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Aus dem Schlaf weckt mich ein schriller unendlicher Schrei. Es ist vor dem Fenster. Es ist das Aufschreien einer Dampfpfeife, langgezogen, unabgesetzt in ihrem aufgesparten, mit äußerster Kraft herausgestoßenem Atem. Plötzlich bricht es ab; ein schallendes Echo füllt das Tal und sinkt in das Schweigen der Nacht zurück. Es ist halb fünf Uhr. Draußen in der Dunkelheit treten Frauen, Knaben, Kinder aus einem kleinen Gebäude heraus, andere Frauen und Kinder kommen. Die Ölfabrik von Delphi ruft aus dem Dorf ihre Sklaven. Zwei Monate im Jahr mit Tag- und Nachtschicht.
Es wird rasch Tag. Mit dem Bauer, der sein Eselchen mit Gepäck beladen vor sich hertreibt, steige ich durch das Dorf abwärts und erreiche auf dem treppenmäßigen, steinigen Feldweg die Äcker. Die Schneewipfel im Westen färben sich rosig.
Unaufhörlich klingelt das hohle Glöckchen am Halsband des Tieres. Ein Bürger aus dem Dorfe geht mit uns, es ist ein Armenier, der während des Krieges in Itea wohnte. Seine Tochter besucht die Schule der französischen Brüder in Piräus; er ist der Verwalter des Militärfriedhofes, wo die am Fieber gestorbenen Soldaten begraben liegen. Anamiten begossen die Lagunen und die mit Brackwasser gefüllten Löcher der Ebene von Itea mit Petroleum gegen die Mückenplage. Sanitätspatrouillen zwangen die Einwohner, Chinin zu essen. Auf dem Friedhof da unten liegt auch der Kommandant eines U-Bootes begraben, das auf der Höhe von Patras ein Kriegsschiff torpedierte. Man brachte den Deutschen nach Itea ins Hospital und begrub ihn mit kriegerischen Ehren. Die Griechen errichteten ihm ein Kreuz aus Marmor und schrieben seinen Namen darauf.
Der Begleiter verläßt mich in der ländlichen Straße von Chrysso. Dächer und blühende Bäume sind umwölkt vom duftenden Morgenrauch. Wir überschreiten die mit Kräutern bedeckte Halde und schreiten zwischen weidenden Schafen auf den weiten Schlingen der Landstraße zu Tal. Ein Bauer geht mit uns, ein Bekannter des Eselführers; die beiden unterhalten sich über Politik, unterwegs steigt der Bauer zu seinem Rebengarten hinunter. Im Tal beschattet uns der Ölwald. Aus den Wipfeln schallt das Morgenlied der Vögel, auf dem Grasteppich unter den Bäumen blühen Anemonen, zarte Glockenblumen stehen in blauen Gruppen, weiße Sternblumen blühen strichweise. Überm Wegrand schwebt Geruch von Veilchen. Ein Bauer pflügt zwischen den Bäumen mit einem Gespann von fahlen schmalgebauten Rindern. Gruppen von Landleuten sind bei ihren Bäumen; die Tragtiere warten an der Straße, weiße Ziegen grasen umher. Die Arbeit an den Bäumen scheint familienmäßig zu geschehen wie die Seefahrt und der Fischfang.
Unser Ziel ist ein kleines Gehöft an der nach Amphissa führenden Landstraße. Es heißt Kakanu und steht an einer Wegkreuzung. Hier halten die Postautomobile. Die Station ist nichts als eine aus Lehm gebaute Bauernhütte mit einer Laube. Ein freundlicher weißhaariger Bauer ist dort, ein Knabe bringt aus dem Hause einen geflochtenen Stuhl. Im Augenblick meiner Ankunft ist lebendigste Bewegung; ein schwerer grünlackierter Landauer mit einem altertümlichen Wappen auf dem Wagenschlag hält auf der Landstraße; ein paar Kleinbürger steigen aus, um einen Fruchtlikör und ein Glas Wasser zu trinken. Aus der anderen Richtung hält ein blauer Karren mit zwei hohen Rädern; in dem Karren sitzt ein Bauer, er erkundigt sich, wie es mit dem Kriege stehe, er ist gedienter Soldat und bei der Reserve. Der Alte bezeichnet diesen Mann als einen wohlhabenden Besitzer und nennt die Zahl seiner Ölbäume, wie man von einem deutschen Bauer sagen würde, er habe soundsoviel Kühe im Stall. In demselben Karren sitzt ein junges Ehepaar; die Frau trägt hellblauseidenes Kopftuch, blaues Wollkleid mit gestärkten Unterkleidern, der Mann einen schwarzen Bratenrock, weichen Hut, frisches Hemd ohne Kragen; die beiden reisen zu einer Hochzeit. Die Fahrzeuge setzen nun gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen ihre Reise fort, mein Eseltreiber macht sich auf den Heimweg, ich sitze mit einemmal an der leeren Straße allein. Ein Hahn kräht, die Sonne sticht, der Rauch der Hütte wölkt sich nach unten, es sieht nach Regen aus.
