschein.

Cassan war jetzt Feuer und Flamme, er dachte gar nicht mehr daran, die Ausführung bis zu seinem Tode zu verschieben. Ja, es war ihm auf einmal, als begänne damit erst sein wahres Leben.

Marianne, mit der er bisher nur in großen Umrissen über den Plan gesprochen, sollte sofort völlig eingeweiht werden. Er war ihrer Zustimmung sicher.

Marianne! Wie er sich plötzlich nach ihr sehnte, ganz anders wie sonst. – Wie sie in ihrer Schönheit verlockend vor ihm stand, – begehrenswert! – Ja, war er denn blind? Oder ist er um Jahre jünger geworden? – Braucht es gar nicht. Ist er denn alt? Dieses ewige Grübeln und Sich-in-Theorien-verbeißen! Die Wissenschaft macht alt. Das Leben, die Tat ist ewig jung, und der will er von nun an gehören.

Er riß sich schwer los von dem Platze; am liebsten hätte er noch heute mit dem Bau begonnen.

Gundlach hieß das Dorf. Der Name klang ihm jetzt schon so befreundet. Vielleicht war er bestimmt, einst eine glorreiche Rolle in der Geschichte der Kultur zu spielen, als Ausgangspunkt einer neuen Menschheitsidee.

Cassan sah auf die ärmlichen Hütten mit dem selbstbewußten Blick des Dichters herab, dem die Kraft des Genies unsterblichen Ruhm vorgaukelt.

Er fühlte sich um zwanzig Jahre jünger, als er den Wagen bestieg. Die Fahrt ging direkt zum Notar, der den Kauf verbriefen sollte.

Als Cassan dort dem Spekulanten den Preis auszahlen wollte, fehlten zwei Goldstücke. Das brachte ihn in heftige Verlegenheit. Er hatte die Summe, ohne sie weiter nachzuzählen, aus seinem Schreibtische genommen. Wahrscheinlich waren die zwei Stücke gestern abend auf dem Boden liegen geblieben. Oder sollte der kleine Bini das Experiment, das er zu seinem Schmerze beobachtet, bereits vorher glücklicher ausgeführt haben?

Der Gedanke war ihm peinlich. Wenn es auch nur auf die feststehende Tat und nicht auf den Erfolg ankam, er hätte den kleinen Bini lieber nur mit dem Versuch, als mit dem ausgeführten Diebstahl behaftet in Erinnerung behalten.

Das war auch wieder »unwissenschaftlich«, aber er war einmal so.

Jetzt hastete er nach Hause, um auf die Wahrheit zu kommen.

Die Lampe brannte schon in seinem Arbeitszimmer. Zuerst suchte er sorgfältig unter seinem Schreibtische, hob den Teppich auf, dann kramte er die ganze Schublade aus. Nichts zu finden! Ferrol, dachte er, sollte er seinen Rückfall gehabt haben, – nach zehn Jahren? – Das kommt vor.

Er läutete. Ferrol erschien.

Was befehlen Herr Professor?

Cassan kam etwas fremd vor in der Stimme, absichtlich ruhig.

Ich habe da gestern einige Goldstücke fallen lassen. Nichts gefunden? fragte Cassan, ohne den Diener anzusehen Dieser trat festen Schrittes an ihn heran.

Herr Professor, erwiderte er in höchst gereiztem Tone, wenn Sie eine Frau Stubensand mit ihrem Rangen eine halbe Stunde in ihrem Zimmer haben, brauchen Sie keinen ehrlichen Kerl anzuklagen.

Cassan sah ganz erschreckt auf. Ja, habe ich Sie denn angeklagt?

Das kennt man, Herr Professor. Es wäre Ihnen wohl lieber, wenn ich's getan hätte, nicht wahr, als der Prachtkerl! Das paßte wohl besser zu Ihrem Experiment! Und bei Ferrol käm's wohl nicht daraus an. Ein kleiner Rückfall, wie Sie es nennen. Ganz interessant! Aber dafür dank' ich, Herr Professor! Ich bitte um meine Entlassung.

Cassan sah sich durchschaut. Es verhielt sich wirklich so, wie der Mensch sagte. Das verwirrte ihn ganz. Außerdem fühlte er sich in seiner Unbeholfenheit in allen praktischen Dingen völlig abhängig von seinem Diener. Er konnte ihn nicht mehr entbehren.

Nur nicht gleich so erregt, Ferrol! gab er bei. Ich dachte ja gar nicht an dich, – gewiß nicht. – Kann sich ja auch der Bankier geirrt haben.

Ein Bankier irrt sich nicht, Herr Professor. Die Stubensand war's, oder ihr Junge. Ferrol schrie es ihm jetzt in das Gesicht.

Nur keinen Lärm darum, Ferrol, ich bitte dich.

Cassan ging ganz erregt im Zimmer umher, mit gespreizten Fingern durch die Haare fahrend.

Es klopfte an der Türe schon zum zweiten Male. Cassan rief ärgerlich Herein!

Der Universitätsbote war's, mit Briefschaften. Er legte dieselben auf den Schreibtisch. Die plötzliche Stille nach den lauten Stimmen, die er gehört hatte, die unruhige Hast des Professors und die trotzige Miene Ferrols mußten ihm auffallen.

Sonst keinen Befehl, Herr Professor?

Nein, lautete die unwirsche Antwort.

Der Bote sah die beiden kopfschüttelnd an und verließ das Zimmer.

Also du bleibst, Ferrol, keine Widerrede.

Herr Professor –

Cassan trat plötzlich dicht vor Ferrol und sah ihn mit einem Blicke an, den man ihm nicht zugetraut hätte, so zwingend war er. Du bleibst!

Ferrol ertrug den Blick nicht. Aber, wenn Sie noch einmal –

Cassan wiederholte nur sein Experiment.

Nun, dann bleib' ich halt. Noch etwas zu befehlen, Herr Professor?

Du kannst gehen.

Ferrol ging mit einer tieferen Verbeugung, als er sonst machte. Als er die Türe geschlossen, lachte Cassan in sich hinein und rieb sich die Hände. Das vertragen sie nicht, die Bestien! Jetzt zu Marianne! Er rief es laut und jubelnd, wie ein Jüngling den Namen seiner Geliebten.

