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Der Traum von Japan

Heilige schöne Dinge

Ich sitze in der offenen, nach allen Seiten von alten Bäumen umgebenen Halle des Ekoin-Tempels zwischen einer Schar japanischer Männer und Jünglinge, die mit tiefer Aufmerksamkeit die Waffengänge des altertümlichen Schwerterkampfes verfolgen. Es ist alte Fechtkunst, die hier geübt wird. Ihre Regeln sind wertlos für den Krieg nach heutiger Kampfesweise, aber sie verlangt viel Gewandtheit und Selbstbeherrschung von den Übenden. Die Männer gleichen mit langen Schwertern bewaffneten Katzen. Stahlgraue Greise, denen die Kämpfenden Ehrerbietung erweisen, sind die Richter. Es ist eine ernste Angelegenheit, keine Schau für Fremde, obgleich man ihnen willig einen Platz auf den für die Schüler bestimmten Matten dieses Gymnasiums einräumt.

Ich besuche den am Rand einer von Ahornbäumen ausgefüllten Schlucht auf einem hohen Unterbau von Pfählen errichteten Kiomizu-Tempel. Eine Menge von Spaziergängern besucht ihn an den warmen trüben Frühlingsnachmittagen. Ich steige mit meinem Führer, der allen Sehenswürdigkeiten der alten Kaiserstadt Kyoto eine unerschütterliche Wichtigkeit beimißt, zu dem ältesten halb zerfallenen Tempelchen empor und dann die weiße, von Bäumen beschattete Marmortreppe hinab zu den heiligen Brunnen. In gleichem Abstand voneinander rinnen hier drei Wasserstrahlen, leicht gebogen und fein wie Silber, aus dem strengen steinernen Dachgebälk eines Tempels mit zartem Plätschern hernieder. Nur wenige Zentimeter hoch steht das Wasser auf dem weißen Steinboden des Beckens. Für die Pilger, die sich an diesen Wasserstrahlen erquicken, sind flache sandalenförmige Steine hingelegt, so daß sie das Becken betreten können, ohne die reine Flut zu beschmutzen.

Man darf die flüchtigen Festlichkeiten nicht versäumen, die die Jahreszahl mit sich bringt. Es gibt für Kyoto einen Kalender der monatlichen Vergnügungen, anfangend mit dem sieben Tage dauernden Fest der Jahreswende und einer in den Februar fallenden, sehr feierlichen Begrüßung des Mondjahres. Schon der März bringt die Feste der Pflaumenblüte und der Pfirsichblüte gleichzeitig mit dem Mädchenfest der Puppen. Im April wandert alles hinaus, um die Kirschblüte zu genießen, im Mai folgt die Blütenfreude der Päonien und Azaleen. In dieser schönsten Jahreszeit stellen alle buddhistischen Tempel die uralten Tempelschätze zur Schau; ein pompöser Umzug goldener Götzen und geschmückter Geishas findet statt, und ein paar Wochen später das Fest der Knaben. Im Sommer sind Ausflüge nach dem Biwasee und Pferderennen an der Tagesordnung. Man zieht nachts auf die mit Lichtern geschmückten Berge oder in die Dörfer, um den Tänzen der Bauern zuzusehen. Dann kommt das Kleefest, das Fest des Vollmondes, das Pilzesammeln auf den Hügeln, das Fest des Chrysanthemums, zuletzt die herbstlichen Ausflüge, wenn der Ahorn sich rötet.

Es wäre vom Marajuma-Park zu erzählen und von seiner großen Glocke unter dem uralten Baum. Von der fünfstufigen Pagode, die aus der Ferne einer hohen Tanne oder einem segelnden Schiffe ähnlich sieht. Von der unvergleichlichen stillen Gartenschönheit des Kinkakuji-Tempels am Rande des spiegelnden Lotosteiches. Vom Tempel der 33 333 Göttinnen der Barmherzigkeit. Von dem viermal abgebrannten und immer prächtiger wiedererbauten Tempel der Östlichen Hongwanji, dem größten Tempel in Japan. Vom Klang und Geklapper der nächtlichen Straßen mit ihren kirschroten Papierlaternen, dem Gedränge der Theater, dem einsamen Öllämpchen vor den bronzenen Falten der Buddhastatue im Tempel. Von der stillen kurzen wortlosen Andacht einzelner Beter vor den kahlen Schinto-Schreinen bei Tag und Nacht.