Endlich kommt auf der schnurgeraden Straße, die nur hier eine Biegung hat, der Autobus; es ist einer jener einfachen und sparsam gebauten amerikanischen Wagen, die auf allen Straßen der Welt zu finden sind, und deren Vorzug ein schneller, langhubiger Motor und eine gute Federung ist. Er wirbelt mit Bauern und Körben beladen in seiner rasselnden Wolke weiter. Eine halbe Stunde später sind wir in einem Felsental, zu Füßen einer alten Burg, mit den Schneehäuptern des Kinona und des Wardhusi über uns in dem Bergstädtchen Amphissa.
Die Agentur ist in einer engen Gasse. Das Gepäck wird gewogen, eine Gruppe von Reisenden kommt zusammen, man bindet das Gepäck auf dem Dach des kleinen Fahrzeugs fest. Handwerker, Zitronenhändler, Krämer stehen in offenen Gewölben, über die Straße gehen schmale Frauen, grau und anmutig; Weinberge liegen an den Abhängen der Stadt, Ölwälder in der Ebene. Von irgendwoher nähern sich Geschrei und Schüsse, eine Kapelle von Flöten, Horn, Mandoline und Trommel, die langsam die Straße herunterkommt; in ihrer Mitte schwankt eine enorme blauweiße Fahne, ein Bild des Königs ist an das Tuch geheftet. Es sind junge Arbeitsmänner, die den Mobilmachungsbefehl erhalten haben; sie haben eine Blechkanne bei sich und füllen ihre Gläser mit wasserhellem Schnaps, trinken, werfen die Arme in die Luft und lassen die Gläser zersplittern. Durch diesen orientalischen und dröhnenden Umzug bricht das Auto hinaus; am Anfang der Landstraße warten zwei Frauen und ein alter Bauer; der Wagen hält noch einmal, sie treten herzu, um von einem, der drinnen sitzt, Abschied zu nehmen. Dieser ist ein junger, städtisch gekleideter Mann, vielleicht ist seine Reise weit und wichtig. Die brav und treu aussehenden Frauen sind seine Schwestern oder Schwägerinnen; sie reichen ihm einen rot, gelb und weißgrün glühenden Strauß von Ixien, Goldlack, Anemonen und Lilien, der Abschied ist zart und schwer; der alte Mann ist ernst, die Haut seiner Hände und seines Nackens ist wie Baumrinde. Das Auto, angefüllt mit Menschen, die den süßen Duft des Straußes mitgenießen, rückt an, nun fährt es seinen Weg, der Weg geht in vielen Kehren aufwärts. Noch ist Ölwald an den Seiten, doch er ist grau wie Staub, trocken und gelichtet, bald hört er auf. Wir kommen durch ein Dorf, die Häuser sind wie Steinwürfel; die Gebirgswelt wird mächtig, über kahlen Abhängen stehen Berghäupter, Sphinxen gleich, mit vorgelagerten und hagern Tatzen. Die in der Nähe sichtbaren Abhänge sind mit dürren Kräutern und Gestrüpp besetzt, ferne Nadelwälder vermischen ihr dunkles Blau mit dem Blau der Ferne. Äußerste Gipfel schweben, steinernen Wolken gleich, in Wolkenkränzen, es ist eine Alpenwelt von verwirrender Öde. Selten begegnen uns wandernde Holzfäller, ein Transport von Pferden, ein Hirt mit der Flinte auf der Schulter; selten hält uns ein Gehöft, dessen Hof und Brunnen bereit stehen, um Karawanen ein Nachtlager zu bieten. Es ist, als suche die Landstraße lange vergebens nach dem Paß, den sie endlich ohne Mühe überschreitet. Unser Auto ist wie ein Kasten, der in der Hand des Führers den Berg hinauffliegt, nun gleitet es die kurz gewundenen Kehren abwärts, die Tannen dieses Schwarzwaldtales stehen glitzernd und triefend zwischen Sonne und schmelzendem Schnee. Wir sehen schon von weitem in die Ebene hinab, dort hat die felsige und drohende Wildnis des Engpasses ein Ende im Leeren. Es wird nun nicht mehr anders. Karg und ärmlich ist dieses gebirgige Griechenland, das in die thessalische Bergwelt übergeht. Gleich wo der Weg aus der Schlucht heraustritt, beginnt das Dorf, zuerst das Kriegerdenkmal, Erinnerung an hundertachtzig Griechen, die vor einem Jahrhundert am Aufstand teilnahmen und den Engpaß gegen dreitausend Türken verteidigten. An der zerfallenden Kirche, auf dem Felde neben kleinen Häusern stehen viele hölzerne Kreuze, verwittert und geneigt. Irgendwo in der Nähe sind die Thermopylen. War Leonidas ein größerer Held als jener Bandenführer, der sich General Odysseus nannte? Und was waren jene englischen Soldaten, die dort drüben in einem weißen großen Viereck begraben sind? Nicht weit von hier stehen am Bahnhof von Bralo mitten in einer kahlen Steppe die verlassenen Baracken, in denen einst Soldaten und Tiere nach den Schlachtfeldern von Mazedonien verladen wurden.
