Georg Freiherr von Ompteda
Die Tafelrunde
Georg Freiherr von Ompteda

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Reinheit

Eine seltsame Geschichte beschäftigte die Geister auf kurze Zeit.

In Tagesblättern stand eines Morgens die Notiz: »Gestern fand am Wannsee ein Zweikampf auf Pistolen statt, bei dem, wie es heißt, beide Gegner schwer verwundet worden sind.«

Man las es gleichmütig im Beginn, dann aber mit jenem ärgerlichen Bedauern, das zu sagen scheint: »Schon wieder, warum nur immer?« Am nächsten Tage verbreiteten die öffentlichen Stimmen die Nachricht, einer der beiden Gegner sei gestorben. Nun wurde die Neugier wach: wer mag das sein? Schon gab es Leute, die ihr Leibblatt schlecht unterrichtet schalten, da es nicht einmal den Namen zu nennen wußte. Er blieb nicht lange verborgen, denn es war der eines Mannes, der mitten im Streite der Meinungen stand. Hauptmann Friedrich Lentz zeigte den Tod seines einzigen Bruders Christoph Lentz an. Nichts sprach von den Umständen, unter denen der Gefallene aus dem Leben geschieden, nichts vom Beruf. Leutnant der Reserve war nur hinzugefügt. Doch ein Zweifel konnte nicht bestehen, daß es sich um den jungen Bildhauer handelte; Christoph Lentz, den man als Mensch kaum gekannt und der doch als Künstler so viele Federn, noch mehr aber Münder in Bewegung gesetzt. Eine Zeitung schrieb:

»Es scheint unser Verhängnis zu sein, daß so mancher deutschen Stammes, der Großes leistet, das Größte aber noch verspricht, in der Blüte der Jahre aus seinem Schaffen gerissen wird. Wir erinnern nur an: Theodor Körner, Heinrich v. Kleist, Mozart, Feuerbach, Hugo Wolff und so viele andere.«

Das Begräbnis fand in aller Stille statt. Man hörte erst davon, als sich längst der Hügel über dem verwesenden Körper des jungen Plastikers wölbte. Sein Schicksal schien zu sein, daß man von dem, was sein Leben betraf, erst vernahm, nachdem es vorüber, wie in seinen kurzen Ruhmesjahren die zarte Gestalt dieses starken Bildners wesenlos zurückgetreten war hinter den unbändigen, wildbewegten Bronzen und Marmorblöcken, die man von ihm auf den Ausstellungen sah.

Gleichsam die Fahne, unter der er gekämpft, war jenes Bildwerk, das er bei einem Wettbewerb eingereicht unter dem stolzen Kennworte: »Nicht wie alle«. Den ersten Preis hatte ihm die Gruppe eingetragen und das Entsetzen der Philister dazu, den Zorn der Banausen, die ihn, den Reserveoffizier, sogar dem Ehrenrat hatten anzeigen wollen. Es stellte zwei Menschenkinder dar in innigster Verschlingung, vom jungen Schöpfer nicht ferne von jenem Augenblick gewollt, da aus der natürlichen Liebe der beiden das dritte erblühen würde.

Der Bannfluch der deutschen Tantenseele traf alle: Preisrichter, Ausstellungsleitung, Kritiker, die das Werk lobten, vor allem aber den jungen Künstler, nun mit einem Schlage aus dem bangen Dunkel stiller Arbeit auf den sonnengrellen Markt geworfen. Es war, als blende ihn das Licht, das so jäh auf ihn fiel. Er wehrte sich nicht gegen die Angriffe, er schien sich kaum zu freuen des Erfolges, den er sich geholt. Er zeigte sich nicht einmal in der Ausstellung, die ganz Berlin, auch das kunstärmste, oberflächlichste, gesehen haben mußte.

Man besuchte die Gruppe »Nicht wie alle« als Notwendigkeit zum Gesprächstoff. Man stieß sich an und kicherte, man schrie nach der Polizei, man trat in diesen einfachen Oberlichtsaal allein, um vor anderen nicht zu erröten, Herren äußerten ihr Entsetzen, aus schönem Auge den Dank zu empfangen: ›Wie bist du zart‹, einzelne wohl begeisterten sich ehrlich, andere jedoch dachten: ›Ist der Lentz ein Glückspinsel, nun ist er ein gemachter Mann.‹ Ja, man tuschelte von einem Schlaukopf, dem nun plötzlich Absichten niedriger Tiefe untergeschoben wurden.

Christoph Lentz aber weilte nicht unter ihnen, weder unter den Maulreißern noch unter jenen, die ihn priesen. Sein Bild wollten die Zeitungen bringen – er antwortete nicht einmal. Da ward es allmählich stiller um den jungen Bildner und seinen keimenden Ruhm. Er aber ward dessen nicht gewahr, wie er nicht gemerkt, daß ihn manch schönes Frauenauge vergeblich gesucht, daß er nach dem Gotte des Goldes nur die Hand zu strecken brauchte.

Christoph Lentz saß in seiner kahlen Werkstatt, die er mit den Gestalten seiner Erfindung erdrückend reich bevölkert, vor einer neuen Arbeit. Er mühte sich darum mit zitternden Nerven, stand auf mitten in seinem Werk und schrieb mit einem Stück Kohle in Riesenbuchstaben an die nackte Wand jene ewige Künstlerlast und doch höchstes Glück des schaffenden Menschen: »Mehr«.

Er wollte höher hinauf, er wollte besser machen. Davon träumte er allein. Die Umwelt war für ihn versunken. Nun reihte sich Arbeit an Arbeit. Auf den Ausstellungen wurden die Werke dieser hohen Phantasie, dieses gleichsam selbstverständlichen technischen Könnens, die Mole, an der sich die Flutwellen der Meinungen am wildesten brachen. Da kam unmittelbar nach den jugendlich glatten, im Liebeskampf verstrickten Körpern der ersten Gruppe das enttäuschende Gegenteil: »Der Alte«, ein armseliger, ausgemergelter Greis mit Triefaugen und all den Zeichen, die hohe Jahre und Entbehrung in einen einstmals straffen Menschenleib zu fressen vermögen. Ein selbstloser älterer Bildhauer prägte das Wort: »Vereinfachte Wirklichkeit« und fand Rodins »Altes Weib« aus dem Luxembourg-Museum kleinlich dagegen.

Kaum waren Enttäuschung und Abwendung der Masse vergessen, als bei der »Sezession« ein neues Bildwerk stand: »Der Schrei«, Nicht mehr vereinfachte Wirklichkeit, sondern ein gequältes Menschenkind, dem alle Nervenenden offen zu liegen schienen, daß es, von sägendem Schmerze gefoltert, hinausbrüllen, brüllen, ja brüllen mußte die übermenschliche Qual.

Endlich aber das letzte, von dem man gesprochen: zwei Gestalten aus französischem Kalkstein in Lebensgröße, voll gebundener Kraft, die Muskeln zu Knollen und Strängen gespannt, Mann und Weib, bereit, sich aufeinanderzustürzen. Aus ihren Augen schienen Brunst und Haß zugleich zu leuchten. Sie zarter und doch muskulös, er ein Riese, aber geduckt durch irgendeine Gewalt, vielleicht – sie. »Feinde« stand darunter.

»Was meint er damit?« wurde gefragt. Man hörte, der Künstler sei verreist, nicht einmal um die Aufstellung hatte er sich gekümmert. Es wurde erzählt, er habe gesagt: »Das Ding ist fertig – was geht es mich noch an – ich muß Neues machen!« Diese Gleichgültigkeit des Schöpfers gegen sein Werk erregte Unwillen, doch auch Neugierde. Immer war er seltsam, immer anders.


Und nun war die sichere Hand erstarrt, das Auge gebrochen, das so unerbittlich gesehen. Man begriff es nicht. Es schien jetzt, als verlange man von dem, der zu Lebzeiten ängstlich die eigene Person von seiner Kunst getrennt, er solle im Tode den Mantel abwerfen, und da sein Mund auf ewig geschlossen, hielt man sich an den Überlebenden. Er sollte reden. Aber wer war sein Gegner? Es blieb verborgen. Nicht einmal die Sekundanten bekam man heraus.

Da sickerte doch etwas durch. Christoph Lentz hatte außer seinem Bruder einen einzigen Menschen besessen, der ihm nahestand. Man forschte also nach ihm: Er hatte eine weite Reise angetreten. »Um die Welt«, wie es immer hieß, wenn einer Europa den Rücken wendet mit der Absicht, nicht so bald wiederzukehren. Nun begann man sich mit der Person dieses Freundes zu beschäftigen. Zuerst ward der Name genannt: Erich Verheyen. Also holländisch-flämischer Abkunft. Doch er war ein Rheinländer. Er gewann Gestalt: ein ruhiger, einfacher Mensch, an dem nichts Besonderes schien. Nicht weit von Christoph Lentz' Werkstätte hatte er gewohnt. Die Nachbarn erinnerten sich seiner sehr wohl: groß, blond, blauäugig, ein wenig langweilig von Angesicht.

Warum war just dieser vom Schauplatz abgetreten? Warum eben jetzt? Die Öffentlichkeit ließ die Fährte nicht mehr los, und mit einem Male stand es fest: Kein anderer war des Bildhauers Gegner gewesen als eben jener Freund. Wer das aufgebracht, wußte man nicht, doch es ward nicht widerlegt. Im Gegenteil: bald darauf fand es Bestätigung durch eine Gerichtsverhandlung gegen Erich Verheyen wegen Zweikampfes mit tödlichen Waffen und mit tödlichem Ausgang. Ganz kurz vorher ward die Stunde erst bekannt. Trotzdem hatte sich alles eingefunden, was an besonderen Tagen die Verhandlungssäle zu füllen pflegt. Leute, die alles erleben mußten, hatten überall Hebel angesetzt, eine Eintrittskarte zu erhalten. Man wäre bereit gewesen, Preise zu zahlen wie bei einem nie wiederkehrenden Gastspiel.

Die gewöhnliche Zuhörerschaft der Gerichtssäle: Verbrecher und Verbrecherlehrlinge, fehlte. An ihrer Stelle sah man Damen und Herren der obersten Gesellschaftskreise, Künstler und Kunstgenossen. Das Verhandlungs»zimmer«, mehr konnte man es kaum nennen, war dicht gefüllt. Im letzten Augenblick wurde noch ein Stuhl eingeschoben. Sofort verbreitete sich das Gerücht, jemand würde anwesend sein, erst das rechte Licht zu verbreiten. Dunkle Ahnungen meinten: eine Frau. Als nun ein älterer Herr Platz nahm, von den anwesenden Juristen, auch vom eintretenden Gerichtshofe begrüßt, klärte sich der Unbekannte auf als der Justizminister.

Man hatte nicht Zeit auf ihn zu achten, denn auf der Anklagebank nahm ein blonder, blauäugiger, sehr blasser, noch junger Mann Platz. Augen und Gläser richteten sich auf ihn. Er wandte sein Gesicht allein dem Gerichtshofe zu, nicht die Lippe, nicht die Brauen, keine Falte regte sich in seinen Zügen.

Es wurde in die Verhandlung eingetreten. Nur die harte, glasklare hochliegende Stimme des Präsidenten erklang, als er, die Personalien abhandelnd, kaum von den Akten aufblickte. Der Angeklagte stand. Er war sehr groß und hielt sich etwas gebeugt, indem er mit den Fingerspitzen beider ausgestreckten Hände nervös nach dem Pult vor ihm zu tasten suchte. Sofort ging der Präsident auf den Zweikampf ein, und es stellte sich heraus, daß Erich Verheyen selbst die Anzeige gegen sich beim Oberstaatsanwalt erstattet hatte. Die »Reise um die Welt« entsprach also nicht den Tatsachen.

Der Präsident hob den Kopf:

»Von wem ist die Forderung ausgegangen?«

Hatten bis dahin die Zuhörer sich noch bewegt, sich aufmerksam gemacht, so blieb nun alles regungslos. Der Angeklagte sah seinen Verteidiger an, vor ihm. Ihre Blicke begegneten einander. Dann antwortete Verheyen:

»Ich war der Geforderte.«

»Aus welchem Grunde wurden Sie gefordert?«

Stille war, daß man das geringste Geräusch hätte vernehmen müssen. Der Angeklagte atmete tief. Ein Augenblick Pause. Die Zuhörer reckten förmlich die Hälse. Aller Aufmerksamkeit war bis zum äußersten gespannt, und die Augen suchten den Mund des großen, blonden Menschen, der allein endlich das Rätsel lösen konnte. Er gab keine Antwort. Der Präsident wiederholte eine Schwebung schärfer seine Frage. Der Angeklagte beugte sich weit vor zu seinem Verteidiger. Nun sah man das graubärtige Gesicht des Anwaltes sich heben. Die Gläser seiner Brille blendeten, daß nur ein paar spiegelnde Scheiben sichtbar wurden, als sollten sie die Sprache der Augen verdecken. Der Angeklagte richtete sich auf, aber während er redete, sanken seine Blicke, sein Kopf, sein Oberkörper nieder:

»Darauf muß ich die Aussage verweigern.«

Ein kurzer, vergeblicher Versuch, ihn zum Reden zu bringen, dann ging die Verhandlung fort, nun, wie es schien, jeglichen Interesses für die Zuhörer bar. Hatte der Angeklagte in seiner bescheidenen Ruhe sich Teilnahme, fast Mitleid erworben, so ärgerte man sich jetzt über ihn. In seiner Hand lag es, die Neugierde zu befriedigen, und er tat es nicht. Mit verstimmten Blicken wurde er betrachtet. Die Aufmerksamkeit erlahmte. Erst als der Verteidiger sich erhob, wich die Abspannung, in der Hoffnung, er möchte, um den Gerichtshof versöhnlich zu stimmen, trotzdem irgendwie die Beweggründe andeuten, die zum verhängnisvollen Kampf geführt hatten.

Neue Enttäuschung folgte: Die Rede beschränkte sich darauf, zu betonen, daß der Angeklagte der Geforderte gewesen sei und nach den Ehrbegriffen seiner Kreise die Forderung habe annehmen müssen.

Während der Verteidiger sprach, saß Erich Verheyen regungslos da, die Augen zu Boden gerichtet. Nur einmal blickte er auf, als sein Anwalt sagte:

»Der Zweikampf hat zu einem bedauernswerten Ausgange geführt: dem Tod eines Menschen. Aber konnte den Angeklagten nicht das gleiche Schicksal treffen? Ist bei einem Duelle nicht dem Zufall ein großer Spielraum eingeräumt? In der Handhabung der Waffen ist der Gefallene, als Offizier der Reserve, ohne Zweifel geübter gewesen als Herr Verheyen, der nicht gedient hat, auch nie zu seinem Vergnügen oder zur Übung den Schießstand aufsuchte. Beide sind verwundet worden. Ja, zuerst schien es, wie Herr Geheimrat Professor Ihne ausgesagt hat, daß die Verwundung des Angeklagten schwerer sei als die seines Gegners. Der Angeklagte konnte genau so gut der Wunde erliegen und sein unglücklicher Gegner mit dem Leben davonkommen. Zufall! Alles Zufall! Ob Herr Lentz die Absicht gehabt hat, den Mann, den er gefordert hatte, auch zu töten – ich vermag es nicht zu sagen. Herr Verheyen hat seinem Gegner jedenfalls nicht nach dem Leben getrachtet« – –

Er hielt inne, und in diesem Augenblick klang durch den Verhandlungssaal des Angeklagten lautes: »Nein, nein, nein!«

Jetzt reckten sich die Hälse, nun bewegten sich die Köpfe hin und her, um ja recht zu sehen, wie Erich Verheyens hohe Gestalt in sich zusammensank. Die Morgensonne war kurz vorher über die Dächer der jenseitigen Straßenseite gestiegen und beleuchtete hell die Anklagebank, daß gleich Taugefunkel in den Gräsern Augen und Wangen des Angeklagten tränenüberströmt glänzten.

Nun wandte sich ihm das Mitgefühl wieder etwas zu. Hätte er jetzt gesprochen, er hätte nach der Stimmungslaienseele nicht einmal verurteilt werden dürfen. Doch er schwieg von neuem. Sein Anwalt setzte sich, vielleicht im Gefühl, durch Worte die Wirkung nicht mehr abschwächen zu sollen. Der Staatsanwalt faßte sich kurz, dann zog sich der Gerichtshof zurück, und der Angeklagte blieb sitzen, den Kopf gesenkt, kaum achtend auf das, was sein Verteidiger flüsternd mit ihm sprach.

Man unterhielt sich unter den Zuhörern. Niemand konnte begreifen, daß Erich Verheyen den Grund zum Zweikampf nicht nennen wollte. Es hätte seine Strafe gewiß gemindert! Doch einzelne gaben zu bedenken: Verheyen war der Geforderte, also hatte er offenbar dem jungen Bildhauer etwas angetan. Vielleicht war das schimpflicher Natur, und der Angeklagte schämte sich nun, es zu gestehen? Aber wieder: wenn der unselige Schütze so ehrliche Reue empfand, wie es schien, hätte er nicht gern sein gequältes Gewissen entlastet? Die Träne, die noch eben in den ersten Strahlen der Sonne gefunkelt, hatte in die Herzen der Menschen einen Widerschein geworfen, daß die Blicke der Damen voller Mitleid auf diesem großen Mann dort drüben ruhten, der so weich schien, so tief erschüttert.

Da wandte sich ihm die Rätselseele der Massen abermals zu, und nun wieder bangte man vor dem Urteil. Die Minuten verstrichen, noch immer kehrte der Gerichtshof nicht zurück.

Einmal kam von irgendeinem die Behauptung, der Bruder des Erschossenen, Hauptmann Lentz, sei anwesend. Man bezeichnete sogar einen Herrn, der, bei braungebranntem Gesicht, in der Art, sich zu geben, etwas Soldatisches an sich hatte; doch bald wußte ein Jurist aufzuklären, daß der vermeintliche Hauptmann ein bekannter Rechtsanwalt sei, der eben eine Landwehrübung gemacht hätte.

Die Blicke ruhten mit nervöser Spannung auf der Tür, die hinter dem Stuhle des Präsidenten in das Beratungszimmer führte. Sie blieb verschlossen. Nun spann man immer weiter alle Möglichkeiten aus: Warum hatte Lentz seinen Freund gefordert? Und die Erklärung schlich heran, glitt von einem zum anderen, ward ohne Prüfung angenommen, setzte sich fest, nistete sich ein, ward allgemein, unumstößlich – wie hatte man nur darauf noch nicht kommen können – es handelte sich natürlich um: eine Frau.

Da öffnete sich langsam die Tür. Der Gerichtshof erschien, bedeckte sich. Der Angeklagte hatte sich ganz von den Menschen ab, allein seinen Richtern zugewendet. Er stand noch gebeugter, immer mit den langausgestreckten Händen nervös nach dem Pulte vor sich tastend.

»Im Namen des Königs!« Das Urteil lautete auf zwei Jahre Festungshaft, dem Antrage des Staatsanwalts entsprechend.

Wie eine Abspannung ging es durch die Menschen, die langsam den Verhandlungssaal verließen. Man hatte wohl noch einen Blick auf den Angeklagten geworfen, als wolle man sehen, wie er die Strafe aufnähme, doch da er sich nicht rührte, erlosch schnell die Anteilnahme. Draußen ward das Urteil besprochen. Die Herren fanden es hart, die Damen zeigten etwas wie Schadenfreude, als hätten sie nun doch für den Kampf um die Plätze, die Hitze im Saal, das lange Warten auf den Gerichtshof etwas gehabt. Eine schöne blonde Frau meinte, der Präsident sei »riesig schneidig« gewesen, wie er die zwei Jahre verkündete, die einen Menschen seines freien Willens beraubten. Das war so ziemlich alles, was vom Eindruck des Tages blieb.

Doch die Gerüchte ruhten nicht: immer weiter ward der Faden gesponnen, angeknüpft an den letzten Gedanken, daß eine Frau im Spiel sein müsse. Müßige begannen das Leben des toten Künstlers zu durchforschen. Die Frage ward gestellt: welches Weib hatte in seinem Künstlerdasein eine Stelle eingenommen? War es eine Dame der Gesellschaft gewesen? Nein, denn diese spielten im Leben dieses scheuen Künstlers keine Rolle. Konnte man an eine flüchtige Bekanntschaft denken, eine Liebschaft von heute zu morgen? Wer den jungen Bildhauer nur einigermaßen gekannt, wußte eines: er war ängstlich den Frauen gegenüber, ein Mensch, von dem man im Scherze beim Regiment gesagt hatte, er habe noch nie das Weib kennen gelernt, trotz seiner fast dreißig Jahre, und obwohl ihn sein Beruf mehr schöne Körperformen hatte sehen lassen, als einem Nichtkünstler je geschah. Gerade daran hing sich der Klatsch. Ein Bildhauer – es mußte also ein Modell sein. Und nun trat die Sache in ein anderes Licht. Von irgendwoher kam es und stand plötzlich fest: ein Mädchen, das der Überlebende der Freunde geliebt, hatte dem toten Künstler Modell gestanden. Freilich wollte das wieder damit nicht zusammenpassen: Christoph Lentz hatte Erich Verheyen gefordert und nicht umgekehrt. Aber die Menschen fanden schnell eine Erklärung: Der große, starke Verheyen sollte seinen kleinen, zarten Freund zur Rede gestellt und tätlich angegriffen haben. Die Folge war eine Forderung des Reserveoffiziers Lentz gewesen.

