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Mainlandschaften.

In den gelben Kornschwaden, hinter Girlanden von Mohn arbeiten die Mäher, braungebrannte Rücken glänzen von Schweiß. Da und dort ragt ein weißes oder schwarzes Kopftuch über die Ähren. Ein Kinderwagen steht am Feldrain. Wagen, hoch mit Heu beladen, wanken kettenklirrend ins Dorf. Junge Leute wandern in Rudeln auf der Landstraße, barhäuptig, manchmal ein rotes Kopftuch mit abstehenden Zipfeln umgebunden.

Das Auto saust mit gleichmäßigem Schnarren seine schnurgerade Strecke. Manchmal überholt es Radfahrer, die unverdrossen am Grabenrand dahinstrampeln. Manchmal findet man eines ihrer kleinen Lager irgendwo abseits, im Schatten des Waldrandes, unter den Büschen an einem Bach. Auf einmal werfen Wälder ihre Schatten über den Weg, manche Stellen duften heiß nach Harz, nach Moos und Pilzen. Die Ebene öffnet sich wieder, ferne Höhenzüge lenken den Blick ins Blaue. Weiße Sommerwolken liegen still, wie Butterlaibe auf dem Ladentisch.

Es gibt Unterschiede zwischen den Landschaften der oberen und der unteren Lahn, dann ändert es sich wieder zwischen Lahn und Eder. Es ist reizvoll, die Flüsse in ihrer verschiedenen Richtung zur Sonne zu verfolgen. In ähnlicher Weise wird der Wanderer die Unterschiede zwischen Main und Neckar empfinden oder auch die Übergänge zwischen Pfalz, Ried und Wetterau. Immer bleibt er auf den Spuren des fränkischen Dorfes, es ist überall die Haufenlage, und das Fachwerk bestimmt das Bild der Häuser. Im Hessischen wird nur die Struktur des Fachwerks gleichmäßiger, schachtelartiger, deutlicher in einem ausgeprägten Schwarz-Weiß. Der Grundzug der Landschaften bleibt das starke Grün, das Blond der sommerlichen Felder, das Blau des Himmels, dazu das Weiß, Rot und Schwarz, das von den Siedlungen, von den Menschen kommt. Und überall ist es dieselbe fleißige Arbeit auf den sorgfältig abgeteilten Feldern. Im Frühjahr die unablässige Bestellung, jetzt das eifrige Ernten in Feldern und Gärten. Die Dörfer scheinen ausgestorben.

Wie verschieden doch auch die Dörfer unter sich sein können! Viel macht die Anlage, die Sauberkeit, die Art der Bewohner. Es gibt Dörfer, die dem Durchfahrenden schlechthin gleichgültig und häßlich erscheinen. Andere haben dank irgendeiner Eigentümlichkeit, durch ihre Gärten vielleicht, durch die Lage an einem Hang, durch ein altes Gasthaus, durch die Schieferhaube der Kirche, ihren unnachahmlichen Reiz. Eines liegt mit breiter, eintönig ausgerichteter Hauptstraße wie leer in der Sonne. Die Hauptstraße des nächsten Dorfes ist kühl und schattig, mit breiten, unterhaltsam belebten Höfen. Man durchfährt ein Dorf, das gewiß nicht zu den reichen gehört, aber es erscheint charaktervoller, eigenwilliger als die andern – die Straße ist eingefaßt von lauter gleichhohen, ebenmäßig gebauten, schwarzweißen Fachwerkhäusern, die mit der Schmalseite zur Straße vorgerückt sind wie Klammern. Streng wechseln da die Häuser und die Höfe. Dann wieder kommt ein Dorf, dessen lehmige Wände sich fast orientalisch vom Leben der Straße abkehren. Die Höfe sind von hohen Mauern umschlossen, nur das gewölbte Hoftor mit den schön bearbeiteten steinernen Pfosten ist ihr Schmuck.

Zuweilen umlagert ein Dorf ein altes Schloß, einen Park mit bröckelnden Mauern und rostigen Gittern. Die Wipfel des Parkes scheinen zu einem Wald zusammengewachsen, fast ohne Pfad breitet die Wiese sich aus. Doch vielleicht dasselbe Dorf setzt sich fort mit neugebauten, kleinen, fast städtischen Landhäusern an der Straße. Das sind Einfamilienhäuser mit Vorgarten, erbaut von Städtern, die nichts mehr wollen als friedliche Tage in einer friedlichen Gegend, in einer billigen, ländlichen Umgebung. Kletterrosen verhüllen Lauben und Staketen. Wie stolz sieht die alte Apotheke am Marktplatz aus. Sie ist etwas wie ein städtisches Gebäude mitten in der dörflichen Umgebung, doch das seit Generationen gepflegte Spalier kleidet jetzt das ganze Haus in weiße Rosen.

*

Frankfurt liebt seinen schönen Fluß, es hat ihm als schönste Zier den Dom an die Stelle gesetzt, die einst die Furt der Franken in dem noch ungebändigten Gewässer bezeichnete. Noch andere stattliche Gebäude reihen sich an den Ufern, helle Häuser, emporgehobene Brücken. Der Saalhof ist noch älter als der Dom, der Platz vor der Holzpforte war einmal der Staden, vor dem die Mainzer Marktschiffe und die Schiffe aus dem Frankenland das Korn und die Weinfässer absetzten. Flußabwärts zeigt sich der weite Horizont des Rheines. Dort ist in unseren Tagen ein von klargeschnittenen, grünen Böschungen eingefaßter Stausee entstanden, über den die Autostraßenbrücke wie ein Balken hinwegsetzt, eine Brücke als Schiene und als Rinne, wie die Holzbrücken von einst; nicht mehr Bogen wie die steinernen Brücken es waren.

