Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Zwölftes Kapitel.

Der Graf reiste am folgenden Morgen mit dem Frühzuge in die Residenz. Er hatte in der Nacht eine Depesche erhalten, in der er aufgefordert wurde, persönlich mit dem betreffenden Departementschef der Domänenverwaltung zu verhandeln. Die Mißverständnisse, die in Bezug auf Hallermünde entstanden waren, würden sich, so hieß es, dann rasch beseitigen lassen.

Dieser Anlaß, sein Haus für einige Zeit zu verlassen, war dem Grafen in hohem Grade willkommen. Er hoffte nun in Ruhe über seine Lage nachdenken und seinen Entschluß fassen zu können, und er vergaß, daß er ja die Unruhe mit sich nahm.

Als er nach vierzehntägiger Abwesenheit nach Hause zurückkehrte, war er indessen zu einem Entschluß gelangt. Dieser ging dahin – nichts zu thun. Er wollte Alice noch mehr meiden als bisher und sich so allmählich auf die Trennung von ihr vorbereiten. Es war doch im Grunde bisher nichts geschehen, was einen so radikalen Bruch mit der Vergangenheit, wie er ihn anfangs beabsichtigt hatte, 377 hätte rechtfertigen können. Pflicht und Ehre geboten ihm, wie er meinte, gleich sehr an der Seite seiner Frau auszuharren und seine Leidenschaft niederzuhalten. Das mußte ihm überdies künftig leichter fallen als bisher. Alice war jetzt gewarnt, sie wußte jetzt, wessen sie sich von ihm zu versehen hatte, sie mußte ihm daher künftig behülflich sein, jedem Zusammensein aus dem Wege zu gehen. Seine Frau war ahnungslos, niemand wußte um das Vorgefallene, noch konnte für die beiden Frauen alles gut enden, und er – nun er büßte eben für die eigne Schuld.

Der Abend, an dem sich der Graf von Campbellshof aus seinem Schlosse näherte, war feucht und kalt. Es hatte den Tag über geregnet, und auch jetzt trieben noch schwarze, dickbäuchige Wolkenmassen schwer vor dem kalten Nordwinde her. Auf dem schwarzen Wasser des Stromes tanzten weiße Wellenzacken und schlugen klatschend an den Wänden der auf- und niederschwankenden Fähre empor. Als die Fähre nach langem Kampf endlich das andere Ufer erreicht hatte, flogen die Rappen dahin wie ein Pfeil, und doch mahnte der Graf den Kutscher immer noch zu größerer Eile. Es war ihm, als ob seinem Hause ein Unglück drohe, das er noch abwenden könne, und doch fürchtete er sich auch wieder vor seinem eignen Hause.

Er fand die Gräfin mit den Kindern im Speisezimmer; Alice war nicht zugegen. Sie war doch nicht etwa fort? Der Graf küßte die jubelnden Kinder und umarmte seine Frau. Diese war so 378 freundlich und ruhig wie immer, aber es schien ihm doch, als ob eine Veränderung mit ihr vorgegangen war, eine Veränderung, deren Wesen er freilich nicht hätte angeben können. Oder erschien es nur seinem bösen Gewissen so?

»Ich freue mich, dich hier zu sehen,« sagte der Graf. »Ich schließe daraus, daß du dich wohler fühlst.« »Ina wird doch nicht hier sein, weil Alice fort ist,« dachte er. Das Herz stand ihm still bei diesem Gedanken.

Die Gräfin lächelte, wich aber einer Antwort aus und bemerkte: »Es ist häßliches Wetter draußen.«

»Ja, abscheuliches. Kalt und naß.«

»Was suchst du?«

»Ich? Nichts, oder doch – ich sehe keinen Portwein auf dem Tisch. Eleonore, sage dem Diener, daß er welchen bringen soll; ich möchte mich erwärmen. Und Sardinen, hörst du, nicht Sardellen – Sardinen.«

Der Graf wandte sich wieder seiner Frau zu. »Nun, wie habt ihr die Wochen verbracht?«

Die Gräfin lächelte wieder. »Ich danke dir, still und ruhig wie gewöhnlich. Ahlbach war hier und fragte, wann du kämest. Er wollte dich, wie es schien, in einer dringenden Angelegenheit sprechen. – Friedrich, fragen Sie Ernst, ob er meinen Brief rekommandiert hat. – Dann waren noch die Roisitenschen hier und die Berghöfschen. Letzterer läßt dir sagen, daß seine Diana jetzt Welpen hat und bittet dich, ihn davon zu benachrichtigen, ob du einen 379 Hund oder eine Hündin haben willst. Braun gebrannt soll nur eine Hündin sein.«

»Danke. Das ist mir auch ganz recht. Ist sonst nichts passiert?«

»Nein.«

»Nun, und ihr?« wandte sich der Graf an die Kinder.

»Wir haben die ganze Zeit über auf dich gewartet,« erwiderte Erna rasch.

Der Graf umfaßte die beiden und zog sie stürmisch an sich. Und er hatte einmal daran denken können, sich von ihnen zu trennen! Nein, die ehelichen Bande waren doch unlösbar, unzerreißbar.

»Wir lieben dich über alles in der Welt, Papa!« hieß es, während sie an ihm hingen und sich an ihn drückten, als ob sie ihm dadurch beweisen könnten, wie sehr sie ihn liebten.

Frau Ina erhob sich rasch und verließ das Zimmer.

