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Die alten Götter im christlichen Kult.

Einmal, als ich im Nowgoroder Gouvernement in den Wäldern neben der Bahnstation Luban jagte, suchte ich Unterkunft im kleinen Dorfe Marjino. Nicht weit vom Dorfe befand sich das Herrschaftsgut der Fürsten Golizin, eines der höchsten Adelsgeschlechter Rußlands, direkter Nachkommen Ruriks.

Eines Abends flüsterte mir der Wirt der Hütte, die ich bewohnte, ein gewisser Basil Batonin, geheimnisvoll ins Ohr:

»Wollen Sie nicht zur »Radienje«, der Andacht der Chlysten kommen?«

Ich wußte, daß die Chlysten Sektierer waren und daß ihre Andachten oder ihre religiösen Mysterien sich durch eine ungeheuere Wildheit auszeichneten. Von Neugier getrieben, schlug ich ein.

Es war schon neun Uhr abends. In dunkler Herbstnacht gehen wir nach dem fürstlichen Besitz. Mein Wirt führte mich in eines der großen Nebengebäude, die den Hof des Schlosses umgeben. Es herrscht Halbdunkel im geräumigen Saale, der nur durch sieben dicke Wachskerzen, die in allen Ecken des Saales brennen, beleuchtet ist. Es ist schwül und heiß, da nicht weniger als 80 Personen hier versammelt sind, Männer, reife Frauen und junge Mädchen, fast noch Kinder. Ich erblicke ein vom Alter ganz schwarz gewordenes Heiligenbild, einen großen Weihbrunnkessel und ein dickes, in Holz gebundenes Buch. Auf dem Tische brennt eine Kerze.

Vor dem Tische, der zum Altar umgewandelt ist, steht ein ungemein breitschulteriger Bauer mit langem schwarzen Bart und Haar, das er durch ein ledernes Stirnband zusammengehalten hat.

Die Menge hat sich in geraden Reihen aufgestellt, das Geräusch der Schritte und das Flüstern ist verstummt. Der breitschulterige Bauer beginnt einen altslawischen Text aus dem Buche vor ihm zu lesen und macht über Stirn und Brust die Zeichen des Kreuzes, dieses durch Kniebeugen und tiefe Neigungen zur Erde unterbrechend. Seine Bewegungen werden immer rascher, immer gewaltsamer und die Augen der Anwesenden, wie durch einen Taumel gebannt, sind starr auf diesen Priester geheftet. Endlich schnellt er empor und ruft: »Betet und bringet Euere Opfer dar!«

Er ergreift jetzt aus einem im Winkel liegenden Reisigbündel eine lange Rute und fängt an, sich damit über Kopf und Rücken zu schlagen. Wie so die Rute pfeifend die Luft zerreißt, erinnere ich mich an die blutigen Mysterien der Derwische, die ich in der Türkei und in der Krim gesehen. Der »Priester« hat seine Bluse und sein Hemd weggeworfen und ist bis zum Gürtel entblößt. Das Schlagen mit der Rute wird rascher und immer stärker. Sein ganzer Rücken ist mit roten Streifen durchkreuzt. Blut spritzt heraus und fließt in dünnen Strömen den Rücken hinab. Jetzt stürzt sich die ganze Menge mitsamt meinem Wirte auf die Ruten. Ein allgemeines Peitschen beginnt. Ich höre das Pfeifen der starken und biegsamen Gerten, das schwere Atmen der Anwesenden und ihr Stöhnen. Sie reißen ihre Kleider herunter, um die Tortur bis zum äußersten Gipfel zu führen.

Der Priester, in seiner Geißelung fortfahrend, fängt zu springen und sich auf einem Fuße zu drehen an. Einige von den Anwesenden machen es ihm nach und in ein paar Minuten ist der ganze Haufe in Bewegung, schlägt sich gegenseitig mit den Ruten, etwas Unverständliches vor sich hinmurmelnd und ein Geschrei mit einer sehnsüchtigen und stöhnenden Stimme anhebend.

Einige von ihnen fallen in kurzem um, auch der Priester, während die anderen immerfort ihre Sprünge weiter machen und sich um ihre eigene Achse drehen, dabei die Liegenden zerstampfend.