Wir warten vor dem Bahngebäude auf dem mittagheißen Felde. Hier ist plötzlich Balkan, wir sind kaum eine halbe Tagreise von Athen. Auf dem Acker geht der Pflug von einem Weibe geführt; die Stiere tragen das hölzerne Joch, der Pflug ist ein gebogener Ast und ritzt nur schwach die stumpfe Erde. Der Zug steigt dann durch schwarze Berglöcher auf kalt umwehte, einsame Kuppen; in der Ferne schimmern Sümpfe und Meer, der Zug trägt Geschäftsleute, Bauern, Geistliche, die balkanisch schmausen, schlafen und plappern, durch eine öde gebirgige Welt. Die Seele schweigt in diesen nackten Bergen; die Mühseligkeit der Bergreise dringt selbst in das Gefühl derer, denen die Eisenbahn sie zu ersparen verspricht.
Die byzantinische Hafenmauer von Salonik liegt jetzt in jenem Viertel der Geschäftshäuser und der nach dem Vorbild von Triest gebauten Lagerhäuser im Westen der Stadt, dessen Boden ein wenig über das Meer gehoben ist. So hat sich ja seit alter Zeit die gesamte Küste Griechenlands verändert durch Erdbeben und Arbeit des Meeres, Sinken und Aufstehen des Landes. Dörfer, die früher am Strand lagen, sind in das Land gewichen, Türme fester Landstädte stehen jetzt mitten in der Flut. Die Stadt breitet sich mit gleichmäßig geschnittener Häuserzeile am weitgebogenen Thermäischen Golf. Ihre Dächermenge, vom Meer gesehen, erscheint wie ein einziger zerhackter Berg. Alles Tausendjährige steckt in der Erde. Aber bei dem Güterhof der Malteserritter wird die aus Felsbrocken gefügte Stadtmauer wieder sichtbar, wenn auch nicht höher als eine Hecke; dann erhebt sie sich als ein ungeheures steinernes Band. Ohne eine Bresche umschließt dieses mittelalterliche Bauwerk die Stadt. Es umfaßt den zum Meer gewendeten Felsenabhang und bildet oben gegen die Wildnis einen schützenden Rücken. Wer diese zwölf Meter hohe Mauer umschreitet, der wandert zwei Stunden lang unter Mühsalen, doch schließlich mit Ergriffenheit. Sie ist das Werk gewaltiger Baumeister. In dem rauhen, unendlichen und gleichmäßigen Gefüge der alten schmalen Ziegel finden sich zuweilen künstlich gearbeitete Stellen, ein Kreuz, ein Meßstrich oder auch eine Zahl; alte Merkzeichen, deren Bedeutung niemand mehr zu sagen wüßte. Unten im Tal liegen Mühlen in Büschen versteckt. Vor dem niederen Hügel, der den Namen des heiligen Paulus trägt, breiten sich uralte Grabfelder. Lehmhütten liegen dort unter breiten Bäumen, deren Stämme von den jetzigen Besitzern mit weißer und blauer Ölfarbe angestrichen worden sind. Im Geröll der Felsbäche weiden magere Rinder bei den Feigenbäumen; um die ärmlichen Dorfhütten wittert beizender Geruch von verbranntem Mist, Zeichen der alten holzarmen Türkenwirtschaft. Steht man oben auf der Höhe des Berges, so schaut man weit im Westen das angeschwemmte wasserglänzende Delta und die reich bestellte Ebene des Wardarflusses, die sich zu den mazedonischen Bergen hin verengt. Gen Osten dunkeln die Vorberge der chalkidischen Halbinsel aus dem Meer. Dort auf einer der drei ins Meer weit vorgestreckten Zinken liegen die Athosklöster, fern der Welt. Schwarz und faltig gekleidete Mönche kommen jede Woche, der Einkäufe wegen, auf ihren Ruderbarken oder auf einem der kleinen Küstendampfer nach Salonik. Sie haben dort ihre Absteigehäuser.