Es war jetzt die Zeit der Ringkämpfe im Ekion-Tempel und die Zeit des Kirschblütentanzes. Am Abend fuhr ich ins Theater, um den Kirschblütentanz zu sehen. Man führte uns in einen Empfangsraum, wo alle Besucher von höchst bunt gekleideten fünfjährigen Mädchen mit kleinen weißen Kuchen bewirtet wurden. Eine Geisha bereitete den Tee mit einer unnachahmlich graziösen Feierlichkeit, und die kleinen Mädchen stellten mit zarter Verbeugung jedem Besucher die mit dem grünen bitteren Tee gefüllte Schale hin. Die Japaner genießen Tee und Kuchen mit Entzücken und stecken sogar die Tellerchen ein, so ist die Sitte. Darauf nahmen wir Platz im Theater. Das Volk, Männer, Kinder, Frauen mit glänzendschwarzen Haarfrisuren hockt auf dem mit feinen Matten belegten Boden des viereckigen, gar nicht großen Raumes. Auf den Seitenbühnen links und rechts sitzen in Reihen übereinander die Musikantinnen, hier mit Saiteninstrumenten, dort mit Becken und kleinen Trommeln. Langsam ziehen die Tänzerinnen ein, alle in feuerroten Kimonos, mit schwarzen, blumengeschmückten Haargebäuden, mit weißen Tuchsocken. Der Hintergrund verwandelt sich, Vorhänge gehen auseinander und zeigen Frühlingslandschaften; blaues Meer, blühende Wälder, eine nächtliche Stadt, Felsen im Mondlicht. Und während der zierliche Reigen sich schlingt, während schließlich langsam auf schmalen Stegen die Tänzerinnen wieder hinausschreiten, weht immerfort die leisklingende Musik der Instrumente und die feine Melodie der Sängerinnen wie das Miauen von Kätzchen in den Kirschblütenzweigen.

Mission nach Westen

An einem klaren Nachmittag besuchte ich den auf dem Hügel gelegenen, von einer schönen hölzernen Galerie umgebenen Tempel der Westlichen Hongwanji. Es ist bekannt, daß der japanische Buddhismus in eine Anzahl verschiedener Richtungen zerfällt, die oft in sich noch weitere Verzweigungen einschließen. Von großem Einfluß ist die Schin-Sekte. Die scheidet sich in die Abteilungen der Östlichen und Westlichen Hongwanji, die beide in Kyoto ihre herrlichsten Tempel haben. Gebet, gute Werke, Askese, eine weltfremde Lebensweise werden von diesen Orden verworfen. Selbst das Priestertum ist aus ihr fast verschwunden. Von ihrer früheren mönchischen Form ist nur eine religiös-kulturelle Verbindung von Laien übriggeblieben. Als Fürstabt steht an ihrer Spitze Graf Otani, der einer der ältesten und mächtigsten Familien des Landes entstammt. Der Einfluß der Nischi Hongwanji in Japan äußert sich hauptsächlich in Bestrebungen für Volkserziehung, Predigt und populäre Literatur. Das Bedeutende an ihr ist, daß sie nach dem Vorbild der christlichen Missionsgesellschaften ihren Reichtum und ihren Einfluß in den Dienst der Aufgabe gestellt hat, die Ideen ihres gewissermaßen protestantischen Buddhismus auch über die Grenzen Japans hinaus zu verbreiten, ja den christlichen Missionen entgegenzutreten. Ihre Führer träumen von einer Weltsendung des Buddhismus. Unterstützt von dem großen japanisch-panasiatischen Schulverein Dobun Kwai, der die Gleichheit der chinesischen Literatur und Schrift unter den Völkern Ostasiens zur Propaganda für einen engen Zusammenschluß benutzt, arbeitet die Nischi Hongwanji an einer geistigen Durchdringung Chinas und hat vor einigen Jahren, wenn auch vergeblich, für ihre Abgesandten die gleichen Rechte gefordert, die die chinesische Regierung den christlichen Missionen einräumt. Aber auch ohne die Förderung der Regierung ist sie in China eifrig tätig. Ihre Sendlinge bereisen Siam und Indien, besuchen die Lama-Klöster in Tibet und die Zeltlager der mongolischen Fürsten und werden unter den Burjäten des russischen Dauriens angetroffen. Tempel der Westlichen Hongwanji sind an verschiedenen Orten Chinas und Indiens errichtet worden, ihre neuen Tempel stehen in Wladiwostok und in San Franzisko. Man wird nicht fehl gehen, in dem tiefsinnigen schönen Buch des Kaliforniers Prentice Mulford über den »Unfug des Sterbens« einen Einfluß der durch die Literatur der Hongwanji nach Amerika gelangten Gedanken zu vermuten. Der jüngere Graf Otani, der erst vor zwei Jahren die Würde des Fürstabtes übernahm, war auf einer Reise nach Deutschland begriffen und befand sich noch in Indien, als ihn die Nachricht vom Tode des Vaters zurückrief. Er wird als ein moderner Mann geschildert, der der japanischen Armee angehört, sich europäisch kleidet und Automobil fährt. Seine Beziehungen reichen über den ganzen Erdball. Er hat die Residenz seiner Vorfahren in Kyoto aufgegeben und bewohnt eine der Villen, die von den Anhöhen bei Kobe auf das Meer hinabsehen.