*

Frau Cassan stand in großer Toilette vor ihrem Wandspiegel und steckte die letzte Blume in das schwarze Haar. Der schneeige Nacken, vom zartesten Inkarnat durchhaucht, hob sich stolz aus der, schwarzen Seide. Der altertümliche Schmuck des Cassanschen Hauses wirkte auf diesem Halse wie eine Neuheit.

Frau Cassan liebte ihre Schönheit und machte kein Hehl daraus, es war mehr ein ungemein distinguierter Geschmack als banale Eitelkeit.

Ihr Gatte interessierte sich mehr für ihre geistigen Qualitäten.

Das schmeichelte damals ihrem Mädchenehrgeiz, bestimmte sie geradezu, in seine Werbung zu willigen. Dann lernte sie ihn verehren, zuletzt lieben, wenigstens nannte sie das zärtliche Gefühl für den Vater ihres Kindes, den Bewunderer ihres Geistes so.

Allmählich kränkte sie aber doch diese offenbare Blindheit für ihre körperliche Schönheit, dieses zerstreute Vorübergehen daran. Sie wurde in ihrem Verdrusse darüber fast etwas aufdringlich damit, herausfordernd, – da erschien er geschmacklos begehrlich, – das war noch schlimmer. Von dem Augenblick an zog sie sich auf sich zurück und lernte, nach dem Beispiel vieler verlassener Frauen, an ihrer eigenen Huldigung sich genügen. Der Eigenkultus begann, dem sie eben wieder ein feierliches Opfer brachte.

Sie wandte sich nach allen Seiten, beugte sich weit zurück, um das Spiegelbild des Nackens zu erreichen. Vor ihr auf dem Boden saß Klärchen. Ihre großen blauen Augen folgten, über das Bilderbuch in ihrem Schoß hinweg, jeder Bewegung der schönen Frau vor ihr, des schönsten Bildes, das sie je gesehen.

Marianne entging nicht das bewundernde Staunen des Kindes. Es verursachte ihr einen prickelnden Reiz.

Gefällt dir deine Mama? Ist sie schön, deine Mama, Klärchen? Marianne drehte und wendete sich wie eine Bajadere.

Da sah sie im Spiegel das Bild des Gatten unter der Türe. Sie empfand es im ersten Augenblick wie eine unwillkommene Störung, dann wurde sie stutzig. Er trug die Haare ganz glatt nach rückwärts gestrichen, die Krawatte wohlgeordnet, einen tadellosen Gehrock: das erhöhte das Ungewohnte in seiner Erscheinung. Er sah wirklich um Jahre jünger aus.

Er stand regungslos unter der Türe, die Arme wie verwundert ausgestreckt, den Blick mit seltsamem Glanz auf ihre Gestalt gerichtet.

Papa! rief Klärchen.

Marianne wollte sich eben wenden, da fühlte sie sich von seinen Armen umfaßt. Etwas wie Entrüstung packte sie, – schon wollte sie sich gewaltsam losreißen, da sah sie in seine Augen und hielt sich ganz still.

Das war keine greisenhafte Begierde, die daraus leuchtete, das war das glühende Verlangen eines Jünglings, ein glückseliges Besitzergreifen des reifen Mannes, eine innige Liebe, der sie sich widerstandslos hingab.

Marianne, wie bist du schön! flüsterten seine Lippen. Worte, nach denen sie seit Jahren gedürstet.

Klärchens ängstliche Rufe, welche sich diese ungewohnte Zärtlichkeit nicht erklären konnte, schreckten sie auf.

Aber, Viktor, sagte sie beschämt, ihr Haar zurechtstreichend. Eine holde Verwirrung machte sie noch begehrenswerter.

Cassan stand völlig verwirrt vor ihr. Ratlos über seine eigene Kühnheit oder über seine Torheit, die ihn so blind machte für den köstlichsten Schatz seines Hauses, – er wußte es selbst nicht.

Auf diese weißen Schultern durfte er die schwere Last nicht laden. Dieses blühende Weib, das vom Leben noch so viel zu fordern hatte, konnte den Kindern der Finsternis nicht Mutter sein. Was sich ihm eben noch auf die Lippen drängte, verkroch sich jetzt in seine tiefste Seele.

Marianne griff in ihrer mädchenhaften Verlegenheit nach den Handschuhen und zog sie an. Was hast du wieder Böses getan, Viktor, daß du so lieb bist mit mir? fragte sie weiter mit einem Lächeln, das jetzt den Gelehrten mehr entzückte als alle Geistesfunken, die er seit drei Jahren aus diesem schönen Haupte herausgeschlagen.

Rat einmal! sagte er neckisch.

Ist der arme Emir glücklich tot?

Fehlgeschossen!

Oder hat der Junge ein so überraschendes Resultat geliefert?

Noch einmal fehlgeschossen! Der Gelehrte tippte kokett mit seinem Finger auf die Wange seiner Gattin.

Oder hast du am Ende gar den interessanten Stubensand entdeckt?

Cassan zuckte zusammen. In diesem Augenblick berührte ihn der Name unangenehm. Wie kommst du darauf? sagte er ernst.

Nun, der Justizrat hat uns gestern noch so viel davon erzählt. Ich glaube, ich habe schon geträumt davon, ganz schrecklich. Hast du wirklich –? Ernstliche Besorgnis sprach aus ihr. Ich tät' mich zu Tode ängstigen! Er soll ganz unberechenbar sein, – krankhaft –

Cassan verdroß diese ernste Wendung des Gespräches.

Zum dritten Male fehlgeschossen! erwiderte er, die Laune gewaltsam festhaltend. Weißt du, was ich geworden bin? – Grundbesitzer bin ich geworden, Herr auf und von Gundlach bin ich geworden!

Gun – lach! wiederholte Klärchen lachend das ihr Wohl seltsam scheinende Wort.

Cassan schwang sein Töchterchen vom Boden auf und küßte es stürmisch.