Das ward mit solcher Sicherheit vorgetragen, klang auch den Leuten so natürlich ins Ohr, daß niemand mehr daran zweifelte. Doch eines beschäftigte abermals die Menschen und ließ den Fall Lentz nicht zur Ruhe kommen: wer war das Modell? Fast dünkte offenbar dieses neue Rätsel den Müßigen fesselnder noch als die Beschäftigung mit dem jungen Bildhauer! Das Erstaunliche schien, daß die Gerüchte, die bisher so unermüdlich am Werke gewesen, jetzt mit einem Male stumm blieben. Man mußte doch eine Dame mit den Freunden gesehen haben; bei dem Verstorbenen war sie gewiß aus und ein gegangen. Nun – wie kam es, daß man davon nichts vernahm? Und heute? War sie verschwunden? Wies keine Spur zu ihr? – Rätsel über Rätsel.

Schon begann man sich mit anderem zu beschäftigen. Es gab irgendeinen neuen Skandal: die Bloßstellung eines Mannes in hoher Stellung, der Zusammenbruch eines Riesenunternehmens, ein gemeiner, täppisch roher Ehebruch, eine Mordtat auf vielbewegter Straße. Der Zweikampf der Freunde versank langsam in den von der Zeit immer weiter geöffneten Schlund Vergessenheit. Da kam von irgendwoher ein neuer leiser Wind, den sterbenden Funken des Interesses anzufachen. Abermals etwas ganz Natürliches: die Figur, sei es in Stein oder Erz, in Gips oder gar erst in Ton, die Figur jener Dame mußte doch noch vorhanden sein, als stummer Kläger gegen den toten jungen Meister.

Und mit einem Male erinnerte man sich dessen, was über all dem Klatsch und Tratsch schier ganz vergessen worden war: der Werke, die der erschossene Bildhauer hinterlassen hatte. Christoph Lentz hatte immer seine Werkstatt gehütet gleich einem Heiligtum. Keinem Kunstfreund, keinem Kunstrichter, keinem Kunstgenossen oder Laien ward je Einblick vergönnt. Es störe ihn, unterbinde seine Gedanken, lenke ihn von seinen Absichten ab, pflegte er zu sagen, wenn ein anderer das Werdende zu sehen begehrte, das in dem stillen Hofatelier der Hohenzollernstraße stand.

Jetzt gab eine Zeitung der allgemeinen Anschauung Ausdruck. In einem ernstgehaltenen, guten Aufsätze forderte der junge Kunstkritiker Abel Markus eine Ausstellung des Nachlasses. Und er wies gleich, ehe sich die Erben noch geäußert, den etwaigen Einwurf zurück: das ginge niemand etwas an. Nein, ein Großer wie Christoph Lentz gehörte nicht mehr allein der Familie, sondern seinem Volke, dessen gutes Recht es war, zu verlangen, daß ihm nicht vorenthalten werde, was der zukunftsreichste Plastiker deutschen Stammes hinterlassen hatte. Der Aufsatz ward von anderen Blättern aufgenommen, die jene Forderung des einzelnen zur allgemeinen erhoben. Es schien, als sei ein völkisches Interesse zu wahren, und man empfand, der Gedanke konnte nicht wieder zur Ruhe kommen.

Eine Zeitung brachte etwas wie eine Erklärung, hinter der man die Familie vermuten durfte: nein, eine Ausstellung des Nachlasses von Christoph Lentz war nicht beabsichtigt. Abel Markus, eine Kampfhahnnatur, antwortete, als sei er plötzlich durch solche Entscheidung beleidigt worden, in einem flammenden Aufsatze, überschrieben: »Das Recht am Künstler«. Das Blatt, das mit der Familie Fühlung zu haben schien, entgegnete nicht. Der junge Heißsporn kam mit einem neuen Artikel, so gehalten, als hätten die Erben ihm geantwortet und er sei nun verpflichtet, deren Gründe zu widerlegen. Danach war die Familie, die der Kunstrichter gar nicht kannte, in konventionellen Gesellschaftsideen befangen, ja, eine typische Vertreterin des Militarismus, des Böotiertums, der Banausenweltanschauung.

Die Familie schwieg.

Abel Markus war empört. Er ließ sich hinreißen, von künstlerischen Gesichtspunkten gänzlich abschweifend, dem Klatsch seine Feder zu leihen, indem er, in seiner Leidenschaftlichkeit, durch Erziehung oder Ehrbegriff nicht gehalten, aus Gerüchten Tatsachen machte. Er erzählte, im Nachlasse hätten sich eine Menge Werke gefunden, ja fast ein Dutzend Figuren in verschiedenem Material, und alle stellten das gleiche Modell dar.

Die Familie schwieg.

Nicht so der Klatsch, der nun plötzlich, weit über den jungen Kunstkritiker hinausgehend, zur ständigen Spalte ward im lokalen Teil der Zeitungen als: »Der Fall Lentz«. Die Zeitschriften brachten Abbildungen der früheren Werke des jungen Bildhauers, jede hielt es für notwendig, ihren Kunstrichter zu Worte kommen zu lassen über: »Christoph Lentz als Plastiker«, »Des Christoph Lentz Technik« und wie die Betrachtungen alle hießen. Man konnte jetzt gewiß sein, in jedem Aufsatze über Bildhauerei den Namen Lentz zu finden. Ein Vorstadttheater kündigte ein Drama an: »Das Modell«, aus dessen Personenverzeichnis allein man den Inhalt »Christoph Lentz« erriet. Ein förmliches Lentz-Fieber schien die Reichshauptstadt erfaßt zu haben.

Nun überboten sich die Nachrichten. Es hieß, unter den neun Figuren des Nachlasses – es stand bereits fest, daß es gerade neun waren – befände sich eine ohne Kopf. Ja, wahrhaftig – ohne Kopf. Warum ohne Kopf? Sehr einfach: die Gesichtszüge sollten nicht verraten, wem dieser herrliche Mädchenleib angehörte.

Aber die Weisesten lächelten über solche Unkenntnis: würde ein Künstler gerade den Kopf von den Schultern nehmen, der doch erst dem Körper, auch dem schönsten, Ausdruck verleihen mußte? Hätte ein schönheitsdurstiger Plastiker je so etwas getan? Gab es nicht ein viel einfacheres Mittel, dem Dritten zu verbergen, wer der wunderbare Akt im Leben war? Nein, die hüllenlose Marmorgestalt jener Dame, die ihrem Bildner den Tod gebracht, hatte das Haupt von einem Schleier umschlungen.

Da: Aufregung. Kein Gerücht – nein, Sicherheit. Gewiß, mit Bestimmtheit hatte es ja erzählt – wer doch? Aber was tat der Name, stand es nicht fest: die Figur trug eine Maske? Wirklich eine Maske, aus dem Marmor gehauen. Nein – nein – und nun wuchs die Neugier, stieg die Erregung: die Maske saß nur lose auf dem Gesicht. Eine goldene, vom Künstler herrlich ziselierte Kette hielt sie, über das Haar geschlungen, fest. Ein winziges Schloß bannte sie auf den Zügen, ward es aufgetan, so ließ sich die Maske abnehmen, und frei lag das holde Antlitz da in seiner entschleierten Rätselschöne.

Und wie hieß die liebliche Gestalt? Hatte doch Christoph Lentz seinen Werken immer einen Namen gegeben! Man nannte sie: »Die Maske«. Aber das klang zu aufdringlich, und: »Eine Fremde« wurde daraus, die über: »Wer« und »Geheimnis« und »Die Unbekannte«, über Rätselworte und Plumpheit emporstieg zur Behauptung, im Marmor des Sockels sei ein halbverwischtes, stilisiertes Fragezeichen in weichen Linien eingegraben.

Zu allem schwieg die Familie.

Da wurde aus Gerücht und Gemurmel, aus Legende und Märchen unerschütterliche Gewißheit, wie der biegsame, feuchte Ton, in dem der Bildhauer das Modell seines letzten Werkes hinterlassen, da ihn der Künstler nicht mehr mit Wasserstrahlen netzte, da seine Hand nicht mehr modelnd an ihm schuf, allmählich hart ward und erstarrte. Es stand fest: Christoph Lentz hatte seines Freundes Verheyen keusche Braut hüllenlos erblickt und mit glühendem Auge und eiliger Künstlerhand festgehalten zu ewiger Erscheinung. Sein herrlichstes – sein letztes Werk.

Mit Treubruch, mit Verrat am Freunde schloß dieses stolze Künstlerleben eines Mannes, der, den Größten seiner Kunst nahegerückt, durch Irrtum und Schuld die letzten Stufen nicht mehr erklommen, wo jene stehen, die als große Künstler auch große Menschen gewesen sind.

Da kam, nun, wo es die Begriffe der Masse nicht mehr nötig wähnten, des toten Künstlers Bild und Geschichte festzustehen schien, als das Interesse mählich sich anderen Dingen zuzuwenden begann – ein neuer Anstoß.

Geheimrat Professor Vultejus, der bekannte Germanist, teilte in einer weitverbreiteten Wochenschrift folgendes mit:

»Von den mir befreundeten Angehörigen eines verstorbenen Bildhauers sind mir nachstehende Aufzeichnungen aus dessen Nachlasse übergeben worden mit der Erlaubnis, sie nach Gutdünken zu verwenden. Es erscheint mir Pflicht, das Bild des ungewöhnlich begabten jungen Künstlers von manchen Schlacken der öffentlichen Meinung zu befreien, auch wenn dabei Personen, die in dem Drama des Toten eine Rolle gespielt haben, in einem anderen Lichte erscheinen sollten als bisher. Die Familie hat gezögert, gewissen Gerüchten entgegenzutreten in der Erwartung, dieses würde von den Beteiligten selbst geschehen. Da die noch Lebenden, an denen es gewesen wäre, aufzuklären, sich jedoch schweigend verhalten, mag nun der Tote sprechen.

Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, haben die Aufzeichnungen des jungen Künstlers manches Überschwengliche, seltsam Naïve, auch wohl Dunkle. Erst gegen Ende der Seiten ändert sich der Stil. Man fühlt, der Schreiber ist nicht mehr mit seinem Skizzenbuche allein (ein gewöhnliches Großoktavheft mit Zeichenpapier und festem Deckel in grauem Leinen, wie es der Künstler bei sich führte, um etwa auf der Reise oder am Abend daheim plastische Einfälle festzuhalten), sondern der Gedanke ist ihm im Lauf der Ereignisse gekommen, sein Verhalten für alle Fälle einem Dritten klarzulegen. Von diesem Augenblicke ab fehlt die Ursprünglichkeit, als blicke ihm jemand während des Schreibens über die Schulter. Aber ich denke, die Einbuße an Natur wird uns ersetzt durch den erschütternden Blick in eine hochgeartete, in den tiefsten Tiefen aufgewühlte Seele.

Ich bemerke noch, daß ich manches gestrichen habe, um der Lesermasse einer großen Wochenschrift das Mitgehen zu ermöglichen, denn wie man sich in weiten Kreisen mit dem Schicksal des Künstlers befaßt hat und zu Schlüssen gekommen ist, die den Tatsachen nicht entsprechen, so soll versucht werden, den gleichen weiten Kreisen die Wahrheit zugänglich zu machen. Ich habe aber mit ernstem Bemühen den Rotstift so walten lassen, daß nur die Breite eingedämmt erscheint, nirgendwo aber der Sinn. Am Wortlaute habe ich nichts geändert; die Namen durch andere zu ersetzen hielt ich für meine Pflicht, denn diese Veröffentlichung will keinen Dritten treffen, sie soll nur das Andenken rein erhalten an einen großen Künstler und Menschen.«

Das stand in der letzten Nummer des letzten Vierteljahres. Mit dem neuen Jahrgange begannen die Aufzeichnungen.


Wieder bin ich ihr begegnet. Diesmal unerwartet. 5 Uhr, die Zeit, wo sie gewöhnlich schon zu Haus ist. Ich war in Gedanken: Verrocchios Colleoni, das herrlichste Reiterstandbild der Erde, strahlte vor meinen Augen. Ich dachte an den Tag, da ich es zum ersten Male erblickt, als ich mit F. in Venedig war. Und ich verglich die Hautfalten am Halse des Pferdes mit denen an Donatellos Gattamelata. Der Feldhauptmann des Donatello ist ein Menschenalter früher. Was hat Verrocchio gelernt! Er hat den Hals stärker gebogen, die Muskulatur gestrafft, das Pferd läßt er greifender schreiten (Paßgänger). Der Reiter sitzt nicht, er steht eisern in den Bügeln. Die steile Linie des Gepanzerten zu den bewegten Rundungen des Tieres. (Linke Schulter vorgenommen durchbricht die sonst drohende Einförmigkeit, zugleich Ausdruck des Stolzes.) ... Ich wollte von ihr sprechen, und immer kommt das »métier«. Aber müssen wir nicht? Sehen wir nicht in allem unsere Kunst und alles durch unsere Kunst? Sehe ich sie anders? Zittert nicht in meinem Herzen der Grundton mit: dieses köstliche Geschöpf möchte ich machen? (Nur in blaßrotem Marmor. Nie Bronze. Sie nicht. Sie müßte rosig atmen.)

Der Gedanke an den Gattamelata ist nicht Zufall, denn an der Gruft des heiligen Antonius, wenige Schritte nur von Donatellos Reiter, habe ich sie zuerst gesehen. Sie stand ganz ruhig. (Die wildbewegten Sachen ermüden doch; ich müßte nur Ruhe machen. Ruhe ist Einfachheit – trotz reicher Einzelheiten, die man geben könnte. Das Nächste, das ich versuche, soll ruhig sein. Wäre es sie!) Neben ihr lehnte am Grabmal eine Padovanerin, ein armes, zerlumptes Geschöpf, die flache Hand an den Marmorsarkophag gelegt, glaubend, Sankt Antonius würde ihr helfen, wenn sie sich kasteite durch stundenlange Ermüdung in der unbequemen Stellung. Sie aber blickte in das dämmernde Kirchenschiff hinaus. So einfach, so selbstverständlich (am Spielbein straffte sich der Rock, der in die Bewegung nicht mitgegangen war), als könne sie nur so, nur so stehen. Und mir kam sofort der Gedanke: so müßte man sie stellen. Sie war so glatt gekleidet, in dünnen Stoffen, daß ich mich nicht irren konnte: die Linien mußten herrlich sein, die Verhältnisse dieses Mädchenkörpers schienen mir über die Maßen wundervoll.

Aber ich wollte sagen: ich bin ihr wieder begegnet, nun das fünfte-, sechstemal hier in Berlin. Sie kam am Arm einer Freundin vorüber. Nie habe ich so lachen hören. Es klang so unbändig, so zweifellos. Aber es war nur ein Lachen, das der anderen hörte ich nicht. Sie hat es der Freundin erzählt, dieses Märchen vom Verfolger, vom Schatten, vom »fliegenden Holländer«, wie sie mich wahrscheinlich nennen, da ich doch nun schon zweimal im Vorüberschreiten »Holländer« vernommen habe.

Und es paßt ja alles so gut: schwarz bin ich immer gekleidet, schwarze Krawatte, schwarzer Hut. Bleich bin ich von Angesicht – Atelierluft, als schlüge sich Ton und Gipsstaub auf uns nieder – nur der dunkle Bart fehlt und das schwarze Wellenhaar im Nacken. Bin ich nicht ein moderner Mensch? Modern? Ach, und all meine Sehnsucht ist bei der alten Kunst! Natürlich ist die Kritik dessen noch nicht »weise geworden«, wie mein Putzer der Einjährigenzeit zu sagen pflegte. Sie halten mich für übermodern, für ganz neu – als ob es Neues in der Kunst überhaupt gäbe. Wenn die Ochsen wüßten, daß ich beim »Jüngling« nur an den mit dem Füllhorn in Mantegnas Bacchanal gedacht habe – ihn plastisch leben zu machen. (Natürlich nicht Kopie, aber gedacht, immer daran gedacht – daß er ganz anders wurde, ist meine Sache.) Nie, nie den Menschen etwas von Plänen sagen!

Und dennoch, ihr möchte ich es sagen. Zu ihr treten und sprechen: »Ich heiße – so und so – Ich bin Künstler, ich habe Augen und Hände, aber ohne Modell kann ich nichts machen. Denkst du so groß, wie du schön bist, du liebe Gabe der gütigen Natur, so hilf mir arbeiten.

Aber das kann ich ihr nie sagen, und das martert mich.

 

Sie lacht immer, wenn sie mich sieht. Lacht mich aus. Natürlich, denn sie versteht wohl meine stumme Huldigung nicht, die ihrer Erscheinungsform gilt, nicht ihrer Seele. Was weiß ich von der – ich kenne sie ja nicht: Aber gibt es ein Weib, das Persönliches ausschalten könnte?

Ja, du unbekanntes Wesen, dessen Form und Linienfluß sich mir in Auge und Herz gesenkt vom ersten Augenblick an, wo ich dich erblickt, wenn du mich hören könntest, ich würde zu dir sagen: »Halte still, nur ein wenig halte still, laß mich dich formen, ich bitte dich darum! Ich denke ja nur noch an dich! Wenn ich mich zur Arbeit sammeln will, entgleitet mir alles unter den Fingern – und ich zeichne dein Bild. Ich kann nichts mehr sprechen, ohne mit den Gedanken abzuschweifen und bei dir mich wiederzufinden. Dann suche ich es mir tausendmal zu wiederholen: ich kenne dich ja nicht, aber was mir auch der Verstand einreden will – ich kenne dich doch, kenne jeden Zug deines Antlitzes, jede Fläche an deinen Wangen, den Fluß deines Haares, die ...«

Nein, anderes kenne ich nicht.

Ihr wilden Mädchen meintet, ich müßte verletzt sein, als ihr so lachtet, aber wie ich in deiner lauten Freude dir nur ernst in die Augen sah, da verlor sich das Lachen von deinem Munde, und unter meinem Blicke wurdest du stumm. Nun will ich dich jedesmal zum Ernst, zum Schweigen zwingen. Ich will – du mußt. Wehre dich, wie du magst, du mußt. Meine Stunde kommt, die, wo du in Ton vor mir stehst als mein unverrückbares Eigentum. Eines Morgens, wenn mein Auge dich ganz eingesogen hat, gehe ich an die Arbeit. Ich stehle dich mir in meine verschwiegene Werkstatt. Du kannst dich mir entziehen – ich kenne dich nicht – aber du kannst meinen Augen, meinen Händen nichts verbieten. Mein Gedächtnis ist scharf. Laß mich dich noch einmal, zweimal erblicken, dann gehörst du mir. Ist das Werk vollendet, so begehre ich dich nicht mehr.

Jetzt aber noch, ehe ich den ersten Fingerdruck getan, schlagen mir, näherst du dich nur, alle Pulse. Da fiebert mir die Ader an der Stirn, da pocht mir das Herz zum Zerspringen. Ich habe dich nicht gesehen, nicht gehört, nicht hat mir die Luft einen Hauch von dir zugeführt – aber ich fühle es, weiß es – du bist da.

Und dann ist plötzlich alles still in meiner Seele. Ich schlage die Augen auf – du stehst vor mir. Und wir schreiten aneinander vorbei, und ich sehe dich an – unbeweglich.

Du bist vorüber wie ein Schatten ...

Von der Erscheinung zehre ich bis an den nächsten Tag ...

Nie war ich so glücklich ...

Nun lache mich aus!

 

Es ist nur, daß ich sie bilden will. Es ist die Erregung des Schöpfers vor der Arbeit.

(Sie muß gegen 1.70 m sein. Schulterbreite 0.36 bis 0.39 m. Sie hat acht Kopflängen. Vielleicht darüber. Beim Berufsmodell fand ich es fast nie. Ich schätze: die Maße sind richtig, und ich könnte das Gerüst bauen, genau so wie sie in Sant Antonio in Padua stand.)

 

Vergeblicher Versuch! Da steht der Kopf, aber mehr? Und die Flächen stoßen zu scharf aufeinander. Karikatur. Wer hielte diese weichen Übergänge fest aus dem Gedächtnis? Und erst der Stein würde leben. Der Stein würde atmen wie sie. Aus ihm müßte man sie herausholen, wie in der Sixtinischen Kapelle der Schöpfer den Finger reckt, Adam zu schaffen. (Widerlegtes Märchen, daß Michelangelo gleich aus dem Marmor die Eingebungen des Genies geschlagen. Ich sah die Wachsmodelle der Medici-Gräber in der Schottischen Nationalgalerie.) Mein Gott, mein Gott, und wenn alles drängt, alles nur auf das eine Ziel gerichtet ist, warum soll es nicht Wirklichkeit werden?

Es müßte etwas sein, das noch nie einer so gemacht hat. Nicht Stein, sondern bebendes Leben, daß man erschräke, es zu sehen. Nein, nicht so, o nein: daß man innehielte davor und ganz still würde vor dem Werke, das blöde Augen und tölpelnde Finger Gottes Schöpfung entrissen. Wahrheit würde es sein, nicht gräßliche Wirklichkeit. Wahrheit, die ich suche in meiner Kunst, solange ich nur denken kann.

Aber wie soll das je werden? Ist es nicht das Verhängnis des Plastikers, daß die Modelle, die ihm zu Gebote stehen, gewöhnliche Mädchen sind mit schlechter Ernährung in jungen Jahren, solche Körper aber, die alte Kultur verfeinert hat, die sorgsame Pflege zur letzten Schönheit erhöhte, uns unerreichbar fern bleiben?


