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In dem riesigen, hohen Saal breitete das Gericht seine ganze herrliche Pracht und sein Grauen aus. Es war ein Winterabend. Von der Decke herabhängende Kronleuchter und an glatten, weißen Wänden brennende Lampen ergossen ihr Licht auf die scharlachroten Bezüge der Tische, auf die Fenstervorhänge, und auf die bunte Mannigfaltigkeit der Gesichter und Kleider des Publikums. Im Hintergrund des Saales nahmen die Richter Platz, an einer Seitenwand ließen sich die Geschworenen auf zwei hohe und reich verzierte Bänke nieder. An einem Fenster war der Ankläger, gebeugt über einen reichlich beleuchteten Tisch, in ein eifriges Studium des Gesetzbuches vertieft, an einem anderen blätterte der Sekretär in einem Stoß Papier. Ein zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmter Beamter, dessen Anzug mit Goldstickereien geschmückt war, setzte sich etwas zur Seite, nachdem er rasch und lautlos durch den Saal gegangen war. In der herrschenden Stille, die nicht einmal durch die für einen Augenblick angehaltenen Atemzüge von einigen hundert Menschen gestört wurde, verkündete der Gerichtsvorsitzende laut und deutlich das Verbrechen, das den Angeklagten zur Last gelegt wurde. Es war kein gewöhnliches Vergehen gegen das Gesetz, sondern ein Verbrechen, ein schreckliches Verbrechen, eines von jenen, die von Zeit zu Zeit vor den gequälten Augen der Menschheit vorbeiziehen wie bösartige und grauenhafte Träume. Wer waren die unglücklichen Menschen, zu welcher sozialen Schicht gehörten sie, wie sahen sie aus, die es begangen hatten? Einige hundert Augenpaare richteten sich einmütig auf die Anklagebank.

Gegenüber den hohen, verzierten Sitzen der Geschworenen schrieb der Offizialverteidiger, unruhig und in Gedanken versunken, mit nervösen Handbewegungen irgendwelche zusammenhanglose Notizen auf ein Blatt Papier. Unmittelbar hinter ihm, über einer hohen Banklehne, erhoben sich und standen hell beleuchtet vier Männergestalten in langen grauen Gefängniskitteln. Einen Augenblick vorher waren sie hier durch eine Tür hereingekommen, durch die man in einen fast völlig dunklen Seitengang blicken konnte. Man hätte glauben können, daß sie aus einem Abgrund kamen. Die niedrige Tür schloß sich auch bald hinter vier bewaffneten Soldaten, die sich zu beiden Seiten der Anklagebank aufstellten und ihre Seitengewehre in das blendende Licht der Lampen eintauchten. Zwischen den im Lampenlicht glitzernden Seitengewehren, ihren Richtern direkt gegenüber, im Licht, das jeden ihrer Gesichtszüge und auch jedes Fältchen um so deutlicher erscheinen ließ, antworteten die vier Angeklagten abwartend und ohne die geringste Bewegung auf die an sie gerichteten Fragen des Gerichtsvorsitzenden.

Ihre Namen?

Einigermaßen deutlich antworteten nacheinander vier laute Männerstimmen:

»Peter Dziurdzia.«

»Stefan Dziurdzia.«

»Simon Dziurdzia.«

»Klemens Dziurdzia.«

Ihr Beruf?

Bauern, Landwirte und Grundbesitzer. Nur der letzte besaß noch kein Land zu eigen, doch er war Sohn und Erbe des ersten, Peter Dziurdzias, der nicht nur einen Bauernhof besaß, sondern vor einigen Jahren auch das im sozialen Leben der Bauernschaft wichtige Amt des Dorfschulzen innegehabt hatte.

Und jetzt die interessanteste Frage.

Ob sie sich des Verbrechens für schuldig bekennen, dessen man sie angeklagt hatte?