Solange Menschen in Frankfurt aufwachsen und heimisch sind, wird es ihnen eine Verlockung sein, den Fluß zu erforschen, der von weither aus blauen Bergen kommt. In geheimnisvoller Weise wird dieser Fluß jetzt vorbereitet, ein Weg zwischen Rhein und Donau zu werden. Unerschöpflich in seinen Stimmungen ist der Fluß und doch zu jeder Jahreszeit derselbe. Zwischen den häuserreichen Straßen und Ufern der Stadt ist er schillernd und vielgestaltig geblieben. Es gibt noch viele Städte mainaufwärts. Wer wollte sie alle erforschen? Wer aber einmal begann, ihnen Besuche zu machen, den reizt es zu Wiederholungen. Zwischen den Städten liegen die Städtchen und die Burgen, die Bauernnester, die Parks. Die Kirchen sind rot wie die Steinbrüche, deren gewaltige Blöcke aus dem Walde leuchten. Die Weinbauerndörfer pflegen zugleich Fischerheimaten zu sein. Dann wieder liegen herrschaftliche Schlösser zwischen rauschenden, verschwiegenen Wipfeln.

Der ländliche Main fängt schon bei Mainkur an, wo bei dem Gaswerk und den roten, schnittigen Fabrikgebäuden von Fechenheim die technische Landschaft der Großstadt auf einmal abbricht. Drüben ist zwischen Park und Fabrik die Breitseite des schweigsamen Schlosses Rumpenheim (7 km) sichtbar, hier aber läuft das Auto rasch und geschmeidig die Landstraße entlang, deren Pflaster wunderbar hart und glatt ist. Auf der Anhöhe über den Stoppelfeldern liegt Hochstadt (14,9 km). Die Pappeln der Allee gehen über in knorrige, bäurische, graubelaubte Apfelbäume. Die Häuser von Dörnigheim bilden schon ein echtes, altfränkisches Haufendorf. Von der breiten Mittelgasse, zwischen Fachwerk und Mauern aus rotem, verwittertem Sandstein, genügt es, in eines der vielen Gäßchen einzubiegen, gleich ist der Gast auf der Terrasse beim Apfelwein. Draußen vor dem von Linden beschatteten Wirtshausgarten lehnen Fahrräder an der Mauer, Autos parken am Strand, der Fluß hat seinen Glanz vom Abendhimmel. Traumhaft, eine schwarze Silhouette, kommt die Fähre über das zitternde, spiegelnde Wasser. Eine Herde Gänse wird drüben nach Hause getrieben, in den Bäumen steht der Mond.

Noch war es keine Reise bis hierher, doch schon glaubt man, fern der Großstadt zu sein. Man ahnt viel Vergangenes am Fluß der Bauern, der Fischer und der Äbte, die hier ihre Feste feierten und ihre Fehden führten. Der Main ist der Fluß des alten Reiches.

Frankfurt ist die einzige Weltstadt am Main, aber es steckt in ihr die alte Reichsstadt, die weiß, wie viele Flüßchen und Bäche aus den Wäldern und von den Hügeln zwischen Spessart und Frankenwald im Main zu einem Wasser zusammenfließen: Ackererde, Pflanzenreste, von den Ufern mitgerissen, füllen den Fluß mit ihrem Wirbel, um endlich als das trübere, schwerere Wasser von dem hellen breiten Rhein sich abzuheben, in den der Main im Wiesenland zwischen Hochheim und Gustavsburg sich ergießt. Noch den ganzen Rheingau entlang fließt der Main am rechten Rheinufer in seiner eigenen Richtung, die er dem größeren Strome aufzwingt. Mit ihm schlüpft er in das Binger Loch hinein, das dann in seinen Stromschnellen die beiden Wasser endgültig durcheinandermischt. Der Main fließt durch vieler Herren Länder. Nirgends ist dieser altertümliche Ausdruck treffender. Die Reise geht durch preußische, hessische, badische und bayerische Gebiete. Aber sei es in Höchst oder in Aschaffenburg, in Frankfurt oder in Hanau, in Wertheim oder in Miltenberg, in der Würzburger Gegend und im Bambergischen, – überall prägen die landesherrlichen Erinnerungen an alten Grenzsteinen und Landesmarken, an Wirtshausnamen und Wappenschildern sich aus. Wir empfinden das heute als Romantik, als ein Zeichen der vielen Gestaltungsmöglichkeiten, der Fügsamkeit und Bildsamkeit des deutschen Wesens, das von so vielen getrennten Landschaften her bestimmt wird. Uns tut nicht mehr weh, was vielleicht noch unseren Vätern bitter wehtat. In der Landschaft des Mains sind doch besonders viele Erinnerungen an diese Vielgestaltigkeit lebendig.

Sollen wir von den Akazienalleen von Hanau (17 km) sprechen, von der pyramidenartigen Denksäule, da wo die Wegekreuzung zum Schauplatz der längst vergessenen Schlacht von Dettingen (29,6 km) führt? Die Landstraße geht durch tiefe Forsten, sie eilt am Waldfriedhof von Wolfgang vorüber, wo in der Zeit des Weltkrieges die bei einer Pulverexplosion ums Leben gekommenen Menschen begraben liegen. Die Dörfer bekommen eine neue, breitere, nicht mehr hessische Art. Das Dorf Dettingen zeigt am Rande der neugebauten Gassen seine neue, fast scheunenartige Kirche mit dem kurzen stumpfen Turm. Derbe Apostelgestalten stehen am Eingang, die Wände drinnen hat der Hanauer Maler Reinhold Ewald mit Bildern aus dem Leben Christi ausgemalt. Es sind kühn gesehene Szenen, regenbogenfarbig bunt wie Jahrmarktsbilder; manche von düsterer, schwefliger Stimmung wie nur irgendeines der Altarbilder des fränkischen Meisters Matthias Grünewald.

Bald zeigen sich von weitem die vier mächtigen roten Türme des Aschaffenburger Schlosses (42,2 km) über den Pappelreihen der Flußlandschaft. Das ist das Schloß der geistlichen Landesherren, die zweihundert Jahre lang lieber hier als in Mainz residierten und gern in die Wälder des Spessarts zur Jagd ritten. Hart am Mainufer steckt die Stiftskirche mitten in der Stadt, sie bewahrt an ihren Altären Kostbarkeiten der Kunst, in der Sakristei einen liegenden Christus, der zu den bedeutendsten Werken Grünewalds zählt. Schön ist der Blick von der Mainbrücke auf die vom Hügel breit emporgetragene Stadt. Da ist ein Kirchturm, dessen Schieferhaube wie ein schwarzes Glöckchen vom Himmel niederhängt. Vor den Mauern am kräftig strömenden Fluß und den überhängenden Büschen ruhen Kähne. Auf der Höhe leuchtet ein weißes flaches Haus, das Pompejanum, das der Bayernkönig Ludwig I. aus römischer Erinnerung vor hundert Jahren hier bauen ließ. Nun ragt es vornehm und fremd und wie ein Stück bleiches Heimweh aus den wilden Laubmassen des Parks.