Gun – lach! Gun – lach! wiederholte das Kind immer wieder.

Es klang wie ein glückverheißendes Echo in Cassans Ohren.

In diesem Augenblick meldete Ferrol den Wagen.

Fahre doch mit in das Theater, Viktor! Mache mir die Freude! Wer weiß, wann du wieder in so glücklicher Stimmung bist! Dann erzählst du mir im Wagen, wie du Herr von Gundlach geworden bist; da bin ich wirklich neugierig darauf.

Im Grunde genommen war sie es gar nicht. Cassan hatte oft so unverständliche Einfälle.

Mache ich dir wirklich eine Freude damit, wenn ich mitgehe, Marianne? In Cassans Augen strahlte ein fremdes Glück.

Mehr als dir alle Stubensand der Welt machen können! erwiderte Marianne lachend.

Wieder der Name, der sich wie ein dunkles Gespenst in die Lichtwelt drängte, die jetzt eben auf ihn eindrang. Und er mußte ihr noch dankbar sein dafür, sonst hätte er in der so jäh aufschäumenden Lebenslust ganz seine Abmachung vergessen. Das Gewissen des Gelehrten erwachte wieder in ihm, das Mißtrauen gegen die Lockungen der Welt.

Also du gehst mit, Viktor? Holen Sie den Mantel des Herrn Professors, Ferrol!

Ferrol ging.

Ich kann nicht, Marianne, mit dem besten Willen nicht. Ich habe morgen eine wichtige Konferenz und noch viel aufzuarbeiten. Oder warte, ich hole dich ab Wir gehen dann zu Zanoni soupieren. Kannst du dich noch erinnern, Marianne, – nach unserer Hochzeit?

O, sehr wohl! Marianne sagte es mit bedeutungsvollem Kopfnicken.

Marianne reichte dem Gatten die Stirne zum Kusse. Er küßte sie auf den Mund.

Unterhalte dich gut, mein Liebling! Ich komme sicher, sicher. Er hielt ihre Hand fest und sah ihr tief in die Augen.

Ferrol trat ein mit dem Mantel seines Herrn.

Die beiden fühlten sich wie ein ertapptes Liebespaar, gerade so holdselig verwirrt. Marianne küßte Klärchen, warf ihrem Gatten noch einen zärtlichen Blick zu und rauschte hinaus.

Ferrol stand immer noch mit dem Mantel bereit.

Ich gehe nicht, aber du fährst mit der gnädigen Frau! befahl Cassan.

Ferrol hatte sich kaum entfernt, da rief der Gelehrte ihn zurück.

Ich brauche dich heute nicht mehr. Bei Zanoni bestellst du zwei Soupers bis zehn Uhr.

Ferrol sah den Gelehrten mit unverhohlenem Erstaunen an. Ein Souper bei Zanoni, für ihn und seine Frau! Das war etwas Unerhörtes. Da mußte sich etwas ganz Besonderes ereignet haben!

Was schaust du denn so? sagte Cassan jovial. Ja, alter Freund, das kommt noch ganz anders – ganz anders. Dabei war er schon wieder so in Gedanken, daß er das Dienstmädchen gar nicht bemerkte, welches eingetreten war, Klärchen zu holen.

Das Kind mußte sich erst durch seine jämmerlichen Rufe nach dem Papa bemerklich machen, dem es so schnöde gegen seinen Willen entführt wurde.

Cassan war jetzt ganz entzückt von dem eigensinnigen Sträuben seines Kindes, das die Ärmchen nach ihm ausstreckte und aus vollem Halse schrie. Er herzte und küßte es.

Gun-lach! lallte das Kind, auf das der Name einen besonderen Eindruck gemacht haben mußte.

Merk dir ihn nur, den Namen, kleiner Schelm! Ja, ja, der wird noch eine große Rolle spielen in deinem Leben. Gun–lach, Gun–lach! scherzte Cassan.

Wie nur ein Tag so viel Sonne bringen kann!! Cassan fühlte sich ganz glückstrunken, als er durch den finsteren Garten seinem Laboratorium zuging.

Zum ersten Male fühlte er sich nicht recht heimisch darin. Die Luft war so dumpf. Er öffnete das Fenster. Daß er auch den Menschen gerade heute bestellen mußte! Jetzt säße er an der Seite Mariannens im Theater! Was die Welt davon denken mußte, die schöne Frau immer allein zu sehen? – Ein vertrockneter Gelehrter, dieser Cassan! Ganz recht geschehe ihm, wenn – Das Blut schoß ihm in den Kopf. – Daß er das früher nie gedacht! Pfui, Cassan! An so etwas zu denken! – Aber ein Tor bist du, ein ausgemachter Tor! Das schöne Leben so an dir vorübergehen zu lassen! Schließt denn die Arbeit den Genuß aus? Oder bist du zu alt? Ein Mann mit solchen Plänen. – Von morgen an beginnt ein neues Leben, das bisherige ist Verknöcherung! Heute bei Zanoni soll sie alles erfahren! Sie wird begeistert sein davon, ihm noch höheren Schwung verleihen.

Cassan setzte sich an seinen Schreibtisch und sah nach dem Einlauf. Da kam ihm die Tabelle mit der Aufzeichnung des kleinen Bini unter die Finger.

Befund B. S. stand darüber.

Die Maße waren genau eingetragen, die relativen Volumen der drei Organgruppen des Gehirns, die Farben der Augen, der Haare, die Bildung der Ohren, Alter und Geburtsjahr. Dann folgte die allgemeine Charakteristik. Das Resümee derselben Gefühle. Dann folgte die Abstammung, kurze Daten über die Eltern.

Cassan erschien das alles so lückenhaft, so nüchtern, so schematisch. Es kam ihm vor, als hätte er sich die Sache zu leicht gemacht mit seinen Zirkeleien und Messereien, als habe er gewisse Imponderabilien zu sehr aus dem Auge gelassen.

Wie soll das alles anders werden, wenn er die Versuchsobjekte Tag für Tag vor sich hat, ihre zarteste Entwicklung beobachten kann, wenn er systematisch eindringt in alle diese kleinen dunklen Seelen und nach den verborgenen, längst verschütteten Schätzen gräbt!