Das war ein Wunder. Noch begreife ich selbst nicht, wie es geschehen. Ich traf sie ganz allein an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Mittags. Hitze. Das Erdpech des Bodens schien auszudünsten, weich von der Sonnenglut gleich Plastilin. Und ich zögerte nicht, sondern ging gerade auf sie zu:

»Ich kenne Sie aus Sant Antonio!«

Sie blieb stehen, als wolle sie kehrt machen. Und ich fand nicht den Mut, weiter zu sprechen. Sollte ich alles verderben? Wenn sie nein sagte, was finge ich an! Ich zog den Hut:

»Vergeben Sie mir!«

Sie wendete sich ab, und ich ließ sie gehen. Ich habe sie nicht wiedergesehen. – Herbst. – Nichts. – Sie ist fort. – »Feinde« beendet. Ja, Mann und Weib sind Feinde! In dieser Erkenntnis konnte ich wieder arbeiten. Die Gruppe soll wirklich so heißen. Wer das verstünde! Aber du Rätselwesen bist mir Feind, denn aus dir, mit dir könnte ich das Beste machen, das meinen armen Händen gegeben ist, und du willst nicht ...

Die Gruppe ist fort. Mögen W. & Co. sie aufstellen, was geht sie mich noch an. Ich will sie machen, sie, sie, sie, die verloren ist ...

Gestern abend nach dem Sarasate-Konzert in der Philharmonie ... als ich den Saal verlassen wollte, aber noch zögernd an der Tür blieb, weil der Künstler, jubelnd gerufen, nun schon die dritte Zugabe spendete, stand sie plötzlich wieder vor mir gleich einer Erscheinung. Ich weiß genau, daß ich sie lange starr betrachtete und sie mich auch. Ich war so erschrocken, so – wie gelähmt. Auf mich geheftet hatte sie ihre großen Augen, in denen nichts zu lesen war, nichts, das ermutigt, aber auch nichts, das mich abgewiesen hätte. Nie erblickte ich solchen Ausdruck. – So fern –

Aber warum sah sie mich so lange an? Sie hätte zur Seite blicken können. Warum tat sie es nicht?

Sie war fertig zum Gehen, den Pelzmantel um die Schultern, ein rotes, seidenes Tuch mit Fransen – wohl spanisch – über dem Haar. Sie konnte fort. Warum hat sie mich nicht bestraft mit Nichtbeachtung? Ich hatte keinen Hut und keinen Überzieher. Das sah sie doch. Ich mußte noch an die Garderobe. Das Gedränge, bis man die Kleidungsstücke bekam, kannte sie und wußte, daß noch Minuten vergehen würden, bis ich fertig war.

Sie hatte also Zeit, mir auszuweichen. Aber als ich mich an den Ausgang stellte, ohne jede Hoffnung, sie wiederzusehen, da erschien sie neben mir. Im Vorüberschreiten blickte sie mich an. Fern.

Ich verlor im Dunkeln in der ausströmenden Menschenmenge ihre Spur, lief und lief, und plötzlich, ohne daß ich sie erblickt, sagte mir wieder eine Sehnsucht: sie ist da. Auf der anderen Seite der Straße schritt sie. Ich erkannte sie am Gang, am roten Kopftuch, am Pelz mit den abstehenden, festgenähten Ärmeln.

Ich folgte ihr, die Potsdamer Straße hinauf bis zur Ecke der Bülow-Straße. Sie bog rechts ein, und ich lief wie rasend auf der anderen Seite ein Stück nach dem Nollendorf-Platz zu. Dann ging ich wieder hinüber und den Weg zurück, um ihr zu begegnen. Sie sah mich an – fern. Sie verschwand in einem Haus. Seitdem weiß ich, wo sie wohnt, und bin nun ganz ruhig, denn ich verliere sie nicht wieder. Ich bleibe in ihrer Nähe. Immer.

Aber doch traf ich sie heute nicht?


Nun kann ich wieder anderes arbeiten, denn sie entgeht mir nicht. (Erste Tonszene zum Bergführer. Kleinbronze gedacht. Ein Drittel Lebensgröße. Gelassen auf der Spitze. Pfeife. Blick abwärts. Am Seil kommt ein Gedachter die Felsen unter ihm herauf. – Wo bleibt der Pickel? Störte mich, ließ ihn unwillkürlich fort. – Die Überschneidung durch die Seillinie von hinten gesehen, sitzt nicht. Aufgehört... heute zu müde.)

 

Der Gedanke des Bergführers so ist falsch. Die Figur muß aus sich herauswirken, aber nicht auf etwas passen, das man nicht sieht. Dadurch Veräußerlichung, indem die Aufmerksamkeit abgelenkt wird.

Unwillkürlich dreht man sich um: Wo ist der Tourist, dem er hinaufhilft? Verinnerlichen wollen wir! Zusammendrängen. Das ist das Endwesen der ganzen Kunst!

Ich kann doch nicht arbeiten. (Tonskizze Bergführer zerdrückt.) Noch hie kam mir solcher Zustand. Mir ist, als sei in mir alles leer: keine Einfälle, keine Pläne, keine Gedanken. Und ich hatte doch immer tausend und tausend! Ich fühle mich mit einem Male arm, bettel-, bettel-, bettelarm.

Aber es ist nicht Schwäche, denn ich weiß: sie kann ich machen, sie, sie.


Ich: »Wollen Sie mir helfen?«

Sie: »Wozu?«

Ich: »Das Beste zu machen, das mir möglich ist!«

Sie: »Wie soll ich dazu helfen?«

Ich: »Seien Sie mir Modell!«

Sie: »Bin ich denn dazu geeignet?«

Ich: »Würde ich Sie sonst bitten?«

Sie: »Für den Kopf?«

Ich: »Ganz!«

Sie: »Was muß ich anziehen?«

Ich: »Ich bitte um mehr!«

Sie: »Wie meinen Sie das?«

Ich: »Sie sollen Ihre Schönheit nicht entstellen.«

Sie: »Ich verstehe Sie nicht!«

Was sollte ich dann sagen? Ich würde stammeln und nichts wagen, und dann wäre alles vorbei. Sie würde gehen, und ich ließe sie gehen. Ja, dann – wäre alles aus.

 

Ich habe ja gar nicht mit ihr gesprochen, ich sah sie kaum. Ein-, zweimal. Ich habe Zeit. Ich arbeite nicht, ich liege im Atelier und mache Skizzen, aber ich zerdrücke sie wieder. Was helfen sie mir ohne sie. Mir ist verträumt zu Sinn, friedlich, fast gleichgültig. Ich weiß, sie lebt, ist da, ich könnte sie sprechen, könnte, könnte. Ist das nicht alles auf dieser Welt? Ist die Erfüllung nicht schon ein Absteigen? Mein Herz hängt an einem Werk nur, solange ich es träume. Wenn es fertig ist, sobald es das dritte Augenpaar erblickt, ist es kein Teil mehr von mir, ich habe es abgestoßen, ich besitze es nicht mehr, denn jeder Besitz, den wir mit anderen teilen, ist nicht mehr unser.

So zögere ich den Augenblick hin, da ich mit ihr sprechen muß und beginnen könnte – und sehne mich doch danach, anzufangen, mit aller Sehnsucht meiner Augen, meiner Hände, meiner künstlerischen Seele.

Jetzt weiß ich, wie sie heißt. Alles ist nun nüchterne Alltagswelt. Die Unterhaltung kam ganz von selbst, da ich im Philharmonischen Konzert neben ihr saß. Ich weiß nun alles von ihr, als kennte ich sie seit zehn Jahren. Sie heißt Rigmor B. Ist Dänin. Vater Beamter in Kopenhagen. In Berlin, um Musik zu studieren. Darum die Konzerte. Das Haus, wo sie wohnt, Pension. Die Freundin will Sängerin werden. Fräulein B. nennt sie – wohl aus dem Dänischen übertragen – die »Große Stimme«. Alles entsetzlich einfach und natürlich, wie das Leben eigentlich doch ist. Und alles ganz selbstverständlich. Sie wunderte sich gar nicht darüber, daß ich sie anredete. Kein Bösewerden. Hätte ich längst tun können.

(Modell von 3–5. Gelegenheitsmodell. Gute Proportionen, nur dicke Gelenke: Rachitis. Zweite Zehe zu kurz – überhaupt Fuß nicht zu brauchen, nicht trocken genug. Adresse: Postamt Luisenstraße: N. N. 143. – Dumme Tuerei. Dabei ganz gerissen. – Übrigens nur nachmittags. Nicht Sonntags.)

Wir sind schon gute Bekannte, aber wir sprechen nicht davon. Sie weiß, was ich bin. Will gelegentlich in die Werkstatt kommen. Sehr gelegentlich. Wir haben ja Zeit, und je länger ich sie sehe, desto klarer wird mir, wie ich sie machen müßte. Doch in der Beugung. Sie könnte sitzen oder sich neigen. Etwa sich bücken. (Damit habe ich schon manchen Fehler des Modells verdeckt. So bei N. N. 143 die zu langen Beine, den schiefen Ansatz der Vorderarme.) Nur der ebenmäßige Körper kann den Stand in ruhiger Haltung vertragen. Sie könnte es. Das hätte ich ihr heute beinahe gesagt. Aber erst müßte sie doch bei mir gewesen sein, und ich – ich will es nicht. Gespräch heute auf der Straße:

Ich: »Ermüdet Sie der Unterricht?«

Sie: »Mehr das Üben.« (Den Akzent der Dänin gebe ich nicht wieder. Man muß diesen lieblichen Ton hören, der so klingt, daß man nie lachen könnte, während er doch albern aussähe – geschrieben.)

Ich: »Wieviel täglich?«

Sie: »Viele Stunden.«

Ich: »Sie sollten sich zerstreuen.«

Sie: »Durch die Konzerte?«

Ich: »In jeder Kunst ist Zerstreuung Ablenkung.«

Sie: »Ich verstehe nicht.«

Ich: »Der Plastiker ruht aus bei – Musik. Der Musiker müßte ausruhen können bei den bildenden Künsten.«

Sie: »Ich habe kein Talent zum Malen.«

Ich: »Nein, ansehen.«

Sie: »Bilder?«

Ich: »Oder Plastik.«

Sie blickte mich an – fern, als sei ihr Geist gar nicht da, wie ich das nie bei einem Menschen bemerkt habe. Nicht unhöflich durch Unaufmerksamkeit, nur fern – unerklärlich. Und das Gespräch schwieg.

(Modell 3 bis 6. Aber 4 weggeschickt. Sie war heilfroh. Zahlte ganz, und N. N. dachte: ›der Esel!‹, und die Eselin weiß nicht, daß ich nicht nach ihr arbeite, sie gar nicht ansehe, sondern nur immer versuche, die andere zu bilden.)

Sie hat so feine Gelenke. (Gott, das Modell daneben, mit den von englischer Krankheit verdickten Fesseln!) Ihre Hände sind so schön. Nicht wie die einer Puppe, zu klein oder charakterlos, sondern kräftig gebaut, wahrscheinlich vom Klavierspiel muskulös, und doch zart. Und bei den durchscheinenden Ärmeln sah ich den Oberarm mit einer Schulterrundung schwellend, daß unter der zarten, weißen Haut die Lage jedes Muskels erkennbar wurde ohne Schärfe und Eckigkeit, ohne männliches Heraustreten, aber auch ohne das alles zum Brei verallgemeinernde Fettpolster.

Sie: »Ist nichts auf der Ausstellung von Ihnen?«

Ich: »Nein.«

Sie: »Wo sehe ich denn einmal etwas von Ihnen?«

Ich: »Niemand sieht es vorher.«

Sie: »Wirklich?« (Sie lachte.)

Ich: »Gewiß, nur zwei Augen haben es erblickt bei der Arbeit.«

Sie: »Sie meinen vier.«

Ich: »Nein zwei.«

Sie: »Arbeiten Sie denn aus dem Kopf?«

Ich: »Das kann wohl niemand. Und wer es behauptet ... Nein, nein, das Letzte fehlt doch.«

Sie: »Also mit Modell?«

Ich: »Gewiß.«

Sie (lachend): »Sehen Sie, dann sind es nicht nur zwei Augen, sondern vier!«

Ich: »Meine zählen nicht.«

Sie: »Sie haben es doch auch gesehen!«

Haben es meine Augen gesehen? Ja, sie haben mehr gesehen als andere. Sie haben solch atmendes Wesen Stunden und Tage und Monate betrachtet, sie kennen es, wie ein Vater die Züge seines Kindes kennt. Und doch: sie haben den Menschen, den Mann, die Frau nicht erblickt, sie haben die Natur gesehen, die, hinter dem Schirm die Kleider lassend, vor sie hintrat, eine Sache, ein Ding, und keine Person. Und wenn der Künstler dann mit dem Wesen draußen in Kleidern spricht, das ihm zu seinen Träumen aus Erz oder Stein behilflich gewesen, dann sieht er nur vor sich Herrn A. und Fräulein B. und erkennt sie nicht wieder.

Aber das habe ich ihr nicht gesagt!


Zum erstenmal fiel eine Andeutung über die Zeitdauer, die sie noch in Berlin bleibt. Sie ist nun das zweite Jahr hier, und vielleicht kehrt sie im Sommer nach Kopenhagen zurück. Da muß ich es ihr vorher sagen. Vielleicht müßte sie erst das Atelier kennen, daß sie sich an das alles gewöhnt, damit es ihr weniger fremd wäre, wenn ich sie fragte. Was soll sie sehen bei mir – die Gipse? Die Arbeit darf sie nicht erblicken (N. N. 143), sonst mache ich sie nie fertig. Sie würde sich ja erkennen. (Ein Relief von ihr ist da; wie eine Vision treten aus dem Dunst ihre Augen – fern – sonst ist das Ganze verschwommen. Haar mit Pinsel gewellt zu kleinlich. 0.65 zu 0.90.)

Alle Gedanken, sie in der Beugung zu machen, verworfen. Sie muß so stehen wie in Padua. Morgen 9-1/2 zu Haus sein! Nicht vergessen! S. kommt für das Gerüst. Nun werde ich sie heute genau messen, ohne daß sie es ahnt.

Sie stand lange neben mir, und ich konnte an meinen Westenknöpfen messen. Als sie saß, hatte ich über den Rohrsessel bis zur Haargrenze wieder ein Maß. Ich zählte am Muster der Lehne, daß es das vierte Loch von oben war.

Sie: »Sie sind zerstreut.«

Ich: »Weshalb?«

Sie: »Ich fühle es.«

Ich: »Wodurch?«

Sie (zögernd): »Ich kenne Sie jetzt. Ich weiß immer, was Sie denken.«

Ich: »Was habe ich eben gedacht?«

Sie (steht auf): »Muß man alles sagen?«

Ich: »Man kann nicht alles sagen. Mancher nicht. Und das ist oft ein Unglück.«

Sie: »Also mir würden Sie nicht alles sagen?«

Ich: – – –

Sie: »Sehen Sie? So ist der Mann. Nur die Frau darf sich opfern.«

Die Frau darf sich opfern? Habe ich ein Opfer verlangt? Bringt sie mir eines? Ich bin nie in ihre Pension gekommen, sie hat nie mein Atelier betreten. Wir treffen uns nur in stillen Straßen und gehen mitsammen spazieren. Und sie gibt den Tag an, sie, nicht ich. Dann sehen wir uns in Konzerten, aber da sitze ich ganz hinten und sie vorn auf den Plätzen, die ihr der »Meister«, wie sie den Klavierpädagogen nennt, gibt. Als ich sie fragte, ob die Gänge mit mir Unrecht seien, fing sie so herzlich an zu lachen, daß ich verstummte, und dann sagte sie (wörtlich):

»Sie meinen, Sie kennt man nicht, Sie gehen nirgends hin, und niemand, der Ihre Werke gesehen hat, hat Sie gesehen. Ich aber bin unbekannt hier. Nur der ›Meister‹ kennt mich und die ›große Stimme‹. Der ›Meister‹ liebt nur Musik und nicht Figuren und weiß nicht, wie Sie heißen, und auch nicht, wer Sie sind. Und die ›große Stimme‹ adoriert den Sohn von unserem Pensionat. Ich darf nichts sagen, und die ›große Stimme‹ denkt, wenn sie würde sagen – würde ich auch sagen. So sind die ›unge Piger‹.«

»Unge Piger« (junges Mädchen) sagt sie oft. Dann lachte sie und fragte mich, wie sie immer spricht:

»Ikke sandt?« (Nicht wahr?)

 

Gerüst im Rohbau fertig. Mit S. gut arbeiten. Er ist Schlosser, nur Schlosser, ganz Schlosser. Hat nur Interesse, daß der Modellierstuhl stark genug für die Last, daß die Stütze fest ist, daß seine Eisenstangen die richtige Biegung haben. S. sieht sich nie um. Komischer Mensch, aber vielleicht darum gerade so guter Schlosser. Ob in solches Hirn nie ein schwacher Lichtfunke der Kunst gefallen ist?

S. nachmittags da zur Zahlung. Entschuldigt sich, daß er Geld brauche. Gesprächig aus Verlegenheit. In der Tür bleibt er plötzlich stehen:

Er: »Man möchte auch wohl so'n Bildhauer sein!«

Ich: – ? –

Er: (zwinkernd) »Sie haben's gut!«

Ich: – ? –

Er: »Sie können alle schönen Mädchen sehen!«

Ich: »Hinaus!«

Dieser Mann wird meine Werkstatt nie wieder betreten.

Ist es das, was die Menschen von der Kunst denken? Müssen die Niedrigkeiten des Alltags wirklich bis zu uns? Sie sollen vor meiner Schwelle liegen bleiben, meine Tür ist geschlossen für sie. Ich stehe vor der Kunst als ihr demütiger Priester, ihr kleiner, ach so winziger Diener! Aber ich stehe vor ihr mit unbefleckten Händen.

Wir können nicht immer in Anbetung versunken sein, denn wir müssen uns regen, in brünstigem Schweiß. Auch das Lachen, der Scherz mag in unserer Werkstatt widerhallen, denn ewig in Hochstimmung bleibt kein erdgeschaffener Mensch. Die Handgriffe des Berufes, die Mühen der Technik, die Äußerlichkeiten des Hin- und Hertretens, des Steigens auf die Tritte, des Wassernetzens der Arbeit, die Sorge um das Feuer, das im Ofen glühen soll, die Verteilung des Lichtes, das Schaben der Modellierhölzer oder gar später Hammer und Schlegel und Eisen und das Polieren mit Sandpapier und Feilen, alles ist von dieser Erde. Von dieser Erd wie der Ton, der bröckelnd zu Boden fällt, der glitschig patzt und unsere Hände mit gelbgrauer Schicht überzieht, als Staub durch die Räume fliegt und alles mit seinem Grau bedeckt. Der Ton, der uns Mittel wird, unsere Träume in Wirklichkeiten festzuhalten, daß, wie Gott der Herr den Menschen schuf aus Erde zu seinem Ebenbilde, wir ein Abbild machen dürfen mit der gleichen Erde in unserer Hand.

Göttlich soll sich der Künstler fühlen in seinem Schöpferdrange, Gott nahe in seiner Kunst, die er übt gleich dem Herrn an jenem Tage, da er in seine Schöpfung den Menschen setzte als Krone und alles ansah, und siehe, es war sehr gut.

Und dann kommt einer mit dem Schmutz des Lebens?

Ich will es ihr morgen sagen. Ich darf es ihr sagen, denn es erscheint mir in diesem Augenblick als das Natürlichste, als das Keuscheste und Reinste, wie ein Opfer vor dem Altare, Priester (Künstler!) der ich bin!

 

Sie: »Ich kenne Sie nun so gut und habe immer noch nichts von Ihnen gesehen.«

Ich: »Wollen Sie mein Atelier sehen?«

Sie: »Schon so lange.«

Ich: »Warum sagten Sie es nicht?«

Sie: »Sie sollten sagen.«

Ich: »Ich biete mich nie an.«

Sie: »Aber ich soll es tun?«

Ich: »Gewiß.«

Sie: »Also wann?« Ich: »Wann Sie wollen.«

Sie: »Ich will überlegen.«

Ich: »Gut.«

Sie: »God Nat. Slo vel.«


Einige Tage nicht gesehen. Ganz gut, um N. N. 143 fertigzumachen. (Sockel bisher roh wie aus Material gewachsen, gestern geändert, niedrig, dreiteilig gleich der Predella eines Renaissancealtars. In die Felder: 0.20 zu 0.10; 0.20 zu 0.60; 0.20 zu 0.10 je ein Relief. Mitte Puttenfries, links und rechts Maske.)

N. N. 143 verlangt Vorschuß auf nächste Arbeit. 100 M. geschenkt unter Bedingung, nie wieder sehen. Ist das Nächste sie?


Donnerstag will sie kommen. Entweder um sieben Uhr oder, falls sie ein Konzertbillett vom »Meister« erhält, schon um drei Uhr.

Heute früh habe ich Ordnung gemacht, d. h. den Teppich über dem Sofa ausklopfen und die Stühle abwischen lassen. Dann werde ich Schnittblumen kaufen und in die Vasen stecken. Alles für sie, für meine Freundin, die ich selbstsüchtiger Mensch betören will, daß sie mir ihre Schönheit leiht, um einen Traum Stein werden zu lassen.

Ja, sie ist wirklich schön (Lessings Begriffsbestimmung des Schönen, die mir schon als Junge so gefiel: »Was in uns ein interesseloses Wohlgefallen erregt«). Sie ist so seltsam schön, daß ich mich immer wundere, wie nicht auf der Straße jeder Mensch (die wenigen, denen wir begegnen!) stehen bleibt und spricht: »Du bist schön.« Aber es mag daran liegen, daß sie nicht herkömmlich schön ist. Für einen Maler wäre sie es vielleicht gar nicht, denn schön sind bei ihr nur die Linien, aber nicht die Farben. Das Gesicht ist aschgrau, es fehlt die Belebung, die einträte, wenn durch die dünne Epidermis der Wangen das Blut pulsierte. Sie hat nicht das gewöhnlich schöne Gesicht, sondern mehr, mehr, mehr! (Klingers Frauenköpfe »Salome«, »Kassandra«, »Die Badende« findet kein Spießer schön, weil sie mehr sind!)