Aschaffenburg ist noch so nah bei Frankfurt, und doch spürt man schon deutlich hier ein anderes deutsches Land, eine zwar verwandte, doch süßere Luft.

Die Landstraße entfernt sich jenseits der Brücke vom rechten Ufer des Mains, um sich im Bogen an den Fluß zurückzufinden. Reihenhäuser einer Siedlung liegen hell und neu in den Feldern. Bald kommt ein großer, vielleicht sehr alter Gutshof. Steinerne Löwen kauern auf den Pfosten der Tore. Ein reiches Wappen, ein zum Hof gerichtetes Wohnhaus mit zierlicher Veranda und ein Krönchen am Giebel verraten den einst fürstlichen Wittelsbachischen Besitz. Die gefüllten Ställe und Scheuern, die Reihe der leeren Milchkannen vor dem Wirtschaftsgebäude verraten das tätige Leben in unserer Zeit. Mitten im Hof ragt aus einem verwitterten Rondell das Taubenhaus. Draußen neben der Kapelle steht unter mächtigen Linden ein Denkstein, mit barocken Schnörkeln üppig verziert. Auf ihm steht in Frakturbuchstaben ein frommes Gedicht zur Erinnerung an irgendeine vergessene Untat zu lesen:

»Flieh, o Mensch, der Sünde Gift,
Welches solche Untat stift.«

Wir fahren durch Obernburg (52,1 km), ein großes einst befestigtes Dorf, das uns aus dem zur Landstraße gerichteten Durchgang seines Wehrturmes wieder entläßt. Hinter Feldern und Baumstücken erscheinen Hügel, mit Unkraut bewachsen, doch in sorgsam gemauerten Terrassen abgesetzt. Das sieht aus wie aufgegebener Weinbau, lohnte hier die Rebe die aufgewandte große Mühe nicht? Das Maintal wird waldiger und enger, doch mancher Winkel über den Fluß bietet Windschutz und freien Ausblick für kleine, einsame Wochenendhäuschen. Wieder beginnen Bohnenfelder, sicheres Anzeichen einer Ortschaft. Wir lenken in altertümliche Straßen und seitwärts zum Main. Ein guter Geruch nach Holz und Teer brütet über dem Fluß. Auf Sandhaufen und auf den Kanten der Ufermauer lagert in sommerlicher Buntheit, mit gerösteten Armen und Beinen eine Ausflugsgesellschaft. Neugierige schauen in ein Segelboot hinab, das seine Reparatur erwartet. Kastanienwipfel beschatten die Stadtmauer. An einer Scheune steht in großen Buchstaben die Aufschrift: »Neubau und Reparatur von Renn- und Gigbooten, Motorbooten, Rettungsnachen aus Eisen und Holz.« Auch Abstellraum für Ruderboote ist vorhanden. Das ist Wörth, ein richtiger kleiner Hafenort. Auf der Schiffswerft gegenüber rasseln die Niethämmer, ein paar Lastkähne sind aufs Trockene gelegt, ein schweres schwarzes Mainboot ankert davor. Es ist, als müßten jeden Augenblick noch mehr Schiffe den Strom herabkommen. Fritz Böhle hat sie noch gemalt, diese breiten hölzernen Mainboote, am langen Ruderbaum der Schiffer mit dem Äpfelweinkrug an der Seite. Diese Art Kähne wird freilich auf dem Main bald verschwunden sein, es kommen auch hier die genormten Kähne aus Eisen und ihre Zugtiere, die kleinen flachbordigen Dampfer. Nur die Flöße schwimmen geruhsam wie immer ihren Weg aus der Lohrer, Bamberger und Lichtenfelser Gegend den Main herab, um dann im Mainzer und Schiersteiner Hafen zu riesigen Rheinflößen zusammengestellt zu werden.

Allmählich bekommen alle Ströme und Flüsse Deutschlands ein neues Gesicht. Schon ist die Umwandlung des Neckars in einen modernen Großschiffahrtsweg gefeiert worden. Der Main will nicht zurückbleiben, sein Ausbau schreitet voran. In weiten Abständen stehen die Kraftwerke, teilweise noch als Baustellen, quer im Fluß. Die tiefen Schleusenkammern, die höheren, zementfarbenen Böschungsmauern, das sind die neuen Linien in der Landschaft, dem technischen Zeitalter angehörig wie die lang dahinstelzenden Prozessionen der Telegraphenstangen.

Klingenberg am Main

Aber so viel Unruhe wie bei anderen Flüssen ist am Main nicht zu zügeln. Er bleibt sich gleich in seiner heiteren Gelassenheit, selbst die Kraftwerke fügen nur einen einzigen helleren Strich in die Landschaft mit den rosa Abhängen, den goldgetupften Wiesen, den blaubespritzten Weinbergen. Und Weinberge beginnen nun alle nach Süden schauenden Hügel zu bedecken. Auf einmal geht es, eben bei einem solchen Kraftwerk, quer über den Fluß. Drüben liegt Klingenberg (61,7 km).