Der Wanderer rastet hier oben bei einem Ziegenhirten unter dem Blätterdach der Platanen. Er entdeckt die Rinne einer antiken Wasserleitung, deren Zisternen mit schön gemeißelten Steinplatten bedeckt sind und sich immer wieder füllen. Er kehrt in die Stadt zurück durch das schräg einleitende Tor der Zitadelle, die als Gefängnis dient und den obersten Teil des Mauergürtels bildet. Das alles war einmal von den Normannen und von den Byzantinern, von den Seefahrern Venedigs und von den Türken erobert; an der Stelle des antiken Thessalonich lag die Stadt Kissos, die mit dem ganzen Mazedonien zum Reich des Priamos gehörte; die Trojaner waren in der kurzen Zeit ihrer Macht ein seefahrendes Volk mit europäischen Kolonien; Jahrtausende später wiederholten die Türken ihren Weg. Noch scheint die Stadt türkisch zu sein, aber die Herrschaft ist dem neuen Hellas zugefallen. Steile Gassen glätten den gewachsenen Fels. Es ist ein Tag des Beiramfestes; hinter alten Gartenbäumen tanzen Jünglinge erhitzt und taumelnd, in ein elektrisch grelles Rot gekleidet, zum Klang der Schalmeien. Kinder, mit Blumen geschmückt, tragen helle, mit Silber durchwirkte Festtagskleidchen, ihre Handflächen und Nägel sind hochrot gefärbt. Schwarz verhüllte Frauen sitzen vor den Türen. Süßigkeitenverkäufer gehen umher; ihr Traggestell zeigt nicht mehr die papierne Halbmondfahne, sondern das blauweiße Fähnchen mit dem Kreuz. Bis zur halben Berghöhe hinab sind die Gassen ländlich, die Gartenmauern ohne Lücken, die Fenster hoch und von hölzernen Gittern verdunkelt. Auch ragen aus den Höfen dieser Gegend Minaretts gen Himmel, aber nur wenige noch erstrahlen am Abend von farbigen Lämpchen zur höheren Festesfreude. Denn die Moscheen sind wieder Kirchen geworden, das abergläubische Volk schleicht nicht mehr in Heimlichkeit zu den wundertätigen Grabkapellen. In diesen mehrschiffigen, kahlen Kirchenhallen stehen jetzt im Feuerschein die Kerzenhalter und die goldenen Bilder. Fahnen des neuen Griechenlands stehen in den Nischen, blau-weiße Kreuzesbanner und gelbe Tücher, auf die der schwarze Adler genäht ist, Fahnen der Träume und der Festtage.