Der Diener brachte den Portwein, schenkte ihn ein und suchte dann die Gräfin auf. Der Graf trank das Glas in einem Zuge leer.

»Du bist durstig, Papa.«

»Ja, mein Kind. Ihr habt schon gegessen, nicht?«

»Jawohl, Papa.«

»Alle vier?«

»Nein. Fräulein Heinersdorf ist unwohl; sie ist auf ihrem Zimmer geblieben und hat nur Thee getrunken.«

»Ist Fräulein Heinersdorf schon lange unwohl?«

»Seit du fort bist, Papa. Wir necken sie immer 380 damit, daß sie aus Sehnsucht nach dir krank geworden sei.«

»Immer? Das ist gar nicht wahr. Wir haben sie einmal damit geneckt, aber Mama hat es verboten, und wir haben es nachher nicht wieder gethan.«

»Bleibt das Fräulein ganz zu Bett?«

»O nein, wir haben auch alle Tage Stunden. Sie hat nur am Abend immer Kopfweh und geht deshalb früh schlafen.«

»Ich werde dir sagen, Papa, was es ist. Ich kenne die ganze Geschichte. An dem Morgen, an dem du fortfuhrst, bekam sie einen Brief, und in dem muß etwas sehr Trauriges gestanden haben, denn als sie ihn bekam, weinte sie bitterlich und nachher hat sie oft weinen müssen und am Morgen ist sie ganz verweint. Das ist die ganze Geschichte.«

»Ja, Eleonore hat recht. Und dann sieht sie immer so traurig aus. Ich fragte sie, ob ihr Vater gestorben wäre, aber sie sagte nein. Weißt du, was du thun könntest?«

»Nun – nun?«

»Du könntest uns sagen, was du uns mitgebracht hast.«

Die Gräfin trat wieder ein und nahm neben ihrem Gemahl Platz.

»Wie geht es Paul?« fragte sie.

Der Graf erzählte nun von dem Schwager, von den wenigen Bekannten, die er aufgesucht hatte, von dem Verlauf seiner Geschäfte. Der letztere war ein überaus glücklicher gewesen. »Durch das neue 381 Arrangement,« schloß er, »sind wir so günstig gestellt, daß wir, auch wenn wir nur Hallermünde hätten, für die nächsten vierundzwanzig Jahre ein sehr reichliches Auskommen haben würden.«

»Das freut mich aus tiefster Seele,« bemerkte Frau Ina.

Der Graf blickte erstaunt auf. Was wollte seine Frau damit sagen? Er sah sie fragend an, aber aus ihrem Gesicht sprach nichts als die gewöhnliche gleichmäßige Freundlichkeit. Die Bemerkung Frau Inas beunruhigte ihn, er wußte selbst nicht warum, aber er scheute sich, sie nach der Ursache derselben zu fragen, ohne doch zu wissen weshalb.

Der folgende Vormittag verging dem Grafen wie jeder Vormittag nach einer längeren Reise unter einer Fülle von Arbeit. Ein Schwarm von Menschen drängte sich von Sonnenaufgang bis kurz vor der Mittagsstunde in seinem Vorzimmer, brachte Berichte und Mitteilungen, verlangte Auskünfte, bot ihm allerlei an und richtete Bitten an ihn. Da kamen die Inspektoren der Güter, der Schreiber, der Förster und dieser und jener Buschwächter; da kamen der Chemiker, der Bierbrauer, der Müller und der Branntweinbrenner; da kamen russische Getreidehändler, jüdische Roßkämme, deutsche Handwerker, lettische Bauern, Ziegelstreicher aus dem Fürstentum Lippe-Detmold. Der Bierbrauer klagte, daß die fünf Wagenladungen Gerste, die Schmier & Bergmann zum 15. zu liefern hatten, noch immer nicht eingetroffen seien; der Schulmeister klagte, daß es in seine Vorratskammer 382 einregne; eine alte Arme klagte, daß der Wirt, bei dem sie einquartiert war, ihr nicht erlauben wolle, auch nur eine einzige Henne zu halten. Der Förster führte Klage über den Verwalter der Glashütte, und dieser erhob Beschwerden wider den Förster. Ein Mann mit auf den Rücken gebundenen Händen erschien auf der Bildfläche, und ein anderer, der Handschellen trug. Sie hatten sich Verbrechen zu schulden kommen lassen, waren eingefangen worden und wurden nun an das Kreisgericht abgefertigt.

Jetzt ertönten nur ein paar Worte; dann entspann sich eine längere Unterhaltung; endlich entlud sich ein Donnerwetter.

Der Graf und die Gräfin befanden sich bereits in dem kleinen Zimmer, in dem die Familie sich unmittelbar vor Tisch zu versammeln pflegte, als Alice eintrat. Als der Graf auf sie zuging und ihr die Hand reichte, errötete sie bis an die Haarwurzeln. Der Graf fühlte, wie die Blicke seiner Frau auf ihnen weilten, und das Blut stieg auch ihm heiß zu Kopf. Er blickte zornig zu ihr hinüber. Sie lehnte an der Fensterbrüstung, hatte den Kopf weit zurückgelegt, daß die reichen blonden Haarflechten zu beiden Seiten hervorquollen, und sah ihn mit funkelnden Augen an, obgleich ein Lächeln um ihre Lippen spielte. Der Graf schritt, indem er sie unverwandt anblickte, langsam auf sie zu. Er wußte selbst nicht, was er eigentlich wollte, aber es trieb ihn vorwärts. Als er dicht vor ihr stand, fragte sie, 383 ohne ihre Stellung zu verändern oder eine Miene zu verziehen: »Nun?«

So fragt eine Mutter einen trotzigen Jungen, der zornig auf sie zutritt: »Nun?«

Der Graf wandte sich um und verließ das Zimmer.