Hier tritt die Bergwand kräftig vor. Sie steht als ein breiter Kegel über bemoosten steilen Dächern, über dem spitzen Kirchturm mit dem kunstvoll geschmiedeten Kreuz, über weißen breithingelagerten Gebäuden, die mit ihrem Garten an das alte Pfründnerspital in Cues an der Mosel erinnern. Die Bergflanke trägt einen breiten, dreieckigen, an den Seiten sorgsam von Mauern eingefaßten Rebengarten, dem oben die Burgruine aufgesetzt ist wie ein Schmuck. Die Franzosen konnten wohl das Schloß dort oben zerstören, aber nicht den Ruhm des Klingenberger Roten, dessen schwarze Traube hier aus einer feuerfarbenen Erde wächst. Ob Sommer oder Winter, noch immer machen Jahr um Jahr die Herrengesellschaften von Würzburg oder Frankfurt sich auf, den Klingenberger zu probieren, von dem es schon im uralten Lobspruch heißt: »Zu Würzburg an dem Stein, zu Bacharach am Rhein, zu Klingenberg am Main, da wächst der beste Wein.«

In einer tiefen Toreinfahrt an der Gasse tragen eben die Küfer eine Menge dunkler Flaschen aus dem Keller, Lastautos halten draußen. In das bäuerliche Leben der Gasse mischt sich die Fröhlichkeit einiger Besucher, die mit roten Köpfen und in Hemdsärmeln aus der Gaststube herausschauen. Schmale, vorn ein wenig abgeflachte Giebel, zierliche Erker hängen über den Gassen, die durch die schräg vorgebauten Kellertüren und die mit Pflanzen geschmückten Treppen nicht breiter werden. Autos und Motorräder finden nicht überall Durchlaß. Wozu auch? Es ist Mittag. Vor ihren Türen sitzen Leute im kühlen Schatten. Beneidenswerte Bauern, denkt der Fremde, dem einmal zu Ohren kam, daß die Bewohner von Klingenberg keine Gemeindesteuern zu zahlen brauchen. Im Gemeindebesitz sind Tongruben, die so viel abwerfen, daß den Bürgern von Klingenberg am Ende des Jahres sogar noch Geld ausgezahlt und Holz geliefert wurde. Wenigstens bis zum Weltkrieg war es so. Wie es jetzt damit bestellt ist, vermag der Besucher in Kürze nicht zu ergründen, er wendet sich dem angelehnten Tor eines Gutshofes zu, der mit neuen hohen Mauern einen nicht unbeträchtlichen Teil des Dorfes einzugrenzen scheint. Dem Eindringling zeigt sich ein weiter Hof, an der Seite das Schloß mit dem von hölzernen Säulen gestützten Vordach, rings die Remisen, die Scheunen, die Ställe. Ein steinerner Brunnen steht da, seine Pfosten tragen das Schmuckwerk einer von Kugeln festgehaltenen, fächerartigen Muschel. An den Dübeln hängen die Seile, noch zieht man also das Wasser aus dem kreisrund ummauerten Brunnenloch empor. Wieviel Menschen und Vieh mögen wohl schon vom Wasser dieses alten Ziehbrunnens getrunken haben, der fast versteckt, fast nebenher seine Jahreszahl 1350 trägt. Im warmen Rot seines Sandsteins steht der Brunnen stolz und einsam im leeren Hofe, ein wenig außerhalb des Schattens hoher Bäume, die hinter ihm aufgewachsen sind und ein kleines Auto fast verstecken.

Fluß und Landschaft ziehen einen fast geraden Doppelweg. Der große Knick kommt erst später, der dann gleichsam ein Dreieck aus dem Odenwald schneidet, um es dem Spessart einzusetzen. Dort im Knick liegt Miltenberg (72,3 km). Aber zuvor kommen die Steinbrüche, deren würfelförmige, rote Klötze und Wacken wie in geöffneten Riesenschränken am Rand der Wälder liegen, Steinvorräte, aus denen noch einmal ein Frankfurter Dom, ein Deutschherrnhaus, ein Aschaffenburger und Mainzer Kurfürstenschloß im Rohzustand herausgebrochen und den Fluß hinabgefahren werden könnten.

Wir kommen jetzt durch das Dorf Laudenbach (64,5 km), das in sich einen seltsamen Gegensatz ganz ruhig und selbstverständlich vereinigt – einen langgestreckten, anscheinend verwilderten Park auf der einen Seite der Straße, auf der anderen Seite eine ganze Menge neugebaute Häuschen mit kleinen Vorgärten. Das sind keine Bauernhäuser. Ein alter Mann, der mit seinem Rechen vom Feld kommt, erklärt es uns, er nennt den Parkbesitzer, dann spricht er von den Kleinrentnern, die sich mit Vorliebe hier am Rand dieses Dorfes niederlassen. Auch Sommergäste sind viele da. Im Sommer ist es ein immerwährendes Kommen und Abreisen, nach dem Abendessen wimmelt die Straße von den Fremden, die ihren Spaziergang machen. Am Wald sind Bänke für sie aufgestellt, Jagd und Fischerei gibt es auch, was will man mehr, wo das Leben hier so billig ist, das Glas Äpfelwein nur 12 Pfennig.

Das nächste Dorf zeigt wieder ein gänzlich anderes Gesicht. Es hat mit seinen hohen Scheunen, Mauern und Verwaltungsgebäuden gleich den Ausdruck einer ländlichen Residenz, es heißt Klein-Heubach (68,4 km), und seine architektonisch streng geschlossene Hauptstraße führt direkt auf den Eingang des Parks, dessen Portal zwei große herrliche Löwen bewachen. Dies ist denn auch ein echter kleiner Herrnsitz, die Residenz der Fürsten von Wertheim–Freudenberg–Rosenberg, die wie ihre Nachbarn, die Fürsten von Leiningen im Odenwaldstädtchen Amorbach, zu den Standesherren aus den mediatisierten Fürstenhäusern des alten Reichs gehören. Tief im Park, durch das Gitter sichtbar, das die Wanderer, die Ackersleute und die Autos an der Seite entlangführt, liegt das zweiflügelige, aus rötlichem Stein gebaute Schloß. Unsere Autokarte macht auf ein rührendes Denkmal aufmerksam, das auf dem einsam in den Feldern liegenden Friedhof des Ortes Klein-Heubach zu sehen ist: eine schlichte, mit einem Degen und einem Eichenkranz geschmückte Pyramide, »dem Banner der freiwilligen Sachsen« gewidmet, die beim Umkippen der Miltenberger Fähre zur Zeit der Freiheitskriege ertrunken waren. »Neun gefundene Leichname von den am 12. April 1814 verunglückten Sachsen wurden hier eingesenkt« steht auf der Vorderseite zu lesen. Auf der Rückseite: »Liebe und Mitgefühl im fremden Lande hat den Edlen dieses Denkmal errichtet.«

In fremdem Lande! Das war hier am Main im Königreich Bayern, im Fürstentum Wertheim und zu der Zeit, als Deutsche gegeneinander fochten.