In Gedanken verbrachte ich den milden Nachmittag da oben unter den uralten Bäumen im weiten Hof des Tempels. Trotz der Schätze, die er birgt, trotz seiner edel geschweiften Dächer und seiner kunstvollen Galerien gleicht er einer großen Scheune. Ich dachte an die Dome der Heimat und an die Macht eines neuen Glaubens, der uns einmal dort erstehen soll.

Erdbeben

Als das Lehmgebäude, in dem ich eingekehrt war, das einzige weit und breit an der sandigen, von Schilf und Stechmücken bewohnten Landschaft des Telgir Muren in der nordöstlichen Mongolei, – als dieses schwache, ziemlich armselige chinesische Lehmgebäude plötzlich einen Stoß bekam, stand ich auf und sah aus der Fensterluke, deren Papier zerrissen war, denn ich glaubte vorhin ein paar Rinder draußen gesehen zu haben, und es war möglich, daß eines mit aller Wucht seine Hörner in die Lehmwand gestoßen hätte. »Es ist ein Erdbeben«, sagte der Gastfreund und hielt die Untertasse voll Tee in seiner Hand wie lauschend von sich. Als sich nichts weiter regte, schlürfte er weiter. Es begann zu regnen, dann zu schütten. Es war der erste Regen seit vielen Wochen. Und am nächsten Morgen, als ich aus dem Hause trat, war die sandige Steppe eine Wiese, grün von den zartesten Gräserspitzen, die der Regen über Nacht hervorgetrieben hatte.