Jetzt trat auch Alice auf die Gräfin zu, um sie zu begrüßen. Die Gräfin fühlte in diesem Augenblick den lebhaften Antrieb, ihr aus voller Kraft ins Gesicht zu schlagen. Sie hatte nie vorher eine ähnliche Anwandlung gehabt und sie hatte nachher nie wieder eine, aber in diesem Augenblick kostete es ihr die größte Anstrengung, der wilden Regung Herr zu werden und ihre Hand für einen Augenblick in Alicens Hand zu legen.

Bei Tisch ging es still her, es sprachen fast nur die Kinder. Alice blickte auf ihren Teller und kämpfte offenbar die ganze Zeit über mit ihren Thränen; der Graf ärgerte sich über sie, weil sie sich und ihn in unnützer Weise kompromittierte, und sah doch wieder voll Mitleid auf ihr tieftrauriges Gesichtchen; die Gräfin schämte sich des Triebes, den sie vorhin empfunden hatte. »Dieser Kampf demoralisiert mich,« dachte sie; »gottlob, daß er bald ein Ende nehmen wird.«

Als die Gräfin die Tafel aufgehoben hatte, eilte Alice auf ihr Zimmer, der Graf ritt aus und Frau Ina blieb allein. Sie begab sich in ihr Boudoir, entnahm ihrem Schreibtisch einen Brief und las ihn – ach – zum wievieltenmale! Der mit verstellter Damenhand geschriebene Brief, der ihr vor 384 drei Tagen aus der Kreisstadt zugegangen war, hatte folgenden Wortlaut:

»Gnädige Frau!

Man hintergeht Sie in Ihrem eignen Hause in empörender Weise. Achten Sie auf die Spazierritte und achten Sie sich selbst.

Eine Freundin.«

Ina hatte nicht einen Augenblick an der Wahrheit dieser Mitteilung gezweifelt. Alicens verändertes Wesen war ja der beste Kommentar dazu. So sangen schon die Spatzen auf den Dächern von dem, was ihr angethan war. Es gab für sie kein Zögern mehr, sie mußte eben »sich selbst achten«. Sie wollte fort, fort ohne Abschied, den sie nicht ertragen konnte. In dem herzzerreißenden Jammer über ihr zertrümmertes Glück, über ihre betrogene Liebe hielt sie nur der eine Gedanke aufrecht: seiner würdig zu bleiben, auch wenn er selbst seiner unwürdig wurde.

Ina trat ans Fenster, öffnete es und lauschte. Dann blickte sie auf die Uhr, erst auf ihre, dann auf die auf dem Kaminsims. Beide zeigten übereinstimmend die sechste Stunde an.

»Er könnte schon da sein,« sagte sie und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Dann trat sie abermals an das Fenster und lauschte wieder.

Der kalte Wind, der zum Fenster hineinfuhr, hatte die Wolken vertrieben, der Himmel war klar und blau und versprach auch am folgenden Tage so zu bleiben. Am Rande des Gartens lockten die 385 Rebhühner, der grüne Rasen kontrastierte hübsch mit dem zum Teil schon gelb gefärbten Laube und den Asterbeeten, die Natur empfand nach dem heißen Sommer den Frühherbst, wie wir Menschen nach einem heißen Tage die Abendkühle.

Aus der Ferne ertönte Wagengerassel. »Das sind zwei Wagen,« dachte Ina, »es wird doch nicht Besuch kommen?«

Es waren zwei Wagen. In dem einen saßen der Doktor, Herr von Ahlbach und der Hauptmann Bärwald, in dem anderen der Wallernsche Bärwald und die Barone Schotthof, Stockkirch und Grünhof.

Frau Ina schwankte einen Augenblick, ob sie die Herren überhaupt empfangen sollte, entschied sich aber schließlich doch dafür. »Sie werden eine Partie machen, und wir werden dann noch ungestörter sein als sonst,« dachte sie. Sie gab Auftrag, daß der Reitknecht den Grafen aufsuchen möge, und empfing die Herren.

Der Graf trat bald darauf ein. Man begrüßte sich und sprach von der Ernte, von den Feldhühnern und den Hühnerhunden. Dann setzte man sich zur Partie Préference. Die beiden Bärwald und Grünhof spielten an einem, die Herren Schotthof, Ahlbach, Stockkirch und der Doktor am anderen Tisch. Da die letzteren zu vieren waren, so trat abwechselnd einer von ihnen aus. Der Graf, der nicht spielte, aber, wie man wußte, gern zusah, setzte sich bald zu dem einen, bald zu dem anderen.