Die Luft ist mit der Ausdünstung der ermüdeten, schweißtriefenden Körper geschwängert und riecht nach Stiefeln und schmutziger Wäsche.

Jemand löscht die Kerzen aus und beim Scheine eines einzigen am Altar stehenden Lichtes kann ich nur einen Haufen aufeinander liegender, halbnackter, ermüdeter, von Blut triefender, halbtoter Frauen- und Männerkörper erblicken.

Das ist eine »Radienje«.

Was für eine mißverstandene Bibelseite mag wohl diese ungeheuerliche psychisch und moralisch kranke Sekte ins Leben gerufen haben?

Ich denke, daß man ihren Ursprung in den apokryphen Büchern suchen kann, die in großer Anzahl während langer Zeit sich im christlich-byzantinischen Imperium, das immer mit Rußland moralisch und religiös in naher Beziehung stand, befanden.

Die Geißlersekte hat sich besonders während der Regierung Paul I. verbreitet, und zwar ist sie nicht nur in die Häuser der reichen Kaufleute eingedrungen, sondern auch in die der Aristokratie und sogar an den kaiserlichen Hof gekommen. Der Kommandant des düsteren Palais Paul I., den seine eigenen Untertanen erwürgten, war mit seiner ganzen Familie ein eifriger Anhänger dieser Sekte. Es wird auch erzählt, wie es dazugekommen.

Der Kommandant des Schlosses besaß eine sehr schöne, religiös veranlagte Tochter. Die Chlysten trachteten nun, sie dieser Sekte zuzuführen, um mit ihrer Hilfe auch die einflußreichsten Leute am Zarenhofe zu gewinnen, denn schon damals munkelte man über Gerichtsuntersuchungen und Verfolgungen der Sekte. Man ließ an das junge Mädchen den Sohn eines reichen Kaufmannes, der Anhänger der Sekte war, herantreten. Die Bekanntschaft wurde gemacht, der junge Mann gefiel und wurde zum ständigen Gast des Kommandanten. Eines Tages, als von der Geißlersekte Erwähnung getan wurde, stachelte er die Neugierde des Fräuleins an und bat sie, einmal den Mysterien beizuwohnen. Der junge Kaufmann bekleidete damals selbst die Priesterwürde. Seine religiöse Ekstase, seine begeisterte Stimme und seine schöne Erscheinung haben bei einer so ungewöhnlichen Veranlassung und mystischen Stimmung dem jungen Mädchen ungemein gefallen.

Eine helle Begeisterung und ein tiefes Entzücken bemächtigte sich ihrer, als sie den jungen Priester seinen rituellen Tanz beginnen sah. Seine drehende Bewegung wurde so rasch ausgeführt, daß sein Gesicht fast unsichtbar wurde; er wußte die Drehungen zu einem solchen Grade zu führen, daß er dadurch im Zimmer einen starken Wind verursachte, der alle Kerzen zum Verlöschen brachte. Obwohl das Fräulein in die Sekte eingetreten war und die Mitglieder ihrer Familie ihrem Beispiele folgten, auch viele von ihren aristokratischen Bekannten, so verfolgte doch Paul I. unbarmherzig die Chlysten, ließ sie mit Stöcken und Peitschen auf einem öffentlichen Platze bei den Klängen der Soldatentrommel schlagen und dann nach Sibirien verschicken. Ich erinnere mich, daß trotzdem noch im Jahre 1911 in Petersburg solche Mysterien der Chlysten aufgedeckt wurden, an welchen Kaufleute und aristokratische Familien teilnahmen.

Die Chlysten haben sich zumeist in den Gouvernements Jaroslau, Saratow und Ufim niedergelassen, wo die Priester dieser Sekte sich in den Häusern der reichen Kaufleute verborgen hielten.

Eine Sekte, noch grauenhafter als die der Chlysten, trieb auch ihr Unwesen. Besucht man in Petersburg und Moskau die Stadtteile, wo sich die kleinen Wechselstuben befinden, da fällt einem eine Anzahl gelber, verschrumpfter, schläfriger, bartloser Männergesichter, deren fette Körperformen fast wie Frauengestalten aussehen, in die Augen.

Diese Gesichter und diese Gestalten gehören den Besitzern dieser Wechselstuben an, welche eine besondere Menschenkaste bilden.

