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Hiller wurde in Kassel in freundlichster Weise empfangen; dem Sohn des besten Freundes, dem mutmaßlichen Schwiegersohn, standen Herzen und Thüren in gleicher Weise offen.
Ulmann wohnte nicht in Kassel, sondern in einer Villa außerhalb der Stadt. Dort war es, wo Hiller seinen ersten Besuch machte; er hatte am Morgen, nachdem er in einem Hotel abgestiegen, dem Kaufmann seine Karte ins Komtoir geschickt, und dieser hatte ihn schriftlich gebeten, ein Frühstück in seiner Villa einzunehmen, und ihm zugleich seinen Wagen gesandt.
Seufzend bestieg der junge Mann das elegante Gefährt. Sein Herz klopfte unruhig, als der Wagen an den letzten Häusern der Stadt vorüberfuhr und zwischen den laubumrauschten Landhäusern, welche den Weg rechts und links einfaßten, die gutgehaltene Chaussee entlang rollte. Er hatte sich die That leichter vorgestellt, sich eine größere Sicherheit zugetraut; beklommen lehnte er in der Ecke des Wagens und unwillkürlich flüsterte er: »Wäre die Zeit erst vorbei!« Aber er dachte nicht daran umzukehren, er hatte sich einmal sein Ziel gesteckt und wollte dasselbe, koste es was es wolle, erreichen. »Mut! Mut!« rief es in ihm, »zwei Monate der Angst und Sorge, und du bist gesichert für dein Leben!«
Der Wagen bog von der Straße ab und hielt gleich darauf vor einem mitten im Garten gelegenen Landhause. Eine Freitreppe führte von dem Halbrund der Auffahrt zu dem Hochparterre, in welchem die Wohnräume lagen. Ein alter Herr von stattlicher Figur, weißem Haar und glattrasiertem Gesicht stand auf der obersten Stufe und kam rasch die Treppe herab, als Hiller aus dem Wagen sprang. Es war Ulmann. Mit ausgebreiteten Armen kam er dem Ankommenden entgegen und drückte ihn an seine Brust.
»Seien Sie mir gegrüßt, Sohn meines einzigen und treuesten Freundes!« sagte er warm, den jungen Mann auf beide Wangen küssend, »möge Ihr Eintritt in dieses Haus von Glück und Segen begleitet sein!«
Hiller fühlte sich ordentlich gerührt, er erwiderte die Umarmung des Alten kräftig und um hinter dessen pathetischer Begrüßung nicht zurückzubleiben, sagte er: »Mein eifrigstes Bestreben wird sein, mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben!« Er wußte zwar nicht recht, was er damit sagen wollte, aber Ulmann schien mit der Antwort vollkommen zufriedengestellt und zog seinen Gast mit jugendlicher Lebendigkeit die Treppe empor.
In der großen Halle, die durch eine doppelte Glasthür abgeschlossen, hinter der Freitreppe lag, wartete Helene, die Tochter Ulmanns, des Gastes. Sie war ein junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren. Ihr Wuchs war schlank und ebenmäßig, wenn sie auch nicht groß zu nennen war. Ihr Gesicht zeigte eine reizende Frische und Anmut. Ihr Haar war in einem dicken blonden Zopf vereinigt, welcher um den Kopf gelegt, denselben wie ein Diadem krönte. Das einfache Kleid, von grauer Farbe, das eng ihren zarten und doch vollen Körper umschloß, verriet einen gewählten Geschmack und das Fehlen jedes Schmuckes wies auf eine einfache, vornehme Sinnesrichtung hin.
Sie stand neben dem reichgedeckten Frühstückstisch, der in der Mitte der Halle aufgestellt war, und ordnete mit kundiger Hand die noch durcheinanderstehenden Weingläser. Als ihr Vater die Halle verließ, um dem Gast entgegenzueilen, blickte sie ihm beunruhigt nach, und ein Zug der Sorge sowohl als auch des Spottes flog über ihr hübsches Gesicht. Wie alle jungen Mädchen war sie gegen den vorbestimmten Bräutigam eingenommen und war fest gewillt, ihn nicht zu nehmen, wenn er ihr nicht gefiele. Sein Bild hatte ihr zwar gefallen, aber Bilder täuschen, und sie blickte deshalb, als sie Schritte auf der Treppe vernahm, gespannt nach der Thür.
Ulmann und Hiller traten ein. Ohne eine Vorstellung abzuwarten, schritt Hiller auf das junge Mädchen zu, preßte ihre Hand an seine Lippen und sagte: »Fräulein Helene, seit langer Zeit ist es mein liebster Wunsch, Ihnen persönlich meine Huldigung darbringen zu können; ich bin glücklich, diesen Wunsch erfüllt zu sehen!« Dann schüttelte er ihre Hand, die er noch in der seinen hielt, herzlich und fuhr mit lustigem Augenzwinkern fort: »Hoffentlich gefällt Ihnen meine schöne Begrüßungsansprache, ich habe mir viel Mühe damit gegeben und sie mir den ganzen Weg bis hierher überlegt!«
Helene schaute ihn etwas verdutzt an, aber da er ihr freundlich zulachte und auch ihr Vater zu lachen begann, lachte sie endlich mit.