Miltenberg (72,3 km), das alte Städtchen, ist doch beträchtlich größer, als es einer in Erinnerung hat, der es einmal vor Jahren an grauen Spätherbsttagen sah. Die Erinnerung an enge, dunkle Gassen war sehr deutlich geblieben, der Eindruck von einem am Berge hängenden Marktplatz und an einen harten Kletterweg durch Weinberge zu einem Stück Wald auf der Höhe, wo sich dann im Dickicht die Spuren alter Wälle zeigten. Vielleicht die Reste von Schanzen aus dem Dreißigjährigen Krieg, vielleicht aber auch die Steinwälle der vorgeschichtlichen Fliehburg, die einmal auf dieser Höhe über dem Main errichtet war.

Weiträumig beginnt der zwischen Berg und Mainufer hingezogene Ort, wenn auch der Bahnhof mit seinen Güterwagen und Geleisen sich ziemlich eng an der Seite des Flusses hält. Ein strahlend helles Mainbild tut sich auf, eine schimmernde Wasserfläche mit schilfbewachsenen Ufern. Über den Gartenmauern, den Dächern der Stadt ragen brüderlich die kräftig abgesetzten, gut gegliederten Türme der Kirche, in vielen grünen Wipfeln steigt die Stadt ein wenig bergan. Das Flußbild wird begrenzt von einer eisernen Brücke, man sieht Autos, Fuhrwerke in dem gleichsam durchsichtigen Gestänge, eine Kolonne junger Leute marschiert singend herüber, die gebräunten nackten Oberkörper der Marschierenden glänzen in der Sonne. Vor der Reihe kugelig geschnittener Akazien trocknen Fischernetze am Flußufer. Ein mit Fahnen geschmücktes Dampferchen ist zur Abfahrt fertig, von einer lärmenden Kinderschar besetzt. Selbstbewußt und leise gleiten ein paar breitgebaute Autobusse vor den alten Hofmauern am Mainufer vorüber, hier wirken sie noch nicht aufdringlich, gleichsam wie Angehörige einer fremden Herrenschicht, als die sie drinnen im Städtchen erscheinen. Ein paar dieser Fahrmaschinen machen Rast in der Gasse über dem Marktplatz, eine steht vor der Haltestelle am Straßenrand, bereit, Fahrgäste in das nahe Bad Mergentheim mitzunehmen. Unheimlich sind diese gläsernen Wagen vor den Giebelhäusern, die wie seit Jahrhunderten ihren Schatten über die sommerwarmen Straßen legen. Ein paar Radfahrer humpeln unbeholfen genug über das derbe, von den Karrenrädern vergangener Zeiten zwar glattgeschliffene, doch nicht zerstörte Pflaster. Ein Mann mit weißer Mütze steht vor dem Eiswagen, ein blaugekleidetes Kind mit schwarzen Zopfschnecken hinter den Ohren leckt fröhlich an seinem Tütchen Himbeereis.

Seltsam ist das alles, aber auch überaus lebendig, der Gegenwart zugehörig in der gar nicht verträumten, von Straßenbauten, Geschäftsanzeigen, Plakaten, Fahnenstangen ganz für das Heute hergerichteten Stadt. Die Häuser fast alle sind aus früheren Jahrhunderten, die anders, schmäler, steiler bauten als wir, mit Balken, die als Fachwerk die Steine stützten, mit kleinem Raumgewinn in Erkern, die gleichsam angeklebt sind, und mit höheren Stockwerken, die ein wenig überhängen. Diese Häuser scheinen einander zu schützen und zu stützen, sie sind kerngesund geblieben, und fast jedes Haus trägt irgendein Zeichen, eine Zierart, die auch zu uns noch spricht. Hier einen Spruch über der Tür oder vor dem alten Wirtshaus, das außer Scharen von Reisenden, von Wanderern, Kaufleuten oder Gelehrten auch Feldherren, sogar Könige unter seinem mächtigen Schieferdach beherbergte, das gemalte eiserne Schild. Es stellt den Riesen Goliath vor mit dem Schwert und dem Sternzeichen darüber. Ein anderes Haus trägt an seinem geschnitzten Balken außer der Jahreszahl ein gekröntes Haupt und ein mit dem Pfeil durchbohrtes Herz.

Auf dem Marktplatz aber steht unberührt wie seit langer Zeit der Brunnen mit der dünnen, oben mit Blumen geschmückten Säule, aus deren Röhren vier feine Wasserstrahlen plätschern. Und an der Ecke der Kirche gegenüber ragt hold das Bild der Maria mit dem Kranz von Sternen um das Haupt.

Am Ufer des Mains, nicht weit davon, sitzen Gäste auf der Wirtshausterrasse bei gebackenem Mainfisch und Gurkensalat und einem Schorle. Das weiße Dampferchen mit den Fahnen und den Schulkindern ist abgefahren, die Wellen klatschen im Winkel der steinernen Böschung gegen die Kähne.

*

An welchem Flusse Deutschlands gibt es noch zwei so nah beieinander gelegene, einander so ähnliche alte Wunderstädte? Beide sind mit ihren alten Dächern und roten Felsen in Wälder eingebettet. Beide könnten Klein-Heidelberg heißen, so altertümlich-traulich, aber auch lebendig sind beide, sowohl Miltenberg wie Wertheim am Main.