Und wieder antworteten vier Stimmen nacheinander, leiser oder lauter:

»Ich bekenne mich schuldig.«

Sie geben ihre Schuld zu. Keine Zweifel bestehen also, daß sie dieses Verbrechen begangen haben. Und es sind doch keine Bettler, keine Vagabunden, es sind nicht Angehörige des Proletariats, die in einer vergifteten Atmosphäre beißender Gehässigkeiten und hinterlistiger Räubereien leben, sondern Ackerbauern, welchen Gottes Winde Munterkeit und Gesundheit bringen … Besitzende, welchen ihr eigener Grund und Boden üppige Ähren bringt … Arbeiter, deren ermüdete Häupter in Ernst und Sauberkeit lorbeergekränzten Häuptern gleichkommen … Was soll das bedeuten? Sind sie denn schon als Ungeheuer geboren worden? Hat sie der Genius des Verbrechens mit seinem Atem gestillt, als sie noch in der Wiege lagen? Haben sie kein Herz und kein Gewissen gehabt, haben sich denn in ihrer Brust niemals die Gefühle der Güte, des Mitleids und der Lauterkeit geregt, welche die Menschheit innerhalb von Jahrhunderten in ihrem Schoß mit Mühe erzeugte und erzog? Sind sie vielleicht Irrsinnige, Idioten, Dummköpfe, die Gutes vom Bösen nicht zu unterscheiden vermochten?

Sonderbar! Umsonst forschten einige hundert Augenpaare in ihren Gesichtern! In diesen eine Erklärung dafür zu finden, was sie getan hatten, war unmöglich. Sie sahen weder solchen ähnlich, die den Samen des Verbrechertums mit auf die Welt gebracht hatten, noch Irrsinnigen oder Idioten.

Der erste von ihnen, der Peter Dziurdzia hieß, war groß, ziemlich schlank, nicht mehr jung, doch immer noch von kräftiger Gestalt und stark. Sein Haar war sehr dicht, dunkelblond, ergraut und so lang, daß es ihm bis auf den Kragen des Gefängniskittels fiel. In der Umrahmung dieser langen, ergrauten Haare und des kurz geschnittenen Bartes wirkte sein etwas blasses Gesicht durch die Milde und den Ernst des Ausdrucks durchaus anziehend. Die Wangen, im Gefängnis vielleicht etwas abgemagert, beschrieben ein sanftes und regelmäßiges Oval, die Lippen zitterten leicht unter dem strohblonden Schnurrbart, auf der schmalen Stirn zeichneten sich dunkel einige tiefe Falten, und die grauen, nachdenklichen Augen blickten unter den buschigen Augenbrauen langsam, ernst und sehr traurig umher. Als er sich in der Anklagebank erhob, konnte man die kaum wahrnehmbare Handbewegung sehen, mit der er auf der Brust das Kreuzeszeichen machte, und als er alle an ihn gestellten Fragen beantwortet hatte, legte er seine gefalteten Hände auf die Banklehne und richtete seine Augen nach oben. In diesen Augenblicken erschien in seinem Gesicht etwas Träumerisches, etwas, was ein inneres, demütiges, in der Tiefe der Seele geflüstertes Gebet verriet. Bald jedoch bedeckten die Lider die im Gebet vertieften Augen, der Rücken beugte sich, der Kopf fiel auf die Brust, und so, mit gefalteten Händen, ernst, gutmütig, sehr traurig, verharrte er reglos weiter.

Ganz anders als Peter sah sein Vetter Stefan aus. Ebenfalls hochgewachsen, doch breitschultrig und von sehr gerader Haltung, mit pechschwarzem Haar und schwarzem, großem Schnurrbart, wäre er eine wirklich herrliche Erscheinung eines gutgewachsenen, kräftigen und schönen Bauern gewesen, wenn nicht sein auffallend und vorzeitig gealtertes Gesicht gewesen wäre. Er war noch keine vierzig Jahre alt, und doch waren seine regelmäßigen Gesichtszüge so durchfurcht und so zerknittert, daß man in ihnen umsonst nach der kleinsten glatten Stelle suchte. Dabei hätte es scheinen können, daß irgendein großes Feuer dieses Gesicht so lange bestrahlt hätte, bis es ganz dunkel, ja beinahe braun geworden war. Es war offensichtlich, daß es nicht durch physische Armut so geworden war, sondern durch heftige Leidenschaften und grausam bitteren Kummer. Die schwarzen Augen Stefans blickten düster, doch klug und sogar scharf vor sich hin; in seiner Haltung und seinen Bewegungen zeichnete sich Energie ab, deren Übermaß sich in einer unbändigen, auffahrenden Heftigkeit entladen mußte.