Er ergriff die Feder und schrieb folgende Bemerkung aus die Tabelle: B. S. würde zu einem gründlichen Versuche, wie weit durch organische Erscheinungen bedingte Triebe und Anlagen unter günstigen Lebensbedingungen in eine andere Richtung zu bringen oder günstig zu beeinflussen sind, ein hervorragendes Versuchsobjekt abgeben. – Vorgemerkt für Gundlach

Der Gelehrte wollte sich mehr den immer wieder aufsteigenden Gedanken von der Seele schreiben, als daß er seine Vergeßlichkeit gefürchtet hätte, dazu war der kleine Bini ihm schon viel zu lieb geworden.

Cassan nahm den für seine Gattin bestimmten Akt aus der Lade. Er wollte ihr bei Zanoni einen ganzen Vortrag darüber halten, da mußte er sich noch einmal genau orientieren.

Die Geheimhaltung des Zweckes erschien ihm immer wieder als die größte Schwierigkeit. Einerseits war sie unbedingt notwendig, andererseits verlangte die wissenschaftliche Ausnützung – und um die handelt es sich doch zuletzt – eine gewisse Zugänglichkeit der Resultate, wenigstens für Berufene, eine Art Statistik, Personalnotizen. Man mußte die entlassenen Zöglinge doch in ihrem weiteren Lebenslauf verfolgen können, um zu wissen, welches Resultat erzielt wurde.

Und wie war das mit dem Geheimhalten zu vereinbaren? Solange er lebte, ging es ja noch, aber dann? Wer soll dann der Großsiegelbewahrer werden? Marianne! – Sie war ja von Anfang an von ihm dazu berufen, auserwählt. Und nach ihr – das kleine Klärchen? Er mußte lächeln bei dem Gedanken. – Gun–lach, Gun–lach! Das kindliche Gelall tönte in seinem Ohre wieder.

Da schreckte er auf, es war ihm, als ob er draußen auf dem Sande Schritte hörte.

Er sah auf die Uhr. Drei Minuten auf neun Uhr! Der Mann hatte es ja eilig. Das machen die fünfzig Mark. Aus das Geld sind sie aus, er und seine edle Gattin.

Er ging rasch hinaus. – Es war eine dunkle Nacht. Stubensand! rief er mit gedämpfter Stimme.

Keine Antwort! – Er ging dem Hause entlang gegen die Gartenpforte.

Da löste sich dicht vor ihm eine Gestalt aus dem Dunkel. Sie kam nicht auf dem Wege von der Pforte her, sondern wie es schien aus dem Gebüsche von der Seite des Laboratoriums.

Cassan trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Trotz aller Sicherheit, in die er sich im Verkehre mit seinen Objekten gewiegt, war er doch gewohnt, denselben in der gehörigen Beleuchtung entgegenzutreten.

Sie sind es, Herr Stubensand?

Jawohl, Herr Professor. Hätt' mich bald verlaufen in dem G'strüpp.

*

Ein großer, breitschulteriger Mann trat in den Lichtkreis des Fensters. Er trug eine kleine Pelzmütze schief auf dem rechten Ohre, einen gestrickten Schlips um den Hals, die blaue Zwilchjacke eines Maschinisten. Ein traniger Geruch ging von ihm aus.

Cassan sah ihm mit einem raschen Blick in das Gesicht. Es war von der zarten Weiße, welche Kohlenruß und Fettschmiere bei Arbeitern dieser Branche sehr oft erzeugt. Ein durchsichtiger, pechschwarzer Vollbart, kurz gehalten, erhöhte noch die Wirkung. Die Augen lagen tief und so beschattet von den starken Brauen, daß Cassan in diesem kurzen Augenblick keinen Eindruck davon gewinnen konnte.

Bitte, kommen Sie! Cassan führte ihn in das Arbeitszimmer.

Stubensand blieb unter der Türe stehen und zog die Mütze. Dichtes, lockiges Haar fiel ihm in die weiße Stirne, das er mit einer auffallend schmalen Hand hinausstrich.

Er sah sich mit einer verhaltenen Neugierde im Raume um.

Cassan war an den Tisch getreten. Bitte, kommen Sie nur näher!

Stubensand folgte der Aufforderung, den Kopf etwas vorgebeugt, die Hände in den Hosentaschen.

Auf den ersten Blick erkannte Cassan den Vater des kleinen Bini. Dieselbe Rasse. Um so auffallender war der Kontrast des Haartypus. Der Vater und die Mutter rabenschwarz, der Sohn goldblond und blaue Augen. Das konnte nur ein Rückschlag sein auf frühere Geschlechter, – weniger belastete vielleicht.

Das ist schön von Ihnen, daß Sie gekommen, begann Cassan, dessen Interesse an dem Falle jetzt lebhaft wurde. Demnach wissen Sie schon, wer bei mir war gestern?

Mit meinem Willen ist's nicht geschehen, Herr Professor. Stubensand wiegte den Oberkörper sonderbar auf den Beinen.

Und doch sind Sie jetzt selber gekommen?

Cassan verlor jetzt keinen Blick mehr.

Kunststück! Wenn man einem den Speck vor die Nase hält! Was glaub'n S' denn, was ich verdient hab' das ganze Monat, seitdem ich – Stubensand stockte, schlug den Blick zu Boden und zupfte an seiner Mütze herum. No ja, Sie wissen's ja schon von ihrem Diener, – keinen Taler nicht, – und Weib und Kind zu Haus, stieß er bitter heraus. Da lernt sich's einem schon –

Und ein prächtiges Kind! bemerkte Cassan, den Mann Vor sich immer beobachtend. Ihr kleiner Bini! Hinter dem Buben steckt was! Er hat Ihre Intelligenz geerbt!

Da hat er was Sauberes geerbt! Stubensand lachte spöttisch. Meine Intelligenz! – Weil's mich so weit bracht hat!

Da sind doch Sie auch etwas mit schuld, mein Freund, meinte Cassan.