Kann man die übliche »schöne Frau« immer ansehen? Unmöglich, denn das Besondere fehlt, Belebung fehlt, Vergeistigung fehlt. Und sie kann ich nicht genug betrachten. Nie würde ich müde am Wechselspiel dieser Linien. Ich glaube, ich könnte ihre Figur Jahre hindurch arbeiten und fände stets Neues, immer Erstaunliches...

Ich warte nun auf sie und bin erregt wie ein Kind vor der Weihnachtsfreude. Jetzt ist es schon ein halb vier, und sie ist noch nicht da. Nun kann sie nicht mehr kommen, denn sie war immer auf die Minute pünktlich. Also sieben Uhr. Aber ich will zu Hause bleiben.

Bald ein halb sieben. Ich habe das Gerüst grob mit Draht umsponnen. Unsinn, denn die Verhältnisse können ganz andere sein. Es klingelt. Sie muß es sein ...

Nichts geschrieben – ich schreibe aber wieder, denn ich muß die Zeit hinbringen. Wozu solche Notizen, wenn nicht um klar zu werden, was man will. Seit der Akademiezeit habe ich es so gehalten. Nie las ich es wieder durch, aber einmal, wenn man alt und grau ist, mag es einen freuen, zu entdecken, wie man geirrt, was aus einem hätte werden können.

Jetzt schlägt es sieben. Alles still. Kommt sie nicht? Hat sie es vergessen? Ist sie doch im Konzert? Ich habe die Straße ganz deutlich geschrieben. Herr Gott, wenn sie nicht käme!

Als ich einst den Eltern erklärte, ich wolle Bildhauer werden, sahen sie mich erschrocken an. Der Vater Offizier, der Großvater Offizier, der Bruder Offizier – und – Bildhauer! Nicht das Soziale erschreckte sie, sondern wie einer von uns – überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, Plastiker zu werden, ein Beruf, der – –


Ganz einfach kam es. Nichts von Siegesrausch und Hymnen. Ganz einfach kam es.

Es war eine oder zwei Minuten nach sieben, da klingelte es, und ich ging an das Guckloch der Vorzimmertür.

Sie: »Guten Abend!«

Ich: »Ich danke Ihnen.«

Sie: »Hvorfor?«

Ich: »Weil Sie gekommen sind.«

Sie: »Wenn ich versprochen habe –«

Sie schritt durch die Tür in das Atelier. Sie schien erstaunt über den hohen häßlichen Raum. Erst blickte sie zur Decke, dann auf die große elektrische Bogenlampe, als wundere sie sich über die Helligkeit. Nun sah sie sich um. Ich sprach kein Wort. Sie schwieg. (In der Mitte N. N. 143. Die Relieffiguren nur angelegt. Der Akt fertig gemacht. An den Wänden nur die Gipsabgüsse. Die »Feinde« vom Punktieren noch mit Punkten übersät, als säßen 1000 Fliegen darauf.) Sie trat einen Schritt weiter vor. Ich blieb an der Tür. Sie ging langsam um den Akt herum. Dann wieder zurück.

Sie: »Wie heißt das?«

Ich: »Das Weib.«

Sie: »Sie wollen sagen: nicht Jungfrau und nicht Frau und nicht Mann, sondern – es ist Weib.«

Ich muß sie erstaunt angesehen haben, denn sie fragte mich, und ihre Augen waren wieder so fern – tausend Meilen fern – ob ich sie denn für so töricht hielte, das nicht zu verstehen.

Ich: »Die Leute werden nicht wissen, was ich meine. Sie haben es nie gewußt. Da muß ich mich wundern über Sie.«

Sie: »Ich bin von der Kunst.«

Ich: »Aber eine ganz andere.«

Sie: »Alles kommt von Gefühl. Ikke sandt?«

Ich: »Gewiß. Der echte Künstler ist nur zufällig in seinem Fach. Er könnte ebensogut kneten, singen, malen oder dichten. Gefühl, Auge ist alles. Woher wissen Sie das?«

Sie: »Ich fühle es.«

Ich: »Was fühlen Sie an dieser Figur?«

Sie (zögernd, flüchtige Röte, dann ganz ruhig): »Animalisches.«

Ich: »Eben darum: das Weib.«

Sie (blickt die Figur an, dann mich): »Sie denken nicht gut von den Frauen!«

Ich: »Habe ich nicht eine Mutter gehabt?«

Sie: »Gehabt?«

Ich: »Sie ist gestorben.«

Dann ging sie wieder um die Figur herum, neugierig wie ein Kind. Immer lebhafter wurde sie. Nie habe sie noch ein Bildhaueratelier gesehen! Warum der Ton so grau sei? Ein weißer Körper sehe doch größer aus als die dunkle Erde, da sei es doch leichter, in gleich hellem Material zu kneten. Dann bat sie, ob sie das Modell berühren dürfe, und strich liebevoll weich über den Rücken. (Wundervolle Muskulatur. Das Schönste an N. N. 143. – Abstand der hinteren Dornen: 0.13 m.) Schrie, sie hätte es verdorben! Zu ihrem Staunen strich ich leicht die Stelle wieder glatt. Sie folgte meiner Handstellung und Bewegung und versuchte, in der Luft sie nachzuahmen. Dann staunte sie den toten Ton an, als sei hier ein Wunder der Schöpfung geschehen.

Neben dem Drehstuhl stand noch der kleinere, wo das Modell gekauert. Man erkannte auf dem grauen, beschmutzten Holz den Abdruck der Zehen, der Finger, die ich mit Bleistift umrissen, damit das Mädchen schnell die angegebene Stellung wiederfinden könne. Sie ließ es sich erklären, drehte am Modellierstuhl, stieß ihn ab, brachte ihn in Schwingung und lachte, als er rollend und rasselnd im Kreise sich drehte.

Langes Schweigen. – –

Sie: »Ist das Modell hier gewesen?«

Ich: »Nein, denn ich bin fertig.«

Sie: »Aber hier stand es?«

Ich: »Hier.«

Sie: »Oft?«

Ich: »Mehrere Monate.«

Sie: »Ohne – ich will sagen, so wie die Figur?«

Ich: »Es ist geheizt in so einem Atelier. 20 Grad.«

Sie: »Das ist ja schrecklich.«

Ich (lachend): »Es war ihr nicht mal warm genug.« –

Sie ging zum Sofa und setzte sich. Und mir drückte es die Kehle ab, es ihr zu sagen. Nur zwei Worte: »Hilf mir!«

Langes Schweigen. – –

Sie: »Das Weib ist schön. War die auch so schön?«

Ich: »Nein.«

Sie: »Woher haben Sie dann das?«

Ich: »Phantasie.«

Sie sah mich erstaunt an. Und ich ließ die Blicke über ihre Gestalt gleiten, die so sein mußte – mußte – wie mein Versuch in der toten Erde, dort inmitten der Werkstatt auf dem Modellierstuhl. Da bückte sie sich, der Figur besser in das Antlitz zu schauen, und plötzlich stand sie dunkelrot auf. War es vom Niederbeugen? Hatte sie eine Ähnlichkeit erkannt?

Langes Schweigen. –

Wir saßen nebeneinander. Sie erzählte von Dänemark: um bei der Plastik zu bleiben, vom Thorwaldsen-Museum. Dann von zu Haus, von ihrer Jugend, von ihren Plänen für das Leben. Ihre Stimme klingt immer gleichmäßig. Ich brauche den Worten nicht zu folgen, mir tut der Klang wohl, und während sie spricht, habe ich Zeit, sie zu betrachten. Dann sehe ich, wie die tausend Flächen dieses Körperbaues zusammenstoßen und doch als weiche Rundung sich darstellen, und muß mich zwingen, die Hände ruhen zu lassen und durch Blicke mich nicht zu verraten.

Sie: »Ich will gehen.«

Ich: »Müssen Sie schon zu Haus sein?«

Sie: »Ich habe gelogen in der Pension.« (Aber sie lacht dabei.)

Ich: – ? –

Sie: »Ich bin heute in Theatren.«

Ich (nun auch lachend): »Was wird denn gegeben?«

Sie: »Carmen.« (Singt aus der Oper, aber dänisch): »Herr Offeceer.« (So klang es wenigstens.)

Aber »Carmen« konnte noch nicht aus sein. Ich suchte die Zeitung, und wir stellten fest, daß sie noch über eine Stunde Zeit hatte.

Ich: »Jetzt dürfen Sie nicht fort. Sonst kommen Sie zu früh nach Haus.«

Sie: »Vielleicht hat es mir nicht gefallen.«

Ich (ängstlich): »Es gefällt Ihnen nicht bei mir?«

Sie: »Ich bin ja in Theatren.« (Sie lacht.) »Niemand darf wissen, daß ich hier bin.«

Ich: »Es weiß auch keiner.«

Sie: »Bestimmt?«

Da habe ich ihr erklärt, wie wenig Menschen ich kenne, daß ich die Menschen nicht liebe, nur eines liebe auf dieser Welt: meine Arbeit. Mit wem sollte ich da sprechen? So wie ich nicht weiter arbeiten kann, wenn ein fremdes Auge mein Werk erblickt hat vor der Vollendung, so würde ich mir alles zerstören, redete ich mit einem Fremden über Dinge, die aus meiner Seele kommen. Und ist nicht die Seele von uns Künstlern der beste Teil? Ist nicht, wer sie nicht mitbringt, nur glatter Macher? Muß nicht alles aus ihr emporsteigen wie aus einem tiefen, reinen Brunnen, in den nie das grelle Licht des Tages fällt?

 

(Pirschgang eines im Dichterreviere wildernden Plastikers!)

Alles darfst du den Menschen sagen,
Kannst ihnen Leid und Kummer klagen,
Nur das eine mußt du verschweigen,
Keinem neidischen Auge zeigen,
Halte es tief in der Brust zurück: Dein Glück!

Denn wenn die Menschen es dir zersetzen,
Besprechen, bezweifeln, bekritteln, zerfetzen:
Blieb von allem dem Sonnenschein,
Der dir gelacht in das Herz hinein,
Blieb von dem ganzen Worte auch:
Kein Hauch!

Sie blieb also sitzen. Erst jetzt gewahrte ich, daß sie noch immer ihren Pelzumhang trug. Ich bat, abzulegen, nahm das Kleidungsstück und ging hinüber, es fortzuhängen. Als ich zurückkehrte, sah ich sie plötzlich in einem Kleide mit halbem Ausschnitt stehen. So hatte ich sie nie erblickt, nur geahnt. Nein, auch nicht geahnt. Nicht geahnt die edle Nackenlinie, nicht geahnt, daß der Hals emporstieg fein und schmal, durchsichtig fast und doch so gesund, so voll und so kräftig, daß man die Muskeln nicht sah, die sich in der Rundung verloren.

(Kopfnicker bei Seitenwendung in herrlich steilem, doch weichem Strang, stolz verlaufend. Kehlgrube nur ein Daumendruck, Schlüsselbeine angedeutet. Leise sinkende Linie. Kapuzenmuskel schwellend, dabei zart.)

Ich hatte sie wohl zu lange angeblickt, denn sie stand plötzlich auf und sah wieder die Tongruppe an. Als ich hinter sie trat, beugte sie sich nieder. Mein Auge lief über die Schultern hinweg und ahnte beim Klaffen des Kleides, daß ich mich nicht irren kann: dieses Mädchen ist die Erfüllung all meiner Sehnsucht. Ich habe von Sorge und Zeit verwitterte Körper gemacht; ich habe die Muskeln von Athleten mit eiligen Fingern aus dem weichen Material ballend gehoben; einen asketisch ausgemergelten Leib streckte ich, den Hals verlängernd, die Kinnbacken vorschiebend, die Augenhöhlen weitend bei halboffenem Munde, und schrieb darunter: »Die Gier«; ich rundete gewaltige Formen; ich versuchte alles mit dem einen Gedanken: Neues! Mehr! Und heute sehne ich nur das: einen einfachen, ebenmäßigen Mädchenleib zu bilden, an dem kein Fehler ist, bei dem alle Namen schweigen, vor dem man nur in gelassener Andacht steht und weiß: das Menschenkind ist die Krone der Schöpfung.

Wenn ich sie machen könnte, ich legte alles hinein, was an Wollen und Sehnsucht in mir ruht, ich ließe alle Künste und Absichten, vergäße jede Idee, machte nur stolze Einfachheit, die ganze Herrlichkeit der Natur, als ihr bescheidener Diener.

In der Ecke hatte sie das Gerüst entdeckt, seltsam in seinen Eisenstangen, dem Drahtgespinst.

Sie: »Was ist das?«

Ich: »So ist der Anfang. Sonst hielte der Ton nicht zusammen.«

Sie (lachend): »Ja, man merkt, eine Skelett. (Lacht noch mehr.) Oh, ich sehe schon einen Menschen. Der Kopf. Da die Arme. Der Fuß. Was soll das werden?«

Ich: »Ein Mädchen.«

Sie (eifrig): »Ist es schön? (Schnell.) Ich meine das Modell?«

Ich: »Ich habe keins.«

Sie: »Gibt es nicht viele hier?«

Ich: »Die mir genügen – nein.«

Sie: »Vielleicht wollen Sie zu Schönes, eine Göttin!«

Ich: »Sie soll nur Mensch sein. Ganz von der Erde.«

Sie: »Es gibt vielleicht gar nicht, was Sie suchen.«

Ich: »Ich sehe sie vor mir!«

Sie (berührt leise mit dem Finger meine Stirn): »Ja, in Ihrer Phantasie! Was muß in diesem Kopf leben. Wenn man da könnte hineingucken.«

Ich: »Wissen Sie, was in diesem Kopfe allein lebt? – – Sie, Sie, Sie!«

Seltsam hob sie beide Hände, die zarten Flächen gegen mich gekehrt (ich sehe es vor mir, wie ein Bild) und wich zurück, bis ihr der hohe verstaubte Gipsabguß, der »Schrei«, Halt gebot. Aber meine Zunge war gelöst, und ich konnte ihr sagen, was so lange und so schwer auf mir gelegen. Ich habe all meinen Künstlertraum und meine Sehnsucht ausgesprochen. Sie ließ die Hände sinken. Sie hatte die Blicke nicht auf mir. Ich bat, ich flehte, schließlich, nur immer stammelnd gleich einem Kinde: »Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!« Da faltete sie die Finger ineinander und sah mich an, aber nicht voller Hoffnung, kein Ja. Sie sah mich an so fern, so verloren, daß ich fühlte: alles ist hin, du hast zuviel gebeten.

Es war mir, als rieselte es über mich herab wie ein Strom eisiger Luft, daß alle Begeisterung starb in kaltem Schweigen.

Ich: »Vergeben Sie mir!«

Sie: »Mir ist wie Schmutz.« (Sie streckt fröstelnd die Hände von sich.)

Ich: »Jetzt begreife ich Sie nicht.«

Sie: »Warum konnte es nicht bleiben zwischen uns? Warum haben Sie mir das gesagt!«

Ich: »Weil ich sonst hätte sterben müssen, weil ich nichts mehr denke als das, weil ich sonst nicht mehr arbeiten kann; denn wenn ich arbeiten will, denke ich nur noch an Sie, und Sie sind mir unerreichbar.«

Sie: »So – ja.«

Ich: »Sie würden mir nie helfen wollen?«

Sie: »Wie helfen?«

Ich: »Indem Sie mir Ihre Schönheit schenkten?«

Da fühlte ich in ihr irgend etwas zittern und kämpfen, und ich nahm ihre Hand und kniete vor ihr hin, bestürmte sie mit Worten und bat, wie ich meinte, daß ich es nicht würde können, der ich noch nie einen Menschen um etwas gebeten habe. Ich hatte Kraft, denn meine ganze Seele war dabei, ich konnte sprechen, denn ich brauchte nur mein Inneres zu öffnen und zu sagen, was mich verfolgt, seitdem ich zum ersten Male dieses Mädchen erblickt habe.

Ich nahm ihre Hand und küßte sie. Und auf den Knien vor ihr rannen mir die Tränen, ja Tränen, ja Tränen.

Da entzog sie mir jäh ihre Finger. Sie zitterten. Die ganze Gestalt bebte. Und ihre Hand war eiseskalt.

Sie: »Falls Sie glauben, mein Körper könnte sein, was Sie träumen, so will ich Ihnen helfen! Nicht Ihnen – verstehen Sie mich – sondern der Kunst, die in Ihnen ist, deren großer Diener Sie sind, Sie junger Meister!«

Ich: »Rigmor!«

Sie: »Aber nur unter einer Bedingung!«

Ich (stand langsam auf): »Eine – Be–din–gung?«

Sie: »Sie müssen erst auf eine Frage antworten.«

Ich: »Welche?«

Sie (hebt die Hand wie zum Schwure): »Wollen Sie versprechen, die reine Wahrheit zu sagen?«

Ich: »Ich verspreche es.«

Sie: »Dann antworten Sie: Lieben Sie mich?«

Ich: – – »Nein.«

Sie: »Dann will ich kommen!«

Sie gab mir die Hand, und ich stand allein in dem hohen hellen Raum.

 

Nein! Nein! Ich liebe sie nicht. Ich sagte die reine Wahrheit. Mein Herz ist nicht bei ihr. Es ist künstlerische Sehnsucht ganz allein.

Nein! Nein! Wenn ich immer an sie denke, wenn immer und immer ihre Gestalt vor meinen Augen steht: Liebe ist es nicht. Gibt es Liebe? Wohin ich sah, war es Sinnengier – und das nannten beide Menschen Liebe. Mir ist noch nie eine Frau nahegetreten, daß mein Herz gepocht hätte; ich hatte nur den Gedanken, die zu machen oder jene, und solange ich bei der Arbeit war, gehörte der, die ich gerade schuf, auch alle meine Seele. Das will sagen: nie, nie, seitdem ich Künstler bin im Schaffen (in Gedanken, seit ich sehen kann), habe ich anderes geliebt als meine Kunst – meine Arbeit. Nein, nein, ich liebe sie nicht!


Haben Sie noch ein bißchen Geduld. Ich bin sehr erkältet und will noch warten ein wenig. Es ist besser, ikke sandt? Ich bin neugierig auf unsere Arbeit. Wie wird das bloß gemacht? Det kan jeg slet ikke forestille mig. Haben Sie nicht Angst, daß ich nicht mehr will. Jeg har Dem lovet, weil Sie mir gesagt haben, was ich Sie gefragt habe als Bedingung. Darum kann ich gut kommen.

Einen herzlichen Gruß von Ihre Rigmor B.

og nu til vi sees igjen Onsdag 3½ Rigmor B ...
Ich schreibe lieber deutsch den Tag, sonst sind
Sie nicht da: Mittwoch 3½ Uhr. Nicht ver-
gessen. Jeg besvaerger Dem.

An jenem Mittwoch ist sie denn gekommen, und nicht wie sonst schrieb ich am Abend nieder, was mich tagsüber bewegt, denn was ist das Wort, das tote, ausdruckslose, gegen das leuchtende Leben!

Sie trat ein und sagte: »Da bin ich!« Sie strahlte dabei. Ich aber blieb ernst, als stünde ich vor großer, schwerer Entscheidung. Sie scherzte und setzte sich, gleich die Jacke von sich werfend, ehe ich hätte zuspringen können. Sie erzählte vom »Meister«, der sie bestellt hatte heute Onsdag 3-1/2, just 3-1/2. Sie hatte ihm abgesagt, zum erstenmal, seitdem er sie unterrichtete. Dafür ginge sie in einer Stunde zu ihm.

Ich: »Eine Stunde nur?«

Sie: »Das ist doch schöne Zeit.«

Ich: »Aber zum Arbeiten nicht lange genug.«

Sie (zögernd): »Ja – wir wollen doch nicht arbeiten?«

Ich: »Was meinten Sie?«

Sie: »Nur sehen, ob es paßt?«

Ich: »Ich kann mich nicht irren.«

Sie: »Wollen Sie versprechen, wenn es nicht geht, es mir zu sagen? Ich bin nicht bös!«

Ich: »Das will ich versprechen.«

Ich meinte, nun würden wir beginnen, doch sie erzählte von der »großen Stimme«. Und das peinigte mich. Während sie redete, ordnete ich alles: das doch längst geordnet war. Ich schob den Wandschirm zurecht, hinter den sie treten sollte, ich rückte das Sofa, das dort ihrer Kleidungsstücke wartete. Den Spiegel, den ich aufgestellt in der kleinen versteckten Ecke, hauchte ich an und wischte, damit er recht blank sein sollte. Dann zog ich den Teppich glatt, den ich aus meinem Zimmer geholt, damit sie bis in die Mitte des Raumes rein und weich schritte.

Sie erzählte immer lebhafter, immer schneller, wie sie noch nie gesprochen hatte. Sie fand einen Gesprächskreis nach dem anderen. Ängstlich schien sie besorgt, daß nur nicht der Faden reiße. Ich stand ihr gegenüber, an dem niedrigen Tritt, auf dem sie mir ihre Schönheit zeigen sollte. Ich hörte nicht zu, sondern sog nur ihre Gestalt mit offenen Pupillen ein, daß meine Finger sie wiederfänden in der dunklen Erde. Aber die Zeit verstrich. In mir stieg die Angst, es möchte zu spät werden, dann wäre alles abgebrochen für heute. Es begänne ein zweites Mal, oder gar, ihr würde es leid, und – sie käme nicht wieder.

