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Bob ließ sich ebenfalls auf einen Holzblock nieder. Nach kurzem Nachdenken begann er zu reden, zuerst nur zaghaft, aber seine Stimme wurde nach und nach fester.
»Mein Vater bekleidet einen kleinen Beamtenposten in Omaha. Unzufrieden mit seiner Tätigkeit ergab er sich bisweilen dem Trunke, und in seinem berauschten Zustande schlug und schalt er mich unbarmherzig und ohne Grund, so daß mir mein Dasein von Tag zu Tag unerträglicher wurde.«
»Was sagte die Mutter dazu?« fragte Charley.
»Eine Mutter habe ich nie gekannt,« entgegnete Bob wehmütig. »Mein Vater hielt eine Haushälterin. Von ihr hatte ich ebenfalls viel zu leiden. Doch das hätte ich schließlich wohl noch alles ertragen. Ich hoffte, meine Vaterstadt nach Beendigung der Schuljahre verlassen und auf einer Farm arbeiten zu dürfen. Das war seit früher Jugendzeit mein sehnlicher Wunsch. Das Leben in der freien Natur lockte mich, und ich benutzte jede freie Stunde, an die Ufer des gewaltigen Missouri oder vor die Stadt in den Wald hinauszulaufen. Dort vergaß ich bei all den Herrlichkeiten um mich her immer wieder meinen Kummer. So kam das Ende der Schulzeit heran. Da eröffnete mir mein Vater eines Abends, als er wieder berauscht heimkehrte, daß er eine Stelle für mich als Schreiber in seinem Bureau ausgewirkt habe; nach und nach könne ich dann dasselbe werden wie er, habe er doch ebenfalls klein, angefangen. Die Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag. Mein Vater kannte meine Wünsche. Noch einmal trug ich sie ihm vor. Ich bat und flehte. Alles war vergeblich. Er wollte nichts davon wissen und meinte, ich müsse gleich etwas verdienen; das wenige Geld, das er bekäme, reiche schon lange nicht mehr aus, mich zu unterhalten. Auch sagte er, er ärgere sich schon, längst, auf den Vertrag eingegangen zu sein, was ich freilich nicht verstand. Die Haushälterin kam hinzu und unterstützte ihn noch in seiner Ansicht. Er schrie sich in eine regelrechte Raserei hinein, schlug und stieß mich zuletzt und brüllte unaufhörlich: »Du wirst Schreiber! Du wirst Schreiber!«
Dieses Wort lag mir wie Zentnerlast auf dem Herzen, als ich mich endlich allein in meinem Dachkämmerchen befand. Daß mir der Beruf, der meinen Vater mit Widerwillen erfüllte, auf keinen Fall ebenfalls das Leben verbittern sollte, stand bei mir fest. Ich lag während der ganzen Nacht wach und sann über einen Ausweg nach. Auch am folgenden Tage beschäftigte mich immer nur dieser eine Gedanke. Abends stand ich am hohen Missouri-Ufer und schaute den Passagieren zu, die in großen Booten von Council Bluffs über den breiten Strom nach Omaha gefahren wurden, und nun von hier mit der Bahn weiter nach dem schönen Westen wollten, von dem ich so viel gehört hatte. Wie herrlich mußte es dort sein und wie beneidete ich die Leute, die ungehindert dorthin reisen durften, während ich zu Hause bleiben und Schreiber werden sollte! Als ich nachts in meinem Bette lag und jämmerlich über die Schläge weinte, die mir der Vater unter wunderlichen Reden abends abermals verabreicht hatte, schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß es bei der grundlosen, grausamen Behandlung keine Sünde sein könne, wenn ich auf und davon liefe. War es nicht der einzige Ausweg, den ständigen Quälereien zu entgehen? Auf einmal stand mein Entschluß fest. Ich wollte nicht länger in dem Hause bleiben, wo ich wie ein Sklave behandelt wurde. Fort wollte ich, hinaus in die Freiheit, auch nach dem fernen, schönen Westen.«
»Das hätte ich ebenfalls getan!« schaltete Charley lebhaft ein. Und auch Jim nickte zustimmend mit dem Kopfe.
»Am nächsten Tage versäumte ich die Schule und lief an der Bahnstation umher, um eine kostenlose Reisegelegenheit auszukundschaften, denn ich besaß ja kein Geld. Mir erschien nur eins ausführbar.
Abends packte ich heimlich einige Sachen und etwas Mundvorrat in eine kleine Tasche. Dann verließ ich das Haus, in dem ich nur böse Stunden kennen gelernt hatte. Der Gedanke, meinen Vater nun vielleicht niemals wiederzusehen, ließ mich vollständig kalt, hatte ich den Mann doch niemals lieb gehabt. An der nur mäßig erleuchteten Station, von der der Zug erst später abfuhr, schlich ich zwischen den einzelnen Wagen umher. Ich fand einen beinahe gefüllten Gepäckwagen, dessen Tür nicht verschlossen war. Vorsichtig kroch ich hinein und versteckte mich hinter den Kisten und Koffern. Eine bange, Stunde verging; sie kam mir wie eine Ewigkeit vor.
Furchtbar waren die Minuten, als man den Wagen an den Zug schob und seine Tür vollends öffnete, um noch verschiedenes Gepäck einzuladen. Ich dachte, das Herz zerspränge mir vor Angst, so heftig pochte es. Doch ich blieb unentdeckt. Die Tür wurde geschlossen, ich hörte die Worte des Führers: »All aboard!«, Auf den amerikanischen Westbahnen wurde die Abfahrt des Zuges nicht mit der Glocke geläutet, auch ertönte kein Pfiff der Lokomotive. Obige Worte: »Alle an Bord«! gaben das Zeichen zur Abfahrt. und erleichtert aufatmend bemerkte ich, wie sich der Zug in Bewegung setzte. Nun saß ich eine Nacht und einen Tag still hinter meinen Kisten und Koffern. Bisweilen wurde der Wagen geöffnet, doch immer nur einen kurzen Augenblick. Dann ging es weiter und immer weiter, und mit unendlicher Freude malte ich mir aus, wie die Entfernung von meiner Vaterstadt mit jeder Minute größer wurde. Meine Vorräte waren bald verzehrt, und da mich Hunger und Durst immer stärker quälten, sah ich ein, daß ich meinen Aufenthalt verlassen mußte. Von Station zu Station wartete ich auf eine Gelegenheit. Doch es mußte wohl niemand sein Gepäck verlangen, denn der Wagen wurde nicht wieder geöffnet. Durch ein kleines Fenster bemerkte ich, daß es Abend wurde. Meine Lage erschien mir immer verzweifelter. Hunger hatte ich bisher noch nicht gekannt. Ich glaubte, schon in wenigen Stunden unterliegen zu müssen. Zunge und Hals brannten mir wie Feuer. Beinahe bereute ich, daß ich fortgelaufen war.