Ich? Na, wie man's nimmt! Aber lassen wir das, Herr Professor. Stubensand rückte den Hosengürtel und schlenkerte mit dem rechten Arme. Eine plötzliche Unruhe schien ihn zu befallen. Tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie mich gehen. Ich möcht' nicht den Ferrol, – Sie kennen uns ja, Herr Professor, setzte er etwas sarkastisch hinzu.

Darüber können Sie sich beruhigen, erklärte Cassan. Ferrol ist nicht zu Hause, – niemand.

Stubensand fuhr sich mit der schmalen Hand über die Stirne, – sie zitterte stark.

Natürlich auch Alkoholiker! dachte Cassan. Also setzen Sie sich!

Der Gelehrte wies auf den Stuhl vor sich.

Seltsam, ein augenblickliches Starren des Menschen nach einer gewissen Richtung fiel ihm auf. Er mußte an die Frau von gestern denken. Nach derselben Richtung, wie es ihm schien! Aber heute lag doch kein Geld da!

Cassan nahm eine neue Tabelle. Wie heißen Sie mit Ihrem Vornamen? sagte er.

Wenn Sie so anfangen, ausfragen lass' ich mich nicht! Übrigens – Georg heiße ich.

Cassan lächelte fein. Das war echt, diese Zerfahrenheit! Er läßt sich nicht ausfragen und antwortet doch.

G. S. senior schrieb er auf die Tabelle. Folgten die äußeren Merkmale, Augen, Haare, Bart, Nase, Zähne. Es war immer dasselbe Schema. Allgemeiner Eindruck: Ungünstig. Starker Triebmensch, brutal, jähzornig, aber ausgesprochen intellektuell, epileptische Symptome!

Als Cassan sich anschickte, mit dem Zirkel die Schädelmaße zu nehmen und in seine schematische Zeichnung einzutragen, zeigte Stubensand einen starken Widerwillen. Ein nervöses Zittern befiel ihn.

Plötzlich schnellte er den gebeugten Kopf empor. Lassen Sie mich mit Ihren Verrücktheiten! Er sprach es in hellem Zorn, und das blasse Gesicht rötete sich auffallend.

Cassan konnte sehr energisch sein, wenn es galt. Er hatte sich die Theorie der Tierbändiger angeeignet, unter keinen Umständen nachzugeben, die Bestie, wenn sie ein Rückfall in die Wildheit anwandelt, keinen Moment aus den Augen zu lassen. So tat er auch jetzt. Sie werden sich ruhig halten, Mensch!

Sein scharfer Blick verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht. Stubensand beugte sich von neuem, wenn auch störrig.

So, jetzt sind Sie fertig!

Cassan hatte sich beeilt. Der Mensch war unbedingt leidend; den seltsamen Zuckungen nach, die durch seinen Körper gingen, war ein epileptischer Anfall zu fürchten. Ein ausgemachter Kranker! In eine Nervenanstalt gehörte er, nicht in ein Zuchthaus.

So, da haben Sie Ihre fünfzig Mark! Cassan zog die Schublade heraus, nahm aus seiner Schatulle, die seinen Tagesbedarf an Geld enthielt, drei Goldstücke. Plötzlich sah er auf.

Stubensand lehnte sich, etwas vorgebeugt, mit der linken geschlossenen Hand auf einen Bücherstoß, der auf dem Schreibtische lag, – offenbar galt seine Neugierde dem Golde.

Cassan erkannte instinktiv die Gefahr; nur sein Blick konnte ihn retten. Doch er kam zu spät damit. Schon hatten ihn die Augen Stubensands in ihrer Gewalt. Es waren Raubtieraugen, mit Blut unterlaufen, die aus ihren tiefen Höhlen auf ihn einzudringen schienen, die jede Kraft des Willens ihm lähmten. Er sah die Faust auf den Büchern sich immer krampfhafter zusammenziehen, die Gestalt sich vorbeugen. Dann senkte es sich wie feiner Nebel vor seinem Blick, – er sah nur noch einen riesigen schwarzen Schatten, der auf ihn eindrang, einen sich hebenden Arm, – ein schmerzloser Stoß, – dann fiel er irgendwo herab, – in finstere Nacht, – ein Rascheln, ein Rauschen um ihn her, – dann nichts mehr.

Stubensand stand mit blutigem Messer vor seinem Opfer, aschfahl, schwankend, wie betrunken, – dann stürzte er sich jählings auf die Schublade, zerrte alles heraus, griff in wahnsinniger Hast nach dem Golde, nach dem Golde, von dem ihm sein Weib erzählt und der kleine Bini, nach dem Golde, das er doch eben noch den ganzen Boden der Lade bedecken sah! –

Und nichts war zu finden, als ein erbärmliches Goldstück, – nichts als Papier und wieder Papier!

Er schleuderte es im Zimmer umher, in rasender Wut über den Streich, den ihm seine Augen gespielt.

Die andere Lade heraus! Er zerrte an jedem Schloß, an den Schränken, – da kam er an den letzten. – Tollwut hatte ihn ergriffen, der Anfall, den Cassan befürchtet.

Er schlug die Glasscheibe mit der Faust ein, die Totenschädel grinsten ihm entgegen. Er höhnte sie, warf sie heraus auf den Boden, daß die Knochen krachten und splitterten. Mit einem hatte er wohl den Körper Cassans getroffen, – es klang wie ein Ächzen und Stöhnen.

Da kam er zu sich. Er preßte sein Hirn mit beiden Händen, schlich heran, beugte sich über den Liegenden. Eine breite Blutlache quoll unter ihm hervor, die Diele entlang sich windend wie eine purpurne Schlange.

Stubensand horchte. – War das sein eigener ringender Atem? Oder der seines Opfers? Oder war es draußen vor dem Fenster? – Ferrol?

Das Entsetzen, die Angst packte ihn, der Erhaltungstrieb. Mit einem Sprung war er zur Türe draußen, ohne sich weiter umzusehen.

Ein Narr war er. Niemand da, – der Garten leer. Soll er wieder zurück? Wenn er noch sprechen kann, ist er verloren. – –

Da schlich er an das Fenster, sah hinein, – – der Körper am Boden zwischen den zerstreuten Papieren und Büchern regte sich nicht mehr.