Man setzte sich zu Tisch, das Frühstück verlief in heiterster Weise. Geschickt wich Hiller allen Fragen, die über seine, bezw. Wismars Familie an ihn gestellt wurden, aus, gab nur halbe Antworten und fügte denselben stets die unglaublichsten Erzählungen bei, so daß seine Zuhörer nie wußten, ob er im Ernst spreche oder scherze. Hiller war immer ein guter Gesellschafter gewesen und ließ heute, um sich über die Situation hinwegzuhelfen, seiner Laune die Zügel schießen, wobei ihm die Aufgeregtheit, in der er sich befand, mit einem gewissen Galgenhumor zu Hilfe kam.
So stieß er denn auf lebhaften Protest, als er, mit der Bitte sich zurückziehen zu dürfen, aufbrach und sich entschuldigte, die Herrschaften gelangweilt zu haben. Aber er setzte doch seinen Willen, gehen zu dürfen, mit dem Hinweis durch, die ganze Nacht im Eisenbahnwagen zugebracht zu haben, und entfernte sich, zum großen Bedauern des alten Ulmann, der den jungen Mann gern noch stundenlang dabehalten hätte und der, als Hiller fort war, zu seiner Tochter sagte: »So war der Vater auch, aber der Sohn ist geistreicher, gescheiter, der wird Leben ins Haus bringen, so einer hat mir schon lange gefehlt!«
Helene senkte nachdenklich das Köpfchen. »Ja,« erwiderte sie, »aber man weiß nie, ob er im Ernst redet oder sich über einen lustig macht!« Im Innern aber mußte sie sich gestehen, daß ihr der aufgedrungene Bräutigam sehr, sehr gut gefiel.
Hiller lag währenddessen im Wagen und fuhr der Stadt zu. Er war außerordentlich zufrieden mit sich und über sein Gesicht flog ab und zu ein Lächeln, wenn er daran zurückdachte, mit welchem Humor er die Unterhaltung geleitet und wie die von ihm aufs Tapet gebrachten Scherze gewirkt. Auch ihm hatte das junge Mädchen außerordentlich gefallen.
»Dieser Dummkopf, dieser Wismar,« murmelte er, »setzt eines Weibes wegen seine ganze Zukunft aufs Spiel, bringt eine anständige Familie und mich ins Unglück; glücklicher als mit diesem Mädchen konnte er mit keinem Weibe der Welt werden. – Nur nicht denken, nur nicht denken!« unterbrach er seinen Ideengang, »wer weiß, was kommen wird und sein kann, gestern Morgen lungerte ich noch schäbig und abgerissen am Hamburger Hafen herum, und heute bin ich der Gast eines der reichsten Männer dieser reichen Stadt, trinke die feinsten Weine, esse die besten Sachen und rauche die teuersten Cigarren. Freilich durch welche Mittel? Ah pah! Lüge und Gewalt beherrschen die Welt! Täuschung und Betrug ist alles, selbst das Glück. Nur keine Halbheit. Alles oder nichts, im Guten wie im Bösen!«
*
Tage vergingen. Hiller hatte auf Ulmanns Wunsch seine Wohnung im Hotel aufgegeben und war in das dem Kaufherrn gehörige Haus in der Stadt gezogen, in welchem sich auch die Geschäftsräume befanden; er war jetzt in dem Bekanntenkreis Ulmanns eingeführt und seine gesellschaftlichen Talente machten ihn überall zu einem beliebten Gast. Er fühlte sich völlig sicher, und in der That zweifelte niemand an seiner Identität. Wie wäre das auch möglich gewesen, er kam zur vorbestimmten Zeit an, sah dem Bild des Erwarteten, welches sich in den Händen seines Gastfreundes befand, sprechend ähnlich, war in allen Familienangelegenheiten orientiert, mit allen Papieren ausgerüstet, ebenso leicht hätte man bezweifeln können, daß der Mond der Mond, die Sonne die Sonne sei.
Ulmann war ein reicher Mann und liebte es, seinen Reichtum zur Schau zu stellen, sein Haus war das gastfreieste der ganzen Stadt und der Sammelpunkt der eleganten Welt. Dabei war er ein Mann von ehrenhaftem Charakter und besten Grundsätzen.
Der Verdacht Wismars, daß Ulmann dem Freunde mit dem stipulierten Reugeld eine Falle stellen gewollt, war durchaus unbegründet. Jener Kontrakt verdankte seine Entstehung überhaupt nur einer Laune und war in einem Rausche der Freundschaft und Wiedersehensfreude entstanden, einige gute Flaschen mochten auch ihren Teil daran haben. Den beiden Freunden hatte nichts ferner gelegen, als sich zu übervorteilen, der Vertrag mit der hohen Reugeldsumme war nichts als ein etwas überschwänglicher Freundschaftsbeweis, der die alte Freundschaft in ihren Kindern weiter fortbestehen lassen sollte. Es wäre auch Ulmann gar nicht eingefallen, auf Auszahlung des Geldes zu dringen, falls ihm Wismar offen die Wahrheit gesagt, ja, er hätte sich sogar dazu verstanden, die Summe zu zahlen, falls er in der geplanten Verbindung das Glück seiner Tochter nicht gesichert geglaubt haben würde.