Da endlich nahte die Erlösung. Wieder hielt der Zug. Knarrend öffnete sich die Tür. Ein großer Koffer wurde aus dem Raum entfernt. Ich sah, wie ihn zwei Männer forttrugen. Rasch kletterte ich über die Kisten und Kasten hinweg und sprang aus meinem Gefängnis an die frische Luft. Taumelnd stürzte ich zu Boden, denn meine Glieder waren kraftlos und steif geworden. Die Angst trieb mich wieder empor. An der anderen Seite des Bahngleises versteckte ich mich in einen Busch. Dort saß ich, bis der Zug abfuhr und gleich darauf im nächtlichen Dunkel verschwand. Jetzt erst wagte ich mich hervor. Ein zweistöckiges, hölzernes Gebäude mit vielen erhellten Fenstern, daneben ein paar kleinere Hütten, das war alles, was ich erblickte. Behutsam schlich ich mich näher. Kaum vermochte ich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Trocken klebte mir die geschwollene Zunge am Gaumen. Ich kam bis hinter das Gebäude und fand eine geöffnete Tür. Sie führte in eine Küche, aus der mir der Geruch von gebratenem Fleisch entgegenströmte. Eine innere Gewalt trieb mich hinein. Dort sah ich einen Krug mit Wasser und streckte gierig die Hände nach ihm aus. Da vernahm ich hinter mir ein Geräusch. Schreck, Angst, Hunger, Durst, alles mochte dazu beitragen, daß es mir plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Meine Beine hielten mich nicht mehr. Ich sank zu Boden.
Als ich meine Augen wieder aufschlug, sah ich eine alte Negerin über mich gebeugt, die mir mitleidig Wasser einflößte und mir die Schläfen rieb. – »Mich hungert! Gebt mir zu essen!« stammelte ich. Rasch eilte sie zum Herde und wenige Minuten nachher saß ich vor einem Tisch und verschlang hastig die Bissen, die mir die Alte reichte. Nach und nach fühlte ich mich kräftiger, und nun erst konnte ich meinen Dank für die erhaltene Wohltat aussprechen.
»Hier könnt Ihr auf die Dauer nicht bleiben, aber eine Nacht will ich Euch gern auf meinem Zimmer unterbringen«, sagte die Negerin, nachdem ich ihr in kurzen Worten mitgeteilt hatte, daß ich ohne Mittel mit dem Zuge gekommen sei, meine Kräfte jedoch zu erschöpft wären, um zu Fuß weiter zu wandern. Ich erfuhr, daß ich mich in einem nur aus wenigen Häusern bestehenden Orte, Rock Creek, befände. Das große Gebäude sei Stationshaus und Hotel zugleich für die von hier mit der Post nach Norden fahrenden Reisenden und die im Frühjahr dort wohnenden Viehzüchter des Landes. Vorsichtig, damit mich niemand bemerke, brachte mich die Alte in ihre Dachkammer. Dort nahm ich dankend ihr Anerbieten an und legte mich in das große Bett. Gleich darauf schlief ich bereits.
Ich erwachte erst am Abend des anderen Tages wieder. Böse Träume hatten mich geängstigt, und als ich die Augen aufschlug, wunderte ich mich nicht wenig, daß mein Vater nicht da war, den ich soeben noch im höchsten Zorn vor mir gesehen hatte. Es dauerte eine geraume Zeit, bis meine Gedanken sich wieder zurechtfanden. Bald darauf kam auch die Alte. Sie holte mir Speise und Trank. Es war rührend, wie sie für mich sorgte, darum erzählte ich ihr frei und offen, wer ich sei, und was mich von Hause fortgetrieben hatte. Verwundert hörte sie mir zu. Dann rieten wir lange hin und her, was nun zu beginnen sei. Zuletzt beschlossen wir, daß ich früh am nächsten Morgen weiterwandern sollte. Trotz ihres Widerstrebens mußte sie sich in ihr Bett legen. Ich bereitete mir auf dem Boden ein Lager. Der Tag graute kaum, als mich die gute Alte weckte. Meine Tasche hatte sie mir voll Eßvorrat gepackt. Auch schenkte sie mir ein Messer und eine kleine Axt, damit ich Holz klein schlagen könnte. Beide Gegenstände schnallte sie mir an einem Riemen um den Leib. So ausgerüstet nahm ich mit vielen Dankesworten Abschied und schritt rüstig in das hügelige Land hinein, das sich hinter dem Orte bis weit nach Norden erstreckt. Die Räder der von Zeit zu Zeit fahrenden Post hatten hier und da in dem weicheren Erdreich ihre Spuren zurückgelassen. Diese verfolgte ich.
Bald lag das Haus, in dem ich eine so gastliche Aufnahme gefunden hatte, in weiter Ferne hinter mir. Rund um mich her dehnte sich eine kahle, mit gelbem Grase bedeckte, hügelige Fläche aus. Kein Baum oder Strauch war weit und breit zu sehen. Hoch über mir kreiste im blauen Aether ein großer Adler, das einzige lebende Wesen außer mir in dieser traurigen Einöde. Doch mir war gar nicht traurig zumute. Ich war ja frei, ganz frei, wie der Vogel dort oben in der Luft, und dieses wonnige Gefühl ließ mich alles andere vergessen. Ich mußte aufjubeln aus vollem, freudigen Herzen, und laut sang ich ein lustiges Lied, noch tausendmal froher als daheim im grünen Walde oder an den Ufern des rauschenden, plätschernden Missouristromes.