Nach einer Weile wurde der Doktor frei. »Herr 386 Graf,« sagte er, »ich begebe mich auf einen Augenblick zu Ihrer Frau Gemahlin. Sollte ich, wenn ich wieder eintreten muß, noch nicht zurück sein, so spielen Sie wohl für mich.«

»Bitte, sehr gern, lieber Doktor.«

Der Doktor erhob sich, zog sich die Weste herunter – eine weiße Weste mit Knöpfen aus weißem Horn – und ging langsam durch die Zimmerreihe in das Boudoir der Gräfin. Der eine Flügel der Thür war schon geschlossen, der Doktor zog auch den anderen hinter sich zu. Die Gräfin winkte ihm, neben ihr Platz zu nehmen. Er that es und blickte sie dann gespannt an.

Frau Ina errötete für einen Augenblick, wurde aber dann sehr bleich. »Herr Doktor,« sagte sie, indem sie zum Fenster hinausblickte und schwer atmete, »ich weiß, daß Sie ein treuer Freund unseres Hauses sind.«

»Natürlich, Inachen, natürlich. Wie sollten Sie das nicht wissen.«

Es trat eine Pause ein. Endlich wandte Ina sich wieder dem Doktor zu. Ihre Zähne schimmerten weiß auf ihrer Unterlippe. »Herr Doktor,« sagte sie, »ich habe außer Ihnen keinen Freund – keinen – denn meine Eltern und mein Bruder sind in der Fremde. Darum wende ich mich an Sie mit einer Bitte. Die Erfüllung dieser Bitte wird Ihnen Unannehmlichkeiten machen, aber ich kann nicht anders.«

Der Doktor beugte sich vor, wie ein Mann, der nach Barschen angelt und plötzlich aus der Schwärze 387 des Wassers die schwankenden Umrisse eines riesigen Hechtes hervordämmern sieht. »Was meinen Sie, Inachen?« fragte er beklommen.

»Sie sollen mir für mich, meine Kinder und Amalie einen Paß ins Ausland besorgen. Ich will zu meinen Eltern, die jetzt in Vevey sind. Mein Mann darf aber nichts davon erfahren.«

Der Doktor fuhr erschreckt zurück. »Um Gotteswillen, was ist geschehen?« rief er.

»St!« wehrte Ina. »Verlangen Sie, daß ich Ihnen das sage? Können Sie mir das nicht ersparen?«

»Nein, Ina, das verlange ich durchaus. Das kann ich Ihnen nicht ersparen. Es muß sich ja zwischen Ihnen um ein Mißverständnis handeln, und um eines solchen willen geht Ihresgleichen doch nicht gleich fort. Sie wollen Ihren Mann verlassen? Sie – Ina Polderkamp – da kann man ja verrückt darüber werden, rein verrückt.«

»Doktor,« bat Ina, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte, »quälen Sie mich nicht. Warum verlangen Sie, daß ich Ihnen die Beleidigung, die mir angethan ist, selbst mitteile?«

Der Doktor wollte aufspringen, aber Ina hielt ihn zurück. »Das ist ja eitel Thorheit!« rief er laut, mäßigte aber auf Inas Mahnung seine Stimme und flüsterte: »Nehmen Sie mir das übel oder nicht, Inachen, aber das ist ja reine Tollheit! Na ja, reiner Unsinn. Wer hat Sie beleidigt? Doch nicht etwa Ihr Mann? ›Unser Graf‹ seine eigne Frau 388 beleidigen! Na ja, Inachen. Sie sehen selbst, der Gedanke ist doch albern. Sie sind krank, Inachen, na ja, Sie sind krank. Geben Sie mir Ihren Puls.«

Ina erhob sich rasch, trat an den Schreibtisch und reichte dem Doktor mit abgewandtem Gesicht den Brief der anonymen Freundin.

Der Doktor überflog ihn, einmal, noch einmal. »Ich verstehe nicht, was das heißen soll,« sagte er.

Ina hatte die zusammengeballte Hand auf den Tisch gelegt und ihren Kopf darauf gelehnt, so daß der Doktor nur ihren Scheitel und ihr goldblondes Haar sah. »Es geht auf meinen Mann und die Heinersdorf,« sagte sie dumpf.

Der Doktor sprang auf. »Das ist eine nichtswürdige Verleumdung,« rief er, »eine schnöde Lüge, die das Hirn irgend eines Schurken, den Ihres Mannes Ehrenhaftigkeit beleidigte, ausgebrütet hat. Wahrhaftig, Ina, wenn jemand mir gesagt hätte, daß meine Ina Polderkamp einem so wüsten Gerede ihr Ohr leihen würde, er hätte blaue Bohnen schlucken müssen. Ich bin ein alter Kerl, aber bei Gott, ich hätte sie ihm durch die Gurgel gejagt! Schämen Sie sich, Ina, schämen Sie sich!«

Ina richtete ihr Haupt empor, und der Doktor erschrak über ihre verstörten Züge. »Doktor,« sagte sie heiser, »was in dem Briefe steht, ist wahr.«