Dies alles überdachte Hiller, als er eines Nachmittags auf der Veranda des Landhauses stand und im träumenden Brüten hinüber nach der Landstraße blickte.
Die ganze Nutzlosigkeit des perfiden Betruges lastete auf seinem Gemüt. Das war kein Sieg, denn es gab keinen Widerstand zu überwinden, und damit sank die einzige Entschuldigung, die er für sich in seinem Innern finden konnte, zu Boden. Jetzt reute es ihn, mit dem von Wismar erhaltenen Gelde nicht das Weite gesucht zu haben, er sann darüber nach, sich noch jetzt durch die Flucht zu retten, ohne den Mut zur That zu finden, er wollte fliehen, und eine geheimnisvolle Macht zwang ihn zu bleiben, er wußte, was ihn hielt, aber er wagte es sich nicht einzugestehen – er liebte Helene!
Sinnend betrachtete er die Menschen, die an der Villa vorübergingen.
»Wie viele,« sagte er zu sich, »von denen, die dort gehen und dich hier in der reichen Umgebung sehen, beneiden dich und wünschen sich an deinem Platz. O wie gerne würde ich mit dem Aermsten tauschen, der nur ein sicheres Brot, eine bleibende Stätte hat, der des Abends sein Haupt niederlegen kann, ohne zu sorgen, ohne zu denken, den nicht die Schreckensgespenster der Furcht vom Lager aufschrecken, dem nicht die Gedanken kommen, ›was soll denn jetzt werden? Wie soll das weitergehen?‹ Jener Laufbursche dort drüben mit seiner Mappe unterm Arm, er wird, wenn das Geschäft geschlossen, hinausgehen in Gottes freie Natur, sich an einem Feldrain niedersetzen und sich einbilden, der gefundene Cigarrenstummel schmecke ihm. Vielleicht seinem Kollegen etwas erzählen von der Größe seines Geschäfts und seinem Einfluß auf den ersten Haushälter, der für ihn jedenfalls eine der wichtigsten Personen des ganzen Hauses ist. – Und ich – ich werde in dem hellerleuchteten Salon sitzen, möglichst im Dunkeln, damit niemand die Röte der Scham bemerken kann, die mir vielleicht doch in die Wangen steigen könnte – werde lügen und schwindeln, um den Plan eines Schurken auszuführen, einen Plan, der edle, vortreffliche Menschen ins Unglück stürzt – und warum? Um mir eine gesicherte Existenz zu verschaffen, um nicht arbeiten zu müssen. Ich bin der elendeste Mensch, viel schlechter als der Straßenräuber, der sein Opfer niederschießt.«
Seine Brauen hatten sich finster zusammengezogen, seine Hände, die das eiserne Gitter, welches die Veranda umgab, gefaßt hatten, krallten sich krampfhaft zusammen und in wilder Aufregung rüttelte er an den Eisenstäben.
Das Klingen der sich hinter ihm öffnenden Thür ließ ihn erschreckt zusammenfahren, er wandte sich um: Helene stand hinter ihm. Sie trug ein weißes Kleid, mit blauen Schleifen geziert, ein Florentiner Strohhut hing an dem breiten blauen Bande an ihrem Arm. Sie sah unbeschreiblich lieblich und rosig aus, ihre Augen glänzten, ein Schein von Glück lag auf ihrem zarten Gesicht.
Er sah sie finster an.
Sie blickte erschrocken zu ihm auf. »Was haben Sie? Woran dachten Sie?« fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ich dachte an die Schlechtigkeit der Welt, ich dachte daran, daß das Unglück niemand verschont, auch an Ihnen wird es nicht vorübergehen, Helene!«
Er sagte das mit leiser verschleierter Stimme, beinahe traurig.
»Was man im Leben Unglück nennt,« erwiderte sie, »ist oft nichts als das Unerfülltbleiben unserer Wünsche; wer bescheidene Ziele erstrebt, wird meistens zufrieden sein!«
»Das Unerfülltbleiben unserer Wünsche!« wiederholte er gedankenvoll; »wenn aber diese Wünsche nur in dem gerechtfertigten Vertrauen ruhen, das wir in andere setzten, und diese andern täuschen das Vertrauen.«
»Das ist wohl Unglück,« sagte sie leise, »aber selten täuscht doch ein Mensch das Vertrauen des andern, wenn ihn nicht die Verhältnisse dazu zwingen; es giebt soviel Elend in der Welt, und mancher ist wohl nur schlecht, weil die Not ihn hindert, gut zu sein.«
»Helene!« rief er ausbrechend, »Sie sind ein Engel, eine Heilige! Wenn Sie wüßten, was mir Ihre Worte bedeuten, wenn Sie wüßten, wie mich Ihr hoher Sinn, Ihre –«
»Still, still!« unterbrach sie ihn, »ich bin ein dummes, thörichtes Mädchen und schon froh, wenn Sie nicht über meinen Unverstand lachen.«
»Ich lachen! Ueber Sie, über Dich, ich möchte nichts als stundenlang Deinem süßen Geplauder lauschen, nichts als in Deine Augen sehen, mein Glück, mein Leben!« Und alles um sich her vergessend, zog er sie an seine Brust und bedeckte ihre zitternden rosigen Lippen mit Küssen.