Es war gegen Ende Oktober. Noch waren die Tage warm. Nur in den Nächten fühlte man die Kälte. Rüstig marschierte ich vorwärts. Bisweilen sah ich einige Rehe, die in unmittelbarer Nähe vor mir ruhig stehen blieben und mich verwundert mit ihren großen Augen betrachteten. Ich hatte meine Freude daran. Als sich der Hunger bei mir einstellte, untersuchte ich meine Tasche. Die gute Alte hatte vortrefflich für mich gesorgt, und mit Behagen ließ ich mich an einem Bache nieder, den ich bald darauf kreuzte, und speiste. Dann machte ich mich von neuem auf den Weg. Am Nachmittage wurde die Gegend bedeutend hügeliger, und als im fernen Westen die Sonne unterging, erreichte ich eine längere Schlucht, durch die ein kleines Wasser über Steingeröll lustig dahinfloß. Mehrere Bäume und Büsche standen an den Ufern, und kleinere Einschnitte in die Berge boten Schutz gegen den kalten Wind, der sich seit etwa einer Stunde aufmachte. Hier beschloß ich zu übernachten. Hohes, trockenes Präriegras stand überall. Davon trug ich hinreichend auf einen Haufen zusammen. Dann schlug ich mir mit meiner Axt Holz und zündete Feuer an.
Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Nur die Sterne am Himmel verbreiteten so viel Licht, daß ich die Gegenstände in der Nähe erkennen konnte, Wieder hielt ich meine Mahlzeit. Dabei fühlte ich doch, daß ich recht müde geworden war. Ich streckte mich daher bald auf dem Haufen Präriegras aus, bedeckte mich mit den langen, dicken Halmen und fühlte mich glücklich und zufrieden über mein schönes Lager unter freiem Himmel.
Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht, aber plötzlich erweckte mich ein merkwürdiges Schnauben neben mir. Ohne mich aufzurichten – war ich doch noch halb im Traum –, schaute ich zur Seite. Sechs oder acht Paar funkelnde, glimmende Lichter blitzten mir entgegen. Zugleich fühlte ich, wie sich etwas Schweres auf meinen Unterkörper stellte. Ein kalter Schauer rann mir durch Mark und Bein, und mit einem Satz war ich von der Erde auf. Die Tiere, die das Ansehen von mittelgroßen Hunden hatten, flohen eilends von dannen. Damals wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte, aber bald hörte ich aus dem klagenden Geheul rund um mich her, daß es Wölfe waren. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Mein Feuer war verlöscht. Ich zündete es aufs neue an und setzte mich neben ihm nieder. Scheu blickte ich mich von Zeit zu Zeit um. Aber nichts rührte sich. Nur der Bach murmelte und rauschte.
Trotz der hell brennenden Flammen fror ich immer stärker. Um mich zu erwärmen, spaltete ich Holz. Jeder Schlag meiner Axt klang schauerlich aus der Schlucht zurück. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, als sei ich nicht mehr allein. Nach kurzer Weile saß ich wieder beim Feuer und wärmte meine erstarrenden Glieder. Ein Stück Holz nach dem andern warf ich achtlos in die Glut, denn bald ließen mich meine Gedanken alles um mich her vergessen. Zum ersten Male dachte ich an kommende Tage. Was sollte aus mir werden, wenn ich in dem weiten, öden Lande keine Menschen antraf, bei denen ich ein Unterkommen fand? Von neuem begann der Wind scharf durch die Schlucht zu blasen. Er schüttelte die Aeste der Bäume und Büsche mit ihren verdorrten Blättern und fuhr rauschend durch die dichten, trockenen Halme des Präriegrases. Ich achtete kaum darauf. Mich beschäftigte die eine Frage viel zu sehr: was sollte aus mir werden?
Da hörte ich abermals das unheimliche Schnauben ganz in meiner Nähe. Entsetzt schaute ich mich um. Keine vier Schritte von mir entfernt stand ein großer, grauer Wolf. Den Rachen halb geöffnet, stierte er mich gierig mit seinen leuchtenden Augen an. Hastig packte ich einen brennenden Kloben Holz und schleuderte ihn mit Wucht nach dem Tiere. Ich sah, wie es einen weiten Sprung zur Seite machte, dann – – was war das? Kleine Flämmchen züngelten dort, eine neben der anderen. Sie wurden größer, immer größer. Der Wind blies und pfiff. Eine Flamme loderte knisternd auf, höher als die meines Feuers. Eine zweite, dritte folgte. Sie ergriffen, was sich in ihrer Nahe befand. Mit Blitzesschnelle wälzten sie sich vorwärts Rascher, als ich es auszusprechen vermag, brannte auf einmal vor mir die ganze Schlucht. Das prasselte, zischte, ächzte und stöhnte! Hoch zum Himmel schlug die Lohe empor. Schon erreichte sie die Anhöhen der Bergwände. Dort erfaßte sie der Sturm mit doppelter Gewalt. Brüllend jagte er sie weiter.
Ich stand wie erstarrt und schaute mit Angst und Schrecken in die verheerende Glut. Alles war so plötzlich gekommen. Hinter mir lag grausig schwarz wie vorher das Ende der Schlucht und vor mir tobte jetzt ein weites, gewaltiges Flammenmeer. Aus ihm ertönte ein Geheul von vielen Stimmen. Die Wölfe, dachte ich, und nun taten mir die Tiere doch wieder leid, die dort elendig verbrennen mußten. Ich spürte keine Kälte mehr. Eher war es mir zu heiß. Doch nach und nach wurden die Flammen kleiner und kleiner. Dann brannte nur noch hier ein Busch, dort ein Baum, und auf dem glühenden Boden hüpften nur noch vereinzelt die Flämmchen. Stiller wurde es, immer stiller. Schon hörte man wieder das Rauschen und Murmeln des Baches. Bald zeigte sich im fernen Osten ein heller Schein. Der Tag graute. Und als endlich die Sonne aufging, erkannte ich erst die grausige Verheerung, deren Urheber ich gewesen war. Die schwarze, rauchende Schlucht, über die sich der von der Sonne erglühende, purpurne Himmel wölbte, bot einen schauerlichen Anblick.«
»Wäre der Wind von der anderen Seite gekommen, dann säßest du heute wahrscheinlich nicht hier,« meinte Jim und stopfte sich die Pfeife.