Gassen schmal wie Bäche rinnen den Berg hinunter, aber nur zwei Straßen durchziehen die Stadt in der Breite. Die belebteste von ihnen, voll unaufhörlicher Unruhe in ihren Kleinhandelsgewölben und Hofeingängen, führt aus der entlegenen Gegend des Bahnhofs, von den Schienen, die nach Belgrad und Wien hinaufführen, in die Stadt und auf der andern Seite, durch einen altrömischen Ehrenbogen von verstümmelter Skulptur in den Boulevard, an dem sich gegen Ende des Balkankrieges blutige Gefechte zwischen Griechen und Bulgaren abspielten. In den zahllosen kleinen und dichtgefüllten Häusern, Höfen und Sackgassen der mittleren Stadt mit ihren alltäglichen Märkten, Kinderschulen, Fuhrhaltereien, Schmieden und Trödelecken herrschte Lärm und Schacher, Schmutz und Gestank. Dieses Viertel ist niedergebrannt. Es ist ein weißliches Blachfeld mitten in der Stadt, mit Trümmerresten und Bretterbuden bestanden. Einst gab es nur den einzigen freien Platz vor dem großen gelblichen Regierungsgebäude, dessen Fenster die Stadt übersehen, mit seiner leeren Freitreppe und den vielen rückwärtigen Hauseingängen, vor denen die Bittsteller lagerten. Hier hielten die Droschken; das Geschirr der Gäule war mit Silber beschlagen, wer weiß aus welchen Zeiten alter Herrlichkeit. Die griechische Regierung hat versprochen, auf dem Brandplatz ein Chicago des Balkans aufzubauen. Aber es ist noch zu früh für ein Chicago des Balkans.
Achtzigtausend Juden wohnen in Salonik. Viele sind Lastträger und Bootsleute. Die andern haben Geschäfte, Werkstätten, Schreibstuben, Magazine, Speicher in der Nähe der Banken und der Zollhalle. Die Gebildeten haben ihre Klubs und ihre Zeitungen in Hebräisch und Französisch. Aber sie sind Spaniolen, einst aus der iberischen Halbinsel vertrieben, nicht wenige aus Barcelona, wo man Katalanisch sprach, das auch sie noch sprechen. Sie haben jetzt begonnen Griechisch zu lernen. In früheren Jahren gab ihr Modernismus dem jungtürkischen Komitee für die Einheit und Fortschritt die Macht und die Impulse. Die Frauen dieser Spaniolen tragen noch die Tracht eines verschollenen Zeitalters, das buntgestickte Käppchen, das weit ausgeschnittene Mieder. Unter der Herrschaft von Athen ist der schwarze Gehrock und der Fes verschwunden, auch die Arbeiter im Hafen tragen den Turban nicht mehr. In der Stadt sind zwanzigtausend Griechen. Die Mohammedaner schmelzen dahin, die übrigen Europäer haben ihre Schulen, Konsulate und Bankgebäude in der Hafengegend und ihre Landhäuser vor der Stadt.
Wenn man vom Berge in die Nähe des Hafens kommt, werden die Gassen westländisch. Hier sind große Schaufenster aus Glas, dahinter liegen großstädtische Waren. Auf dem Pflaster stehen die Tischchen der Kaffeewirtschaften. In der Abenddämmerung brodelt das unerschöpfliche Gespräch der Menge wie ein laues Bad, untermischt mit den heiserhellen Rufen der Zeitungsverkäufer, dem Säbelrasseln der Offiziere, dem Händeklatschen der Gäste, die den Kellner oder den Schuhputzer verlangen. Aus dem Halbdunkel sieht man über diesen friedlichen Tumult hinweg den tiefblauen Glanz der Bucht, die schwarzen Umrisse der Schiffe und gegen das Feuerrot des Himmels ein Gebirge unnahbar jenseits der Meeresfläche, die tiefe violette Glut des Olymp.
Das athenische Griechenland ist stolz auf den Besitz dieser Stadt. Es feiert den Jahrestag der Besitzergreifung mit Umzügen und einem großen Aufwand von blauweiß gestreiftem Leinen. Früher hielt kretische Polizei, schweigsam und gewalttätig in ihrer knappen schwarzen Tracht in diesen Straßen die Ordnung aufrecht, jetzt sind es die in rauhes Grüntuch gekleideten Feldsoldaten.