Helene überließ sich willenlos seinen Liebkosungen, sie schloß die Augen, das junge Glück der ersten Liebe hielt sie ganz gefangen und fesselte sie in den Armen des Geliebten.
Dennoch siegte Konvention und Erziehung endlich über die Empfindung des Augenblicks, sanft machte sie sich von ihm los und wie sie seine Hand in der ihren behielt, drückte sie einen flüchtigen Kuß auf die Spitzen seiner Finger.
Ein jähes Rot schoß in seine Wangen.
»Helene!« rief er mit erstickter Stimme, »was thun Sie – wenn –« er suchte nach Worten, die Gefühle zu schildern, die ihn bewegten, und überwältigt von seiner Liebe zu dem schönen Mädchen, von Schmerz und Reue, sank er vor ihr in die Knie und ihren Körper in die Arme fassend, wie der reuige Sünder ein Heiligenbild, stammelte er: »Ich bin Ihrer nicht wert!«
Erschrocken beugte sich Helene zu ihm nieder, er hob den Kopf und als er ihr ins Auge blickte, war er bereit, alles zu gestehen und nach dem Geständnis zu fliehen, sie nie mehr wiederzusehen, seine Schuld durch Thaten des Edelmutes und der Entsagung zu büßen und um ihrer Liebe würdig zu sein, selbst wenn ihn diese Liebe nie beglücken würde. Aber da, als er schon den Mund öffnete, um das Geständnis seiner Schuld abzulegen, öffnete sich die Thür abermals und Ulmann erschien in dem Rahmen derselben.
Der Kaufmann fuhr beim Erblicken der Gruppe ein wenig zurück, während Hiller aufsprang und Helene das errötende Gesicht in den Händen verbarg.
Ulmann lächelte bei der Bestürzung der ertappten Liebenden.
»Na, na,« sagte er, »warum denn so erschrocken? Sie brauchen keine Angst zu haben, lieber Wismar, daß ich Sie wegen Beleidigung meiner Hausehre auf Pistolen fordere. Im Gegenteil, was ich gesehen, freut mich ganz ungemein, denn ich glaube, daß hier wahre Zuneigung dem Wunsche der Väter entgegenkommt!« und zu seiner Tochter gewendet, sagte er, indem er ihre Hand ergriff: »Liebst Du ihn denn wirklich?«
Helene antwortete nicht, sie schlang ihre Arme um den Hals des Vaters und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Der Kaufmann drückte sein Kind zärtlich an sich und fuhr liebkosend über ihren blonden Scheitel, dann erfaßte er ihre Hand und sie von seinem Halse lösend und sie Hiller entgegenstreckend, sagte er: »Nehmen Sie sie hin, es ist mein ein und alles, mein höchstes Gut; aber ich gebe sie Ihnen gern, Ihnen, dem Sohn meines teuersten Freundes – machen Sie mein Kind glücklich!«
Hiller stand noch immer wortlos da, die widerstreitendsten Gefühle durchstürmten seine Brust, einen Augenblick hatte er auch vor Ulmann ein Geständnis ablegen wollen, aber die lächelnde Miene des Kaufmanns hatte den Gedanken verscheucht; dann wollte er fliehen, um nie wieder zurückzukehren, aber ohne ein letztes Wort, einen verzeihenden Blick Helenens, mochte er das Opfer nicht bringen. So stand er ratlos, fassungslos der Situation gegenüber, die ihn mit sich fortriß. Wäre Ulmann nicht selbst bewegt gewesen, vielleicht wäre ihm die Verlegenheit Hillers aufgefallen, aber er merkte nichts, und Hiller faßte sich wenigstens so weit, daß er, als ihm der Kaufmann die Hand seiner Tochter entgegenstreckte, sagen konnte: »Es wird der ehrgeizigste Wunsch meines Lebens sein, Ihre Tochter glücklich zu machen!«
Und mit überströmender Zärtlichkeit drückte er Helenens Hand an seine Lippen. Als er sich wieder aufrichtete, glänzte eine Thräne in seinem Auge.
Ulmann sah dieselbe und die Arme ausbreitend, rief er: »In meine Arme, mein Sohn, und auf Du und Du!«
»Judas!« murmelte Hiller, als er dem alten Manne den Bruderkuß gab.
»Nun aber lustig, Kinder!« rief der Kaufmann, dessen Naturell mehr heiter angelegt war; »es ist ja Verlobung und kein Begräbnis. Vorwärts, zuerst an den Papa gekabelt und dann die Liste derer aufgesetzt, die eine Anzeige bekommen müssen; wir werden nachzudenken haben, denn seit Helenens Geburt ist kein Familienfest mehr im Hause Ulmann begangen worden.«
Unter solchen Vorbereitungen vergingen die Stunden. Abends feierte man in einer kleinen schnell zusammengeladenen Gesellschaft die »vorläufige« Verlobung.