Heut haben wir am heiteren, hellen Flußufer von Miltenberg zu Mittag gegessen, aber wir kommen bequem zurecht, um an der Eingangsstraße von Wertheim, jenseits der Tauberbrücke, im schattigen Gastzimmer der Konditorei eine Tasse Kaffee zu schlürfen und noch ein Eis dazu; der Sommertag ist heiß. Die Landstraße folgt dem großen Bogen, den der Main zwischen den beiden Städten macht, auf der Innenseite. Die Landstraße ist ein wenig kürzer als der Fluß, aber sie kürzt nicht eine ganze Landschaft ab wie nachher, wo sie dann von Bettingen quer über das Land nach Würzburg zielt und den viel größeren, engeren Mainbogen, der bis nach Gemünden zur Einmündung der fränkischen Saale hinaufführt, sich selbst überläßt. Der Bogen des Flusses, wie er auf der Karte erscheint, erinnert an eine zurückschnellende Peitschenschnur. Die Landstraße sieht in der Zeichnung schlaffer aus, aber sie läßt sich besser fahren. Und auch auf dieser kurzen Wegstrecke zwischen den beiden gleich altertümlichen und wohl auch gleich großen Nachbarstädten hören die Überraschungen, die schönen Sichten nicht auf.

Zuerst Bürgstadt, ein sicherlich altes Dorf, dessen jüngerer Teil auf ein schmales Rathaus hinführt, das mit leuchtenden zeitgemäßen Plakaten beklebt ist. Doch dieses etwas gebrechliche Rathaus und die Kirche in der Nähe mit ihrem verbauten Mauerwerk erwecken den Eindruck einer in verschollenen Jahrhunderten steckengebliebenen Burg und Stadt, die sich erst später mit dem Dorf umgab. Die Kirche jedenfalls scheint in ihrer Anlage noch den Keim einer wichtigen Siedlung zu verraten, die vielleicht einmal Stadtrecht besaß. Noch steht sie wie das Bollwerk einer Festung auf ihrem sandigen Platz, der jetzt anscheinend als Schulhof dient, aber früher sicherlich der von Bäumen und Gräsern beschattete Friedhof war. Die Grabsteine, die noch übrig sind, lehnen an der Kirchenwand. Seltsames Meißelwerk ist über dem breiten Eingang der alten Bauernkirche. Man muß diesen Eingang ums ganze Kirchenhaus herum suchen, dann staunt man vor der Höhe, Größe und Kühle des Gewölbes und vor dem Reichtum seiner Altäre im Chor. Eine prächtig vergoldete barocke Kanzel schwebt über den abgeschabten Schemeln und Bänken. Die Heiligenfiguren an den Wänden haben vergoldete Gesichter, sie halten goldene Schilder und Palmen in den Händen. Vornehme Epitaphien sind in die Wände eingemauert, die Wände der Kirche verraten ein noch höheres Alter. In der Vorhalle werden die Requisiten der Dorfprozessionen aufbewahrt, der Baldachin, die schweren vergoldeten Traglaternen. Außen ist der Kirchenbau von verwinkelten Galerien und Stiegen berührt. Ein großer Bauversuch der Gotik scheint hier vertan. Ein wenig mehr Verständnis bei den früheren Geschlechtern, vielleicht auch nur der glückliche Zugriff eines Gönners würde hier sicherlich manches vor dem Verfall bewahrt haben, das jetzt unwiederbringlich verloren ist. Dann könnten wir wohl auch hier Entdeckungen machen wie kürzlich in der alten Valentinskirche zu Kiedrich im Rheingau, die ihre Besucher durch die reine und köstliche Gotik ihres Lettners und ihrer Altäre, ihres Gestühls, ihrer Orgel und ihrer Chorgesangbücher entzückt.

Der Main fließt silbern durch sein doppeltes Band von Wiesen und von schwachgrünen, über die Hügel hingefalteten Weinbergen, in denen gleichsam die Glieder des Spessarts und des Odenwaldes sich verschränken. Voll krauser Biegungen ist der ganze Weg des Flusses von seinen Quellen im Fichtelgebirge bis an den Rhein. Hier ist die Mitte des Laufes noch lange nicht, und doch kommt es einem vor, als befände man sich ganz in dem warmen gütigen Herzen der Mainlandschaft. Die Landstraße geht niedrig in den Feldern neben dem Fluß her. Der Fluß deutet sich zuweilen nur durch den Mast eines Schiffes an, der aus den geschorenen Wiesen aufragt. Das ist ähnlich wie in Holland, aber auch ganz anders. Mitten in dieser Wald- und Wieseneinsamkeit, wo man es am wenigsten vermutet, streckt ein Sandbagger seinen eisernen Arm aus einer emporgehobenen Schiffshütte. Am Fuß einer Schloßruine schmiegt sich immer wieder ein Dorf in das Tal. Zuerst Freudenberg (79 km) mit seinen langen, bäurisch belebten, bäurisch duftenden Gassen. Vieles ist den Dörfern am Rhein und der Mosel ähnlich, aber alles ist süddeutscher und altertümlicher zugleich. Die Wiesenlandschaft setzt sich fort. Ein Saum von rotem Mohn, das Auffliegen eines Fischreihers gibt ihr etwas Märchenhaftes. Dieses schmale, silberne Etwas, das aus feuchtem Wiesengrund in die blaue Luft emporsteigt, scheint ein Naturschutzgebiet zu verraten. Jenseits des Flusses wird das Schloß Fechenbach sichtbar, ein fensterreiches Gebäude mit stärkerer Mittelpartie und Mansardendach. Ein wenig weiter, dem Dorfe Mondfeld gegenüber, streckt die Ruine einer weitläufigen Burg den Rest ihres Turmes gen Himmel wie den Schwurfinger einer gebräunten Faust. Das ist die Ruine Kollenberg. Und nicht weit von dort, über den hellen, schön gebetteten, gastlichen Häuserreihen von Stadtprozelten (89,8 km) ragt die Henneburg, die einst eine der mächtigsten Festungen des Deutschherrnordens im Maintal war. Siebenhundertjährig ist dieses Gemäuer. Schon drei Jahrhunderte war es alt, als sich die Deutschherrn dort niederließen, um diese Basteien und Türme noch weiter auszubauen und nochmals dreihundert Jahre in ihnen wohnen zu bleiben. Der Turm ragt wie ein gewaltiges Periskop in die Höhe. Er will den Ausblick über das Maintal und über die Berge nach allen Seiten. Er war gebaut, um die Wege und Verstecke des Landes zu überschauen. Heute ragt er als eine ernste Säule mitten in der grünen Stille der Landschaft.