Da sah ich – nicht verstohlen, ganz selbstverständlich – nach der Uhr.

Sie (aufspringend): »Sie mahnen!«

Ich: »Sagten Sie nicht einmal, der ›Meister‹ würde böse, wenn Sie zu spät kommen?«

Sie: »Es ist vielleicht besser, ich gehe. Sie haben recht.«

Ich: »Oh, bleiben Sie. Wollen Sie nicht an Ihr Versprechen denken?«

Sie: »Muß es wirklich sein?«

Ich: »Ihr Wille.«

Sie: »Sie erlassen es mir nicht?«

Ich: »Es ist ein Geschenk von Ihnen.«

Sie: »Sie haben recht. Und ich habe ja Ihr Wort.«

Ich: – –

Sie (zögernd): »Der Entschluß ist so schwer.«

Ich: »Ich will Sie nicht quälen.«

Sie: »Sie machen ein so trauriges Gesicht. Sie tun mir leid.«

Ich: »Darum sollen Sie es nicht tun.«

Sie: »Wie sonst? Ich will Ihnen doch helfen!«

Ich: »Ein Opfer darf es nicht sein.«

Sie sah mich starr an, und ich kämpfte zwischen dem Mitleid mit diesem lieben Geschöpf, das sich nicht enthüllen mag vor dem Fremden und dennoch seine Kunst fördern will, und zwischen all meinem Begehren, meinem Willen zur Arbeit (zu dieser), meinen Träumen der Schönheit, meiner Sehnsucht, sie zu machen, sie, sie, sie, nur sie.

Da fragte sie mich, während wir noch immer unschlüssig einander gegenüberstanden, nach der Zeit.

Ich sagte es ihr ehrlich. Es war beinahe die Stunde, wo sie beim Meister sein sollte.

Sie: »Ich kann nicht mehr.«

Ich: »Und Ihr Versprechen?«

Sie: »Ich komme wieder.«

Ich: »Wann?«

Sie: »Morgen.«

Ich: »Welche Zeit?«

Sie: »Wie heute!«

Ich: »Bestimmt?«

Sie: »Glauben Sie mir nicht?«

Ich: – – »Doch« – –

Sie: »Bin ich nicht heute gekommen?«

Ich: »Aber« – –

Sie: »Ich will morgen keine Angst haben« – –


Angst! Armes, holdes Geschöpf! Angst, vor mir in Reinheit zu stehen, wie die Venus im Louvre unbewegt steht vor den Tausenden von Menschen mit rotem Reisebuch und kunstfremden Augen, deren überwältigender Teil in ihr nicht die Göttin von Milo erblickt, sondern eine unbekleidete griechische Dame!

Ich bin den ganzen Tag wie in süßem Traume umhergelaufen. Es ist so schön, zu warten. Ich dachte an das Sebaldusgrab. (Gerhart Hauptmann, meine heimliche Liebe, hat oft davor gestanden.) Wer kennt die verschlungenen Gänge künstlerischer Phantasie! Jahre fiel es mir nicht ein, und heute – dachte ich an das Sebaldusgrab. (Gotischer Gedanke eines Renaissancemenschen, als spuke in dem den neuen Stil bildenden Gießer noch das Blut der Väter!) Ich stand in der Innsbrucker Hofkirche vorm König Artur (1513) unseres lieben Sebaldusgrab-Meisters Peter Vischer. (Selbstbildnis. Bronze. Höhe 0.378, Sockelbreite 0.142. Prachtvolle deutsche Auffassung künstlerischen Werkmeistertums. Bartgelock herrlich. Brachte Auktion Spitzer-Paris 1893 44,000 Frank.) Und wie ich »Meister« schreibe, denke ich an sie. Ob ihr »Meister« sie morgen wieder bestellt? Wie hätte Meister Peter Vischer sie wohl gemacht? Kniend, die flachen Hände aneinander, im schweren Kleide der Zeit? Ehrbar wie er sein mußte im alten Nuremberg? Oder saß dem Meister ein Schalk im breiten Nacken: daß er sie hingestellt hätte, ein arm frierend Jüngferlein, des Gewandes bar mitten auf freiem Markt? (Akt in unserem Klima nur in Innenräumen, nicht aus Zimperlichkeit, sondern aus Hygiene – wundervolles Wort!)

 

Sie hat diese Nacht in meinem Zimmer gestanden; gotisch-innig, hölzern und mager, als hätte sie Georges Minne gemacht; im Pelzmantel mit den abstehenden Ärmeln, ein Fünftel Lebensgröße, und Troubetzkoi drückte der Modedame Schleppe lässig zusammen und schnippte, was ihm von dem Material an den Fingern blieb, spritzend davon; als armes Weib aus Meuniers »schwarzem Lande« lehnte sie da (Standbein nach innen gedreht), gebeugt den Rücken, eckig die Wange, der Kopf klein und dick die großen Hände.

Sie, sie ein armes verbrauchtes Geschöpf!

Dann schwamm sie zusammen und rundete sich, und das Fleisch blühte und schien zu schwellen, samtweich. Rodin stand hinter ihr, wie ich in Paris mit ihm gesprochen. (Letztes Ausstellungsjahr. – Er dachte, ich sei ein Kunstliebhaber und war »artig«. Das furchtbarste einem Künstler. Als ich ging, sah ich im Geiste: Dürer stehen in Venezia la bella, nicht als »Schmarotzer daheim«, wie er geschrieben, sondern »ein Herr«, und fast hätte ich gesagt: »Anch' io sono – – ›scultore‹!« Habe es nicht gesagt. Habe mich verneigt. Aber wie »Durero Alberto« fühlte ich: »Oh, wie wird mich nach der Sonne frieren!«)

Nach der Sonne, nach ihr. Nach meiner Sonne, die freundlich in mein einsames Leben scheint. Die mich wärmt, die... was geht sie mich an, als daß ich sie machen will, herrlich, strahlend, meine Sonne; denn sie soll mein Werk werden. »Das Werk!«

Heute aber sehne ich mich nach ihr und gehe den ganzen Morgen um, mit dem Klange in den Ohren: »Oh, wie wird mich nach der Sonne frieren!«


Das war so: Ganz pünktlich ist sie erschienen und ganz ruhig, während mir das Herz schlug, daß ich meinte, unter dem Arbeitsrock müsse sie es sehen. Unterhaltung vom »Meister«. Sie hat heute Zeit. War früh bei ihm. Dann »große Stimme«. Ist mit ihr bis in die Nähe gegangen, darauf weiter. Sohn der Pension. – Ich liebe das nicht. Sie soll nicht mit solchen Leuten verkehren. Mir ist es dann, als bliebe etwas an ihr hängen. Verkehr mit »großer Stimme« nicht gut.

Unterhaltung weiter: Stephan Sinding. Sie hat des jungen Sinding »Barbarenmutter« in Kopenhagen gesehen. Pause. Gewahrt das Gerüst.

Sie: »Ist das – ich meine – der« –

Ich: »Gerüst.«

Sie: »Ist der Gerüst für mich?«

Ich: »Wenn Sie wollen, ja.«

Sie (lacht): »Ist das möglich – so häßlich.«

Ich: »Ehe ich die Verhältnisse nicht kenne, kann ich auch nicht anlegen.«

Sie: »Aber wenn Sie nicht wissen, wie ich – stehe?«

Ich: »Sie stehen wie in Sant Antonio in Padua, wo ich Sie zum ersten Male sah. Sie blickten vom erhöhten Grabe über die Stufen in das dunkle Kirchenschiff hinaus. Diese Haltung ist bei Ihnen Natur. Ich habe Sie – halt – halt – bleiben Sie so, wie Sie jetzt sind. So – so will ich Sie machen!«

Sie stand unbeweglich. Ohne mich anzublicken, wundervoll.

Sie: »Sie haben mir Ihr Wort gegeben, daß – Sie« –

Ich: »Ich liebe Sie nicht!«

Sie ging zum Wandschirm. Sie trat dahinter. Ich drehte mich um zum Licht, das hoch oben schräg durch das breite, dreiviertel verdunkelte Fenster einfiel, die Tiefen unterstreichend, die Höhen hebend, indem rund um sie Schatten lag. Ich wartete und faltete die Hände, und in diesen kurzen Minuten sammelte ich mich, als wollte ich beten. Und ich hielt stumme Zwiesprache mit meiner Seele:

»Seitdem ich denken kann, habe ich nur eine Sehnsucht: die Gaben, die mir die Natur verlieh, zu steigern durch ehrliche Arbeit. O Arbeit, du Segen der Kreatur, du Glück des sterblichen Menschen! Arbeit, die du gesunden läßt, wem das Herz blutet. Arbeit! Du gibst Berechtigung zum Leben, du lassest uns unseren Unwert nicht fühlen, denn auch die ärmste, die abgegriffenste, die schmutzigste Hand darf – sofern sie nur gearbeitet hat – sich emporheben zum Lobe dessen, der die Erde schuf, und – diese Hand!

Mir aber ward zuteil, daß meine sich mühenden Hände dienen dürfen, dem Höchsten, das ist auf dieser Erde: der Kunst. – Ich habe ehrlich gedient, ich habe nie zur Seite geschielt, auf Erfolg und Gold und Ruhm. Ich hörte nie auf Abkehr noch Beifall der Menschen. Ich ging nur dem einen nach: das zu machen, von dem meine Künstlerseele erfüllt war. So will ich denn jetzt, wo meine Sehnsucht Wirklichkeit werden soll, treu bleiben allem, das mich bis heute geleitet hat, und wenn du herrliches junges Menschenkind nun vor mich hintrittst in all deiner natürlichen Schönheit: nein, ich liebe dich nicht! Ich liebe in deiner Schönheit meine Kunst, Künstler (Priester), der ich bin!«

Dann wandte ich mich langsam um, ob sie hervorträte hinter dem Schirm. Was haben meine glücklichen Augen da erblickt? Mitten in der Werkstatt, von hoch fallendem Lichte bestrahlt, stand auf dem dunklen Teppich des Trittes eine rosigweiße Marmorgestalt voll gelassener Ruhe, geschlossen in den Umrissen, den Blick in den leeren Raum hinaus gewandt.

Lange blieb ich unbeweglich und starrte das hohe Meisterwerk an des großen Bildners, dort oben über uns, mit stockendem Atem, mit klopfendem Herzen.

Und wie ich hinblickte, kam staunende Verwunderung über mich, daß es solches auf unserer unvollkommenen Erde gäbe. Zugleich aber eine große Verzagtheit, wie ich armer Künstler solche Schönheit restlos herausreißen sollte aus der Natur, sie festzuhalten in totem Stein.

Aber wie das Glück, solches schauen, solches bilden zu dürfen, in mir emporstieg und mit dem Blut mir Lebenskraft und Willen in die Glieder trieb, kam auch zugleich der Glaube an meine Kunst. Ich fühlte: das wird. Ich wußte: das kann ich.

Aus andächtiger Versenkung riß ich mich empor, gleichsam erwachend, und trat zu auf das unbewegliche Bild, den Zirkel in der Hand. Da sah ich, wie das Meisterwerk des hohen Schöpfers atmend seine Menschlichkeit verriet, sah, wie die Pracht der Glieder leise bebte bei der Berührung der Zirkelspitzen. Ich ließ das Instrument sinken: zum erstenmal seit ich es geführt, schien mir das Handwerk unwürdig solcher Schönheit gegenüber. Ich trat zurück und konnte die Blicke nicht von der Gestalt wenden.

Mein Gott, mein Gott, ich bin der glücklichste der Menschen!


Sie (ohne sich zu bewegen): »Kann ich Ihnen also helfen?«

Ich: »Sie sind, was ich geträumt habe.«

Sie: »Also wir wollen arbeiten?«

Ich: »Haben Sie auch Geduld?«

Sie: »Bis es fertig ist!«

Ich: »Ich danke Ihnen.«

Sie: »Fangen Sie an.«

Ich: »Für heute ist es genug.«

Ich trat zurück und wendete mich zum Fenster, indem ich mit der Hand die Augen bedeckte, als könnten sie nun den Anblick nüchterner Häßlichkeit nicht ertragen. Als ich zur Wirklichkeit zurückkam, war die Werkstatt leer. Wie es erschienen, war das Bild verschwunden.

Dann trat hinter dem Schirm hervor: eine Dame mit geröteten Wangen.

Sie: »Es ist heiß hier.«

Ich: »Soll ich das Fenster...«

Sie (ohne mich anzusehen): »Ich gehe doch. Leben Sie wohl.«

Ich: »Danke.«

Sie ist fort. Ich bin allein. Ich aber gehe hin, neige mich, ein stummer Beter im Heiligtum und berühre mit meinen Lippen die Stelle, da sie gestanden.


Gerüst fertig. Figur ganz angelegt. (Höhe: 1.69; Brustumfang: 0.90; Schulterbreite: 0.38; Taillenbreite: 0.20; Hüftbreite: 0.33; Fußlänge: 0.22; Handlänge: 0.17; Schritt: 0.83; Beinlänge: 0.90; Kopfhöhe: 0.21; Brustabstand: 0.23.) Das stille Feuer, das bei der Arbeit stetig in uns glüht, brennt in mir, aber mit nüchternen Sinnen greife ich in den Ton und knete, während mein Auge unerbittlich jede Linie dieses Wunderbildes begleitet. Dann trage ich auf und nehme mit der Schlinge wieder fort, und unausgesetzt rollt knirschend der Modellierstuhl mit der Riesenlast aus toter Erde, noch ungestaltet, der ich, ein Schöpfer, den lebendigen Odem einblasen will. Wie die Tonmasse sich dreht, so gleitet daneben die atmende Gestalt herum, ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie drohte, das Gleichgewicht zu verlieren, weil ich im Eifer des Bildens sie zu scharf gestoßen.

Wir sprechen kein Wort. Sie steht unbeweglich, immer den Blick in die Ferne hinausgerichtet, als sei kein Leben in ihr. Nur wenn ich, den Tritt heranschiebend, auf die Stufen steige und meine jede Fläche abnehmenden Augen ihr nähere, daß mein Atem fühlbar wird, dann sehe ich plötzlich, wie ihr bleiches Antlitz, ihr weißer Hals langsam errötet. Das führt mich zur Wirklichkeit, zeigt, wie dieses starre Wunderbild nicht wesenlos ist, sondern ein Geschöpf, mir gleich, in dem ein Herz menschlich klopft und eine Seele empfindend zittert.

Dann ist es mir, als würde ich ein wenig verwirrt, und ich möchte etwas sagen – aber ich fürchte mich. Sie ist mein Modell, mir fremd, und nichts bindet uns. Ihr Körper gehört meinen Augen, ihre Seele geht mich nichts an. Und ihr Körper gehört meiner Kunst nur, solange sie hier steht – dann muß ich ihn – vergessen.

Vergessen? Ich kann es nicht. Jeden Augenblick frage ich mich: Habe ich recht gesehen? Ist das so? Oder so? Dann stehe ich nachts aus dem Schlafe auf, laufe in die Werkstatt, hebe den Kasten ab, der, die Feuchtigkeit zurückhaltend, außerhalb der Arbeit das Tonmodell einschließt, und betrachte die werdende Figur. Das arbeitende Hirn, in das sich dieser Menschenleib wie eingegraben, spiegelt mir eine Täuschung vor: ich sehe sie auf dem Modellierstuhl stehen. So deutlich ist sie mir, daß ich schon nachts gearbeitet habe nach den Umrissen, die ich zu erblicken meinte, während ich doch allein war in dem hohen, schweigenden Raum.

Dann möchte ich Zwiesprache halten mit ihr. Ich höre so gern den weichen Tonfall, wie sie redet. Vernehme, wie nichts mir lieb ist, ihr Lachen. Und wir sind doch so stumm bei der Arbeit. Ich kann mich nicht unterhalten über gleichgültige Dinge, während meine Hände, meine Augen, meine Seele kämpfen, ein Herrliches ganz zu begreifen, um es ein zweites Mal machen zu können.

Es soll auch der Abstand gewahrt werden – so geht mein Empfinden. Wenn sie mir steht – das ist Dienst, während des Dienstes gibt es keine anderen Gedanken mehr. Auch beim »Rühren« ist nicht der Ort zum Schwatzen. In der Pause – notwendig, daß sie nicht müde werde – arbeite ich weiter, stumm, abgewendet von ihr. Sie hat einen Mantel umgetan und sitzt abseits mit einem Buch.

Gestern, als sie – wieder Dame – nach der Arbeit vor mir stand, redeten wir darüber:

Ich: »Es ist so langweilig für Sie, so stundenlang und kein Wort!«

Sie: »Ich sehe Ihnen zu.«

Ich: »Das kann Sie doch allein nicht unterhalten!«

Sie: »Ich bewundere Sie, wie Sie das machen.«

Ich: »Eine Gabe der Natur. Und – ich – bewundere Sie.«

Sie (lächelnd): »Eine Gabe der Natur.« (Verneigt sich.)


Solche Gespräche sollen nicht sein. Ich will arbeiten und nicht schwatzen.

Sie steht wundervoll. (Kein Berufsmodell besser.) Jeden Tag zwei Stunden. Nur eine Pause, und dann unterhalten wir uns. Von selbst ist es gekommen. Sie hat die Befangenheit abgelegt. Nur jedesmal, wenn sie heraustritt, steigt ihr das Blut in den Hals. Aber es bleibt: während der Arbeit – Schweigen. Ich konnte nie sprechen, während ich arbeitete. Nach den zwei Stunden lege ich mich einige Zeit schlafen: so müde bin ich, als ob ich sonst den ganzen Tag gearbeitet hätte. Aber ich komme vorwärts: in ein paar Wochen bin ich fertig.


Leichtsinnig schrieb ich »fertig« hin, als ob man jemals fertig würde. Kämen nicht äußere Umstände dazu, wer könnte je sich genug tun? Ich muß mich immer zwingen, aufzuhören, sonst entließe ich nie ein fertiges Werk. Aber ich sehe: einmal muß ein Ende kommen. Der Sommer ist vor der Tür. Dann hört ja ihr Studium auf! »Der Meister« geht auf einen Monat (oder länger, sie weiß es noch nicht) nach dem Ober-Engadin. Für die Nerven. Dort findet er immer Kraft für das ganze kommende Jahr.

Was wird dann? Sie? Ich?

Sie: »Wie lange wird die Arbeit noch dauern?«

Ich: »Sie sind es müde?«

Sie: »Ich muß til Kjöbenhavn.«

Ich: »Jetzt?«

Sie: »Bald.«

Ich: »Auf wie lange?«

Sie (zögernd): »Ganz!«

Da warf ich den Ton in die Ecke und stand, nicht Künstler, nein Mensch, vor ihr. Ich war erschrocken, als hätte man mir das zum Leben Nötigste entzogen. Ich begriff nicht. Was sollte ich beginnen ohne sie? Meine Arbeit nicht fertig und – mehr, mehr noch: sie nicht mehr da?

Nun verließ sie ihre Stellung, zog das Spielbein zurück, richtete sich auf. Aus gelassener Schönheit ward ein irdischer Mensch. Und zum erstenmal in den Wochen, die sie vor mir steht, ward ich mir bewußt, daß sie nackend war. Ich sah sie an und habe in ihrer Schönheit nicht die Kunst geschaut mit reinen Augen, sondern das Blut stieg in mir empor, umwölbte den Blick, und ich fand in ihr das Weib.

Ich: »Sie dürfen nicht gehen.«

Sie: »Ich muß.«

Ich: »Wollen Sie nicht bei mir bleiben?«

Sie: »Der Meister sagt, ich bin fertig!«

Ich: »Aber ich bin noch nicht fertig!«

Sie: »Da muß ich wohl bleiben? Ikke sandt?«

Ich: »Bitte, bitte, bleiben Sie bei mir!«

Ich hatte ihre Hand ergriffen. Sie neigte den Kopf, als wolle sie meinem Blicke ausweichen, und dann mit einem Male stand sie wieder in ihrer Stellung.

Sie: »Wir wollen fleißig sein.«

Ich: »Vergeben Sie mir.«

Ich ging an die Arbeit. Als ob meine Augen nun anders sähen, entdeckte ich Fehler über Fehler (Ungleichheit der Wangen; zu harter Übergang zum Hals; linker Unterarm falsch angesetzt; rechte Brust steht höher; Winkel der unteren Kreuzrautengrenzen zu flach). Ich will arbeiten! Arbeiten! Wo habe ich meine Augen gehabt!

Und dann sagte sie mir den Tag darauf:

Sie: »Reden Sie gar nicht mehr mit mir?«

Ich: »Wir werden sonst nicht fertig!«

Sie (plötzlich): »Ich will warten.«

Ich: »Bis ich fertig bin?«

Sie: »Ja!«

O du herrliches, liebes Geschöpf: nun bist du mein!

 

Ja, sie ist mir gleich einem Besitz! Nun stehe ich am Drehstuhl und sehe und gebe wieder, und suche und finde. Das ganze Glück der Arbeit ist wieder über mich gekommen. So soll es bleiben und nie, nie ein Ende finden. Mir ist wie Penelope seligen Angedenkens, als müßte ich abends mit ein paar Strichen und einem Drucke der Hand das Werk des Tages wieder zerstören, damit es nie, nie fertig würde.

Ich erschrecke über solche Gedanken! Ist nicht das erste, das einzige, nur mein Werk? Und ich will es nicht vollenden? Bin ich mir untreu geworden? Sind meine – –

 

Heute nehme ich den Gedanken wieder auf, den ich gestern aus Feigheit ließ: Sind meine – Hände unrein an diesem Werk, weil meine Augen nicht die Natur allein mehr sehen in diesem Weibe?