Es war schon spät, als Hiller die Villa verließ, er hatte den Wagen abgelehnt und schritt gedankenvoll durch die laue Sommernacht der Stadt zu. Wie von einer beklemmenden Last befreit, atmete er auf, als er endlich allein seinen Gedanken ungestört nachhängen konnte. Der Würfel war gefallen! Was nun? Er liebte Helene und sie liebte ihn. Was sonst das größte Glück des Lebens, hier war es namenloses Unglück. Er hatte sein Spiel kläglich verloren, denn Helene verlieren, hieß für ihn zeitlebens unglücklich werden, und verlieren mußte er sie. Die edlern Gefühle in seinem Herzen, die mit der Liebe zu dem schönen Mädchen neu erwacht waren, lehrten ihn, daß er nur durch Entsagung, durch Verzicht auf sein Lebensglück die Schuld büßen könne, die er auf sich geladen. Entsagen? gab es denn kein Mittel? würde er überhaupt im stande sein, von ihr zu lassen, und sie, würde sie eine Trennung überleben? sie, die mit so tiefer, so inniger Liebe an ihm hing. Wie, wenn er ihr nach der Hochzeit ein Geständnis ablegte, wenn er sie zur Flucht überreden könnte – sie liebte ihn – ein liebendes Weib vergiebt alles. Man hatte Beispiele, daß reine, edle Frauen in grenzenloser Liebe an Räubern und Bösewichten gehangen. Oder wenn Wismar krank würde, wenn er stürbe? Er war der einzige Mensch, der das Geheimnis kannte; wenn er ihn tötete? Ein Schauer faßte ihn bei dem Gedanken, zugleich aber befreite ein tiefer Seufzer der Erleichterung die beengte Brust. Da war ein Ausweg, da war Rettung und Strafe zugleich! War nicht jener der einzig Schuldige? Er? hm, er war ein armer Teufel – das Geld, das verfluchte Geld hatte ihn bestochen; aber jener, der nicht in Elend und Not verkam, selbst wenn er die Wahrheit gesagt hätte. – Und wenn er ihn tötete? würde es unentdeckt bleiben? Vor der Familie Wismars glaubte er sicher zu sein; der Vater war zu alt, um nach Deutschland zu kommen, – die Geschwister? Wismar hatte ihm erzählt, daß seine Brüder mit ihm nicht gut ständen. Aber die Frau? Hier lag eine ernste Gefahr. Doch zuletzt, wenn er ihr eine Abstandssumme bot, ihr schrieb unter Wismars Namen, daß er sich in Deutschland verheiratet habe, sie würde sich in das Unvermeidliche fügen. Und wußte sie denn, wo er war, fand sie ihn denn? von der Familie Wismars hatte sie jedenfalls keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil! Und wenn auch, komme was da wolle, Helene mußte sein bleiben und sollte er eine Welt zu bezwingen haben. War sie sein, dann konnte er ein neues Leben beginnen, durch verschwenderisches Wohlthun das Unrecht gutmachen, was er gethan, und dadurch, daß er den Guten half, den Tod eines Schurken wettmachen! Für Helene wollte er sündigen, für sie leben, für sie sterben, seine Ruhe, sein Glück, sein Leben für sie opfern! Eine unendliche Sehnsucht erfaßte ihn, in ihrer Nähe zu sein.
Er wandte sich und schritt den Weg zurück, den er gekommen. Auf einer Brücke blieb er stehen, neigte sich über das Geländer und blickte in die Flut, die leise gurgelnd unter dem Brückenbogen dahinschoß.
»Das Bild eines Mörders!« murmelte er, als er die Umrisse seiner Gestalt in dem dunklen Wasser erblickte. »Muß es denn sein?« flüsterte er. »Wer in die Zukunft sehen könnte!«
Nach einer Weile schritt er weiter. Hell und freundlich leuchtete die vom Mondschein übergossene Villa Ulmanns durch die Bäume. Er sprang über den eisernen Gartenzaun und schritt nach dem Stallgebäude, eine dort lehnende Leiter zu holen. Was er damit wollte, wußte er selbst nicht recht. Mechanisch setzte er seinen Weg fort, mechanisch streckte er die Hände aus, um die Leiter zu ergreifen; im nächsten Augenblick aber taumelte er entsetzt zurück – seine ausgestreckten Hände waren rot, rot wie in Blut getaucht. Es war das Licht einer roten, vor dem Stall brennenden Laterne, welches darauf fiel, aber er war viel zu erschrocken, um nach der Ursache der Erscheinung zu forschen. Mit starren Augen betrachtete er entsetzt seine Hände.
»Blut! Blut!« stammelte er mit zitternden, bleichen Lippen, und wie von Furien gepeitscht, floh er aus dem Garten. Er hatte den Gartenzaun wieder übersprungen und stand jetzt tief aufatmend auf der Landstraße. Schaudernd hob er seine Hände gegen das Licht des Mondes, sie waren wieder weiß.
»Noch klebt kein Blut daran,« flüsterte er erleichtert, »aber wie lange noch …?«
Er sah sich um, und jetzt erst bemerkte er die rote Laterne, deren Licht durch die Bäume schimmerte.