Einen dritten, von den ersten beiden völlig verschiedenen Bauerntypus stellte Simon Dziurdzia dar. Klein, mager, mit krausem und verworrenem Haar, das tief in die Stirn fiel und sie fast ganz verdeckte, mit dem immer etwas offen stehenden Mund und der kurzen, knolligen Nase, war er ein älteres, häßliches, tölpelhaftes, durch übermäßigen Alkoholgenuß verblödetes und fast vertiertes Männchen. Seine Säuferaugen von wässrigem, blassem Blau schwammen in einer ungesunden Feuchtigkeit; von Zeit zu Zeit wischte er sich mit den kurzen und schmutzigen Fingern eine Träne von den Augen und zerrieb sie gedankenlos auf den mageren, gelben Wangen. Aus seinen Bewegungen, seiner Haltung und aus seinen Blicken erriet man, daß ihn eine schreckliche Angst und ein Gefühl der Erbitterung beherrschte. Ängstlich, erbittert, verblödet, wußte er nicht, wo er die Hände verstecken sollte, und so legte er sie einmal ineinander und ließ sie dann wieder am Körper herabhängen, ohne den Mund auch nur für einen einzigen Augenblick zu schließen.

Der jüngste von allen, noch sehr jung, kaum zweiundzwanzigjährig, war Klemens, der Sohn des ehemaligen Dorfschulzen Peter Dziurdzia. Dieser hübsche, blondhaarige Bauernjunge mit rundem, rotbackigem Gesicht und himmelblauen Augen erschien wie eine Mohnblume, die, auf weiten Feldern großgeworden, hier in das Gedränge von Menschen, in das künstliche Licht und die vom Grauen der zur Entscheidung anstehenden Schicksale durchtränkte Atmosphäre gewaltsam verpflanzt worden war. Nur ein einziges Gefühl malte sich auf seinem jugendlichen Gesicht, das frisch war wie die Morgenröte – das Gefühl der Beschämung. Als die Menge zum ersten Male auf ihn blickte, stieg ihm plötzlich eine tiefe Röte in Wangen und Stirn. Als er die Worte aussprach: »Ich bekenne mich schuldig«, errötete er wiederum, und das wiederholte sich jedes Mal, wenn im Verlauf der Gerichtsverhandlung sein Name genannt wurde. Manchmal wurde er ganz nachdenklich und schaute irgendwohin in die weite Ferne. Manchmal aber überwand seine jugendliche Neugierde alle anderen Gefühle. Dann blickte er schüchtern, jedoch neugierig auf alles, was ihn umgab und was er bei sich daheim nicht einmal im Traume sehen konnte. Mein Gott! Wie hell war es hier! Als ob der Himmel sich geöffnet hätte und alle seine Strahlen auf die Erde gefallen wären! Wie viele Menschen waren hier! Als ob die halbe Welt sich hier zusammengefunden hätte! Welch herrliche Kleider! Als ob ein frohes Fest hier stattfinden sollte. Und was sollte er hier? Was war er hier? – Ein Verbrecher, der gerichtet werden sollte … Wie würde das Urteil sein? Gott allein wußte das. Hinter diesen Wänden wehten Gottes Winde. Sie flogen bis zu seinem Heimatdorf, bis zu jener Hütte, in der die alte Mutter unglücklich zurückgeblieben war; sie flogen zu jenen Feldern, die er schon seit Jahren pflügte, seit jenen Jahren, als die Sonne noch so hell schien, die Kräuter dufteten, das Herz gleichmäßig, leise und lustig schlug, nicht so wie jetzt, da es vor Scham und Angst in der Brust pochte wie eine zum Begräbnis schlagende Trauerglocke …

Diese vier Menschen also hatten jenes furchtbare Verbrechen begangen, das schrecklich war wie der Traum einer stürmischen Winternacht? Es war auch in einer stürmischen Winternacht geschehen … Aber warum? Auf welche Art? Welchen Versuchungen, welchen Einflüsterungen waren die vier unterlegen?

Aus Zeugenaussagen, aus Akten der Gerichtsverhandlung, aus Gesprächen, die mühevoll angeknüpft und fleißig belauscht wurden, aus all dem, was die Angeklagten ihrem Verteidiger anvertrauten, enthüllte sich jenen, die sie kennenlernen wollten, die nachfolgende Geschichte.


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