Stubensand starrte darauf wie auf etwas Fremdes, Unerklärliches! Dann befiel ihn ein Schüttelfrost, der ihm die Füße lähmte, die Zähne aufeinander schlug, während seine Eingeweide brannten wie Feuer.

Daran war nur sein Weib schuld mit ihrem schuftigen Gerede von dem Goldhaufen in der Lade! Und er hat ihn doch gesehen mit eigenen Augen! – Das war's ja, was ihn toll gemacht, die Besinnung geraubt, die roten Wolken, die immer über ihn kamen in solchen Augenblicken.

Vor dem Glasschrank am Boden grinste ein schneeweißer Schädel heraus, – ein rotes Kreuz auf der Stirne.

Der fiel auf dem Schafott! – Ferrol hat ihm das erklärt, – Ferrol! – Horch! Ging da nicht das Tor vorne? Es fiel lärmend zu. – Ein Donner grollte durch das ganze Haus, der Boden wankte unter seinen Füßen.

Da faßte den Mörder das Entsetzen im Genick. Er huschte wie ein Nachtgespenst durch die offene Gartentüre in das Wassergäßchen.

*

Marianne erwartete vergebens ihren Gatten im Theater. Es war nur ein flüchtiges Lebensfieber, das ihn befallen. Nie noch empfand sie so schmerzlich die Kränkung.

Nach dieser Stunde, in der sie ein längst ersehntes Glück heraufdämmern sah, nach diesem glorreichen Sieg ihrer Schönheit erschien ihr sein Ausbleiben wie eine wirkliche Untreue, ein schnöder Verrat an ihre verhaßte Nebenbuhlerin, die Wissenschaft! Jetzt hatte sie ihn endgültig an diese verloren. Dagegen empörte sich ihr ganzes Wesen.

Nach Schluß des Theaters fuhr sie trotzdem in das Restaurant von Zanoni. Vielleicht daß er sich versäumt und dort auf sie wartet.

Sie erfuhr, daß Ferrol zwei Soupers im blauen Zimmer bestellt, aber Professor Cassan hatte sich bis jetzt nicht sehen lassen. Es war nicht anders. Über irgend ein Totengerippe hatte er sie vergessen, in ihrer ganzen Lebensblüte.

Marianne fuhr nach Hause in die Mandelstraße und ließ ihren Tränen freien Lauf. – Wie sie sich das alles ausgedacht im Theater! Wie sie die Zeit benützen wollte, ihn herauszureißen aus seinem immer mehr zur Manie ausartenden Studium, das ihm Mutter und Kind entfremdete.

Kalter Schauer erfaßte sie, als sie vor dem dunklen Hause aus dem Wagen stieg, es erschien ihr jetzt wie ein Grab.

Sie mußte dreimal die Glocke ziehen, bis Licht wurde in der Halle und sich Schritte näherten.

Es war aber nicht Ferrol, das Stubenmädchen öffnete, nicht wenig erstaunt, die Herrin allein zu sehen. Auf die Frage nach dem Herrn wußte sie keine Antwort zu geben. Also kein Zweifel, er saß in seinem Laboratorium und dachte längst nicht mehr an seine Abmachung.

Das war zuviel für Marianne. Sie war gewohnt, ihn nie zu stören, betrat oft monatelang nicht das Hinterhaus, jetzt war es ihr gutes Recht, ihn zu überraschen.

Ferrol hatte sich wohl, die vermeintliche Abwesenheit seines Herrn benützend, einen freien Abend gemacht, weil er nicht zu sehen war.

So schickte sie das Mädchen in die Wohnung hinauf und ging durch den Garten, dem Laboratorium zu. Die Schleppe ihres Seidenkleides rauschte auf dem Kies.

Richtig brannte noch Licht in dem Arbeitszimmer des Gatten. Bis jetzt hatte sie noch auf irgend eine andere Erklärung gehofft. Sie mußte den Pelz öffnen, so glühte sie. Dann trat sie in das Haus, in das Arbeitszimmer, den Namen Viktor schon vorwurfsvoll auf den Lippen.

Überrascht blieb sie stehen. Der Stuhl vor dem Schreibtische war leer, weiter sah sie nichts, auch reichte der Lichtkreis der Lampe nicht weiter.

Also nebenan im Laboratorium! Sie wendete sich nach links und rief seinen Namen. Keine Antwort! Plötzlich stutzte sie. Sie war an die Schrecken des Glasschrankes längst gewohnt, aber jetzt überlief sie doch ein kalter Schauer, – am Boden lag einer der Schädel und grinste ihr gerade entgegen. Ihr Blick schweifte weiter – Bücher – Papiere – und dort vor dem Schreibtische – ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken – – –

Viktor! – Viktor! Die Füße versagten ihren Dienst. Viktor!

Da erblickte sie vor ihren Füßen die furchtbare Schlange, sie trat darauf, – Blut!! da kniete sie schon vor dem Gatten, ergriff ihn beim Arme, das Haupt rutschte von der Leiste des Stuhles und schlug mit hartem Klange auf dem Boden auf.

Marianne hatte die Kraft, es zu heben. Sie glaubte noch immer nicht an das Furchtbare. Zwei große fremde Augen starrten sie an. Ein entsetzliches Erstaunen sprach aus ihnen.

Viktor! kreischte sie auf. Da griff ihre suchende Hand die Todeswunde am Halse. Sie taumelte auf, riß das Fenster auf, rief nach Hilfe; doch die Stimme versagte ihr, es war nur ein heiseres Stöhnen.

Sie wandte sich wieder nach dem Furchtbaren. Ein Blick erfaßte die ganze Situation. Die Unordnung vor dem Tische, die zerstreuten Papiere, die offene Lade, – ein Mord war geschehen! – Und blitzartig kreuzten sich zwei Namen in ihrem Hirne: Ferrol – Stubensand!

Ein Gefühl jäher Empörung dämpfte den Schmerz, stärkte ihre Sinne. Sie untersuchte mit fliegender Hast den Tisch nach irgend einer Spur.