Dies ist das Unbegreifliche an den Erdbeben auch im kleinen dort draußen. Die meisten dieser Stöße sind, als führe man im Eisenbahnzug über ein Hindernis, das den Wagen einen Augenblick aufhebt und wieder niedersetzt, aber der Zug fährt ja, und der Stoß ist gleich vergessen. Es geschieht selten, daß der Miniaturzug auf der schmalen Eisenbahnlinie seine Räder in die Luft streckt, daß der Pullmannzug stehen bleibt und seine Wagen nach rechts und links auseinanderfallen. Der Mensch steht mit der Balancierstange auf dem langgestreckten, schlangenartigen Leib der japanischen Insel. Er baute die kleinen Eisenbahnstationen aus dem leichtesten Holzgestänge wie Flugzeuge. Sieht man die Landleute im Sonnenschein sich auf den Bastmatten bewegen, die die Teepflanzungen des Hügellandes bedecken, so ist es, als glitten sie auf einem unendlichen Floß über das wellige Gelände. Auch die alten Dörfer erwecken noch zuweilen den Eindruck eines Zeltlagers, wenn sie auch die grauen und moosigen Dächer haben; vielleicht hat manches Dorf seinen Ort längst so gewählt, daß ihm das Erdbeben am wenigsten schaden kann, an sanften Abhängen fester Felsrücken. Aber die großen jungen Städte sind nicht mehr auseinandergezogen, wie einst die Dörfer und die alten Städte es waren, und obwohl sie ungeheure Flächen bedecken und eine eintönige graue Fläche von niederen Dächern bilden, sind sie sowohl Konzentrationen der Arbeit, der Geschäfte, des Wohnens wie der Gefahren. Wohl ragen aus diesen weiten Flächen die Fahnenstangen, an denen beim Knabenfest die mit Wind gefüllten papiernen Karpfen wie ein bedeutender Schwarm lebendiger Wesen gegen den Strom der unsichtbaren Luftflut und des Schicksals schwimmen. Und die Telegraphenstangen mit den wagerechten, regelmäßig geschnittenen Querhölzern geben selbst dem Geflecht der Drähte und der Telephonleitungen den japanischen Stil. Dazwischen ragen die majestätischen Kampferbäume, aber auch große Steinwürfel: Hotels, Museen, Verwaltungsgebäude in einer nichtssagenden europäischen Bauart. In Tokio ist es ein Kranz solcher Gebäude um die von Pinien gekrönten mächtigen Umfassungsmauern des kaiserlichen Palastes, der auch in seinen neuen Teilen nichts als ein weitläufiges europäisches Bauwerk aus der Periode um 1890 darstellt. Man sieht fast mit einem grimmen Hohn, wie die Menschen hier am anderen Ende der Welt den Westländern alles nachgemacht haben, ihre Großstädte mit den Trambahnschienen, die Industrie und das Straßenleben, die Plakate und den Plunder, den Lärm, die Hast, die gefüllten Güterschuppen, das Brüllen der Schiffe, den Schmutz des Bodens und der Luft. Der Boden des alten Europa ist vielleicht fest genug, um die Steinlast der großen Städte zu tragen. Aber man baut schon in San Franzisko nicht mehr dieselben Wolkenkratzer wie auf dem Granitboden von Manhattan. An demselben ungeheueren Rand des Ozeans, in dem von allen Wassern der Erde das größte sich sammelte, am Rand dieser unermeßlichen Lücke, die so groß ist als sei aus ihrem Schlund der Planet hervorgeschossen, der jetzt als Mond die Erde umwandert, bricht immer noch zuweilen die alte Kruste, und das unterirdische Feuer versucht sich Luft zu machen. Dann trifft das Unglück die großen Städte am schwersten, rüttelt die steinernen Gebäude am fürchterlichsten und streut das Feuer über die hölzernen Straßen der enggebauten Wohnungen aus.

Dieses säbelartig geschwungene Inselland hatte nie Zerstörungen durch einen äußeren Feind zu leiden. Es bewahrt die Schätze aller seiner Generationen ohne Unterbrechung. Es liegt, von der See zerrissen, aufgeteilt in große Inselbrocken und Halbinseln, mit stark geschwungenen Buchten, die abermals mit Inselschnüren besetzt sind, im Glanz und im feuchten fruchtbaren Duft des Meeres; seine großen Städte sind wie Gewichte in seiner Mitte. Nur die Erdbeben greifen zuweilen nach dem Reichtum und Leben der Menschen, sie gaben in der Fläche wie in der Höhe diesem Land seinen launischen und schroffen Umriß, sie machten die ganze Insel zum Hausboot, das ein wenig schwankend vor Anker liegt. Yokohama, liegt offen dem freiesten Horizont, an dem ungeheuren Nichts des Meeres, mit den weit ausgestreckten Fühlern seiner Schifffahrtslinien, die nach Vancouver, San Franzisko, nach den Häfen Südamerikas und Australiens zielen. Dahinter in einer dem Meer abgewonnenen Fläche liegt die Hauptstadt, durch die seichte Innenbucht vom Meere geschieden, eine blaue, breite Bai, auf der die großen Dampfer nicht erscheinen, aber weiße Segel, kleine Dampfer und Motorboote in Schwärmen. Ein Geschäftsviertel ragt auf mit schwächlichen Wolkenkratzern. Und an der Inlandsee, dem asiatischen Festland zugewendet, breitet die andere Doppelstadt sich aus, Osaka und Kobe, unübersichtlich in eine entstellte Landschaft eingegossen mit vielen schmalen Kanälen und kleinen neuen Brücken. Hoch und dünn erscheinen die zahllosen Fabrikkamine, denn es sind Blechrohre, mit Ketten angebunden. Hier dachte man noch bei der Konstruktion der Häuser und der Arbeitsstätten an die Erdbeben. Aber im Bau der Städte, in ihrer gewaltigen erwerbseifrigen Zusammendrängung hat man sie mißachtet. Die Züge im Bahnhof folgen einander wie die Stadtbahnzüge einer europäischen Großstadt, die Automobile in den Straßen haben das Tempo von Amerika und führen von allen Seiten die graugekleideten, brillentragenden, schweigenden, zeitunglesenden Menschen zusammen. Aus aneinandergepreßten Vorstadthäusern schauen halbnackte braune Menschen, auf schmalen hölzernen Geländern und in engen Höfen trocknen ärmliche Kleider, und das trübe Gewölbe großer Bahnhofshallen mit schwarzen hölzernen Brücken tut sich auf. Zementgebäude, und hinter den von Kanälen gesäumten Gassen die Masten der Handelsschiffe, die Ziegelmauern der Werften und Arsenale. Fremdartig wie ein Maskenzug drängt sich im Gewühl des Bahnhofs eine kleine Schar weißgekleideter Pilger. Sie tragen Stäbe und Strohmäntel, Kürbisflaschen und leichte Sandalen. Vielleicht kommen sie von einem entfernten Kloster in den Bergen. Seitwärts ist in Reih und Glied eine Schar städtischer Schulkinder aufgestellt, die Knaben mit ihren Schildmützen und grauen militärischen Anzügen, die Mädchen in ihren fast bis zum Boden reichenden stumpfroten oder braunen Röckchen und farbigen Leibchen. Der Fremde thront auf dem hohen Sitz einer Rickscha und fährt Gassen hin, Gassen her durch die wimmelnde Stadt. Hopsend, klappernd durchfahren die Rickschas in unendlicher Reihe die Straßen; Gesichter der Menschen fliegen vorüber, der Fremde landet mit einem glänzenden Anlauf in dem wohlbehüteten Garten vor der Freitreppe des Hotels mit seinen umherlungernden Kulis, seinem Heer von weißleinenen Dienern und einem Dutzend auf den Stühlen der Veranda ausgestreckter Europäer.