Ich fühle, daß meine Arbeit nicht vorwärts schreitet, ich fühle, daß meine Sinne – nein, nein, mein Herz – –

Ich habe mir einst selbst den Satz gestellt: nie etwas machen, bei dem mein Herz nicht ist. Und nun? Ja! Mein Herz, mein ganzes Herz ist bei diesem Werke, denn ich kann ja nicht mehr atmen ohne sie. Kann mir den Tag nicht vorstellen, da ich sie nicht erblickte! Sie, die mir die kurzen Stunden segnet, da ich ihr nahe sein darf. Ich will sie nur sehen, will nicht mit ihr Gedanken tauschen: Das Schweigen der Arbeit lastet nicht auf mir, es erquickt mich, es beseligt mich ohnegleichen.

Du holder Traum eines gütigen Schöpfers sollst nicht niedersteigen zur platten Wirklichkeit. Schweige, aber lasse mich dich schauen, nur schauen, immer nur schauen mit meinen glücklichen Augen!

Das ist meine Liebe zu dir.

Wenn Liebe stumme Anbetung bedeutet, so liebe ich sie.

Habe ich ihr nicht mit meinem Manneswort versprochen, daß ich sie nicht liebe? Hat sie nicht unter der Bedingung allein eingewilligt, mir Armem zu helfen? Nie soll sie es ahnen! Und doch bedrängt es mich: mein Wort als Mann, als Künstler, als Offizier habe ich gegeben – und brach es. Aber es ist erst während der Arbeit geworden. Und darum brauche ich den Kopf nicht zu senken.

Wer ist Herr über sein Herz?

Wir sind alle sterbliche Menschen, aber es gibt eines, das den Sklaven seiner Triebe, der zum Schufte wird, scheidet vom ehrlichen Mann: die Selbstzucht. Selbstzucht in der Kunst wie im Leben. Mit ehernen Buchstaben soll sie über meiner Werkstatt stehen. Hat es je einen wirklich großen Künstler gegeben, der nicht auch (trotz Anfechtung) ein großer Mensch gewesen wäre? Seitdem ich die Erkenntnis in mir festigend, neu gewann, ist Ruhe in meine Seele heimgekehrt.


Beim Abschied, an der Tür.

Sie: »Warum gehen Sie nie mehr mit mir spazieren?«

Ich: »Man soll uns nicht sehen!«

Sie: »Ich fürchte mich nicht.«

Ich: »Aber ich.«

Sie: »Ein Mann?«

Ich: »Für Sie.«

Sie: »Mir ist alles gleich.«

Ich: »Das dürfen Sie nie sagen!«

Sie: »Wenn ich es nun denke?«

Ich: »Sie betrügen sich selbst.«

Sie: »Denken Sie so gut von mir?«

Ich: »Ich möchte, daß kein Mensch je das Recht hätte, ein unzartes Wort über Sie zu sagen.«

Sie: »Ich danke Ihnen!«

Wir reichten uns die Hand. Ich küßte ihre Hand. Zum erstenmal. Es war nicht gut. Ich empfand es im gleichen Augenblick, denn wir wurden unterbrochen: Ernst W. – Als er eine Dame sah, prallte er zurück. Sie ging stumm. Er blieb bei mir. Kein Wort fiel über sie. Ernst tat, als hätte er sie nicht erblickt, wie er immer ist.

Ist er nicht darum, neben meinem lieben Bruder, der einzige, der Arbeiten vor den anderen gesehen hat? (Nur wenn fertig oder abgetan – aufgegeben.) Ihm konnte ich immer alles sagen (als schriebe ich es nieder wie hier), und nie fragt er. Einseitige Erleichterung.

Alles still in mir. Alles zur Ruhe gebracht. Arbeit Trösterin, heilendes Glück der Menschen!

Betrug! Es ist alles vergebens gewesen. Wir arbeiteten stumm, und ich ließ immer und immer wieder die Augen über diese Gestalt gleiten, die mir in ihrer Ebenmäßigkeit klassisch, in ihrer fiebernden Unruhe erscheint als ein erregtes Kind unserer Tage. Sie stand einst wie Erz. Heute spielen die Muskeln in ihrer weichen, glatten Hülle, daß jeder Punkt trotz dem angestrengten Blick des Auges (schier unmöglich festzuhalten) in jeder Sekunde die Lage ändert. Heute zittern die Nerven; die Lider wandern; die Linien überschneiden sich anders ohne Unterlaß; die feinen Nasenflügel beben; der Mund wölbt sich heraus und zieht sich ein; die Haut spielt; die Schultern heben sich leise und sinken wieder; das ganze Knochengerüst scheint unausgesetzt sich zu verschieben; und unter der Brust geht der zitternde Pulsschlag des Herzens hin und her, als würde der glatte Spiegel eines Gewässers unablässig bewegt durch ein Unbekanntes, das in der Tiefe verborgen sein Dasein in leisen Regungen kündet.

Ich konnte den Blick von der Stelle nicht lassen, und mein Auge ging nicht vergleichend zur Tonfigur zurück, es blieb gebannt auf dem heimlichen Leben in dieser unvergleichlichen Gestalt.

Sie (plötzlich): »Arbeiten Sie nicht?«

Ich: »Doch.«

Sie (sich neigend zu mir): »Ich fühle Ihren Blick.«

Ich: »Muß ich Sie nicht anschauen?«

Sie: »Nicht so.«

Ich: »Wir wollen aufhören heute.«

Und das Wunderbild regt sich. Aus dem kaum atmenden Marmor der Glieder wird ein sterblicher Mensch. Sie steigt nieder. Wie sie sich bewegt: gelassen, selbstverständlich im erstaunlichen Ebenmaß ihres schlanken, doch vollen, weichen, doch kräftigen Leibes. Nun steht sie vor mir, ganz nahe, daß mich ihr Hauch streift. Ein Duft kommt von ihr gleich frischer Erde. Ist es ihr Haar? Ihre rosigen Brüste zittern.

Mein Gott, bewahre mir Herz und Sinne, laß mich bleiben, wie ich es immer gefühlt: Künstler (Priester), der ich bin!

Aber sie trat mir ganz nahe. Ihre Augen schienen zu glänzen, und ihre Lippen öffneten sich, daß sie standen gleich der klaffenden Schale einer seltsam rosigen Muschel. Dann sah ich ihren Körper sich verschieben, als sie den Arm hob (der Schultermuskel ward kürzer und schwoll), und mir näher kommen, und ihre Hand legte sich mir auf den Arm.

Sie: »Nicht böse sein.«

Ich: »Das bin ich nicht.«

Sie: »Aber Ihr Gesicht!«

Ich: »Vielleicht ärgere ich mich über mich selbst.«

Sie: »An Ihnen ist doch alles gut.«

Ich (heftig): »An mir? Oh – ich bin« –

Sie: »An Ihnen ist kein Fehler.«

Diese Augen! Sie drangen in mich ein. Sie ließen mich nicht. Sie lachten, sie sehnten, sie redeten tausend Worte. Sie schwiegen in tausend Worten.

Ich aber sah plötzlich wieder (was ich, der Künstler, nie – bis auf dies eine Mal [ich schrieb es] gefühlt), daß ein Weib nackend vor mir stand.

Da griff ich nach dem Mantel und warf ihn über ihre Scnultern. Sie ließ sich langsam nieder. Eng hielt sie den Stoff zusammen. Den Fuß zog sie ängstlich zurück und sah mich an und begann zu weinen.


Seitdem kann ich sie nicht mehr anblicken, wie ich es tat, denn mir ist, als verschleierten Tränen ihre Augen. Und das mag ich nicht sehen. Es will mir nicht aus dem Sinn, warum sie geweint hat, aber ich frage sie nicht, denn wir arbeiten wieder, sie steht unbeweglich, und ich mag das Werk nicht stören.

Es wächst, bekommt Rundung und Ausdruck. Ich stand, als sie gegangen war, lange davor. Es beginnt zu leben, sieht mich lieblich an. Sein heimliches Dasein tut mir wärmend wohl. Wie es steigt und sich füllt, ist Ruhe über mich gekommen. Jetzt ringe ich nur noch um den Ausdruck, denn das Gröbste ist getan. Namen haben mir immer etwas bedeutet. Sonst hatte ich ihn am ersten Tage. Jetzt steht er mir noch im Nebel, denn ich kann das Gefühl nicht greifen, das dieser holdseligen Gestalt entströmt. Es ist Ruhe darin, Sättigung. Alles Wilde scheint um sie still zu werden. Der Zorn müßte den Arm sinken lassen vor ihr. Der Neid dringt nicht hinan. Haß käme ihr nicht nahe. Alles Niedrige sinkt rund um sie leblos zu Boden, als ginge von dieser Gestalt ein Odem aus, der stinkende Schwaden aus gemeinem Munde wesenlos macht.

Auch die Liebe –

Nein, die Liebe hat hier keine Statt, nicht Sinnenbrunst, nicht Gier, nicht einmal das zarte Regen in einer Mädchenbrust. Kaum leise Ahnung schwebt um diese feinen, herben Lippen. Alles ist Natur an diesem Bilde, alles Einfachheit, wie sie war, als sie sinnend in der Kirche in Padua stand, wie sie war, als die Hülle fiel, nachdem sie von mir verlangt, ich müsse sprechen: »Ich liebe dich nicht!«

Und nun schwebt mir das Wort vor, das ich ihr geben muß. Ich ahne es. Ich – weiß es. Hier setze ich es hin. Diese Gestalt soll heißen:

Reinheit


Daß ich den Ausdruck nicht verliere! Festhalten muß ich ihn bei jedem Strich und Druck. Ich darf ihn nicht verlieren – damit sie ihn nicht verliert. Ist nicht göttlich bei der Kunst, daß sie nicht lügt? Wie der Bildner vor sein Werk getreten, so wird es unweigerlich. Er kann nicht höher, als er ist.

Versuche, o Künstler, mit aller Seele sehnend zu geben, was nicht in den Tiefen deiner Seele ruht, suche dich vom Himmel zu reißen, breiter Erdengast, was unerreichbar über dir schwebt, pulvere dich auf zur Gewalt, dämpfe deine grobe Tatze zu zartem Gefühl – und wenn du auch (Sieg der Technik, Triumph der Affeninstinkte) für den Laien gesiegt hast: der, dem gegeben ist, zu erkennen, fühlt deine Grenzen.

Wenn du, o Künstler, in heißem Begehren versuchtest, nach Kränzen zu greifen, die dir nicht beschieden sind – tu den Ikarussturz zur tiefen, harten Erde. Ein ehrlicher Tod.

Wehe dir aber, wenn du bilden willst, dessen du dich begeben hast durch eigene Schuld. Dann wird aus Lächeln Grimasse, aus dem Hohen Plattheit, aus Schönheit die Fratze, aus Keuschheit das Gemeine.

Dann bist du Lügner und Heuchler und Fälscher, ein Betrüger an deinem Werk. Das ist die Sünde wider den Heiligen Geist in der Kunst und: siehe, die wird nie vergeben.

 

Meine Augen schauen nur das Werk, das in seiner Ruhe dasteht, als hätte es nie der Hauch eines falschen Gedankens getroffen. Es wird glatt und rein, es scheint zu atmen, unberührt sieht es aus, nichts wissend: Eva im Paradiese, ehe ihr die Augen wurden aufgetan.

Und in meine Seele ist etwas geschlichen wie Anbetung vor diesem Mädchen. Ich möchte ihr danken, kniefällig für das, was sie für mich getan, aber erst, wenn ich das Modellierholz aus der Hand lege.

Dann will ich ihr die Hand küssen.

 

Aus brütender Hitze, aus Blitz und langhinrollendem Dröhnen, aus prasselnden Regenschauern, aus Sturm und säuselndem Winde, aus kürzeren Sonnenstrahlen und kühlerer Nacht, ward der Herbst.

Die Natur ist müde, will schlafen. Es geht alles dem Ende zu. Und ich bin fast fertig! Sie steht vor mir wie im Leben. Mir ist Besseres nie gelungen. Nur das letzte Atmen muß noch hinein. Das komme, wenn die Stunde günstig ist. Nun gehe ich um das Werk herum und warte, bis das Letzte mir geschenkt wird.

Ich bin so glücklich!

 

Das erste Mal, daß sie nicht gut stand.

Ich: »Sind Sie müde?«

Sie (schnell): »Ja, ich bin müde!«

Sie trat herab, setzte sich und sah vor sich hin. Dann meinte sie, ich hätte ja doch nichts gearbeitet in diesen letzten Tagen. Ich brauche sie also nicht mehr. Ich begriff nicht. Sie erregte sich. Nein, ich hätte sie nicht mehr notwendig, und sie wolle in ihre Heimat zurück. Ihr Ton war hart, ihre Sprache bitter. Ein Zug lag um ihren Mund, wie ich ihn nicht gesehen. Und ich kenne doch ihre Züge besser, als sie selber sie kennt. Es war ein Ausdruck, der mir nicht gefiel, denn ich könnte ihn nicht brauchen für mein Werk.

Während ich sie ansah, zu suchen in ihren Mienen, was mir not tat, senkte sie plötzlich die Stirn in die aufgestützten Hände, und ihre steil emporgestiegenen Schultern zuckten. Und mein Herz ward weich. Da legte ich leise die Finger auf ihr Haar und fragte, was ihr fehle. Sie schüttelte den Kopf. Sie zeigte nicht ihr Gesicht. Meine Hand glitt über ihre Schultern und den schlanken Arm. Zum ersten Male fühlte ich die Flächen, die Rundungen lebendig warm, deren Neigung und Gestalt ich kenne aus der toten, kalten Erde, so genau, daß ich sie mit geschlossenen Augen formen kann.

Es war, als duckte sie sich unter meiner Berührung.

Ich: »Vergeben Sie! Ich kann es nicht sehen, daß Sie weinen!«

Sie (bitter): »Kümmert Sie das?«

Ich: »Meinen Sie, ich hätte kein Herz?«

Sie: »Ich weiß nicht.«

Ich: »Das ist hart.«

Sie: »Nein, denn Sie haben ja – Ihre Kunst.«

Ich: »Soll es nicht so sein?«

Sie: »Aber ich?«

Ich: »Sie haben – Ihre Kunst.«

Sie lachte plötzlich laut, sprang auf, riß den Schirm zur Seite, und die Sitzung war aus.

Sie stand unbeweglich, aber ein Ausdruck lag über ihr, der zu meiner Arbeit nicht paßte. Ich modellierte an den Füßen und blickte sie nicht an. Stumm ging das Werk. Ich ruhte, die Hand am Kinn. Ich sann.

Da geschah etwas – es steht mir vor Augen wie eine eindrucksvolle Szene in einem großen Bühnendichtwerk, das ich etwa zum erstenmale gehört. Ich ruhte, die Hand am Kinn. Ich sann. Unbeweglich. Die Hand am Kinn. Es schattet etwas über mir. Es neigt sich nieder. Ein Lufthauch streift mir die Wange. Leise weht das Haar. An der Hand etwas. Ein Gefühl. Zwei Lippen. – Zwei Lippen auf meiner Hand. Und dann werden meine vom erstarrten Ton grauschmutzigen Finger von anderen Fingern umschlossen. Ein Mund liegt auf meiner Hand. Sie war am Kinn. Und wie ich auffahrend mich bewege, gleitet das Lippenpaar ab und streift mir den Bart. Und trifft den Mund. Und ruht.

Ich erwache, richte mich auf. Die Lippen gleiten ab. Sie bleiben auf der Hand. War es die Hand? Die Hand hatte ich am Kinn. Wie man sinnt. Die Hand am Kinn. Und die Lippen nun darauf.

Mein Gott, was ist das? Wozu? Ich wehre ab. Sie ist es. Sie hält mich noch.

Ich: »Einem Manne? Die Hand?«

Sie: »Eine Künstlerhand.«

Und ich weiß nicht, war es nur die Hand? Ich weiß nicht, war es Ungeschick oder Zufall?


Der Kuß, meiner Hand bestimmt (Überspanntheit einer jungen, künstlerisch begabten Mädchenseele), aber meine Lippen traf, brennt in mir. Ich kämpfe gegen meine Sinne. Ich will ihrer Herr und Meister sein. Ich werde es sein. Ich fragte sie nicht. Kein Wort fiel über das, was geschehen. Aber die Arbeit schleicht dahin, und der Tag fördert nicht, denn die Finger sind nicht ruhig und die Sinne nicht klar, wenn mir das Blut in den Schläfen klopft.

Mein Gott, mein Gott, und sie soll doch heißen: Reinheit!


Sie: »Und wann ist es fertig?«

Ich: »Ich suche nur den letzten Ausdruck.«

Sie: »Also bald? Ikke sandt?«

Ich: »Warum?«

Sie: »Damit ich kann reisen.«

Ich: »Sie wollen abreisen?«

Sie: »Sie brauchen mich ja dann nicht mehr!«

Ich: »Und dann sprachen wir nicht mehr miteinander?«

Sie (plötzlich, leidenschaftlich): »Was geht Sie meine Seele an?«

Ich: »Das ist ungerecht. Ihren Körper habe ich. Hier steht er. Aber die Seele, Ihre liebe, reine Seele, die hauche ich ihm erst ein. Und dann fragen Sie: Was geht Sie meine Seele an?«

Sie: »Sie haben nie danach gefragt!«

Ich: »Aber sie gesucht – täglich – für meine Arbeit.«

Sie: »Ja, nur für die Arbeit. Sie wollen mich ja nur als Ihr Modell. Aber ich habe eine Seele. Ich habe ein Herz. Ich bin nicht Ton wie das da und will nicht Marmor sein – wie das werden soll. Marmor – wie – Sie.«

Ich: »Was – haben Sie mich gefragt, ehe Sie zu mir kommen wollten?«

Sie nahm meine Hand, meinen Arm. Sie sah mir eng in die Augen. Sie fragte mich hart und kurz wie ein quälender Schrei: »Lieben Sie mich?«

Ich aber nahm alle Kraft zusammen, daß ich mein Wort hielte, gegen sie wie gegen mein Werk, gegen meine Kunst, und sprach:

»Nein!«

 

Heute nicht gekommen. Langsam öde die Stunden. Die »Reinheit« steht ruhig da, ungerührt. Sie bewegt sich nicht. Sie ändert sich nicht, wie wir Menschen uns ändern. Wie ich mich geändert habe und doch nicht ändern will.

Wieder nicht gekommen. Und meine Arbeit ruht.

Nicht gekommen! Nun eine Woche nicht. Ich schreibe ihr nicht. Ich rufe sie nicht.

Ich will morgen zu ihr gehen. Nein, heute. Ich tue es nicht. Ich bin nie zu ihr gegangen. Ich tue es nicht.

Aber ich ging zu Ernst W. Wir waren im Museum. (Desiderios Büste der Urbiner Prinzessin. Der Stoff wundervoll gemacht. So nur in Kalkstein möglich. Zu moderner Dame im Kleide, wie ich immer machen will – nur solcher Stein! [Triestiner oder Urbino?] Wird das nächste! Aber die »Reinheit« ist ja nicht vollendet!)

Wann werde ich es fertig machen? Warum kommt sie nicht? Ich irre umher und suche sie zu treffen, aber ich begegne ihr nicht, wie ich auch alle Straßen durcheile, wo wir sonst uns gefunden.

Verehrtes Fräulein!

Zürnen Sie mir, daß Sie nie wiedergekommen sind? Habe ich Sie durch irgend etwas verletzt, ohne daß ich es wollte? Die »Reinheit« steht da und wartet auf ihr Ebenbild, dessen Schönheit sie mit schwachen Händen entnommen. »Reinheit« habe ich sie genannt, so wie Sie mir erschienen sind vom ersten Augenblick an.

Kommen Sie wieder! Helfen Sie mir! Verlassen Sie einen armen Künstler nicht, der sein Werk nicht vollenden kann ohne Sie. Wer schenkt, soll ganz schenken. Sie gaben mir so viel, nun müssen Sie auch das letzte geben, den letzten Hauch, den letzten Ausdruck, alles Unsagbare, das in Ihnen liegt, das um Sie schwebt, für mich mit Ihnen verbunden als Teil von Ihnen.

Ist die Stunde günstig, mag es in kurzer Zeit geschehen sein. Ein paar Striche, ein Druck der Finger, und es ist dem Tonbilde gegeben.

Machen Sie mich glücklich! Kommen Sie zu mir! Oder schreiben Sie mir, was ich Ihnen getan habe, daß Sie mich fliehen.

Leben Sie wohl! Immer

Ihr ...


Warum antworten Sie mir nicht, liebes Fräulein Rigmor? Ich bin krank, krank nach Ihnen! Ich arbeite nicht mehr. Ich denke nur immer den ganzen, ganzen langen Tag an Sie. Ist das schlecht? Zürnen Sie mir deshalb? Habe ich nicht mein Versprechen gehalten? Mein Gott, was habe ich Ihnen denn nur getan?

Sie haben verlangt, daß ich Ihnen sagen sollte: Ich liebe Sie nicht! Jeg elsker Dem ikke. (Ist das richtig? Lachen Sie mich nicht aus!)

Also womit habe ich Sie verletzt?

Kommen Sie. Helfen Sie dem armen, ohne Sie ohnmächtigen Künstler.

 

Dänisches Wörterbuch gekauft. Ich versuche es Dänisch. Vielleicht rührt sie das. Ich versprach mal, ihr dänisch zu schreiben, obwohl ich es nicht kann, damit sie zu lachen hätte. Nun soll sie lachen, sie soll lachen über mich. Vielleicht rührt sie das, wenigstens zu antworten:

Jeg har Dem lovet, dansk at skrive, damed det ingen fremmed Oie laese kan. Skrive De mig! Vil de ikke gjore mig Tjensten?