»Ich bin ein rechter Held!« dachte er, und ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. »Vor dem roten Licht einer Stalllaterne ergreife ich das Hasenpanier!«
In dumpfes Sinnen verloren, schritt er nach der Stadt zurück, aber bald blieb er wieder stehen. »Ich muß zu Ende kommen,« murmelte er, »ich muß einen Entschluß fassen, der mich unwiderruflich bindet. Ich will das Schicksal befragen, mag es entscheiden. – Ist es denn so etwas Großes, das Leben eines Menschen? Sterben nicht täglich viele Tausende, verschlingt nicht das Meer in einer Nacht oft ebensoviel – und der Krieg? wer kann die Millionen zählen, die er vernichtet, und sie fallen, sterben oft unter entsetzlichen Qualen, einer Sache wegen, die sie meistens nicht kennen, vielfach nicht verstehen! Sie werden geopfert dem Stolz, der Rachgier, der Habsucht einzelner Menschen oder Gruppen, der Eroberungssucht ehrgeiziger Monarchen, den Handelsinteressen gewissenloser Spekulanten. Ich führe auch Krieg; mag er meinen Interessen fallen! Aber ich will gerecht sein, will Sonne und Wind zur gleichen Hälfte einteilen, mag der Zufall entscheiden, wer von uns beiden als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen soll. Allein wie frage ich das Schicksal?« Er sah sich eine Weile suchend um und zog endlich ein Goldstück aus der Tasche. »Kopf oder Schrift!« rief er, »es ist ein altes Spiel, mit dem will ich's versuchen: mir den Kopf, ihm die Schrift; wer unter fünfmal dreimal fehlt, hat verloren.«
Er wollte das Goldstück in die Höhe werfen. »Halt!« sagte er, plötzlich innehaltend. »Der Hokuspokus muß Methode haben. Dort ist ein Kreuzweg, da will ich mit dem Golde, das mich zu der verruchten That verlockt, um Glück und Leben spielen. – Spielen?« fuhr er, weiterschreitend, gedankenvoll fort, »werde ich auch die Bedingungen halten, die ich mir gesetzt, wenn ich verliere? Gleichviel! wenn ich gewinne, halte ich sie sicher, und vielleicht gewinne ich.«
Er hatte den Kreuzweg erreicht und schleuderte das Goldstück hoch in die Luft. »Kopf!« jubelte er, als er die zur Erde gefallene Münze betrachtete. Abermals warf er sie in die Höhe.
Es war ein eigentümlicher Anblick, jener elegante Mann, allein auf dem Kreuzweg, wie er das Goldstück in die Luft schleuderte und sich dann tief auf die Erde herabbückte, um im Lichte des vor dem jungen Morgen erblassenden Mondes die Seite zu erkennen, auf welche es gefallen war. Diesmal lag die Schrift oben. Er stieß einen Fluch aus und warf das Goldstück wieder und wieder in die Luft.
»Gewonnen!« jubelte er, als ihm beim fünften Mal der Kopf entgegenblinkte. Fast stolz richtete er sich auf und stieß die Münze mit dem Fuße weg.
»Bleib' liegen!« rief er, »mir hast Du Glück gebracht, vielleicht findet Dich ein armer Teufel, dem Du es auch bringen kannst.«
Ein markdurchdringender, heiserer Schrei ertönte plötzlich über ihm hoch in der Luft. Zu Tode erschrocken, fuhr er zusammen. Mit fahlem Antlitz starrte er empor; über ihm schwebte mit lautlosem Flügelschlag eine Eule, die ihn mit glühenden Augen gespensterhaft anstierte. Wieder ertönte jener markerschütternde Schrei. Da erfaßte banges Entsetzen sein Herz, und wie mit eisernen Krallen legte es sich um seine Brust. Mit einem Aufschrei brach er zusammen; dann raffte er sich auf und eilte mit fieberhafter Hast seiner Wohnung zu. Schwer atmend, sank er kraftlos auf sein Lager, bleischwer legte sich ein ermattender Schlaf auf seine Lider.
Tage und Wochen vergingen; der Tag der Hochzeit rückte immer näher. Mit nervöser Ungeduld wünschte ihn Hiller herbei; ihm war, als wäre mit dem Augenblick, da Helene die Seine würde, jede Gefahr überwunden, und selbst in Stunden der Furcht, der Sorge und Ungewißheit sagte er sich: »Ist Helene erst mein Weib, werde ich Mittel finden, mein Glück zu verteidigen.« Der Gedanke, jetzt noch zu fliehen, kam ihm nie mehr in den Sinn, er liebte Helene leidenschaftlich und wollte sie besitzen, um welchen Preis es auch sei.
Gerade sechs Wochen nach dem Tage, an welchem sich Wismar und Hiller in Hamburg getroffen, fand die Hochzeit des Betrügers und seines Opfers statt. Mit fester Stimme sprach Hiller das »Ja« am Altare, mit erhobenem Haupt schritt er, seine junge Frau am Arme, durch die festlich geschmückte, mit einer neugierigen Menge gefüllte Kirche. In seinen Blicken lag etwas Drohendes, etwas wie eine Herausforderung, als wollte er sagen: »Jetzt ist sie mein! wehe jedem, der es versucht, mir sie streitig zu machen!«
Mit opulenter Pracht feierte der reiche Kaufherr die Hochzeit seiner Kinder. Alles, was Ansehen und Namen hatte, fand sich in dem alten Geschäftshause zusammen, und die helle Sonne begleitete die letzten fröhlichen Gäste auf ihrem Heimwege. Viel früher, tiefe Dunkelheit lag noch über den Dächern, entführte Hiller seine junge Frau der Gesellschaft. Es mochte gegen zwölf sein; ein geschlossener Wagen hielt an einer Seitenpforte des Hochzeitshauses. Das junge Paar schlüpfte, ungesehen von dem Schwarm der Gäste, in die Kutsche, die Pferde zogen an, und lautlos rollte der Wagen davon.