Kristallene Pyramide

Die Erdbeben, die Japan zuweilen erschüttern, reichen von Osaka bis hinauf zur nördlichsten Provinzstadt nahe der Bucht von Majushima, diesem berühmten, von Hunderten grüner Inseln und schwarzer Inselchen bedeckten mattsilbernen Wasser mit seinen zahllosen noch kleineren Buchten, wo graue Tempel und fast unzugängliche Dörfchen liegen, da und dort die nackten, mit Zwergfichten bewachsenen Felsen, und die zahlreichen Fischhecken in der bläulichen Seeflut, die einen zarten, leicht verschleierten Himmel spiegelt. Irgendwo auf dieser Linie, noch im Süden, liegt Nara. Und wenn das menschliche Herz um alles Leben zittert, das in den Feuersbrünsten zugrunde ging, so fragt es auch nach dem Schicksal dieser lieblichsten Landschaft, ihrer Wälder mit den zahmen Rehen, ihren Teichen mit den Karpfen, ihren feierlichen Tempeln, in deren Vorhallen ungefüge und verrostete Geschütze von Port Arthur neben Schwertern und Pfeilen von Formosa aufgehoben werden; es fragt nach dem großen Buddha dort hinter dem Tannenwalde, dieser gewaltigen sitzenden Figur aus schwarzem zerrissenem Holz, hinter deren Stirn ein kleines Haus Platz hätte. Nur ein ungeheures Gerüst, ein ganzer Urwald aus miteinander verbundenen Pfosten und Stangen hält diese heilige Figur zusammen. Der Hof des Tempels ist ein einziger Zimmerplatz, gesäumt von Bauhütten; in der Halle daneben stehen Stapel von Bleitafeln wie die Ziegel einer babylonischen Bibliothek. Auf diesen Tafeln sind mit weißer Farbe Namen aufgeschrieben, japanische und europäische Namen durcheinander, Quittungen für die Gaben zur Erhaltung des riesigen Bildwerks; ganz Japan, die ganze Welt nimmt durch ihre Spenden teil an der Erhaltung. Die Freigebigen begleitet ein kleines Blättchen mit dem Dank des Wächters, ein Holzschnitt der Buddhafigur von entzückender Feinheit, eine Erinnerung für immer. Viel Kostbares hat Japan, und ich verstehe, daß die Befehlshaber einiger Landschaften sofort nach dem Erdbeben das Kriegsrecht verkünden ließen. Das Unglück macht Kostbarkeiten herrenlos. Wenn in den großen Städten, wo die Linien der Welt zusammentreffen, Hunderttausende von Menschen sich zusammendrängten, die ein einziges Erdbeben in den Staub wirft, so werden sich an ihrer Stelle sicherlich bald abermals Hunderttausende versammeln mit dem heroischen Fleiß der Ameisen. Nur die kleinen alten Orte versinken für immer. Über Yokohama und Tokio, diese breiten ausgeflossenen Städte zwischen Meer und Hügelreihen, diese nach Amerika schauenden Städte, deren Straßen so gleichmäßig, deren Zierate so klein, deren Schätze so versteckt sind, daß sie in der Eintönigkeit des Grau verschwinden und in denen doch der Mensch zu hausen vermag, wenn nur sein Auge sich immer wieder mit den Wundern dieses Landes füllt, ragt ganz in der Ferne die kristallene Pyramide des Fujiyama. Der Sockel des Berges erscheint gestaltlos wie der tiefe blaue Himmel selber, aber sein Gipfel schwebt wie eine weiße Fächerwolke, unheimlich in seiner Höhe und Anmut.