Schloß und Städtchen Wertheim

Nun tritt bald die Stadt Wertheim (100,1 km) in Erscheinung. Hoch über bleifarbenen Dächern leuchtet rötlich die Burg mit der schwarzen Haube aus den Wipfeln des Berges. Das Städtchen liegt in Streifen auf beiden Seiten des Flusses. Man spürt das Mittelalterliche des Bildes besonders stark, denn gerade der letzte Abschnitt des Weges ist zu einer technisierten, streng aufs Horizontale gearbeiteten Großschiffahrtslandschaft geworden, die auf einmal wieder an den neuen Zweck des Mains erinnert, ein Weg zur Donau zu werden. Quer über den Fluß geht das zementfarbene Wehr mit seinen eisernen Galerien und kahlen Türmen. Die Rotsandsteinfarbe der gewachsenen Felsen und das gleichmäßige, lineale Hell der Böschung, die fast die Form eines Deiches gewinnt, bildet mitten im Grünen den kräftigen Zusammenklang von Rot und Weiß.

Die Landstraße leitet von der Terrasse der abhängenden Wiesen unter das dunkle Dach der Allee, und aus der Allee geht der Weg über die alte, gewölbte, steinerne Brücke der Tauber, die hier zum Main ihren spitzen Mündungswinkel bildet.

Wertheim war Jahrhunderte lang die Hauptstadt einer reichen Grafschaft, der Sitz einer der vielen kleineren Dynastien, die großen mit den herrschenden Dynastien Europas verschwägert sind. Die Burg auf der Höhe war der Stammsitz der Wertheimer Grafen, deren heraldisch prächtiges Wappen noch an vielen Stellen der Stadt, an Renthäusern, Scheunen und Brunnen zu finden ist. Steil und dunkel stehen die filigrangeschmückten Kirchentürme im Tal. Aber auf gleicher Höhe mit der Turmuhr und der höchsten Turmgalerie steht der Fußgänger. Denn unmittelbar an dem von Treppenstufen begrenzten Platz steigt mit steilen Gassen und Stufenwegen an spitzen Giebeln die Bergwand empor. Man geht den gepflasterten Weg hinauf. Die Mauer bildet am gewölbten Toreingang einen Winkel. Der grasbewachsene Reitweg steigt noch höher und erreicht über schweren Brücken die Burg mit den vergitterten Fenstern. Eine Pulverexplosion, zwei Beschießungen und schließlich die Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg haben das gewaltige Schloß zur Ruine gemacht. Aber noch stehen hoch auf dem Berg die Reste des Palas mit den vorgebauten Altanen. Die Kirche, die unmittelbar vor der Bergwand steht, ist die evangelische Pfarrkirche. Ihre rötliche Vorhalle ist ein Meisterwerk gotischer Steinbaukunst. Daneben über der kleineren runden Eingangspforte hängt der Erker, das nicht minder berühmte Chörlein. An diesem Platz, der Gassen und Treppen nach allen Seiten sendet, steht auch die turmlose Kilianskapelle, die jetzt als Stadtmuseum dient. Ein Patrizierhaus gibt dem geschlossenen architektonischen Bild den satten, harmonischen Klang.

Es ist nur ein paar Schritte um die Ecke zum Marktplatz, den schmale Fachwerkhäuser wie seit Jahrhunderten mit ihren knapp überhängenden Stockwerken umgeben. Im Straßenwinkel steht der Engelbrunnen, ein hoher, von vier Prellsteinen gegen alles Fuhrwerk geschützter Steintrog, dessen bewegliche Rolle mit den Seilen und dem Eimer von einem kräftigen, vierteiligen Säulenwerk getragen wird. Drollige Figuren und wortreiche, ziemlich rätselhafte Inschriften dienen dem Bauwerk, das etwas vom üppigen Geist der Renaissance verrät, zum Schmuck. In der Gasse, die hier beginnt, steht das älteste Fachwerkhaus der Stadt. Nur wenig jünger ist das Rathaus, das anno 1540 aus zwei Wohnhäusern geschaffen wurde. Man hat es durch einen runden Turm verstärkt. Dieser Turm birgt eine geschickt gebaute doppelte Wendeltreppe, die noch heute der Aufgang zu den Amtsstuben ist. Schmuck sieht das frisch getünchte kleine Rathaus aus. Das Wappen, in ein besonderes Fenster eingemauert, strahlt in erneuerten kräftigen Farben.

Die Geschichte der Stadt Wertheim ist eine der ältesten in Deutschland. Sie reicht ihre zwölfhundert Jahre zurück. Das Stadtrecht von Wertheim ist kaum jünger als das von Frankfurt, seine Urkunde stammt aus 1306. Erst 1806 wurde die Wertheimer Grafschaft aufgehoben. Der links des Maines liegende Teil ging an das Großherzogtum Baden, der übrige Teil an die Krone Bayern. Aber wie von altersher treiben die 4000 Einwohner des Städtchens ihre Handwerke samt Handel, Fischerei und Schiffahrt. Sie haben heute im Zeitalter des Autos, des Triebwagens, der Gesellschaftsreisen und der Freiluftbegeisterung den Ehrgeiz, viele Besucher anzuziehen und diesen Besuchern nicht nur Schönheiten, sondern auch Annehmlichkeiten zu bieten: gute Gasthäuser, hübsche Anlagen, bequeme Anschlußverbindungen zu den nahen Schnellzugsstrecken und viele Fußpfade in die Berge, Wanderwege zu den sagenhaften Jagdschlössern und Wildhegen im Spessart und zu den fast klösterlichen Residenzen im Odenwald. Im fürstlichen Hofgarten, am Leberklingenweg entlang der Tauber und auf den Terrassen des Wertheimer Schlosses laden Bänke zum beschaulichen Bleiben. Die beiden Flüsse bieten Gelegenheit zum Rudern und Paddeln. Auch ein Strandbad ist da, sogar eine Wiesenfläche für Kneipp-Kuren. Und an den vielen Gewässern des kleinen Zweistromlandes finden die Angler ihr Vergnügen.