»Ich machte mich wieder auf den Weg,« begann Bob von neuem. »Der Boden in der Schlucht war überall sehr heiß. Hier und da lagen glühende Kohlen umher. Bis weit in das freie, stark hügelige Land hinein hatte sich das Feuer ausgedehnt. Wohl über eine Stunde wanderte ich über schwarzen, verbrannten Grund. Dann wurde er felsig. Nur vereinzelt wuchs noch Gras darauf. Jetzt fand ich auch die Spuren der Post nicht mehr.
Nach kurzem Ueberlegen verfolgte ich aufs Geratewohl die nördliche Richtung. Immer felsiger, wilder und bergiger wurde die Gegend. Nur bisweilen noch kam ich über größere Strecken Prärie, die mir einen freien Blick nach Norden gestatteten. Dann atmete ich jedesmal erleichtert auf und schritt rüstiger vorwärts. Meine Heiterkeit und frohe Laune vom Tage vorher waren verschwunden. Nur der Gedanke weiterzukommen, beschäftigte mich noch. Alles übrige war mir gleichgültig geworden. Ich beachtete kaum die kleinen Präriehunde, die weite Grasflächen zu einer sandigen Wüste umgewandelt hatten und eigentümlich bellend auf ihren kleinen Hügeln saßen und erst bei meiner Annäherung in ihre Höhlen flüchteten. Mit Schrecken sah ich, daß meine Vorräte zu Ende gingen. Die Wölfe hatten einen großen Teil davon verzehrt. Als ich mittags einen Augenblick rastete, aß ich mich nicht mehr satt. Ich mußte sparen, wußte ich doch nicht, wie lange ich noch gezwungen war, von dem kleinen Vorrat zu leben.
Wieder wurde es Abend. Voll Angst und Sorge dachte ich an die mir bevorstehende Nacht. Als de Sonne unterging, hatte ich abermals eine wilde, felsige Gegend erreicht. Doch kein Baum oder Strauch wuchs hier, auch Präriegras fehlte. Wäre ich nicht zum Umsinken matt gewesen, so hätte ich daran denken können, während der Nacht weiterzuwandern. Von Minute zu Minute wurde es dunkler. Schon ließ sich der Weg nicht mehr erkennen, doch mechanisch stolperte ich vorwärts. Meine Kräfte erlahmten immer mehr und mehr. Endlich blieb ich erschöpft stehen, und blickte trostlos in die Finsternis. Da sah ich auf einmal vor mir ein Licht schimmern. Die Hoffnung verlieh mir neue›n Mut, und so rasch meine Beine mich trugen, eilte ich weiter. Eine kleine Blockhütte stand unweit eines mächtigen Felsens. Durch ein winziges Fenster leuchtete rötlicher Schein in die schwarze Nacht hinaus. Ich öffnete die Tür und trat ein. Eine drückende, dunstige Luft quoll mir entgegen. Zugleich hörte ich einige Stimmen. Und als sich mein Auge an die Helle gewöhnt hatte, sah ich drei auf mich gerichtete Büchsenläufe. Ida taumelte zurück.
›Habt Erbarmen! Ich habe mich verirrt. Nehmt mich auf!‹ stotterte ich.
Die Büchsen senkten sich. Und nun erst gewahrte ich beim Scheine der in einer offenen Feuerstelle flackernden Flammen drei bärtige, wild aussehende Männer, die mich mit mißtrauischen Blicken betrachteten. Auf ihre Fragen, woher und wohin das Weges, gab ich ausweichende Antworten. Flehend bat ich um ein Nachtlager. Nach langem Hin- und Herreden wies man mir eine Ecke der Hütte an, wo ich mich hinlegen könne. Kraftlos sank ich dort nieder, schob meine Tasche unter den Kopf und streckte meine ermatteten Glieder aus, während die Männer sich vor das Feuer setzten und leise, aber eifrig miteinander sprachen. Trotz meiner Erschöpfung wollte mir der Schlaf nicht kommen. Doch ich war seelenfroh, wenigstens warm unter einem Dach zu liegen, und gedachte mit Grauen noch einmal der vergangenen Nacht.
Nach und nach redeten die Männer lauter. Sie schienen mich vergessen zu haben oder mochten denken, ich schliefe. »Die Sache ist sehr einfach«, sagte der eine »Von hier genau nach Norden liegen die Hütten keine Stunde weit. Reiten wir nun an den Red Creek, an ihm entlang zu den roten Felsen und dann östlich, so kommen wir, gedeckt von Steinblöcken und Gestrüpp, gerade auf die Hütten zu. Dreihundert Dollars hat der Belford jedenfalls im Hause.«
»Und wenn seine Leute und er sich verteidigen?« meinten die beiden anderen. »Auch besitzt er einen Hund, der uns verraten kann.«
»Für den ist gesorgt«, lachte der erste. »Er ist ein gieriges Tier. Ich kenne ihn. Wenn man ihm etwas zu fressen gibt, ist er sofort still. Ich habe bereits ein Stück Fleisch bereit gelegt, das mag des Hundes letzte Mahlzeit sein, denn statt Pfeffer und Salz sitzt eine reichliche Portion Strychnin darin.« –
»Und die Leute?«
»Pah! Die schlafen gegen Morgen wie die Ratten. Machen sie jedoch Miene, uns anzugreifen, bevor wir sie festgelegt haben, dann schießen wir dazwischen, bis keinem mehr ein Zahn weh tut.«
Wohlgefällig strich der Mann seinen blonden, starken Schnurrbart, dessen eine Spitze sich bedeutend höher kräuselte als die andere, was dem Gesichte einen ungemein verschmitzten Ausdruck gab, und lachend fügte er hinzu: »Außerdem, müßt ihr bedenken, daß sie ihren Freund Harm Jans in Fort Custer hinter Schloß und Riegel vermuten, aber nicht hier in ihrer von ihnen selbst erbauten Blockhütte.«
»Was? Der war es?« riefen Charley und Jim wie aus einem Munde. Gespannt horchten sie auf.