Da kam ihr ein Papier in die Hand, die Schrift glänzte noch feucht, – es war seine Schrift! Ihre Finger hatten sie etwas verwischt. – Also kurz vor seinem Tod – seine letzte! Eine phrenologische Tabelle! Sie kannte die Art zur Genüge. Da las sie schon und konnte den Blick nicht mehr wenden von dem Blatte in der Hand.

G. S. senior, stand darüber, dann folgte Personalbeschreibung, die Charakteristik, das Resümee des Befundes.

Sie überflog die Zeilen und schauerte selbst über diese Schicksalsfügung! Da lag der untrüglichste Steckbrief, vom Opfer selbst geschrieben. Sie hätte den Namen ausfüllen können – Stubensand! Er war der Mörder, kein anderer! –

Alles war ihr gegenwärtig, als ob sie dabei gewesen. Cassan hatte ihn zur Untersuchung bestellt, deshalb konnte er ihr nicht in das Theater folgen. Dann geschah das Furchtbare! Während sie seiner harrte, ihm die bittersten Vorwürfe machte.

Der Gedanke ließ sie mit einem jähen Aufschrei vor dem Toten in die Knie sinken. Wie sie seinen Körper berührte, war es ihr, als ob sie noch die Wärme des Lebens spürte – und sie verlor hier in Ratlosigkeit die Zeit.

Mühsam erhob sie sich, wankte gegen die Tür, öffnete sie. Ihr gellender Ruf drang durch den Garten, prallte gegen das stille Haus.

Endlich erschien ein schwankendes Licht. Es war Ferrol, offenbar angetrunken. Das Stubenmädchen hatte ihn, in der Ahnung, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei, rasch aus seiner Stammkneipe nebenan geholt.

In Marianne stieg bei seinem Anblick von neuem ein Verdacht auf, der Mitschuld wenigstens.

Ferrol prallte erschrocken zurück und stierte, sichtlich nach Verständnis ringend, auf die Frau mit dem entblößten schneeweißen Hals, der roten Rose im Haar, über die das Licht seiner Laterne gaukelte.

Einen Arzt, Ferrol, – Hilfe! Marianne hielt sich mühsam aufrecht an die Mauer gelehnt.

Einen Arzt? lallte Ferrol fragend.

Dein – Herr – Cassan ist ermordet! schrie Marianne ihm wie eine Anklage in das Gesicht.

Ferrol stieß einen Schrei aus, der etwas Tierisches hatte, und schon kniete er vor dem Ermordeten. Ein wilder Ausbruch erfolgte. War es Schmerz, Entrüstung, Heuchelei oder Entsetzen? Marianne konnte es nicht entscheiden.

Tot? Sie stellte die Frage ohne jede Hoffnung, der erste Blick hatte sie belehrt.

Das war der Stubensand! rief Ferrol plötzlich.

Und du hast ihn hergebracht, erklärte Marianne.

Da wandte sich Ferrol und sprang auf die Beine. Der Rausch war ihm gründlich verflogen. Ich? Er nahm eine drohende Stellung ein. Ja, gewarnt habe ich ihn vor dem Menschen.

Du kennst ihn also? fragte Marianne.

Ferrol schreckte sichtlich die Frage, und er schwieg.

Schwarzes gelocktes Haar, dunkle Augen, dünnen Vollbart. – Marianne nannte das ganze Signalement Stubensands, wie sie es auf der Tabelle gelesen.

Ja, das ist er! erklärte Ferrol mechanisch, ganz im Banne seines Erstaunens.

Marianne beruhigte sichtlich diese Bestätigung Ihres Verdachtes. Einen Arzt, Ferrol! Das Gericht! Eile doch, – ich will dir ja alles glauben! – Keinen Lärm im Hause. – Ich warte hier.

Hier? fragte Ferrol mit Schauder um sich blickend, das halten Sie nicht aus. – Ich führe Sie hinüber. – Dann besorge ich alles!

Tue, was ich dir befehle und sorge dich nicht um mich. Hier ist mein Platz und nirgends sonst.

Ferrol empfand etwas wie Ehrfurcht vor der Stärke dieser Frau, auch fühlte er, wie jede Zögerung ihm selbst gefährlich werden konnte. So ging er.

Marianne blieb allein bei dem Toten. Das Ungeheuerliche, Furchtbarste verleiht oft infolge höchster Nervenspannung eine übernatürliche Kraft. In dem Zustande befand sich jetzt Marianne.

Sie breitete den kostbaren Pelz, welcher ihr von der Schulter geglitten, über den Körper am Boden, von dem bereits die Kälte des Todes ausging, trat an den Schreibtisch und griff noch einmal nach der verhängnisvollen Tabelle.

Sie las sie nicht, sie betrachtete nur die Züge der geliebten Hand und brach in dumpfes Stöhnen aus. Dann sank sie erschöpft in die Knie und ließ das Haupt auf die Platte des Schreibtisches fallen. Als sie es nach geraumer Zeit wieder hob, fiel ihr Blick durch den Tränenschleier hindurch auf einen blauen Aktendeckel dicht vor ihr. »Nur für meine Frau bestimmt«, stand darauf. Die Buchstaben leuchteten ihr förmlich entgegen. Sie griff gierig danach, öffnete ihn und las.

Der Inhalt nahm sie ganz gefangen. Sie ließ sich auf den Stuhl nieder, den Stubensand eingenommen, und las mit fiebernden Augen.

Jedes Wort war an sie gerichtet. Unbegrenztes Vertrauen sprach aus jeder Zeile, ein erschütternder Glaube.

Noch nie war einer Frau ein so stolzes Vermächtnis hinterlassen worden! Was waren dagegen all die Liebesbezeigungen, all die kleinen Befriedigungen ihrer Eitelkeit, nach denen sie geschmachtet? Wie klein stand sie da gegen ihn! Sie las nur im Fluge und empfand doch die Größe des Inhalts, die Größe der Pflicht, die er ihr auferlegte.