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Rascher als wir es erwartet haben fahren wir die lange Allee hinab, die seitwärts am Sockel des Marienbergs in das Maintal führt. Aus dem Maintal herauf sieht der Eisenbahnreisende nur die von Basteien bewehrte, von viel Geschichte und frommer Sage umwitterte Krone des Berges. Hier sieht man seinen ins Hinterland ausgestreckten, von Rebstöcken dicht besetzten Abhang. Die Mauern dieser Weinberge scheinen Wehrgänge, die Weinberghäuser alte Wehrtürme zu sein. Dann auf einmal liegt Würzburg (136 km) vor uns. Ein langgestrecktes, dicht besetztes Ufer, die ganze Breitseite einer Stadt mit vielen Giebeln und Türmen, davor die kräftig gebogene, mit Figuren besetzte Brücke. Stark erinnert dieses Bild an den Blick vom Hradschin herab auf das alte Prag! Unten das breite blinkende Wasserband, hüben und drüben die belebten Ufer, die Straßenschluchten, die hellen, verzweigten Ausfahrtwege. Der moderne Teil der Stadt setzt drüben die Häuserreihe fort. Kähne und Schiffe liegen in den scharf geschnittenen Hafenbecken. Die Flußregulierung hat diese geraden sparsamen Linien geschaffen. Vor den grauen steinernen Böschungen gleitet gemächlich wie immer das mit Stangen geruderte Floß.

Wir sind unten an einem Kreuzungspunkt des Verkehrs. Hinter uns ragt die hoch hinauf mit Landhäusern, Baumgruppen und Kapellen besetzte Höhe. An der Seite öffnet sich der Tunnel, der unter dem gewachsenen Fels der Bastei zur Fischervorstadt führt. Das alles ist ein großartiger, fast verwirrender Anblick. Auf dem flachen Vorflutstreifen, der ein Abstellplatz für Möbelwagen zu sein scheint, ganz ähnlich wie an der Elbe in Dresden, stehen Fahnenmasten mit gelbroten, feurig leuchtenden Fahnen. Von Karussellen und Schaubuden kommen Tonwirbel her, eine marschierende SA-Kapelle macht fröhliche Musik. Ein buntes glitzerndes Volksfest ist im Gange. Man kann sich Würzburg nicht anders als festlich denken. Wir tauchen in die Kirmes des Sommertages.

Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Auf der Rückkehr werden wir der gewaltigen Fußschlinge folgen, die wir zuletzt abgeschnitten haben. Von Bettingen ab nämlich kommt die seltener berührte Strecke, die sich bei Homburg in Landwege auflöst und über die alte siebenbogige Brücke von Marktheidenfeld (84,5 km) auf die andere Seite des Mains hinüberführt. Dort mündet die Fuhrmannsstraße, die Napoleonsstraße, die aus den Wäldern des Spessarts herniederkommt.

Bei Homburg (91,4 km) drängen sich noch einmal die steilen grauen Tuffsteinfelsen an den Fluß; der berühmte Kalmuthwein wächst auf diesen Höhen. Das Dörfchen Lengfurt mit seiner Kirche, Schloß Triefenstein, das ehemalige Augustiner-Chorherrenstift, stehen hier am Flusse, umspielt von der lichten Heiterkeit einer paradiesischen Landschaft. Die Apfelbaumwäldchen reichen bis an das Wasser, auf den Wiesen tummeln sich weiße Entenscharen. Drüben auf der rechten Mainseite ragt in seinen von Strebepfeilern gestützten, hohen Mauern die Burg Rothenfels (89,6 km), von allen Kastellen der Wertheimer Grafen einst das stärkste. Eine Strecke weiter flußabwärts folgt die Abteikirche Neustadt, dem Dörfchen Erlach, der Heimat eines großen Baumeisters, gegenüber. Der Weg führt dann nach Lohr, wo die andere Straße über den Spessart abzweigt und in weiten Schlingen über das als Sommeraufenthalt beliebte Dorf Heigenbrücken nach Aschaffenburg hinunterführt.

Wir sind heut einen anderen Weg gefahren, – über hügeliges Land voller Wiesen und Äcker in der Ernte. Einmal hielten wir Rast. Im Tal liegt unter moosigem Steildach ein Schloß, das jetzt den Bauern als Wohnung dient. Die äußere Mauer ist durchbrochen, sie umschließt kleine Gärten. Feldwege liegen davor. Pferde baden in der Schwemme des Baches, der da aus dem Wald heraustritt. An den Gutshof schließt sich ein großer, sorgsam instandgehaltener Pavillon, ein fast kirchenähnliches Gebäude, vielleicht das Mausoleum der längst in die Städte verzogenen feudalen Gutsherrschaft von ehemals. Wir erfahren erst später, was das auffallende, erstaunliche Bauwerk ist: es ist die von keinem Geringeren als von Balthasar Neumann gebaute Kapelle in Holzkirchen und in allen Kunstgeschichten zu finden.

Die Glocken von Würzburg beginnen zu läuten. Wir sind beim Lochfischer eingekehrt, in einer der schmalen Felsengassen vor dem Marienberg, in einem engen alten Haus, dessen Schild zwei gewundene Aale bilden und in dessen Kellern die Behälter mit den Fischen stehen, über denen das Fangnetz liegt. Die Lochfischer von Würzburg fangen ihre »Meefischle« in den Bogen der alten Brücke. Daher ihr Name. Und sie verstehen es, diese Fischlein in Fett so knusperig zu braten, daß man sie »mit Stumpf und Stiel« verzehren kann oder sie ißt, wie man Mundharmonika spielt. Dazu gehört der Wein aus einer meergrünen bauchigen Flasche, man mag auf weitere Zutat gern verzichten.

Es ist Samstagabend. Die Glocken haben ausgeläutet. Der Mond steht über den stillen Gassen. Mainab- und -aufwärts ziehen die Weinberge und umranden den Talkessel, in den Würzburg eingebettet ist. Heilige und Dichter schlummern unter kühlen Steinen in dieser fränkischen Stadt.


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