Japanerschiff

Der Hafen von Kobe mit den stachligen Segeln der langgeschnäbelten Boote, die die Dampfer auf der Reede umschwärmen, verschwindet. Das Schiff, auf dem ich fahre, ist eines der zwanzig Handelsschiffe, die Japan im russischen Krieg erbeutete. Es trägt jetzt den Namen »Amakusa Maru«; gebaut ist es in Stettin und war früher der Transportdampfer Amur, den die Russen in der Hafeneinfahrt von Port Arthur versenkten. Drei Monate lag es auf dem Meeresboden. Die japanische Marineverwaltung ließ es heben, und nun fährt es sauber und wohnlich zwischen Kobe und Dalny hin und her. Graue Porzellantöpfe mit blühenden Azaleen und Rosen, mit feinen Gräsern und Zwergbäumchen stehen auf den Tischen des Salons; das Schiff wimmelt von Beamten, Kaufleuten, Auswanderern, je nach der Klasse, samt ihren kleinen Frauen, ihren Blumenstöcken und papageienhaft buntgekleideten Kindern. Ich bin der einzige Weiße an Bord. Die Einrichtung des Schiffes ist europäisch bis auf die Holztäfelchen, die die russischen Metallschilder vor den Kabinen ersetzen. Der Kapitän trat auf mich zu, als ich an Bord kam, mit den lapidaren Worten: »I am the captain«, und nun stehen wir unter der Kommandobrücke und schauen auf die leichtverschleierte Szenerie der Inlandsee hinaus, dieser prächtigen Meerstraße zwischen bewaldeten spitzen Bergen und Inseln, die schroff aus dem stark blinkenden Wasser ragen. Wir überholen langsamere Dampfer und begegnen nicht selten einem Schwarm von lebhaft geschaukelten offenen Booten, aus denen die Fischer ihre Netze werfen. Geschwinde Dschunken mit hohen Flügeln begegnen uns; durch das Zeißglas suche ich die schmalen schmutzigen Verdecke ab. Meist umrahmen nur die dunklen Luken unmittelbar über dem Wasserspiegel die hervorgaffenden hartgeschnitzten Gesichter. Weiße Leuchttürme zeigen den Weg zwischen den Inseln, und nach dem glänzenden Tage geht der Mond auf wie eine schöne reine Blüte, von deren Widerschein das Wasser blinkt wie zerbrochenes Erz. Von fernen Leuchttürmen huscht ein rosaroter Glanz über die Wolken, die zuweilen erglühen wie über einem Vulkan. In der Dunkelheit der Nacht zeichnen die verstreuten Lichter einer fernen kleinen Stadt die Formen eines Berges.