Der Doktor stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Und ich wiederhole, daß es nicht wahr ist, daß es eine verdammte Lüge ist. Wenn Sie Ihren Mann nicht kennen, so kenne ich ihn wenigstens; 389 wenn Sie sich nicht scheuen, eine wider den tadellosesten Ehrenmann des Landes ausgesprochene Verleumdung nachzusprechen, so thue ich es wenigstens; wenn Sie, von kindischer Eifersucht getrieben, das Bild unseres Grafen beflecken, so halte ich es wenigstens rein. Ich bin als Ihr Freund hier und ich würde meine Pflicht schlecht erfüllen, wenn ich diesen Ausgeburten überreizter Nerven nicht mit aller Energie gegenübertreten wollte. Sie sprechen von Ihrem Manne, der Sie zehn Jahre lang auf den Händen getragen hat; Sie sprechen von dem Vater Ihrer Kinder, der Ihnen immer treu zur Seite stand. Sie wissen sehr wohl, Ina, daß ich Sie viel, viel mehr liebe als ihn, aber Ina, so unsinnigen Vorwürfen gegenüber muß ich auf seine Seite treten. Diese kleine Heinersdorf ist ein Kindchen, ein hübsches liebreizendes Kindchen, und sie lebt in sehr unglücklichen Verhältnissen. Der Graf ist ein Kinderfreund und er ist mitleidig wie ein gutmütiges junges Mädchen. Er wird gütig gegen sie gewesen sein, vielleicht ein wenig gütiger, wie er es ohnehin gegen jedermann ist; und darüber lassen Sie ein so nichtsnutziges Gefühl wie die Eifersucht in sich aufkommen.«

Ina erhob sich. »Herr Doktor,« sagte sie, »ich habe Sie um eine Gefälligkeit gebeten. Daraus läßt sich denn doch nicht das Recht ableiten, mich in meinem – mich zu beleidigen.«

Der Doktor trat auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Liebste Ina,« sagte er, »haben Sie denn wirklich eine ernste Veranlassung zu Eifersucht? 390 Kommen Sie, setzen Sie sich, erzählen Sie. Stützen Sie wieder einmal Ihren Kopf an meinen Arm – wissen Sie, wie damals, wenn Sie sich als Kind in unserem Garten müde gelaufen hatten – und erzählen Sie.«

»Doktor,« erwiderte Ina, »von solchen Dingen kann man nicht erzählen, denn da ist nichts zu erzählen. Es muß Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage, daß ich die unumstößliche Überzeugung gewonnen habe, daß zwischen meinem Manne und ihr ein Liebesverhältnis besteht. Können Sie unter solchen Umständen verlangen, daß ich noch länger in seinem Hause bleibe?«

Der Doktor fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Nein, Inachen, nein, das verlange ich bei Gott nicht; aber was ich verlange, ist, daß Sie sich nicht wie ein Dieb aus dem Hause stehlen, sondern offen mit ihm sprechen. Das hat er für zehn Jahre glücklicher Ehe verdient, das sind Sie dem Vater Ihrer Kinder schuldig. Daß Georg Polderkamp in einer schwachen Stunde zu Fall kam, mag möglich sein, wenn ich es auch nimmermehr glaube; daß er aber nicht im stande ist, sein Weib dauernd zu hintergehen, es, wenn es ihn zur Rede stellt, zu belügen, dafür will ich meine eigne Ehre einsetzen. Nein, Ina, man kann uns vieles vorwerfen, sehr vieles, und so lange wir jung sind und ledig, treiben wir es in der Regel wüst genug, aber soweit man überhaupt von uns weiß: für offen und gerade heraus sind wir überall bekannt. Es gibt natürlich auch 391 unter uns im Dunkeln schleichende Kerle, aber die sind aus der Art geschlagene Kinder dieses Landes, während Georg Polderkamp ein echter Sohn des Gottesländchens ist. Na ja, bei uns geht auch die Sünde nackt einher. Na ja, glauben Sie mir, Inachen, wenn der einmal eine Freundin hätte – er führe mit ihr um die Mittagsstunde im offenen Wagen, vier Pferde lang, durch die Kalkstraße in Riga und er würde – wenn erst sein Gewissen schwiege – den Teufel danach fragen, was die Leute dazu sagen. Nein, Inachen, bei uns thut man am besten: heraus mit der Klinge und dem Wort. Sie sind Ihrer Mutter Kind, Sie müssen das von ihr her verstehen. Fassen Sie Ihren Mann an die Brust – so und drücken Sie ihn an die Wand – so und nun gefragt: ›Was ist's damit? Heraus mit der Wahrheit!‹ Bei Gott, Ina, er lügt nicht. Ist er schuldig – was ich nimmermehr glaube – so fällt er vor Ihnen in die Knie und sagt: ›Verzeih!‹ oder er wendet sich ab, nimmt das Mädchen und geht mit ihr fort dreimal neun Meilen weit, und dann sind Sie frei. Unter Eheleuten soll Wahrheit herrschen, Inachen. Wird es einmal um sie dunkel, so soll jedes rufen: ›Wo bist du?‹ und nicht nachlassen, bis es das andere an der Hand hat.«

Es wurde ein paarmal rasch an die Thür geklopft, und der Graf trat ein. »Störe ich?« fragte er.

»Nein, Herr Graf, bitte, wir sind fertig,« erwiderte der Doktor, sich erhebend. Ina war schon vorher aufgesprungen und hatte sich an das Fenster gestellt.

392 »Dann kommen Sie, Doktor, und vertreten Sie wieder Ahlbach. Ich will für einen Augenblick mit ihm beiseite gehen; es handelt sich um Geschäftliches.«

Der Graf nahm den Arm des Doktors, und beide schritten rasch dem Spielzimmer zu. Herr von Ahlbach kam ihnen bereits entgegen. Er ergriff seinerseits den Arm des Grafen, und beide begaben sich auf die Veranda. Draußen war es schon dunkel und kalt, aber die Sterne funkelten in wunderbarem Glanze.

