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Die Erbschaft

Es war im Jahre 1933.

Professor Goldenherz hatte auf Grund seiner Taufe vor einem Vierteljahrhundert eine Professur erlangt und hatte versucht, mit Frau und Kindern jegliche Spur seiner jüdischen Herkunft aus seinem Leben zu verwischen. Da er tatsächlich auf seinem Gebiet Hervorragendes leistete, so glaubte er, niemals mehr Veranlassung zu haben, mit seiner früheren Familie irgendwelche Fühlung zu behalten.

Als er in der Zeit der Gleichschaltung seine Professur und sein Laboratorium, d. h. also den Lehrstuhl und die Möglichkeit der weiteren wissenschaftlichen Betätigung verloren hatte, fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen, und auch seine Kinder, die von der Herkunft der Eltern nur eine sagenhafte Ahnung hatten, konnten sich begreiflicherweise nicht zurecht finden.

Sein Name stand auf der Liste derjenigen Koryphäen, die durch die Presse in der ganzen Welt genannt und bekannt wurden, und es geschah etwa sechs oder acht Wochen nach seiner Beurlaubung, daß er eine Zuschrift aus Amerika bekam. Er öffnete den Brief, der von einem amerikanischen Anwalt war, der ihn fragte, ob er der Professor Goldenherz sei, dessen Großvater Moscheh Goldenherz in Slobutka gelebt hatte, und dessen Vater mit seiner Familie nach Meseritz gezogen war; auch ob die Großmutter Blümchen Goldenherz gewesen war und die Mutter des Professors Rosalie und sein Vater Simon geheißen habe. Wenn Herr Professor in der Lage wäre, diese seine Herkunft einwandfrei festzustellen und nachzuweisen, dann hätte der unterzeichnete Rechtsanwalt und Notar Auftrag, Herrn Professor Goldenherz von einem Bruder des Großvaters, der Joel Goldenherz geheißen, in Chicago gelebt und einen einzigen Sohn Sam hinterlassen habe, eine Erbschaft zuzuweisen.

Herr Professor Goldenherz war über diese Mitteilung etwas betroffen und wußte nicht recht, wie er sich zu ihr stellen solle. Langsam bereitete er seine Gattin auf den Inhalt des Briefes vor, die mit größerer weiblicher Beweglichkeit die Tragweite der Mitteilung zu erfassen glaubte und ihren Mann daran erinnerte, daß in dem Geheimfach seines alten Schrankes alte Briefe in unleserlichen Schriftzügen – wie sie sich ausdrückte – waren, sowie ein Siegelring, ein kleines Büchschen in Turmform, dann noch ein sonderbares Instrument: eine Hand mit einem Deutefinger und ähnliche seltsame Dinge. Herr Professor Goldenherz erinnerte sich auch dieser Gegenstände. Man ging an die Schublade, holte sie herbei, fand eingravierte Buchstaben wie M. G. und anderes, und auch die Briefe begann der Professor langsam zu entziffern und für ihn unabweislich festzustellen, daß – nach der Erschütterung des April 1933 – von Amerika eine neue Erschütterung, vielleicht aber auch eine Festigung seines Daseins zu erwarten sein würde.

Man versuchte, den Kindern die gefundenen Dinge zu erklären und gewisse Fäden nach der Vergangenheit wieder anzuspinnen, und nach einigen Tagen ging Herr Professor Goldenherz zu einem gleichfalls abgebauten Rechtsanwalt, brachte ihm den Brief aus Amerika, erklärte seine Abstammung an Hand der Sächelchen ganz überzeugend und bat den juristischen Freund, die Briefe und die Dinge an den Rechtsanwalt nach Chicago zu senden.

In der Familie Goldenherz war nun ein dreispaltiges Leben: die Gegenwart in ihren furchtbaren Formen, die Vergangenheit, die täglich lebendiger wurde und die besonders bei Herrn Professor oft Erinnerungsbilder wachrief, die dann so begannen: »Weißt Du noch, wie es war« –, »ich erinnere mich recht gut« usw. Das dritte dieser Bilder war die Zukunft, von deren Gestaltung man nichts wußte, die aber unwillkürlich ein recht materielles goldenes Rändchen hatte. Unter diesen eigentümlichen psychologischen Verhältnissen verbrachte die Familie Goldenherz sechs Wochen in Unruhe, bis tatsächlich ein eingeschriebener Brief kam.

Professor Goldenherz öffnete ihn, die Frau blickte ihm über die Schulter, und in hebräischen Buchstaben standen auf einem vergilbtem Blatt die Worte: Schma Jisroel, die zehn Gebote und das Wort »Ohawto lereacho komaucho« (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst). Darunter: Das Erbe von Moscheh Goldenherz aus Slobutka, das er seinem Bruder Joel in Chicago gegeben hatte, und das dessen Sohn Sam, als er im »New York Herald« gelesen hat, daß der getaufte Professor Goldenherz in seinem ganzen Leben vernichtet und zerrüttet war, diesem hiermit zustellt.

Die Familie Goldenherz soll wieder sehr erschüttert gewesen sein. Wie die Geschichte weiter geht, weiß man noch nicht, aber die Erbschaft war groß und gut und wertvoll, und es wäre zu wünschen, daß alle abgebauten und getauften Akademiker sie in Empfang genommen hätten.

So geschehen im Frühjahr 1933.


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