Der Knabe erzählte weiter: »Ich preßte die Hände auf das pochende Herz und glaubte, die lauten Schläge müßten den Männern verraten, daß ich ihren schrecklichen Plan gehört hatte. Jetzt schauten sie sich auch nach mir um.
»Der schläft«, beruhigte Harm Jans die anderen beiden. »Er war schlapper wie ein abgehetztes Pferd, als er kam. Ihr fürchtet euch am Ende gar vor dem Jungen? Wenn er sich rührt, schneide ich ihm die Kehle ab.« Der kalte Angstschweiß trat mir bei diesen Worten auf die Stirn. »Also abgemacht!« rief der Anführer laut. »Euer Wohl, boys!« Er holte eine Flasche hervor und tat einen langen Zug, Dann reichte er sie auch seinen Freunden. Bis zu mir her strömte der Geruch von Whisky.
Die folgenden Stunden deuchten mir eine Ewigkeit. Halb wachend, halb schlafend verbrachte ich sie. Harm Jans blieb am Feuer. Er rauchte und trank weiter. Seine Kumpane rollten sich in ihre Decken. Und bald verkündete mir lautes Schnarchen, daß sie fest schliefen. Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was ich zu tun hatte. Belford, wie der Anführer ihn nannte, mußte gewarnt werden. Endlich weckte Harm Jans seine Leute. Behutsam trat er an meine Seite und beugte sich über mich. Ich atmete in langen Zügen trotz meiner Todesangst, und es gelang mir, ihn zu täuschen. »Der schläft bis morgen Mittag«, sagte er zu den Männern, und leise verließen die drei mit ihren Büchsen die Hütte. Ich hörte, wie draußen die Pferde gesattelt wurden, und nach kurzer Weile vernahm ich an den immer entfernter klingenden Hufschlägen auf dem harten Boden, daß die Räuber abritten.
Rasch sprang ich auf. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich hing meine Tasche um, schnallte den Riemen mit Axt und Messer um den Leib und stürzte zur Hütte hinaus. Der Polarstern leuchtete hell vom klaren Himmel. Dorthin also mußte ich meinen Weg verfolgen Und nun begann ich zu laufen, wie ich wohl noch niemals in meinem Leben gelaufen bin. Der Boden war nur wenig hügelig. Vorwärts ging es bergauf, bergab. Nur kurze Zeit gönnte ich mir zum Verschnaufen. Dann lief ich wieder. Die Angst, daß ich zu spät kommen könnte, trieb mich immer von neuem weiter. Wie lange ich lief? Ich weiß es nicht. Unaufhörlich blickte ich nach dem Stern, um die Richtung nicht zu verlieren. Jetzt dehnte sich eine weite Fläche vor mir aus. Dahinter bemerkte ich schwarze, sich hoch auftürmende Berge. Ich kam näher und näher. War das nicht Hundegebell? Keuchend blieb ich stehen und lauschte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon flog ich aufs neue über die Prärie. Plötzlich sprang ein großer Hund an mir auf. Ich griff in die Tasche und holte den letzten Rest der Lebensmittel hervor, den ich besaß. Gierig nahm das Tier die Speise. Ich rannte weiter. Mehrere Hütten tauchten aus dem Dunkel hervor. Auf die größte lief ich zu, riß meine Axt aus dem Gürtel und schlug damit gegen die Tür.
In der Hütte wurden Stimmen laut. »Wer ist da? Was wollt ihr?« hörte ich rufen.
»Macht auf! Ich komme, um euch zu warnen. Rasch! Harm Jans will euer Geld, will euch morden. Mit zwei Leuten naht er vom Red Creek, vom roten Felsen. In wenigen Minuten muß er hier sein.«
Die Tür wurde geöffnet. Ich taumelte in die Hütte. Sechs Männer umringten mich.
»Rettet den Hund! Sie wollen ihn vergiften. Ich lag bei den Mördern in der Hütte und habe alles gehört. Nehmt eure Büchsen zur Hand. Sie kommen – ich – ich – kann – nicht – mehr«, stammelte ich, und vollständig kraftlos brach ich zusammen.
Ich sah nur noch, wie die Männer hin und her liefen, wie sie die Hütte verließen. Bald darauf hörte ich wie im Traume mehrere Schüsse. Dann weiß ich nicht mehr, was mit mir geschah. Als ich wieder erwachte, befand ich mich auf einem Lager in einem warmen Zimmer Durch das Fenster erblickte ich eine hell von der Sonne beschienene Winterlandschaft.«
»Es war brav von dir, mein Junge, daß du die Männer vor dem mörderischen Harm Jans rettetest,« sagte Charley herzlich, indem er dem Knaben die Hand auf die Schulter legte.
»Alle die Mühsale und Erlebnisse warfen mich auf das Krankenlager,« erzählte Bob weiter. »Beinahe acht Wochen habe ich zwischen Leben und Sterben gelegen. Aber als ich aus meiner Bewußtlosigkeit erwachte, verging ein Monat, bis meine Kräfte ganz wieder zurückkehrten. Draußen tobte unterdessen der Winter mit Schnee und grimmiger Kälte.«
Charley nickte wiederholt mit dem Kopfe. »Damals erfroren meine Füße.«
»Was wurde aus den Wegelagerern?« fragte Jim neugierig.