»Georg,« begann Ahlbach, nachdem sie Platz genommen hatten, »ich bin zu dir gekommen wie ein Freund zum anderen. Ich weiß, daß du meine Worte nicht mißdeuten wirst. Ich möchte dich bitten, in deinem Verkehr mit Fräulein Heinersdorf ein wenig vorsichtiger zu sein.«

Ahlbach hielt einen Augenblick inne. Er hätte gern aus des Freundes Gesicht gelesen, wie derselbe diese Bemerkung aufnahm; aber es war so dunkel, daß das unmöglich war, und der Graf rührte sich nicht.

»Ich weiß ja sehr wohl,« fuhr Ahlbach fort, »daß du nichts gethan hast, was auch nur als eigentliche Unvorsichtigkeit bezeichnet werden darf, aber du kannst unwillkürlich deine großstädtischen Begriffe nicht los werden und vergißt, daß wir an unsere Frauen und Mädchen kleinbürgerlichere Anforderungen stellen als ihr. Du hast dadurch, daß du mit dem jungen Mädchen Tag für Tag allein den Wald 393 durchstreiftest, ein gewiß sehr unerwartetes Ärgernis gegeben.«

»Wer sagt das?«

»Aber, lieber Georg, fahre nicht auf! Mit zornigem Dreinfahren kann man solch ein ungreifbares Gerede nicht bekämpfen. Mir gegenüber kommt natürlich niemand mit der Sprache heraus, aber ich weiß, daß man sich vielfach darüber skandalisiert hat. Es glaubt ja auch kein Mensch etwas Schlimmes, aber man findet dein Verfahren nicht ganz so korrekt, wie man es von dir gewohnt ist. Die Kosten davon trägt natürlich das junge Mädchen, und da diese als eine Heinersdorf sich doppelt hüten muß, Aufsehen zu erregen, so hielt ich es für angemessen, dich von dem Geklätsch zu unterrichten.«

»Du thatest ganz recht, ganz recht.«

»Nicht wahr? Man kann in solchen Dingen bei uns nicht vorsichtig genug sein. So nachsichtig man auch gegen junge Männer ist, so streng werden junge Mädchen beurteilt, wenn sie sich auch nur ein wenig über die Sitte hinwegsetzen. Und diese junge Dame hat ja nichts als ihren guten Ruf.«

»Nein, nichts als ihren guten Ruf.«

»Also – du bist mir nicht böse?«

»Nein, ich bin dir nicht böse.«

Ahlbach ging zu einem anderen Gesprächsthema über. »Du warst in der Residenz,« sagte er, »hast du deine Absicht erreicht?«

Während sie miteinander sprachen, hatte Alice das an das Spielzimmer stoßende Gemach betreten. 394 Sie hatte dort eine Arbeit vergessen und war heruntergeeilt, um sie zu holen. Sie wollte eben wieder forthuschen, als sie einen der Herren fragen hörte: »Aber warum nannte man die alte Heinersdorf den Kuckuck? Sieben Pique!«

Alice blieb wie angewurzelt stehen.

»Hab ich selbst,« antwortete eine andere Stimme. »Das kann ich dir sagen. Als er noch Friedensrichter war, ließ er sich in der Weise bestechen, daß die Bauern seiner Frau – sieben Grandissim? – warte einmal – sieben Grandissim – hab ich selbst – allerlei Geschenke brachten. Versah sich dann einmal einer und kam damit zu ihm, so rief er: ›Geh zum Kuckuck!‹ womit er seine Frau meinte.«

Die Herren lachten. »Er wurde schließlich abgewählt?« fragte Herr von Grünhof.

»Jawohl. Donnerwetter – jetzt heißt es aber: Friß, Vogel oder stirb! Sie haben bis Coeur gekauft, Grünhof? Na, los mit der Laura, was kann da sein – petite misère ouverte. Es war ein Mißgriff, daß er überhaupt gewählt wurde, denn er war, wie die alten Herren versichern, schon in der Schule ein Schubiak und trieb einen unsaubern Handel mit Weichselrohren und Pfeifenköpfen.«

»Der Vater soll schon nicht weit her gewesen sein.«

»Da hast du ganz recht, und der Großvater auch nicht. Donnerwetter, wer konnte das annehmen, Aß quatrième mit Sieben und Neun. Daß euch das Mäuslein beißt. – Die Heinersdorfs haben nie etwas getaugt. Weder die Männer, noch die Weiber. 395 Begreife einer, wie dieses niedliche Mädchen hat als des Kuckucks und des Dorndrehers Tochter geboren werden können. Bruderherz, schämst du dich nicht, mich so hereinfallen zu lassen?«

»Warum heißt er eigentlich der Dorndreher?«

»Sehen Sie, es gibt einen Piepmatz dieses Namens – bitte, reiche mir die Kreide – der die Gewohnheit hat, sich, ehe er frühstückt, eine ganze Anzahl Insekten zu fangen und an einer Stelle auf Dornen aufzuspießen. Nun fängt sich der Alte bekanntlich auch seine Insekten zu Johannis ein, sammelt sie an und speist dann ein Jahr lang von ihnen. Da er nun um der Frau willen doch einen Vogelnamen haben mußte, so hat man ihn den Dorndreher genannt.«

»Aber er muß doch eine kleine Rente haben. Die Tochter sprach einmal von derselben.«