In der inneren Stadt, die verschwunden ist, in den steingetäfelten Höfen der Moscheen rasteten nach dem Einzug der Griechen die türkischen Bauern, die das Land verließen. Schweigend lagerten die Männer mit roten Kopfbedeckungen, roten Westen, roten Hemden und schwarzen Hosen, Frauen schwarz verhüllt, Kinder in blumigen Kleidchen, auf Stößen buntgefütterter Decken bei ihren verschlossenen Truhen. Die kleinen Kinder spielten zum letztenmal hinter den verwitterten hölzernen Säulen am Aufgang der Moschee. An die Außenwände des Gotteshauses waren Landschaften hingemalt in blaßgrünen Rahmen und in einem Rankenwerk von blassem Rosa. Ebenen mit Bäumen, Bächen und grünen Wiesen, wie sie das Auge wandernder Völker liebt. Schwärme von Dohlen kreisten in der blauen Luft. Wie schön waren die von dünnen Gittern umschlossenen, eng mit Gesträuch gefüllten Höfe; wie schmale Gewächse dichtgesät standen die Grabsteine aus zuckerweißem Marmor, Steine mit Girlanden und Blumenranken im zierlichsten Barock mit vergoldeten Inschriften, in Form von Krügen und Blumen geschrieben, elegische Spuren untergegangenen Reichtums, letzte Klänge einer angenehmen Zeit. Der Engel der Vernichtung hat alles hingerafft, gelobt sei Gott. Die Zukunft der Stadt klammert sich an den Hafen, sie ersteht im abendländischen Viertel der Kontore, sie steckt in den Firmenlisten und Denkschriften der Handelskammer, und sie ruht tiefer in den Träumen der Völker, die von der Höhe des Gebirgshintergrundes wie Ausgeschlossene auf diese Stadt und das Meer hinabschauen.
Ich spreche mit einem kleinen Eisenwarenhändler, er hat seine Bude an einer der niedergebrannten Straßen. Norweger und Schweizer, sagt er, bieten uns mit gefälschten Fabrikzeichen und zu unverschämten Preisen deutsche Waren an, denn die Zölle des griechischen Tarifes machen den direkten Verkehr mit Deutschland unmöglich. In der Ebene lagern riesige Stapel von Schienen, Kleinbahnwagen, Werkzeugen und Zelten, kostbares Material für den Krieg, das jetzt der friedlichen Erschließung des Landes dienen könnte. Irgendeine große Firma hat das alles angekauft, läßt die noch neuen Karren zu Schrott zerschlagen und schafft das Gerümpel in Schiffsladungen nach England. Eine Gruppe fremder Landstreicher besorgt die Zerstörung, gelernte Schlosser, frühere Soldaten, sie wohnen in einem Güterzug und beeilen sich nicht, denn ihr Taglohn ist höher als der der einheimischen Arbeiter, die sich nicht darauf verstehen, mit ein paar Hammerschlägen einen Eisenbahnwagen zu zertrümmern. Schlechte Verwaltung der Welt!
Die Villen mit ihren Gärten bilden einen eigenen Halbkreis um die Arena des blauen Meeres. Dort hinter den Mauern eines Parkes versteckt sich die Villa Alatini, die eine Zeitlang der Aufenthalt des entthronten Sultans Abdul Hamid war. Die Gärten duften nach Rosen, Flieder und Goldlack, sie sind noch türkisch, sie umschmeicheln die steifen Schweizer Chalets, die grämlichen Miniaturburgen im Normannenstil. Warum ruhen die Häuser nicht leicht und fröhlich in den Gärten? Warum sind einige geschlossen und zerfallen mitten in einer Wildnis, die bis ins Blätterdach der Bäume emporsteigt? Krieg und Herrschaftswechsel brachten jähe Stockung, unsicheres Schwanken. Die Menschen von Salonik wechseln und fließen, sie sind noch immer wie jene des alten Thessalonich, an die Paulus seine ersten Briefe richtete, die so bitter und zugleich so schonend sind: Verheißung, daß die Gläubigen den himmlischen Lohn empfangen werden, Warnung vor dem Müßiggang, dem Aberglauben und dem Leben in den Tag hinein. In Salonik entstand die erste Christengemeinde auf europäischem Boden, der Apostel verteidigte sie gegen die Feindschaft entschlossener Gruppen, er baute auf sie eine große Erwartung. Keine Spur mehr ist von ihr vorhanden. Kreuz, Stern und Halbmond glimmen mystisch in den Nischen dieser Stadt, noch immer lavieren die Menschen von Salonik zwischen beiden Welten. Abendland und Morgenland treffen zusammen, verschlingen sich in brütender Vermischung. Nur zuweilen steigt ein rascher Flammenschein aus der Retorte.