Unser Schiff fährt bei Nacht durch die Straße von Tsuschima, über das im Mondlicht blinkende nasse Schlachtfeld, auf dessen Grund die Baltische Flotte hinuntergurgelte. Wir sehen am Abend die kleinen berühmten Inseln; sie gleichen einem Lager spitzer Mongolenzelte in öder Steppe. Nach dem Essen versammelt sich die Mehrzahl der Passagiere im hellerleuchteten Deckhaus. Sie spielen das beliebte Brettspiel und trinken grünen Tee dazu. Wie krachendes Holz schallt zuweilen das Lachen eines stämmigen, zu Späßen aufgelegten Mannes hervor, eines Bauern von Hokkaido, der dem japanischen Parlament angehört, lange Jahre in Amerika verbrachte und diese Überfahrt mitmacht, um sich einmal die Mandschurei anzusehen. Auf seinen Vorschlag wird nachher eine regelrechte Vorstellung veranstaltet. Einer der Aufwärter in seiner weißen Leinenjacke macht den Geschichtenerzähler. Seine einzigen Requisiten sind ein kleines, von einer Serviette bedecktes Pult, eine Teetasse und ein Fächer, und durch seine drolligen Vorträge rührt er die Zuhörer zur größten Heiterkeit. Ein Kaufmann und ein Eisenbahnangestellter unter den Passagieren geben melodramatische Rollen zum besten. Eines der Stücke stellt nichts weiter dar als das Benehmen eines alten Bettlers, dem ein junges Mädchen den Kopf wäscht. Aber welche Skala der tragischen und drolligen Grimassen! Das gesamte Auditorium verharrt stundenlang in seiner aufmerksamen Ruhe und spart nicht mit den Äußerungen seines Entzückens. Die Musikdarbietungen allerdings, die den japanischen Zuhörern das meiste Vergnügen machen, bereiten mir Kopfweh. Ein Virtuose spielt auf der kastenähnlichen Gitarre, ein anderer bläst dazu die Bambusflöte, endlos, stundenlang. Da sehe ich lieber von draußen durch die vergitterten Fenster in den mit Menschen gefüllten Salon hinein. Manchmal verirrt sich einer der Flötentöne hinaus zu dem ruhevollen Rauschen des Schiffes auf dem Meer.

Es sind die Nächte des Kometen. Der Kapitän hat mir versprochen, mich um vier Uhr morgens wecken zu lassen. Es ist noch dunkel, die Luft ist warm. In flatternden Nachtkleidern suchen wir mit unseren Gläsern den Himmel ab, an dem das große Ypsilon der Milchstraße schimmert. Am östlichen Horizont zeigt sich schwach, gerade erkennbar, der leicht geneigte Strahl des himmlischen Wanderers, er gleicht dem Lichtschweif eines verborgenen Scheinwerfers, der in das Weltall gerichtet ist. Doch bald, kaum daß es unser Staunen erregte, schwindet das Phänomen in der Morgendämmerung.

Noch einen Tag hält das Schiff die Spitze zum leeren Horizont gerichtet. Im Osten ragt die schroffe dunkelbraune Küste von Korea mit ihren weißen Wachttürmen. Im Westen winken die kahlen rötlichen Hügel des Vorgebirges von Schantung, die den Hafen von Weihaiwei umschließen. Dann, aus dem frischen kobaltblauen glitzernden Meer hervor sichten wir in der goldenen Nachmittagssonne die kahlen Hügelrücken der Kwantung-Halbinsel und erreichen den weiten Halbkreis der Bucht von Daljenwan.

Unsere Passagiere an Bord beginnen sich zu europäisieren. Das Volk, das gestern noch fast nackt auf dem Vorderdeck herumlungerte, erscheint jetzt in billigen Khakianzügen. Die Mädchen kauern auf den Schiffsplanken mit dem Spiegel und dem Läppchen in der Hand und strählen mit feinen langstieligen Kämmen das schwarze Haar. Eine Dampfschaluppe kommt heran, die Hafenärzte klimmen an Bord. Und während noch auf dem Vorderdeck die Besichtigung stattfindet, sucht das Schiff vorsichtig in den Untiefen des Hafens von Dalny seinen Weg zum Kai. Eine von der Schraube aufgewühlte Schlammwolke trübt das Wasser, ein paar Augenblicke sitzen wir fest. Doch nach einigem Stilliegen gelangen wir weiter zu der aus Betonblöcken gebauten Mole. Landeinwärts stehen in der Luft die Umrisse moskowitischer Kirchentürme. Güterhallen und Schuppen verdecken noch alles Nähere. Vor den Güterzügen der Hafenbahn und den roten Karren der Post steht eine Menschenmenge, aus der die roten Kappen der Gepäckträger hervorleuchten, und bricht, während das Schiff sich fest ans Ufer legt, in Lärm aus.


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