»Diese Rente besteht in den Zinsen der durch ihn durchgebrachten Kapitalien, die er nicht bezahlt. Er hat nichts Kleines, als eine kleine Jüdin, die er mit Schokolade fütterte, während seine Tochter am Abend mit Brot und Wurst vorlieb nahm. Ich passe – Diese ganze Familie ist eine wahre Schande für uns, und man freut sich ordentlich, daß einmal ein anständiges Mädchen aus ihr hervorgegangen ist. Na, wir sind im großen und ganzen gottlob angesehen genug, um auch die Heinersdorfs und Roggenfelds mitlaufen lassen zu können. Nach außen wahrt ja übrigens der Dorndreher den Anstand. Sagen Sie, Grünhof, wann kommt denn der neue Acciseverwalter?«

396 In der Enfilade erklang der Schritt des Grafen. Alice floh aus dem Zimmer wie ein gehetztes Reh.

Als die Gäste nach Mitternacht aufbrachen, begleitete der Graf sie bis an die Wagen und lehnte sich, als sie fortfuhren, schwer auf die Brüstung der Rampe. Der Wind hatte sich gelegt, aber es war eine kalte Nacht, und die Sterne blitzten so frostig wie Diamanten. Der Graf lauschte dem Rollen der Wagen, bis es in der Ferne verklang. Als er nichts mehr hörte als das Schweigen der Nacht, richtete er sich auf und wandte sich der Hausthür zu. So blieb er eine Weile stehen. Dann eilte er auf den Spitzen der Füße die Treppe hinauf und hielt erst an Alicens Thür still.

Er war sehr leise gegangen, aber er war doch gehört und sein Schritt erkannt worden. Die Thür ging auf, und Alice lag an seiner Brust. »Nimm mich, du Einziger, schütze mich, rette mich, thu mit mir, was du willst.«

Der Graf hörte unten die mit dem Abräumen der Spieltische fertig gewordenen Diener. »Morgen – nach Tisch – auf dem Burgberg,« flüsterte er, riß sich los und eilte hinab.

Am Morgen lag dichter Nebel über der Landschaft, so daß man kaum ein halbes Dutzend Pferdelängen weit sehen konnte. Als der Graf zu Pferde stieg, blickte die Gräfin, die die ganze Nacht schlaflos verbracht hatte, zu ihm nieder. »Ja, der alte Freund hat recht,« sagte sie halblaut, »es wäre unrecht von 397 mir, ihn zu verurteilen, ehe ich ihn gehört habe. Sobald er zurückkehrt, will ich mit ihm sprechen.«

Der Graf verbrachte den Tag in Hallermünde. Um die zehnte Stunde sanken die Nebel und ein herrlicher windstiller Herbsttag breitete sich über den Strom, die Felder und die Waldungen aus. Als der Graf sich an der südlichsten Grenzmark der Felder befand, hörte er aus weiter Ferne Hundegebell, Hörnerklang und hin wieder einen Schuß. Dort sauste eine fliegende Jagd in ausgelassener Weidmannsfreude durch Busch und Brache; von Stoppel zu Stoppel zogen sich Spinngewebe, die in allen Farben des Regenbogens glänzten; aus dem erntereifen Haferfelde schlüpfte ein Hase und äugte, die Löffel hin- und herbewegend, nach der Gabelweihe hinauf, die im blauen Äther ihre Kreise zog. Georg stieg vom Pferde, warf sich die Zügel über den Arm und ging langsam weiter. »Wie ist die Welt so frisch und schön,« dachte er, »für den, der schuldlos durch sie schreitet!«

Als er unmittelbar vor Tisch zu Hause eintraf, fand er den alten Boniteur vor, der wieder auf ein paar Tage gekommen war. Der Alte erzählte während der Mahlzeit mancherlei, so daß der Graf nur seine Unruhe zu bezähmen hatte. Alice war nicht erschienen, sie hatte sagen lassen, sie habe Kopfweh.

»Ich werde Sie noch ein wenig allein lassen,« sagte der Graf, als sie den Kaffee eingenommen hatten. »Ich habe mir den Förster mit einem Hunde, 398 den er dressiert hat, an den Waldrand bestellt und will sehen, ob ich ein paar Hühner schießen kann.«

Gleich darauf sah die Gräfin, die auf der Veranda geblieben war, ihn mit der Flinte in der Hand durch den Park gehen. »Ich werde heute abend mit ihm sprechen,« dachte sie.

Der Graf durchschritt rasch den Park und hatte bald das Pförtchen erreicht, das in der Richtung nach dem Burgberge auf das Feld führte. Hier blieb er stehen, ließ die Flinte sinken, lehnte sich über die niedrige Umzäunung und blickte hinüber nach dem Burgberge. Pflicht, Ehre, Vernunft, Mitleid liefen noch einmal Sturm auf seine Leidenschaft. Wenn er jetzt noch umkehrte, jetzt in der letzten Stunde umkehrte, konnte noch alles gut werden. Noch war nichts geschehen, was die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rettungslos zertrümmerte; wenn er aber diese Thür durchschritt, war alles verloren. Und doch – und doch! Es überkam ihn das Gefühl, das er sonst gehabt hatte, wenn er beim Rennen das schwerste Hindernis nahm. Eine falsche Bewegung und er konnte den Hals brechen; aber fort mit dem Gedanken, nur an das Ziel, an das Ziel.

Georg stieß die Pforte auf und erhob das Gewehr. Die Bewegung war so jäh, daß der Hahn der Flinte von dem Strauchwerk, aus dem der Zaun geflochten war, aufgerissen wurde und klappernd gegen die Versicherung schlug.