Jeg besvaerger Dem.

Jeg skal sige Dem noget – men jeg villen og maa tie.

Forglem mig ikke!

Jeg taenker paa Dem!

(Ich habe Ihnen versprochen, dänisch zu schreiben, damit es kein fremdes Auge lesen kann. Schreiben Sie mir! Wollen Sie mir nicht den Gefallen tun?

Ich beschwöre Sie.

Ich habe Ihnen etwas zu sagen – aber ich will und muß schweigen.

Vergessen Sie mich nicht! Ich denke an Sie!)


Sie schweigt, und ich sitze Stunden hindurch vor der »Reinheit«. Mählich, mählich, wenn es Nacht wird und im großen weiten Berlin der Straßenlärm erstirbt, im Hause alles still geworden ist, ich allein noch wache, ist es mir, als stiege sie nieder zu mir von ihrem irdenen Tritt und sähe mich an mit ihren lieben Augen.

Jetzt weiß ich mit einem Male, daß sie mich anblickt, wie sie mich anblickt. Als ich daran dachte, fühlte ich plötzlich das Blut mir ins Gesicht steigen. Aber ich bin ja allein, allein – immer allein.

Da kam Ernst W.

Und zum erstenmal sprach ich von ihr gegen einen Dritten. Ich wollte nur andeuten, doch ein Wort hat das andere ausgelöst: nun weiß er alles. Die Geschichte, den Namen. Er mußte ihn erfahren, denn ich habe ihn gebeten, sie zu suchen, sie zu mir zu bringen. Er ist ein Freund, wie es keinen anderen gibt. Auch für mich andere nicht möglich. Für mich, mich, der ich keinen Menschen liebe, sondern nur meine Kunst!

Mir ist es manchmal, als dürfe ich nicht so sein gegen ihn. Er gibt, und ich empfange: Er gibt seine Freundschaft, seine Treue, und ich nehme sie hin. Er redet nie von seinen Dingen, sondern ist nur besorgt um mich und meine Dinge. Wir sprechen nur von – mir, von meinen Arbeiten, nie von seiner Welt, die es nicht zu geben scheint. In guten Stunden entwickle ich ihm Gedanken über meine Kunst. Er lauscht, fragt kaum, das Gewebe meiner Rede nicht zu stören. Und ich bin ihm dankbar für seine Zartheit. Ich darf in seine Seele niederlegen alles, was mich berührt. Nie will er mit seinem eigenen lästig fallen. Ich weiß kaum, was er tut, aber er weiß alles, was ich denke.

Das ist Selbstsucht! Eine Selbstsucht, für zweite nicht zu ertragen, – – er trägt sie. Aber es ist Selbstsucht nicht für meine Person, sondern für meine Kunst. Sind wir Künstler nicht gleich einer Frau, die empfangen hat? Wird solche Frau nicht seltsam in ihrem Wesen? Erleben wir es nicht täglich, daß sie den Mann zurückstößt, die Nebenmenschen vergißt, nur an ihren Hunger und Durst, an ihr Wohlbefinden denkt, allem fremd und feindlich wird, allein noch mit dem einzigen Gedanken im Herzen an das, was in ihr wächst? Ist das Selbstsucht? Nein, es ist der Naturtrieb, es ist der Schutz, dem Wesen geltend, das da kommen soll, das zum Leben zu bringen diese Frau als alleinigen Zweck empfindet.

Wenn wir Künstler ein Werk empfangen haben in unserer Phantasie, so gibt es nur den einen Gott und keinen anderen neben ihm. Was ist Freundschaft, was ist Liebe, wo sind die Menschen alle, neben unserem Werk? Sie versinken und verschwinden. Unser Herz hat keinen Teil an ihnen. Es lebt nur dem einen allein, das alles überwuchert und überrankt.

In des Künstlers Seele ist nur Platz für das Schaffen, das zu erfüllen er geboren ward. Denn er ist nicht auf die Welt gestellt zu seinem selbstischen Glück: er ward Künstler, um alles zu opfern seinem Werk. Er darf seine Seele nicht füllen mit Tand und Nebenliebe, er darf sein Herz nicht hängen an andere Menschen. Wie ein katholischer Priester nicht haben soll Weib und Kind, auf daß er ganz und allein gehöre dem Einzigen, dem Höchsten, das es für ihn gibt, so muß der Künstler verzichten auf alles, das ihn ablenken könnte von seiner Kunst. Sie ist sein Herr und Gott, und es gibt keinen anderen Gott neben ihm.

So muß der Künstler einsam werden, einsam sein, einsam bleiben.

Und jeder wahre Künstler ist einsam in seiner Seele. Er steht ganz allein, aber er hat mehr als die anderen, die ihr Herz an Sterbliches gehängt haben. Was ihm gehört, kann nie untreu werden, kann nie sterben. Es lebt ein ewiges Leben: die Kunst.


Heute zu später Stunde las ich die letzten Seiten wieder, immer und immer wieder, mich aufzurichten an meinen eigenen Worten. Denn ich brauche Stärke und Kraft, bin ich doch nur ein armer, schwacher Mensch:

Meine Seele, die unnahbar sein soll, sturmfrei wie eine Festung, liegt unverteidigt da. Wenn sie käme, sänken lautlose Brücken nieder, öffneten sich schweigende Tore.

Aber ich warte – und sie kommt nicht.

Oh, wenn sie doch käme! Oh, wenn sie mir nur sagte: Ich werde einmal kommen! – Ich will warten auf sie, fein still und voller Geduld. Und dann will ich arbeiten und festhalten, was an ihr sterblich ist – zur Unsterblichkeit.

Klingt das vermessen? Muß nicht jeder Künstler glauben, daß sein Werk unsterblich sei, solange er daran ist. Wie könnte er sonst noch den Mut finden, zu arbeiten?


Ernst W. hat sie gefunden. Sie ist noch hier. Sie will nicht mehr kommen. Nun kann ich mein Werk in Trümmer schlagen.


Da sind Wochen vergangen, und ich habe dieses Buch nicht angesehen. Ich habe ihm nichts anzuvertrauen gehabt, denn mein Hirn war tot, meine Phantasie erschlagen: meine Augen sahen nicht sie.

Gearbeitet habe ich nicht. Inmitten meiner Werkstatt steht die »Reinheit« unverändert. Sie merkt nichts davon, daß ihr Schöpfer sie nicht beenden kann. Aber es gibt jetzt Stunden, da ich glaube, es ist an ihr nichts mehr zu tun. Was ich dazugäbe, würde sie nicht besser machen. Der Unberührtheit fehlt die Vollendung. Sollte die »Reinheit« nicht geschaut werden dürfen, so, als ob das Letzte noch mangelte? Wie der Staub auf dem Schmetterlingsflügel, wie der Hauch auf der kaum erschlossenen Blüte, der weggewischt zwar die Formen schärfer macht, eindringlicher vielleicht, aber ...

Ach, ich will mich nur darüber hinwegbringen, daß ich Unmögliches begehre.

 

Der Freund endlich wieder bei mir.

Ich: »Wo warst du?«

Ernst: »Ich wollte deine Einsamkeit nicht stören.«

Ich: »Ich arbeite ja nicht.«

Ernst: »Du mußt wieder beginnen.«

Ich: »Ehe die ›Reinheit‹ fertig ist?«

Ernst: »Dann fasse einen Entschluß!«

Ich: »Welchen?«

Ernst: »Zeige sie mir.«

Ich: »Ich könnte sie nie wieder berühren.«

Ernst: »Eben darum.«

Und er gestand mir, daß er mich nicht anschauen könne ohne ein wehes Gefühl. Er sähe, wie ich mich verzehre. Fühle, meine Kräfte lägen brach, meine Kunst sei stumm. Ich müsse wieder arbeiten, darum solle ich ein Ende machen. Über meine Arbeit hatte nur immer ich gesprochen. Heute redete er. Wie ich ihn nie gehört. Seine Stimme zitterte, ich empfand sein Freundesleid. Er blickte zu Boden, er konnte mir kaum sein Antlitz zuwenden. Es war, als ob er, der sein Haupt stolz erhoben getragen, wenn er mir hatte berichten können über Erfolge, die ich errungen, wenn er mir erzählte, was die Blätter, die Kollegen, das Publikum gesagt, nun sich schäme für seinen Freund, der gleichsam gelähmt, nicht mehr vorwärts kam.

Der einzige Ton, der aus der Umwelt je zu mir gedrungen, über das, was ich gearbeitet habe (ich habe viel gearbeitet, war doch Arbeit all mein Leben), ist nur seine Stimme gewesen. Da klang heute matt wie meine, traurig wie meine.

Er: »Du mußt sie vergessen.«

Ich: »Wo ist sie?«

Er: »Sie? – Sie ist – nicht hier.«

Ich: »Zu Haus?«

Er: »Verreist – glaube ich« –

Ich: »Aber sie kommt zurück?«

Er: »Ich weiß nicht – nein – nein.«

Ich: »Ist das gewiß?«

Er: »Ja.«

Ich: »Nie zurück?«

Er: »Nie.«

Er hatte das Auge nicht in meinem. Er wollte mir nicht wehe tun. Mir aber schoß das Blut in die Stirn: so will ich denn ein Ende machen. Und ich ließ ihn stehen, lief in die Werkstatt hinüber, stieg auf den Tritt und hob von dem Schutzkasten, in dem die Figur feucht steht, den Deckel ab. Meine Hände zitterten. Ich glaube, mir waren die Augen naß. Ich schleuderte den Deckel weit hinaus in den Raum, daß er klirrend fiel. Eine Staubwolke entlud sich zu den Seiten, wie bei einer feuernden Batterie der Pulverdampf über den Boden rollt. Dann riß ich die Haken auf, die je zwei Wände des Kastens verbinden, und stürzte die Doppelschirme um. Krachend schlugen sie hin, die Mauern des Hauses, in dem die »Reinheit« stand.

Ich stürmte zurück. Ich stieß die Tür auf. Ich rief den Freund, gellend, damit es unwiderruflich sei, wie ein Feiger, der seine laute Stimme hören will in der Nacht.

Dann trat ich zur Seite, ihm den Vortritt zu lassen, denn sie gehörte nun ihm und nicht mehr mir.

Er ging langsam, zögernd, als wolle er sagen, soll es wahrhaftig sein? Er blickte nicht auf. Er sah mich nicht an. Immer näher kam er der Tür. Die Flut des Oberlichtes fiel über die Schwelle. Drinnen stand sie, unbeweglich, wie in Sant Antonio in Padua, und wie sie ins dunkelnde Kirchenschiff hinausgeblickt, sah sie uns an, die wir aus gedämpfterem Raume kamen. Sie schien zu leben. Mir war, als müsse sie atmen und zu mir sprechen, sie, die ich nie wiederschauen sollte auf dieser Welt.

Er trat ein. Er hob die Augen. Er blieb gebannt. Ich sah seine Blicke sich weiten, sah ein fast erschrockenes Staunen. Er griff mit den Händen in die Luft. Er schien es nicht fassen zu können. Und er sprach halblaut vor sich hin wie eine Frage, zugleich wie ein Ausruf, das Stammeln eines Menschen, dem die Gottheit erscheint:

»So schön?«


Nun gehört sie mir nicht mehr. Ich bin ruhig, ganz ruhig geworden, denn der Zwang, der, einem Eisenreifen gleich, mir um Hirn und Herz geschmiedet gelegen, ist von mir genommen.

Sie steht noch immer da. Ich schaue sie gelassen an und weiß: mir ist nie Besseres gelungen.

Und siehe da, ihr Menschenbild wird mir ferner. Ihre Körperlichkeit verblaßt, eint sich mit der Tongestalt. Der Klang ihrer Stimme klingt nur noch dumpf in den Ohren meiner Erinnerung. Die Schaffensfreude glüht leise ab. Mein Herz ist ruhig. Die Seele hält nicht mehr Zwiesprache mit ihr. Gedanken kommen gleich Schatten. Sie gleiten vorüber, huschen davon. Sie zeigen sich doch, während die letzten Monate alles tot in mir gelegen.

Das ist die Gesundung. Das Blut fließt neu. Vom leisen Regen neuer Arbeit wird mir der Kopf warm. Licht flutet in meine Seele.

Gütiger Schöpfer, die Sonne wird mir wieder scheinen!


Seit langem Ernst W. nicht mehr gesehen. Er kennt mich: will nicht stören, was langsam in mir reift. Wenn ich ihm schreibe: »Ein Gerüst steht wieder da!« dann ist der Freund hier.


Es ist mir eine Idee gekommen, daß es nicht schön ist von mir, daß ich Ihren Brief nicht beantwortet habe, und daß ich nicht gekommen bin. Es war slet von mir. Ikke sandt? Ich schäme mich sehr vor Sie, sehr. Ich möchte nicht, daß Sie von mir slet denken, denn das würde mir sehr weh tun. Sie können mir glauben. Da habe ich mir gedacht, ich werde fragen, ob ich wieder zu Ihnen kommen darf. Wollen Sie mir erlauben? Wenn Sie wollen, schreiben Sie mir, und ich will kommen. Und Sie müssen mir die Stunde schreiben. Aber Sie dürfen nicht bös mit mir sein. Bitte, sprechen Sie nicht mit mir davon. Ich will nur stehen für Ihre Figur. Sie sprechen ja nicht bei der Arbeit.

Mit Gruß
Rigmor B.

Wie vor frühem Frost, vor Sturm im Herbst die Blätter über Nacht von den Bäumen sinken, sind alle neuen Pläne weggeblasen. Den Teppich habe ich wieder ausgebreitet, der Modellierstuhl steht da. Es ist warm in der Werkstatt. Blumen habe ich hingestellt. Sie hat Blumen so gern. Nun sitze ich wie am ersten Tage, da sie zu mir kommen wollte, und warte auf sie. Aber die Zeit wird mir nicht lang. Ich weiß, sie kommt, und das Gefühl beseligt mich, daß ich es hinzögern möchte, um die Minuten zu genießen dieses Bangens auf den Ton der Glocke.

In der Mitte steht die »Reinheit« und blickt mich mit ihren ernsten, ruhigen Augen an. Sie ist so schön, daß ich mich voller Staunen frage: Haben meine armen Hände wirklich dieses Werk getan?

Mir geht durch den Sinn: Ernst sagte doch, sie sei fort? Ist sie wiedergekommen? Er meinte, sie käme nie mehr! Es hat ihr leid getan. Ich will ihr dafür – –


Wie soll ich das erzählen! Mein Gott, mein Gott, wie soll ich das erzählen! Es ist nun einen Tag schon her und – –

Sie – nein. Also: Es klingelt. Sie kommt. Verschleiert. Oder – ich weiß es nicht. Mir ist nur so. Wir geben uns die Hand. Kein Wort. Kein Vorwurf. Nur Glück, daß sie wieder da ist. Sie hinter den Schirm, ich hin und her, mit dem süßen Gefühl, dumpf in mir: sie ist wieder da! Tritte. Ich wende mich um. Da steht sie. In der alten Stellung, als sei nie ein Zwischenraum von Wochen gewesen. Steht da in ihrem strahlenden Schönheitskleide, in ihrer Reinheit leuchtendem Glanz.

Aber da! Wie soll ich das sagen, mein Gott, wie soll ich das sagen?

Mir war – es lag etwas über ihr –, als habe eine schmutzige Hand diese reinen Formen berührt. Der Flügelstaub schien abgegriffen, der Schmelz betastet, blind geworden! Aus ihren Augen sprach Wissen. Das kindliche Unbefangen schien dahin. Ihre Wangen waren, als hätten sie an anderen gelegen. Ihr Mund, als habe er Küsse empfangen.

Vielleicht war das alles nur in meiner Phantasie. Wahrscheinlich waren Lippen und Wangen wie einst. Aber nicht die Augen! Sie strahlten nicht mehr unbewußt Reinheit mir entgegen. Sie krochen am Boden, sie hielten nicht still und nicht stand.

Die Formen sind gewiß die gleichen geblieben, aber die Seele, die da zitterte in der Unsicherheit ihrer Bewegungen, die Seele hatte erlebt, erfahren: vom Baum der Erkenntnis gegessen.

Je mehr ich sinne, ist es mir, als sei auch der herrliche Körper doch verändert. (Physiologen werden sagen: Nein! Aber meine Augen, gewöhnt, die Formensprache des Menschenleibes zu lesen, den winzigsten Abschwung einer Linie gegen das Licht zu empfinden, sprechen: Ich habe es gesehen.)

Ich ließ den Arm sinken. Ich wich zurück. Ich mußte mich setzen. Ich starrte sie an. Sie rührte sich nicht. So vergingen Minuten. Ihr Kopf sank nieder, während sie stand.

Sie: »Warum arbeiten Sie nicht?«

Ich: »Ich kann nicht!«

Sie: »Was ist Ihnen?«

Ich: »Sie sind anders!«

Langes Schweigen. Ganz tief herab fiel ihre Stirn.

Sie: »Was soll das heißen?«

Ich: »Sie sind nicht mehr wie früher.«

Sie: »Doch!«

Ich: »Nein! Ich fühle es!«

Nun blickte sie auf mit Augen, feucht, fragend, scheu und wissend, zum Weibe erwacht.

Sie hatte einst vor mir gestanden gleich einer Königin, die Königin bleibt, und wäre sie auch ganz nackt. Nackt war sie nur gemeinen Augen; mir trug sie das herrlichste Gewand: das der Schönheit, wie sie aus des gewaltigen Schöpfers Händen gekommen.

Jetzt preßte sie die Schenkel zusammen und kreuzte die Arme über den Brüsten und beugte sich tief herab, ihre Blöße zu decken.

Ich: »Was haben Sie getan?«

Sie: – »Den Mantel.« –

Ich: »Was ist Ihnen?«

Sie: »Mir ist kalt!«

Dann saß sie neben mir. Nicht dicht an meiner Seite. Ein Stück abgerückt. Stumm und frierend. Ein großes Wehegefühl zitterte in meinem Herzen. Mir war, als sei ein Köstliches, ein Einziges, nie zu ersetzen, in Scherben gegangen, als sei ein Hohes in den Kot der Straße gezogen. Mir war so ängstlich, so bitter zu Sinn. Mir war so dunkel und hoffnungslos.

Mir war mit einem Male, als habe das Tonmodell vor uns Sprünge und Risse bekommen, neige sich und fiele. Ich fuhr auf mit einem Schrei. Die »Reinheit« stand unbeweglich. Aber sie blickte mich an. Und alles, was an Liebe und Hochgefühl in meinem Herzen gewesen, löste sich, und ich kniete hin vor ihr. Sie sank in sich zusammen. Sie verbarg sich, sie entzog sich mir. Aber ich ließ sie nicht, sondern suchte ihre Hände. Da ich sie nicht fand, legte ich die Arme um ihren Leib und fühlte zum erstenmal die Glieder, die ich kannte wie meinen eigenen Körper, als hätte ich sie selbst gebildet, selber aufgebaut.

Sie wollte ihr Gesicht nicht zeigen. Ich bat sie mich anzublicken. Sie schüttelte den Kopf. Da flehte ich und bestürmte sie, da redete ich ihr zu mit flüsternden vertrauten Worten. Ich bannte all mein Entsetzen, meinen Kummer; nur eines wollte ich sein: weich und lieb. Ins Ohr hauchte ich ihr hundert und tausend Worte. Was? Ich weiß es nicht mehr. Weiß nur, daß sie milde waren, gut, eine Zartheit, ein Versöhnen.

An ihrer Haltung fühlte ich, wie es anders ward in ihr. Ihr Körper gab nach, die gespannten Muskeln wurden weich, die Schultern sanken, die abwehrenden Arme fielen zurück, all ihr Wehren rüstete langsam ab. Dann neigte sie sich zu mir, und ihr Kopf ruhte an meiner Brust. Er wühlte sich ein, verbarg sich an mir, atmete heftig und blieb so lange Zeit.

Ich schwieg, ich versuchte nicht ihr Gesicht zu sehen, sie zum Reden zu bringen. Ich fühlte: die Stunde kommt, wo sie sprechen wird. Einmal kommt sie bestimmt.

Und sie kam. Es war, wie wenn über ausgedörrtem Land, das gedürstet nach Regen, die Wolken ziehen and sich ballen, aber immer wieder treibt ein Wind sie fort, und wir wissen doch, im Laufe der Natur werden, müssen sie sich einmal lösen.

Sie kämpfte lange, setzte an und fand nicht den Mut. Tränen ertränkten den Laut in ihrer Kehle, die Scham stand vor ihr und schloß ihr den Mund. Endlich kam das Geständnis, das furchtbare, das ich geahnt, da ich an ihrem Körper fühlte, er könne nicht mehr ein Vorbild sein zu meiner »Reinheit«.

Soll ich hier mit harten Worten ihre Erniedrigung schreiben? Wer kennt die Rätselgänge einer Menschenseele? Wer ahnte je, was in den Tiefen eines Frauenherzens vor sich geht! Was ich hier sagte, wäre mein Elend, was ich hier schriebe, müßte mich treffen. Habe ich nicht Augen gehabt, zu sehen, was geschah, daß ich – Ja, großer Gott im Himmel, der du die Menschen schuldig werden läßt, warum? Warum? Was rettest du sie nicht, warum bewahrest, kühlest du ihnen nicht Herz und Sinne? Großer Gott im Himmel, wenn du's nicht tust, was soll ich armer sterblicher Mensch dann helfen?

Und hast du nicht gesagt: Richtet nicht? Soll ich nun Richter sein über sie?

Nur das eine brennt und zehrt mir im Herzen, daß ich so blind gewesen bin.