In der Villa an der Landstraße, die für die Neuvermählten eingerichtet war, erwartete nur eine alte Dienerin das junge Paar. Knirschend fuhren die Räder der Equipage über den Kiesweg der Einfahrt, lächelnd blickte der Kutscher den Aussteigenden, die, sich umschlungen haltend, die Freitreppe emporstiegen, nach, bis sie hinter der erleuchteten Glasthüre verschwunden waren, dann knipste er mit der Peitsche und fuhr nach der Stadt zurück.
Tiefe Stille lag über der tauatmenden Gegend, nur die Fontaine plätscherte träumerisch, und funkelnd fielen die flüssigen Tropfen, im Licht des Mondes glänzend, in das zitternde Wasser des Bassins. Hinter den weißen Spitzenvorhängen im Eckzimmer der Villa blitzte ein Licht auf; im Rosengebüsch unter den erleuchteten Fenstern sang eine Nachtigall in schmelzenden Tönen ein jauchzendes Brautlied.
Ein Schatten huschte über den Garten, zwei glühende Augen leuchteten durch die Dunkelheit. Es war die Eule. Lautlos schwebte sie näher und näher, jetzt schoß sie herab, und im nächsten Augenblick schlug sie ihre Fänge in den zuckenden Leib des kleinen Sängers, der eben noch von Liebesglück und Leben gesungen und nun sein letztes Lied mit einem Todesröcheln endete. Rote, heiße Blutstropfen fielen zur Erde nieder, und mit dem letzten Aufschrei des erwürgten Vögelchens erlosch auch das Licht hinter der Gardine.
*
Nach der Hochzeit kam wieder die alte Sorge und Unruhe über Hiller; er fühlte, daß er etwas thun müsse, dem Schicksal zu begegnen, und wußte nicht, wie, und welche Maßregeln er ergreifen sollte. Das einzige, was er that, war, die Hamburger Zeitungen eifrigst durchzulesen; er glaubte, Wismar werde ihm auf diesem Wege eine Nachricht zukommen lassen. Er glaubte sogar, dies mit ihm ausgemacht zu haben, aber erinnerte sich, trotz seines sonst trefflichen Gedächtnisses, dieser Abmachung nicht mehr genau. Auch fand er, trotz seines eifrigen Suchens, nicht die geringste Spur. Dennoch war er vor einer Ueberraschung ziemlich sicher. Es lag in Wismars eigenstem Interesse, ihn vor seiner Ankunft zu benachrichtigen. Aber diese Benachrichtigung war es, vor der er zitterte. An dem Tage, an welchem sie erschien, wußte er, ob er sein Glück verlieren oder zum Mörder werden müsse. Und der Tag kam, der Nachricht brachte, aber eine ganz andere, als Hiller erwartet.
Es war etwa vierzehn Tage nach der Hochzeit, da las Hiller in einer Hamburger Zeitung unter »Gerichtssaal« folgende Notiz:
»Eine etwas rätselhafte Erscheinung saß gestern in Gestalt eines hübschen, nicht uneleganten jungen Mannes auf der Anklagebank. Der Angeklagte, der erst hartnäckig die Nennung seines Namens verweigerte, aber schließlich durch Zufall verriet, daß er Hiller heiße, will den Namen seiner Vaterstadt völlig vergessen haben. Derselbe macht über seine Herkunft und seinen Stand die widersprechendsten Angaben; seiner Aussprache nach scheint er Amerikaner zu sein, obwohl er das Deutsche sehr geläufig und nur mit ganz leisem Accent spricht. Jedermann ist überzeugt, daß Hiller nicht der wahre Name des Angeklagten ist, und man vermutet, es mit einem internationalen Gauner oder Hochstapler zu thun zu haben. Die Anklage lautet auf schwere Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. Der Sachverhalt stellt sich folgendermaßen dar.
Am Abend des 20. April dieses Jahres befand sich der Angeklagte in einem Konzertlokal auf St. Pauli und geriet dort in einen Streit mit einigen der am gleichen Tisch sitzenden Gäste. Aus dem Lokal verwiesen, setzte der Angeklagte mit seltener Roheit den Streit auf der Straße fort. Von Schutzleuten zur Wache gebracht, wehrte er sich wie verzweifelt und schlug dem einen der Beamten mit einem schweren Stock dermaßen auf den Kopf, daß der Schutzmann infolge des Schlages verstorben ist. Die Zeugen sagen aus – –«
Bis hierher hatte Hiller mit fieberhafter Erregung gelesen, nun aber verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen, er ließ das Blatt sinken und blickte starr vor sich nieder. Ein Glück für ihn, daß er allein war – noch nie hatte er sich in solcher Aufregung befunden.
Kein Zweifel, der Angeklagte war Wismar. Der Tag, die That – alles stimmte zusammen, aber was hatte den Unglücklichen nur bewegen können, sich Hiller zu nennen? Er nahm das Blatt wieder auf, vielleicht fand er eine Aufklärung; aber die Zeitung zitterte so heftig in seinen Händen, daß ihm die Zeilen untereinander liefen. Er verschob deshalb das Lesen, bis er ruhiger sein würde, nur den Urteilsspruch brachte er mit vieler Mühe heraus: er lautete auf sechs Jahre Gefängnis.