»Das hätte leicht aller Unsicherheit ein Ende machen 399 können,« dachte der Graf und betrat das Brett, das hier über den Umwallungsgraben führte. Er schritt aber nicht hinüber, er blieb stehen und blickte zurück auf den Zaun. Wäre die Versicherung nicht gewesen, so wäre er jetzt tot – verunglückt. Es wäre kein Selbstmord gewesen – niemand hätte das geglaubt – nein, er wäre verunglückt. Sein Weib hätte ihn als einen Verunglückten betrauern können; seine Kinder hätten einmal davon gesprochen, daß ihr Vater durch einen unglücklichen Zufall ums Leben gekommen sei, und Alice – nun, Alice wäre so rein geblieben, wie sie war.

Ein Feuerstrahl blitzte auf, ein Rauchwölkchen stieg rasch zwischen den Bäumen empor und verflüchtete sich zwischen den Zweigen, ein Knall rollte durch die klare Herbstluft und mischte sich mit dem Ton eines schweren Falles. Von der Eiche, die ihr Laubdach über das Pförtchen ausbreitete, sanken langsam einige welke Blätter herab, und ein paar Vögelchen flüchteten ängstlich auf die nächsten Bäume.

Die Tonwelle, die der Schuß hervorgerufen hatte, eilte weiter und weiter. Sie rollte an Ina vorüber, die mit den Kindern auf der Veranda saß, und rief dort die Bemerkung hervor: »Papa hat heute Glück«; sie fuhr so unerwartet in das Stübchen des alten Herrn Schwäberle, daß dieser sich erhob und ausrief: »Wie unvorsichtig«; sie traf unterwegs auf dem Burgberge ein weinendes Mädchen, das Leidenschaft und Verzweiflung zu einem verzweifelten Entschluß getrieben hatten, und das nun auffuhr und voll Angst und 400 Hoffnung nach dem Park hinüberblickte; sie verlor sich endlich am Rande des Waldes, wo der alte Förster mit dem neuen Hunde hielt und jetzt vor sich hinmurmelte: »Der traf. Der Graf fehlt nie.«

Die Sonne sank tiefer und tiefer und ihre letzten Strahlen fielen rot auf das Schloß und den Park und das schöne friedliche Antlitz des Mannes, der am Rande desselben im Rasen lag und schlief. Ein paar Eichelhäher flatterten auf den Zweigen der Eiche neugierig hin und her; ein naseweises Eichkätzchen kletterte an ihrem Stamme nieder, eilte, dazwischen einhaltend und auf den Hinterbeinen sitzend, auf ihn zu; eine Goldammer saß in der Spitze des kleinen Tannenbaumes am Wege und sang ihm ihr einfaches Schlaflied. Dann wurde alles still und die Sterne traten nach und nach hervor, bis der dunkle Himmel sich wie eine mit Diamanten besetzte Decke über die Felder, den Park und den Schläfer breitete.

Der Förster war längst wieder nach Hause gegangen; Alice war in das Schloß zurückgekehrt, war niedergefallen auf ihre Knie und hatte Gott in heißem Gebete dafür gedankt, daß der Graf nicht gekommen war; die übrigen hatten zu Abend gegessen und sich dann auf ihre Zimmer zurückgezogen. Daß der Graf noch nicht zurück war, fiel niemand auf. Er war schon oft auf eine Stunde fortgegangen und erst nach zwölf nach Hause zurückgekehrt; er hatte sich dann eben von einem Geschäft zum anderen begeben oder er hatte die Nacht beim Förster geschlafen, um am 401 anderen Morgen weiter zu jagen. Letzteres zumal geschah in der Jagdzeit nicht selten.

Und doch litt Ina gerade heute schwer darunter, daß er nicht heimkehrte. Eine unerträgliche Sehnsucht nach ihm zerriß ihr Herz. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt gleich mit ihm hätte sprechen können! Ja, es war sehr unrecht, daß sie es nicht schon früher gethan hatte. War es nicht ihre Pflicht gewesen, als sie die Gefahr bemerkte, ihn vor sich selbst zu warnen? Wenn er gefallen war – trug sie dann nicht die Schuld an seinem Fall? Ach, wenn er nur käme, wenn er nur endlich käme!

Der Reitknecht des Grafen, ein flotter junger Bursche, kehrte im ersten Morgengrauen von seinem Schatz nach Hause zurück. Es fröstelte ihn in der kalten Luft und er schritt tüchtig aus. »Diese Herren – jene Herren – meinem Herrn kommt keiner gleich!« sang er mit heller Stimme durch die Stille um ihn her.

Als er an das Pförtchen kam, stockte er. Da lag der Graf und schlief. Der Reitknecht beugte sich zu ihm nieder, fuhr entsetzt zurück und flog wie ein Pfeil durch das Gebüsch dem Schlosse zu. Amalie hörte ihn unter den Fenstern vorüberlaufen. »Wer läuft da?« sagte sie, zur Gräfin gewendet, und stieß das Fenster auf. Sie hörten, wie das Fenster des Dienerzimmers klirrend eingeschlagen wurde. »Rasch, rasch,« rief die Stimme des Reitknechts, »kommt – helft – dem Grafen ist die Flinte losgegangen – er liegt erschossen im Park!« 402

 


 


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