Der Knabe seufzte abermals. »Die Männer erzählten mir, daß sie sich in jener Nacht in eine der Nebenhütten verborgen und dort abgewartet hatten, bis Harm Jans mit seinen zwei Leuten zu Fuß herangeschlichen kam, dann seien sie plötzlich hervorgestürmt. Nach einem kurzen Kampfe wäre der Anführer getötet worden, die beiden anderen seien entflohen. Etwa fünfhundert Schritte von der Hütte entfernt zeigte man mir einen Hügel. Darunter lag Harm Jans begraben. Wohl hatte er seinen Tod verdient, aber es ist mir noch heute ein schrecklicher Gedanke, daß ich denselben eigentlich verschuldet habe.«
»Daraus brauchst du dir kein Gewissen zu machen,« rief Jim eifrig. »Ihn traf die gerechte Strafe, denn er hat mehr als einen Menschen in den Tod gejagt. Betrachte dir nur meinen Bruder genau, der vermag dir von dem Mörder ebenfalls ein Liedchen zu singen!«
Charley nahm seinen Hut vom Kopfe und zeigte auf die Narbe an der Stirn. »Eine Kugel aus der Büchse des Harm Jans ist hier entlang gelaufen. Eine Linie weiter nach hinten, und auch mit mir wäre es vorbei gewesen. Es war vor bald sieben Jahren in Cheyenne. Wir hatten unsere Felle verkauft. Das Geld in der Tasche wanderten wir vor die Stadt nach einer einsamen Hütte, wo unsere Packpferde und Fallen untergebracht waren, als sich Harm Jans uns in den Weg stellte und mit erhobener Büchse unser Geld forderte. Ich griff nach meiner Waffe am Gürtel. Da krachte ein Schuß, und getroffen stürzte ich zu Boden.«
»Ja! Aber auch ein zweiter Schuß folgte,« fuhr Jim rasch fort. »Der kam aus meinem Revolver und traf den Mörder, der eilig auf sein Pferd sprang und entfloh, leider nur am Arm. Ich bedaure, ihm damals nicht das Lebenslicht ausgeblasen zu haben. Wäre er mir nachher vor den Lauf gekommen, hätte meine Kugel zum zweiten Male ihr Ziel nicht verfehlt, darauf kannst du dich verlassen.«
»Berichte weiter, mein Junge!« drängte Charley. »Wie kamst du zu Bill und seiner Bande?«
»Bis Februar blieb ich bei Belford,« nahm Bob seine Erzählung wieder auf. »Dann mußte ich leider von den guten Leuten Abschied nehmen; denn diese zogen nach Süden, um sich dort mit anderen Ranchern zu vereinigen und dann von Norden her das frei im Lande umherlaufende Vieh zusammenzutreiben, wie es jedes Frühjahr geschieht. Die Männer hätten mich mitgenommen, aber ich besaß das Gefühl, als triebe mich etwas nach Norden. Und so wanderte ich denn eines Morgens von neuem wohlgemut dieser Richtung zu. Meine Tasche war reichlich mit Mundvorrat gefüllt. Eine Büffelpelzjacke schützte mich gegen die Kälte, die jedoch bedeutend nachgelassen hatte. Außerdem trug ich zwei warme, wollene Decken auf dem Rücken. Eins aber erfüllte mich mit besonderer Freude. An meinem Riemen saß neben Messer und Axt ein großer Revolver, den mir Herr Belford beim Abschied schenkte. Jetzt konnte ich mich doch im Falle der Not gegen die Wölfe verteidigen. Gegen Abend erreichte ich eine verlassene Blockhütte. Zwar lag ich warm darin, aber eine Unzahl Ratten und Mäuse ließ mich wenig schlafen und verzehrte einen großen Teil meiner Vorräte. In den nächsten zwei Nächten schlief ich unter überhängenden Felsen. Immer gebirgiger wurde das Land. Steil mußte ich bergan steigen, und ebenso steil ging es wieder bergab.
Am vierten Tage meiner Wanderung erblickte ich morgens von einer dieser Anhöhen, die mir eine unendliche Fernsicht in das bergige Land hinein boten, weit unter mir im Tal zwei kleine Hütten. Abends hatte ich sie erreicht. In einer der Behausungen traf ich zwei Männer, die mich gastlich aufnahmen und mir gern für etwas Geld, mit dem mich Herr Belford ebenfalls versehen hatte, einige Speise gaben. In der zweiten Hütte befanden sich die Pferde für die Post, die hier gewechselt wurden.
Am anderen Morgen, gerade als ich mich wieder auf den Weg machen wollte, kam das kleine Gefährt. Neben dem Kutscher saß auf dem schmalen Sitz, hinter dem die Briefsäcke auf einer Plattform festgeschnallt waren, ein Passagier. Es war ein großer, schlanker Mann mit blondem Vollbart. Er musterte mich mit eigentümlichen Blicken, als er abstieg und in die Hütte schritt, um sich dort an heißem Kaffee zu erwärmen. Gleich darauf kam er wieder zurück und winkte mich zu sich heran. Er fragte mich, woher ich käme.
»Von Belfords Ranche, und nun will ich nach Norden«, antwortete ich keck.
»Du hast viel Aehnlichkeit mit einem Jungen, den sie vor einem Monat in den Blättern von Omaha und Rawlins als verloren ausgeschrieben haben. Der Beschreibung nach könntest du es sein«, meinte er.
Ich hätte bei diesen Worten in die Erde sinken mögen.
»Du bist aber wohl schon länger im Territorium?« fragte er forschend weiter.
»Zwei Jahre«, log ich in meiner Angst.
»Merkwürdig!« entgegnete er und schaute mich noch einmal von oben bis unten an. »Es interessiert mich nur, weil ich ebenfalls einen Sohn in Omaha besitze.« Damit nickte er mir freundlich zu und trat wieder in die Hütte. Ich aber eilte so rasch als möglich hinweg und stieg von neuem in die Berge hinauf.
Ich vermied die Poststraße, um mit dem Manne nicht noch einmal zusammenzutreffen. Doch als ich nach einer längeren Weile das kleine Gefährt weit von mir entfernt im Tale dahinrollen sah, wäre ich demselben am liebsten nachgelaufen, um dem freundlichen Herrn offen und wahr alles einzugestehen. Lange stand ich und blickte der Post nach, bis sie zwischen hohen Felsen verschwunden war. Jetzt kam ich mir wie ein Verbrecher vor. Durch die Zeitungen wurde ich steckbrieflich verfolgt. Konnte ich mich nun noch frei nennen, wo ich fürchten mußte, selbst von den wenigen Menschen entdeckt zu werden, die hier in dem gering bevölkerten Lande lebten? Meine Gedanken malten mir diese Möglichkeit mit immer lebhafteren Farben aus. Und wieder gab es Augenblicke, in denen ich meine Flucht aus dem Vaterhause beinahe bereute. Dazu kam, daß meine Füße heftig zu schmerzen begannen und mir die Wanderung ungemein erschwerten. Abends legte ich mich unter einen Felsen, müde und lebenssatt. Tag für Tag ging es in dieser Weise weiter. Nur wenn mich der Hunger trieb, näherte ich mich mit scheuem Widerstreben einer Hütte. Stets erhielt ich dort bereitwillig Speise und Trank. Und wenn die Leute hörten, daß ich zu Fuß weiter über die wilden Berge wolle, gab man mir selbst dann auch noch reichlich mit auf den Weg, als mein Geld verausgabt war.