Ein eisiges Kältegefühl überkam ihn. »Sechs Jahre,« flüsterte er mit bebenden Lippen, dann sprang er plötzlich auf. »Ich muß sofort nach Hamburg, ihn sofort sprechen; was nur den Wahnsinnigen bewogen hat, meinen Namen zu nennen! – Aber nein, das geht ja nicht!« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »das könnte Aufsehen erregen, ich dürfte doch nur in Gegenwart eines Gefängnisbeamten mit ihm reden. – Nein, nein! Und was soll ich auch dort? Eines steht fest, Wismar hat geschwiegen, hat seinen Namen nicht genannt und wird ihn nicht nennen, somit habe ich sechs Jahre gewonnen. – Sechs Jahre!« stieß er beinahe jubelnd heraus; »wer weiß, was kommen wird und sein soll! Sechs Jahre Zeit! Er wird solange schweigen, muß schweigen, warum hätte er bis jetzt geschwiegen, und dann? – Aber die Frau?« All seine Fröhlichkeit war bei dem Gedanken wieder zerstoben. Lange schritt er im Zimmer auf und nieder, endlich tröstete ihn wieder die Hoffnung, daß die Frau ja nicht wissen könne, wo ihr Gatte geblieben. Hatte ihr Wismar überhaupt gesagt, wohin er sich gewendet? Die Wahrheit hatte er ihr jedenfalls nicht eingestanden. Die größte Gefahr war also vorderhand beseitigt; kam die Frau wirklich nach Deutschland herüber, so konnte er ihr im schlimmsten Falle die Wahrheit sagen. Da sie ihren Gatten unverheiratet fand und einsehen mußte, daß der Betrug auch zu ihren Gunsten ausgeführt, hoffte er, sie zum Schweigen zu bewegen.
Mit dieser Hoffnung tröstete er sich einigermaßen, dennoch beschäftigte ihn der Gedanke tagelang, und er war oft mißlaunig und zerstreut. Helene litt schmerzlich unter dem Gemütszustand ihres Gatten, der wie ein giftiger Mehltau auf das Glück ihrer jungen Ehe fiel; aber sie wagte nicht, nach der Ursache zu forschen, und da Hiller, wenn er bemerkte, daß ihr Auge sorgenvoll auf seinem Antlitz ruhte, sofort sein Benehmen änderte und sich zwang, heiter zu scheinen, so sah sie wohl ein, daß er ihr seinen Schmerz und Kummer nicht anvertrauen wolle, und schwieg, der Zeiten harrend, wo er von selbst sprechen werde. Aber Hiller fand sie oft, wenn er, wie das nicht selten vorkam, des Nachts aus dem Schlafe fuhr, über ihn geneigt, die Stirn sorgenvoll umzogen und Thränen in den Augen. Sie fragte ihn nichts, sie sprach kein Wort, aber die schwersten Anklagen hätten sein Herz nicht schmerzlicher foltern können, als es der leise Seufzer that, mit dem sie ihr Haupt in die Kissen sinken ließ.
Am Morgen sprach er dann wohl von unruhigen Träumen oder dem Schrei der Eule, den er gehört; und in der That war der unheimliche Schrei des Nachtvogels mehr als einmal die Ursache seines plötzlichen Erwachens.
Er haßte den Vogel und beschloß, ihn zu töten. Eines Tages brachte er ein Gewehr mit nach Hause und lauerte des Abends auf die Eule, die ihm auch bald zu Schuß kam.
Es war ein warmer, gewitterschwüler Abend, als er, das Gewehr schußbereit, auf der Veranda stand und in die Höhe spähte; dort hinter der Buche hatte er die Eule vorbeihuschen sehen. Er hob das Gewehr: »So müßte ich das Unglück, das mich bedroht, vernichten können,« murmelte er vor sich hin. »Ich will sehen, ob ich es vermag: Töte ich die Eule auf den ersten Schuß, so soll mir das ein Zeichen sein, daß ich allezeit meine Widersacher vernichte.«
Gleichsam als wolle ihn das Tier höhnen, schwebte es in diesem Augenblick, einen scharfen Schrei ausstoßend, fast über seinem Haupte. Er fuhr zusammen, tödlich erschreckt. Im nächsten Augenblick aber flog die Büchse an seine Wange: »Stirb du wenigstens!« knirschte er. Ein scharfer Knall ertönte, aus dem Flintenrohr lohte es feurig auf, und die Eule flatterte, tödlich getroffen, zur Erde.
Helene kam bei dem Krachen des Schusses eilig herbei. Mitleidig blickte sie auf das im Todeskampf zuckende Tier. »Du hast die Eule getötet?« fragte sie leise.
»Ja!« erwiderte er fest, »sie soll mir den Schlummer nicht stören. Jetzt werde ich ruhig schlafen.«
Helene erwiderte nichts, aber sie sah ihn an mit einem Blick so voll Hingebung, rührendster Sorge und zärtlichster Liebe, daß er das Gewehr fallen ließ, die Arme um sie schlang und sein Haupt auf ihre Schulter lehnte. Heiße, bittere Thränen entströmten seinen Augen, aber sein Mund blieb geschlossen.