Und mit einem Male wichen die Schrecken des Raumes, die Schauer des unerhörten Verbrechens, die ihn noch durchzitterten. Sie saß auf einem Schlachtfelde, vor der Leiche des edelsten Helden und hielt sein stolzes Vermächtnis in der Hand! Alles Klagen und Weinen erschien ihr jetzt unwürdig. Nur eines gab es noch für sie: die Tat, die Erfüllung dessen, was ihr von dem großen Toten aufgetragen.

Vor diesem Gedanken schwand jedes Grauen, jede Empörung, jeder Rache- und Verfolgungsgedanke. Das war keine Mörderhand, das war die Finsternis selbst, die ihren grimmigsten Feind tückisch überfallen!

Ihr galt jetzt von neuem der Kampf, über der Leiche des Gefallenen – und sie wird ihn mutig führen.

Das Geräusch von Stimmen und Tritten weckte sie aus ihrer Versunkenheit in heilige Schwüre vor der Leiche ihres Gatten. Rasch versenkte sie den Akt in die Tasche ihres Mantels. Er hatte es ja selbst bestimmt: » Nur für meine Gattin«.

Jetzt nahte wohl das Peinlichste. Sie rüstete sich mit Kraft.

Der Arzt mit der Gerichtskommission trat ein, dann Ferrol, hinter ihm ein Polizist.

Die Männer überraschte sichtlich der Anblick der Dame in Balltoilette mehr als der des Toten am Boden.

Die Erklärung des Arztes, daß der Tod sofort eingetreten sein müsse, schien keinen Eindruck auf Marianne mehr zu machen, die regungslos, die Augen gesenkt, die Lippen fest geschlossen, nur durch ein leises Zittern der Mundwinkel ihren gewaltsam zurückgehaltenen Schmerz verriet.

Der Beamte nahm mit möglichster Schonung den Tatbestand auf.

Wie Ihr Diener Ferrol äußerte, liegt eine schriftliche Aufzeichnung Ihres Gatten kurz vor seinem Tode vor, die von höchster Wichtigkeit –? fragte er Marianne.

Diese wies auf die Tabelle auf dem Tische.

Der Beamte las sie mit sichtlicher Ueberraschung.

Allerdings, ein fertiger Steckbrief! Gestatten Sie eine Frage, gnädige Frau, wandte sich der Beamte an Marianne. Ihr Herr Gemahl empfing gestern abend um acht Uhr eine Frau mit einem Kinde?

Eine Frau mit einem Kinde? Marianne stutzte.

Mit einem Knaben. Ihr Diener Ferrol will sie selbst in dieses Zimmer gebracht haben. Wohl als Versuchsobjekt des Herrn Professors?

Das kann ich beschwören, bekräftigte Ferrol, der, seiner ganzen Haltung nach, sich seiner peinlichen Lage bewußt war.

Ihr Herr Gemahl hat also Ihnen gegenüber, fuhr der Beamte fort, nichts erwähnt? Keinen Namen?

Marianne zögerte. Nein, antwortete sie dann, fast mit Widerstreben.

Die Stubensand war's, ich kann's beschwören. – Die Stubensand mit ihrem Buben. Nachmittags war mein Herr im »Wall« und hat sie bestellt. – Wenn er mich noch fragt, wie mir der kleine Stubensand gefallen hat! Er war ja ganz verrückt mit dem Buben. Einen Prachtkerl hat er ihn genannt, für den es schade sei.

Marianne hörte gespannt zu.

Ja, das hat er gesagt, das beschwöre ich. – Und heute war der Alte da und hat den Mord begangen. Dort steht's ja schwarz auf weiß. Wer ihn kennt, kennt ihn! Jetzt verhaften Sie ihn und fragen Sie ihn, ob der Ferrol dazu verholfen hat! Ferrol brach in konvulsivisches Weinen aus.

Der Beamte schloß seine Aufnahme. Es entging ihm nicht, daß Marianne an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt war. Er bat sie, sich von dem Arzte in ihre Wohnung geleiten zu lassen, indem ihre weitere Anwesenheit dem raschen Fortgang der Untersuchung nur hinderlich sein könne.

Marianne wies jeden Beistand zurück. Scheinbar völlig apathisch wankte sie hinaus. – Sie hörte nur noch die Stimme des Beamten: Ferrol, Sie sind verhaftet!

*

In ihrem Zimmer angekommen, wies sie jede Hilfeleistung ihrer Dienerin zurück und schloß sich ein.

Sie zog den letzten Willen Cassans aus der Manteltasche und vertiefte sich von neuem darein.

Als sie zur letzten Seite kam, fiel ein loses Blatt zu Boden. Sie hob es auf. Befund: B. S. junior, vier Jahre alt, stand darüber. Es war die Tabelle des kleinen Bini, des Prachtkerls, wie ihn der Tote nannte.

Das Blatt zitterte in ihrer Hand, und ihre Tränen benetzten es. – »B. S. würde zu einem gründlichen Versuche, wie weit durch organische Erscheinungen bedingte Triebe und Anlagen unter günstigen Lebensbedingungen in eine andere Richtung zu bringen oder günstig zu beeinflussen sind, ein hervorragendes Versuchsobjekt abgeben. – Vorgemerkt für Gundlach!«

Der Name rief in ihr die Szene mit Klärchen wach. Er sagte ihr alles an dieser Stelle. Gundlach hieß der Zukunftstraum, der ihn mit neuem Leben erfüllte, und dieser blonde Junge, für den ihn eine seltsame Liebe ergriffen, sollte der Anfang sein. Der Sohn seines Mörders! – Sie schauderte vor dieser seltsamen Verkettung und konnte sich doch nicht seinem mystischen Einfluß entziehen.

» Marianne! Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will, muß stark sein wie sie selbst! Abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Widerwillen, jeden Haß, nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen: die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Liebe!« So stand in dem Testament des Gatten.

Sie las die Worte immer wieder, bis sie ganz ihr eigen waren.

Der Morgen brach darüber an, ein Morgen, der sich glorreich emporrang über die Dünste der Stadt und sein Licht auch über die finstere Mandelgasse streute, über die bleiche Frau in Seide und Pelz, die ein bleierner Schlaf übermannte.


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