So wäre ich gewiß weit gekommen, wenn meine wunden Füße nur gewollt hätten. Kaum vermochte ich, mich noch weiterzuschleppen. Und als ich mich eines Morgens vom Lager erhob, waren sie derartig geschwollen, daß ich meine Stiefel nicht wieder darüber zu ziehen vermochte. Ich wanderte barfuß weiter. Doch auf dem mit Geröll und spitzen Steinen bedeckten Boden lag nur wenig Schnee. Jeder Schritt wurde mir zur größten Qual. Und nach kaum einer Stunde sank ich verzweifelnd auf einen Felsblock nieder. Nun geht es mit dir zu Ende, dachte ich, und bat den lieben Gott, es recht gnädig und kurz mit mir zu machen.
Da schlug plötzlich ein lustiges Gewieher an mein Ohr. Als ich aufblickte, stand nicht weit von mir ein gesatteltes Pferd, das mich verwundert anschaute. Behutsam schritt ich auf das Tier zu. Ruhig ließ es mich herankommen. Ich streichelte und klopfte den schlanken Hals. Der Gaul wieherte abermals. Ich nahm ihn am Zügel und führte ihn weiter. Emsig spähte ich überall nach dem Herrn des Tieres aus, aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Zuletzt beschloß ich die Spur zu verfolgen, die das Pferd zurückgelassen hatte. Mit neu belebter Hoffnung schwang ich mich in den Sattel, der Gaul trabte munter vorwärts. Wohin ich kam, sah ich nur nackte, kahle Felsen. Kein Baum, kein Strauch, geschweige denn eine Hütte ließ sich erblicken. Schließlich verloren sich die Spuren im Schnee. Der Wind hatte sie zugeweht.
Bald darauf bot sich mir eine weite Aussicht in das Land hinein. Noch einmal hielt ich genaue Umschau nach allen Seiten. Doch nichts, kein lebendes Wesen war zu sehen. Ich ritt weiter. Lustig trabte der Gaul seinen Weg, als sei er froh, einen Reiter gefunden zu haben, der ihn lenkte. Gegen Mittag rastete ich bei einem kleinen Bach, an dessen Ufern einiges Präriegras wuchs. Ich nahm dem Tiere die Zügel ab und ließ es trinken und fressen. Es schien sehr hungrig zu sein, denn es fiel gierig über das trockene Futter her. Dann setzte ich bis zum Abend meinen Weg fort, wo ich in einem Talkessel den passenden Platz zum Uebernachten fand. Futter für das Pferd war genügend vorhanden, und Wasser lieferte eine Quelle, die aus einem Felsen hervorsprudelte. Jetzt dachte ich nur noch an das Tier und seine Erhaltung und hoffte noch immer, den Eigentümer aufzufinden. Er sollte mir keine Vorwürfe machen, daß ich für sein Pferd schlecht gesorgt hätte. Nachdem ich dem Gaule Sattel und Zaumzeug abgenommen hatte, sprang er wie toll umher und wälzte sich im Schnee. Ich zündete ein Feuer an, legte mich daneben und schlief bald ein. Am andern Morgen graste das Pferd in meiner Nähe Als ich mich von der Erde erhob, kam es laut wiehernd zu mir hergelaufen und ließ sich satteln und zäumen. Abermals ging es auf die Reise. Der Himmel war klar. Die wilden, schneebedeckten, von der Sonne beleuchteten Berge erschienen mir so herrlich schön. Meine Stiefel saßen wieder an meinen Füßen, die mir nur noch geringe Schmerzen verursachten. Ich wurde aufs neue meines Lebens froh, ja ganz heiter und vergnügt. Nur die Sorge um Lebensmittel quälte mich; denn bis auf ein kleines Stück Speck hatte ich alles aufgezehrt. Gegen Mittag führte mein Weg durch eine tiefe Schlucht. Dichtes Präriegras wuchs überall an den Ufern eines rauschenden Baches. Buschwerk und viele Bäume gaben dem Ganzen das Aussehen eines kleinen Waldes. Gerade wollte ich mich aus dem Sattel schwingen, um dem Pferde eine kurze Rast zu gönnen, als ich mich plötzlich von drei Reitern umringt sah.
»He, Bursche,« rief einer und packte mich an der Schulter, »zeige uns deinen Schein, der dich als Eigentümer des Gaules kennzeichnet!«
Erschreckt stotterte ich, daß ich das Pferd gefunden habe.
Die Männer lachten. Einer meinte höhnisch: »Armeepferde findet man nicht in den Bergen. Gestohlen hast du das Tier!«
Ich versicherte meine Unschuld vergeblich. Man zog mir meine Jacke aus und nahm mir Hut, Revolver, Messer, Axt und Decken ab, während ein Mann einen Strick von seinem Sattel löste, indem er sagte: »Wirst das Landesgesetz doch kennen, mein Junge? Danach wird jeder Pferdedieb ohne Gnade an den nächsten Baum aufgeknüpft.« Er faßte mein Pferd am Zügel und führte es unter einen starken Ast, über den er den Strick warf. »Sprich dein Gebet, wenn du einen Gott hast, mein sauberes Söhnchen! In einer Minute bist du im Himmel!«
Noch einmal wiederholte ich, daß ich unschuldig sei. Ein Hohngelächter war die Antwort der Reiter. Da beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl der Ergebung. Noch einen Blick sandte ich zum Himmel, dann rief ich laut: »Wenn ihr mir nicht glauben wollt, hängt mich!« Ohne Sträuben ließ ich mir den Strick um den Hals legen.