Sie sind alle Skopten, das sind Anhänger einer speziellen Sekte, welche des Glaubens ist, daß die Menschheit nur so lange bestehen könne, so lange sich in der Gesellschaft Leute finden, die freiwillig sich der Mittel der Fortpflanzung berauben. So wollen sie die Geburt des Antichrist verhindern.

Die Skopten nennen sich die »weißen Tauben«, was die Unschuld dokumentieren soll. Die einen werden zu Skopten in den Jahren ihrer Kindheit, die anderen erst im Mannesalter. In den Familien, die seit Jahrhunderten zu dieser Sekte gehören, muß immer ein weißer Täubling oder eine weiße Taube sein.

Falls keiner aus der Familie sich dazu hergeben will, überreden die Skopten, ohne an Geldmitteln zu sparen, fremde Leute, in ihre Sekte einzutreten und das Siegel der »weißen Taube« zu empfangen.

Die Polizei hat diese Sekte und ihre Praktiken scharf bewacht und die Gerichte Rußlands haben diesen Unfug strenge bestraft. Trotzdem hat man die Erhaltung dieses Glaubens in den traditionellen Skoptenfamilien halbwegs toleriert. Die Jaroslauer und Kostromer Gouvernements, aus denen diese reichen Bankiers mit ihren gelben, verwelkten Gesichtern stammen, sind seit Jahrhunderten der Sitz dieser Sekte.

Die Grundlagen ihrer religiösen Abstammung sind mir unbekannt. Doch muß ich bemerken, daß es in den strengsten orthodoxen Klöstern ein düsteres, mittelalterliches Empfangszeremoniell des sogenannten »Großen Siegels« gibt, wo der Mönch durch Operation der Männlichkeit benommen wird.

Wir sehen daraus, wie uralt diese Reste alter Religionen sind, vielleicht dem Brahmanentum, dem Glauben der Derwische oder den noch älteren Kulten Ägyptens und Babylons entstammend. In den Kulten der Astarte und Isis gibt es Spuren von ähnlichen Riten, die in das Christentum eingedrungen sind und sich auf so krasse Weise in der »Skoptensekte« offenbaren.

Diese Sekte wurde mehrmals, wie oben erwähnt, durch die russische Regierung energisch verfolgt, doch sie kam immer wieder aus den schweren Drangsalen glücklich heraus, indem sie ihre Rettung den großen, sich in Skoptenhänden befindenden Kapitalien verdankte.

Die Skopten sind ruhige, langsame, kluge Leute mit großer Handelsbegabung. Sie sind rachsüchtig, boshaft und sehen mit Verachtung alle Menschen an, welche nicht zu ihnen gehören.

Die ersten Skopten existierten schon im ersten Jahrhundert unserer Ära und das »Siegel der weißen Taube« war nie im Christentum verschwunden, hat sich vielmehr bis zum zwanzigsten Jahrhundert in der orthodoxen Kirche erhalten. Unter der Regierung Paul I. hat man diese Sekte besonders verfolgt und einige ihrer Familien nach Sibirien verbannt, bis hinauf in das Gouvernement von Jakutsk. Es ist dies der kälteste Teil Sibiriens, wo die Erde im Sommer nicht mehr wie 6 Zoll tief auftauen kann.

Ich kenne diese düsteren Orte der Verbannung und der Qual.

Denn hierher hat eben die russische Regierung auf lange Jahre die für sie gefährlichen revolutionären Agitatoren versandt. Es ist ein Land der Urwälder, der ungeheuer großen Flüsse, der unerforschten Sümpfe, wo sich trotzdem Oasen der Kultur befinden. Diese Oasen wurden durch die unter der Regierung Paul I. versandten Skopten angelegt. Sie haben es verstanden, sich den klimatischen Verhältnissen anzupassen, haben gelernt, Getreide und Kartoffeln zu ernten, sie auf dem Wege der Selektion zustande zu bringen, indem sie davon spezielle Gattungen zum Entwickeln brachten. Sie wollen nicht mehr nach Rußland zurückkehren, obgleich sie schon lange die Amnestie erhalten haben, denn in Sibirien ist es ihnen leichter, die Tradition ihrer Sekte aufrecht zu erhalten, die ihnen über alles geht.


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