»Oho! Wer verlangt hier so rasch aus dem Leben geschafft zu werden?« tönte jetzt eine Stimme vom Eingange der Schlucht her, und in scharfem Trabe erschien mit seinen Leuten Bill, der mich zu euch gebracht hat.
»Der Junge hat das Pferd, das er reitet, gestohlen!« entgegneten die Männer, indem sie scheu zurückwichen.
»Was geht das euch an?« fragte Bill zornig und riß den Strick vom Baumast. »Laßt ihr euch etwa die Gäule schenken? Darf ich euch raten, so entfernt euch so geschwind wie möglich von hier, oder« – – Er hob seine Büchse und spannte den Hahn. Ohne ein Wort der Erwiderung ritten die drei Männer eilig davon.
Soeben war ich noch bereit gewesen zu sterben, jetzt dankte ich dem Schöpfer aus vollem Herzen für meine Errettung. Ich hatte nun viele Fragen des Anführers zu bestehen, nachdem dieser mit seinen Leuten von den Pferden gesprungen war und auch mir abzusteigen befohlen hatte. Bald wußte er, daß ich ohne ein bestimmtes Ziel im Lande umherirrte. Man gab mir zu essen, Bill schenkte mir die Wolljacke, da ich vor Kälte zitterte. Aus den Bemerkungen der Menschen, die mir das Leben geschenkt hatten, ersah ich zu meinem Schrecken, daß ich mich unter einer Bande Wegelagerer befand. Sie hatten ein großes Feuer angezündet und sich daneben gelagert, als die Pferde abgesattelt waren. Eifrig ging die Whiskyflasche von Hand zu Hand. Dabei rühmten sie sich lachend ihrer Heldentaten, wie sie hier einem Menschen das Geld abgenommen, dort eine Hütte ausgeplündert und in Brand gesteckt hatten. Es war schrecklich anzuhören. Und als ich mir ausmalte, daß ich bei diesen Räubern und gewiß auch Mördern bleiben sollte, dachte ich, es wäre besser gewesen, man hätte mich aufgehängt.
»Hier, stärke dich, Junge! Das macht warm!« rief Bill mir zu und reichte mir die Flasche.
Ich weigerte mich zu trinken. Aber das half mir nichts. Er gab sich nicht zufrieden, bis ich eine große Menge von dem mir widerlichen Getränk hinabgespült hatte. Ich mußte dabei an meinen berauschten Vater denken. Die scharfe Flüssigkeit verfehlte bei mir ihre Wirkung nicht.
Ich taumelte zum größten Vergnügen der Leute von einer Seite zur anderen. Nur Bill kam freundlich zu mir. Er breitete einige Büffelfelle auf den Boden aus und legte mich darauf. »Hast des Guten zu viel genossen, mein Junge. Komm und schlafe deinen Rausch aus!« sagte er gutmütig. Und nun drehte sich alles mit mir im Kreise: die Männer, die Bäume, das Feuer, die riesigen Felswände. Mir wirbelte vor den Augen bald alles bunt durcheinander. Damals schwor ich mir, nie wieder einen Tropfen Whisky über meine Zunge zu nehmen!
Jim lachte und kratzte sich hinter dem Ohr. »In dem Getränk steckt der Teufel. Das wissen wir auch!« meinte er. »Aber wer einmal Geschmack daran fand, trinkt immer wieder. Ist es nicht so, Bruder?«
Charley blickte vor sich hin und nickte. »Wenn es nicht so wäre, würden wir wohl nicht jetzt nach zwanzig Jahren noch immer arm wie Kirchenmäuse Fallen stellen und Biber fangen. Doch nun erzähle zu Ende, mein Junge. Es wird kalt und ist Zeit, daß wir uns zur Ruhe legen.«
»Ich bin fertig mit meinem Bericht,« entgegnete der Knabe. »In der Nacht wurde ich geweckt Bill teilte mir mit, daß er mich zu zwei ihm befreundeten Trappern bringen wolle, da er mich bei seiner nächsten Unternehmung nicht gebrauchen könne. Wir sattelten die Pferde und ritten ab. So kam ich zu euch. Jetzt kennt ihr meine Vergangenheit. Stoßt mich nicht von euch, und laßt mich nicht noch einmal ein solch jämmerliches Leben führen! Wie gern will ich für euch arbeiten und mich nach Kräften bemühen, euer Handwerk zu erlernen! Von ganzem Herzen bitte ich euch, behaltet mich hier! Behaltet mich hier!«
Charley stieß seinen Bruder in die Seite. »Nun, Jim? Besinnst du dich noch länger, nachdem du weißt, daß wir es mit keinem Verbrecher zu tun haben?«
Jim rückte auf seinem Sitze hin und her, und sagte zögernd: »Du willst, daß der Junge bleibt. Würde ich mich nicht damit einverstanden erklären, dann wäre der Friede zwischen uns vielleicht zerstört, den wir zwanzig Jahre aufrecht erhielten. Das möchte ich vermeiden. Auf dich aber lege ich jede Verantwortung, wenn wir heute eine Dummheit begehen.« Und indem er dem Knaben seine Rechte hinhielt, fügte er hinzu: »Hier, mein Junge, hast du meine Hand! Auch ich habe nichts dagegen, wenn du bei uns bleibst!«
Jubelnd ergriff Bob die Hände der Trapper, und während ihm die hellen Tränen über die Wangen rollten, stammelte er: »Habt Dank! Tausend Dank! Der liebe Gott möge geben, daß ich euch alles vergelten kann!«
Eine halbe Stunde später lag der Knabe bei den Brüdern in der Hütte in warme Büffelfelle gehüllt. Die Freude, wieder ein Heim gefunden zu haben, ließ ihn lange nicht einschlafen. Er hörte das klagende Geheul der Wölfe nah und fern, wie er es so oft vernommen, als er einsam und verlassen so manche Nacht unter freiem Himmel voll Angst und Sorge frierend auf seinem Lager durchwacht hatte. Heute fühlte er sich sicher, glücklich und zufrieden wie nie zuvor. Und als ihn endlich der Schlaf übermannte, träumte er von einer kommenden, schönen Zeit. Sich aber sah er schon bei froher, heiterer Arbeit in den wilden, herrlichen Bergen als Fallensteller.