Sie: »Wußten Sie nicht, was mit mir war?«

Ich: »Nein!«

Sie: »Was habe ich verlangt, ehe ich geworden bin Ihr Modell?«

Ich: »Das Versprechen, daß ich Sie nicht liebe.«

Sie: »Und Sie?«

Ich: »Ich habe es Ihnen versprochen.«

Sie: »Verstanden Sie nicht, warum ich das wollte?«

Ich: »Nein.«

Da warf sie die Arme um mich, sah mich an mit verzweifelten Augen und schrie:

»Ich liebe Sie!«

Ich riß mich los, wich von ihr zurück, weit zurück.

Ich: »Und dann – haben Sie« –

Sie: »Ach, hätten Sie mich verstanden!«

Ich: »Was haben Sie getan?«

Sie: (hart, verächtlich): »Mich weggeworfen!«

Ich fand keine Antwort. Sie sprach nicht mehr. Sie glitt hinter den Schirm. Eine Dame trat hervor. Ich hielt den Kopf tief in den Händen. Als ich aufblickte, war ich allein.


Wie die Gestalt der »Reinheit« unabänderlich wird (technische Kleinigkeiten, die man macht, wenn etwa beim Gipsguß der Helix sitzen blieb, meine ich nicht) – sobald sie ein fremdes Auge erblickt hat, ist von ihr der Hauch der Unberührtheit genommen. Es war ein Irrtum, zu denken, ich hätte noch arbeiten können.


Tatbericht. (Ha, ha!)

Fräulein Rigmor B. gibt zur Sache an: »Ich habe Herrn ..., Bildhauer in Berlin, geliebt. Nun kommt er eines Tages und will mich zum Modell haben. Da ich eine Frau bin, konnte ich nicht annehmen, daß er anderes in mir sehen würde als das Weib. Deshalb konnte ich mich unmöglich so vor ihn unbekleidet hinstellen. Das wird doch jeder anständige Mensch begreifen! Deshalb ließ ich mir von ihm einen ›Revers‹, ›Versicherung an Eides Statt‹, ›Manneswort‹ (ha, ha!) geben: ›Mein Fräulein, ich liebe Sie nicht. Sie können sich ruhig ohne Gewand vor mich hinstellen, das rührt mich nicht im geringsten!‹ Na, nun war also nichts mehr dabei! So habe ich mich hingestellt, und er hat eine Figur nach mir gemacht. Während der Arbeit habe ich ihn dann immer mehr lieb gewonnen, entsetzlich lieb, furchtbar lieb, gräßlich lieb, schauderhaft lieb. (Ha, ha!) Aber der Esel hat es nicht gemerkt. Er hat immer nur an sein Werk gedacht. Das ist zwar riesig anständig, aber entsetzlich töricht. Was mußte ich auch gerade an einen Bildhauer kommen, der a) ein Mann von Wort und Ehre ist, b) ein wirklicher Künstler! Ich habe wahrhaftig Riesenpech! Dann hat Herr..... auch noch eine ganz verrückte Idee: statt aus mir eine Venus Kalycolpos, eine Bacchantin, eine Hetäre zu machen, will er durchaus die Reinheit darstellen! Bei Künstlern ist eben meist eine Schraube locker. Endlich frage ich ihn nochmals, ob er mich liebt, während ich doch zur Liebe gemacht vor ihm stehe, aber meine Schönheit rührt diesen Eiszapfen nicht. Er ist imstande, einfach ›nein‹ zu sagen, während in solchem Moment jede Frau nicht nur den Wortbruch verziehen hätte, nein, ihn erwarten mußte. – Daß ich mich solch keuschem Joseph nun nicht länger zum Modell hergeben kann, ist wohl klar. Und nun ist er auch noch erstaunt, daß ich fortlaufe, und höchst entrüstet, daß ich, da er mich nicht verstehen will –«


Der Hohn tut mir weh. Ich wollte so schreiben, daß mir alles von der Seele herunterkäme, aber ich kann sie nicht gänzlich in den Schmutz treten. Soll man im Laufe einiger Jahre bewußten Lebens (seitdem man erwachsen ist) lernen, alles zu verachten? Und ich? Ich hatte sie lieb. Ich, der ich meinte, nichts auf der Welt lieben zu können als meine Kunst.

Aber nun ist sie verdorben und entwertet. Ich will sie nie wiedersehen, und dennoch, dennoch sehne ich mich nach ihr, nicht zu sagen!

Komme zu mir, holdselige Gestalt meiner Reinheit! Ich will meine Augen schließen, daß sie nicht sehen, wie du nicht rein mehr bist. Ich will dir nicht nahe kommen, daß meine tastenden Hände beim Drucke deiner Finger nicht fühlen: du hast gefehlt. Dein Körper soll nicht bei mir weilen. Deine arme, zertretene Seele soll bei mir sein. Mit der will ich Zwiesprache halten, die will ich aufrichten, wieder stolz machen, wieder – rein!


Sie kommt nicht. Ich mahne sie nicht. Ich bin bei der Arbeit. Der Gipsguß ist vollendet. Der Marmorblock steht bei mir, die Splitter fliegen, kleinste Teile schwirren ab, Staub hebt sich und zieht durch die Werkstatt. Ich setze keinen Fuß mehr vor die Tür. Ich arbeite, wie ein ... Künstler arbeitet, dessen Umwelt versinkt, wenn er am Werke ist.

Das einzige, das ich mir gönne, ist: Essen und Trinken und Schlaf. (Oh, ich kann schlafen wie ein Toter.) Und dann dieses Buch, mir vertraut gleich einem lieben Freunde. Ihm sage ich, was andere den Menschen sagen würden (die Menschen – nein – ich liebe sie nicht). Ernst W. habe ich geschrieben, ich sei bei einer Arbeit. Dann weiß ich, er kommt nicht wieder, bis ich ihn rufe.

Nun bin ich ganz allein mit meiner »Reinheit«.

Ich segne die Zeit, als ich Marmorarbeit lernte. Nun brauche ich niemand, kann die Seele in den Stein hauchen und muß es nicht Handlangern lassen, die (brave Leute) punktieren nach dem Normalarbeitstage (denn nur so werden sie bezahlt), die (brave Leute) die Schönheit machen mit der Butterstulle in der Hand und die Reinheit teilen würden mit Polenta und niedrigen Scherzen. Ich segne den harten Winter voller Entsagung droben in den Tiroler Bergen (Laas im Vintschgau), wo ich selbst mit den edlen Stein brach, ihn selbst mit zu Tale ließ und zog, selbst die Marmorsärge stellte, selbst mit den Block hob, meine erste Arbeit punktierte und dann fertig machte im köstlich kristallglitzernden, so weichen, so reinen (rein!) Marmor.

Es war der eine Sklave Michelangelos, (der nun statt am Juliusgrabe seine edlen Glieder im Louvre sterbend streckt).

Es klingelt.

Ein Brief! Mein Gott, ein Brief von ihr.

Der Brief ist dänisch. Es steht Furchtbares darin. Soweit ich verstehen kann. Aber – ich will nicht daran denken. Kann es nicht. Ich wehre das Entsetzliche von mir ab. Erst die Arbeit. Wenn ich fertig bin, will ich zu Schwäche und Menschlichkeit zurück.

Ich habe den Brief fortgelegt. Ich habe gearbeitet, immer nur gearbeitet.

Die »Reinheit« ist fertig in Marmor. Der rosige Stein täuscht mir in der Dämmerung das Leben vor. Stärker kann er nicht leben, unter meinen Händen nicht. (Feilen und Sandpapier fortgelegt.)

Nun werde ich genau übersetzen. Wort um Wort.

Wie es auf dem Papier deutsch vor mir steht, zittert in mir ein Grauen und spricht: Schlummert solches nur in der Seele einer Frau? Würde es ein Mann vermögen? Ist das Menschenart?

Aber was erklärt sie hier, wie ich eben wieder mühselig übersetze: sie wähle ihre Muttersprache, um die Wahrheit sagen zu können. Sie wolle schreiben, um die Wahrheit sagen zu können. Sie wisse: deutsch und von Mund zu Mund sei es ihr unmöglich, mir die Wahrheit zu sagen.

Muß ich ihr nicht glauben?

Lieber Freund,

nun bin ich wieder zu Haus in Dänemark. Mir kommt die ganze Zeit in Berlin unwahrscheinlich vor, wüßte ich nicht, daß ich Entsetzliches erlebt habe und ganz allein durch meine Schuld.

Und dann muß ich an Sie denken. Aber dann weiß ich zugleich, daß die furchtbare Zeit in Deutschland doch in meinem Leben gewesen ist. War sie furchtbar, und nicht nur das Ende? Nein, die Begegnung mit Ihnen nicht. Sie ist ein Brunnen, in den ich immer schauen muß. In seiner Tiefe ist es kühl und gesund, wenn die Luft draußen das Blut zum Sieden bringt. In seiner Tiefe rauscht es und raunt es, daß ich Auge und Ohr immer anstrengen möchte, zu sehen und zu lauschen.

Das ist in meinem Leben das einzige noch von Wert: zu wissen, daß es Menschen gibt wie Sie. Wenn mir das Blut in die Wangen steigt – vor grenzenloser Scham, und ich denke an Sie – dann kann ich das Antlitz wieder heben.

Dabei müßte ich es gerade vor Ihnen tief senken. Aber mir ist, als würden Sie mir verzeihen. Sie sind so gut, so rein, so – wie ein Mädchen – nur nicht eines wie ich.

So will ich Ihnen denn die ganze Wahrheit sagen, ohne mich zu schonen. Ich will Ihnen aber in meiner Muttersprache schreiben, weil ich fühle, daß ich nur dänisch alles so sagen kann, wie ich möchte. Und darum schreibe ich Ihnen: sprechen könnte ich nicht. Das letztemal, als ich Sie traf, konnte ich nicht reden, wie Sie wissen. Ich wollte Ihnen damals alles eingestehen, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Nie könnte ich Ihnen das sagen, Auge in Auge. Aber wenn ich hier sitze so weit von Ihnen, den ich wohl nie wiedersehen werde in meinem Leben, dann ist es mir, als könnte ich Mut fassen, mein armer, mein lieber, lieber Freund.

Wie soll ich nun beginnen? Wie anders, als Ihnen noch einmal zu schwören, bei allem, was mir wertvoll ist in meinem Leben, daß ich Sie liebe, Sie können nie wissen, wie sehr. Das ist so gewesen von den ersten Tagen unseres Verkehrs ab. Begreifen Sie nun, warum ich in all meiner zitternden Ängstlichkeit Sie fragen mußte, ob Sie mich lieben, ehe ich Ihnen Modell stehen wollte? Ich hätte mich sonst gefürchtet vor Ihnen – oder vielleicht vor mir. Sie wundern sich über das, was hier steht: »vor mir«. Ich hätte mich gefürchtet, Ihnen so gegenüber zu stehen, denn ich sehnte mich in allen schwachen Augenblicken nach Ihrem Kuß. Entsetzlich, nicht wahr, für ein junges Mädchen! Aber ich habe den Mut, es zu sagen, und andere sind wohl zu feige dazu, wie ich auch zu feige gewesen bin.

Wenn Sie mir nun versprachen, daß Sie mich nicht liebten, so war ich vor Ihnen geschützt, so diente ich ganz allein der Kunst. Darum konnte ich es tun!

Was habe ich für Qualen erduldet, so dem gegenüberzustehen, Stunden, Tage, Wochen, Monate, dem alle meine Leidenschaft gehörte. Immer hoffte ich: sein Herz wird sich wandeln – er wird mich lieb haben, nur ein ganz klein wenig! Sehnsüchtig wartete ich auf den Augenblick, wo Sie Ihre Instrumente, die schmutzige Erde und alles, was Sie allein beschäftigte, und was ich so haßte wie meinen größten Feind, fortwerfen würden und endlich zu mir sagen: »Ich habe Sie lieb!« Aber Sie haben es nie gesagt. Nie! Nie! Nie!

Das hielt ich nicht mehr aus. Da kam einmal der Ausbruch! Wissen Sie noch unser Gespräch? Ich kann Ihnen jedes Wort wiederholen. Am Schluß fragte ich Sie dann das Entsetzliche, das ich Sie nie hätte fragen dürfen, weil Sie mir dann geblieben wären. Haben Sie nicht gefühlt, Sie Stein, Sie Marmorblock – ach Gott, nein. Sie reiner, großer, lieber Künstler – weshalb ich Sie fragte, was Sie mir antworten sollten?

Mein Herz lag ja vor Ihnen, Ihre Beute, Ihr Besitz! Ich hatte nicht einen Gedanken, nicht eine Regung, nichts, gar nichts mehr mein eigen; alles gehörte Ihnen. Ich wollte keine Antwort in dummen Worten, Geliebter! Sprechen ist immer Rückkehr zur Erde, und ich war dort hoch oben – ich war bei Ihnen.

Sie sollten mir eine kleine Stelle gönnen, eng bei Ihnen. Sie sollten mich anblicken, und ich wollte es wissen aus Ihrem Blick. Ich wartete auf Ihre Hand, mich fühlen zu lassen, daß ich nicht allein war. Ich hing an Ihren Lippen, zu sehen, wie sie, die immer geschlossen sind, sich öffneten für mich. Sie sollten mir sagen, daß ich nicht nur Ihr Modell sei, wie hundert andere, die Sie von der Straße hereinrufen können und bezahlen, daß ich Ihnen nun Etwas geworden sei. Da fragte ich Sie: »Lieben Sie mich?«

Und Sie sagten: »Nein!«

Ach, lieber Freund, da konnte ich zu Ihnen nicht wiederkommen. Keine Frau könnte es. Aber ich vermochte den Gedanken an Sie nicht zu bannen. Sie blieben mir, auch wenn ich Sie nicht sah.

Was habe ich in dieser Zeit mit mir gekämpft! Was habe ich für Schmerzen gelitten! Wie oft war ich auf dem Wege zu Ihnen! Ich habe mich überwunden. Bei Ihnen überwunden, aber – –

Hören Sie weiter:

Sie haben mir geschrieben, ich solle kommen – ich konnte nicht.

Sie haben mir abermals geschrieben – ich suchte nach dem einen Wort, das mich erlöst hätte, dem einen Wort, auf das ich vor Ihnen zu Boden gefallen wäre und hätte Ihre Füße geküßt. Sie haben es nicht gesprochen.

Konnte ich da kommen?

Aber am Tage dachte ich an Sie, und in der Nacht träumte ich von Ihnen. Ich war benommen, besessen von Ihnen. Krank. Ich sprach von Ihnen mit jedem, den ich traf. In der Pension. Mit der »großen Stimme«. Mit dem »Meister«. Aber so, daß es keiner wußte. Was habe ich für List aufgewendet, die Menschen zu zwingen, meine Worte anzuhören über Sie, Sie, immer nur Sie – und sie wußten nicht, wer es sei, und sie meinten nie den, von dem ich redete.

Da lernte ich einen Mann kennen, der war mir bequem, denn ich redete von Ihnen und nie von ihm, ich dachte an Sie und nicht an ihn. Und er ging darauf ein, er ließ sich erklären und hörte nur immer zu. Nie habe ich einen Menschen gefunden, der so ersterben kann in sich selbst, um einem anderen zu leben. Dieser andere waren Sie.

In der Verlassenheit meines Herzens hatte ich nur ihn, um von Ihnen zu träumen. Immer duldsam und ruhig, nie voller Eifersucht auf Sie, dem alle meine Gedanken eigneten, ward er mir ein guter Freund, der einzige Mensch, dem ich mein Herz öffnen konnte. Und allmählich – seltsamer Irrgang menschlichen Herzens – war es mir wie Ihre Gegenwart, wenn er neben mir saß. Er schien seine Person auszulöschen, schien zu vergehen in Ihnen.

Da ward ich seiner Traurigkeit gewahr. Etwas bedrückte ihn. Er litt. Ich begann Mitleid mit ihm zu empfinden. Ich befragte ihn, aber ich erfuhr es nicht. Nie sprach er von sich. Er ließ mich nur immer reden – von Ihnen.

Je mehr aber die Wochen hingingen und ich Sie nicht sah, desto entsetzlicher wuchs in mir die Sehnsucht, der Drang nach Ihnen, mein armer, lieber, lieber Freund. Das verzehrte mich fast. Das lag gleich einem Fieber in meinen Gliedern. Da weinte ich an einem Abend. Meine Tränen waren – Sie. Und er war traurig wie ich, und plötzlich begann er auch zu weinen. Er nannte sich schlecht. Ich tröstete ihn. Mir war es, als trügen wir nur ein einziges Leid, das uns einte. Unseren Kummer taten wir zusammen. Er nahm meine Hand und küßte sie. Er hielt mich und tröstete mich. Ich fand Schutz und Erbarmen bei ihm – und dachte an Sie. Nichts hatten Sie für mich gehabt, aber Sehnsucht zitterte in mir, Blut brandete in mir, und ich dachte an Sie, wie man nicht denken darf. Ich könnte es nie sagen, ich stürbe vor Scham.

An jenem Abend, da nutzte er meine Weichheit und meine Schwäche.

Und ich? Glauben Sie mir bitte, bitte glauben Sie mir! Sollte ich lügen jetzt, wo ich mich selbst so bloßstelle? Ob Sie verstehen, was ich nun sagen werde? Kennen wir die Rätsel des Herzens, der Sinne? Ich selbst begreife mich nicht, ich stehe heute da wie vor einer Ungeheuerlichkeit, die dennoch Wahrheit ist:

Als ich alles vergaß – dachte ich bei der Zärtlichkeit des anderen – an ... Sie.

Und dann ging ich in der Verblendung zu Ihnen, in der Scham nach dem Erwachen. Ich ging zu Ihnen, als sollte ich durch ihren Blick entsühnt werden. Ich ging zu Ihnen, indem es mir war, als lege ich mir dadurch eine Buße auf. Ich wollte mich zwingen, auf der Stelle, da ich einst aus freiem Willen gestanden, nun zu stehen – wie am Pranger.

Ich konnte es nicht. Ihr Auge tat mir weh. Ich hätte Ihnen zu Füßen fallen mögen und alles gestehen. Aber ich brachte kein Wort mehr über die Lippen.

Das ist alles, was ich zu sagen habe!

Es liegt fern hinter mir – unwahrscheinlich.

Sie werden mich nicht begreifen! Vielleicht glauben Sie mir nicht einmal, aber das muß ich ruhig hinnehmen, denn es soll das letztemal sein, daß ich Ihnen schreibe. Könnte ich Sie je wiedersehen nach diesem Briefe?

Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen, das heißt, können Sie diese Bitte erfüllen, so tun Sie es. Können Sie nicht, antworten Sie mir nicht. Dieser Wunsch ist: Sie möchten mir schreiben, ob Sie imstande sind, zu vergeben.

Rigmor B.

Die Antwort:

Geehrtes Fräulein!

Ich gestatte mir, Ihnen zu schreiben, damit Sie nicht, durch mein Stillschweigen veranlaßt, denken könnten, ich wolle Ihnen nicht vergeben. In der Tat habe ich Ihnen gar nichts zu vergeben, da ich ja nicht das geringste Recht auf Sie besitze. Wenn Ihr Interesse einmal – ohne daß ich etwas davon wußte – meiner Person zugewendet gewesen ist, so liegt ja das längst in der Vergangenheit. Daß Sie nun einen anderen lieben, bedurfte keiner Rechtfertigung gegenüber

Ihrem sehr ergebenen
.....

Hätte ich den Brief nicht absenden sollen? Es ist zu spät. Morgen früh muß sie ihn haben. Vielleicht liest sie ihn jetzt! Sollte ich Sie schonen? Ich konnte es nicht. Rätsel, Rätsel, dem Manne größtes, nie gelöstes Rätsel: Weib. – Meine unverstandenen Gestalten: »Feinde« stehen wieder zwingend vor mir. Dann aber lösen sie sich sanft in die »Reinheit«, und wie sie vor mir erscheint in ihrer lieblichen Gestalt, sinkt sanft die Panzerrinde von meinem Herzen. In der Mitte der Werkstatt steht sie da, unnahbar, rein –

Du Schuft, der sie zerstört!

Du Hund, der sie mir – nicht mir, meinen Gedanken besudelt. Steh hier, und mit dem Hammer schlage ich dich zu Boden. Dich! Nicht – sie.

Sie irren! Ich hasse diesen Mann! Ich habe ihn nie wiedergesehen! Ich ekele mich! Ich hasse ihn!

Rigmor.

R. P. Fräulein Rigmor B., Kopenhagen, Nörrevoldgade.

Bitte um den Namen.

....

Bildhauer ..., Berlin, J...straße.

Ernst W.
R.

Sonnabend, den 9. Februar 19.. fragte ich Herrn Ernst W. schriftlich, wann er für mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen sei. Da ich eine Antwort bis Montag, den 11. Februar 19.. nicht erhielt, so begab ich mich in seine Wohnung. Dort erfuhr ich, daß Herr Ernst W. verreist sei. Man konnte mir nicht sagen wohin und auf wie lange Zeit. Infolgedessen kehrte ich nach Haus zurück und schrieb folgenden Brief:

Berlin, den 11. Februar 19..

Mein lieber Ernst,

eben kehre ich von Dir zurück, wo ich hörte, Du seiest verreist, unbekannt wohin und auf wie lange Zeit. Unter allen Umständen muß ich Dich jedoch von dem in Kenntnis setzen, was mich zu Dir führte. Ich schicke Dir daher diesen Brief eingeschrieben und lasse mir durch die Post bestätigen, daß meine Zeilen in Deine Hände gelangt sind. Es handelt sich um folgendes: Fräulein Rigmor B. aus Kopenhagen hat die Güte gehabt, mir als Modell zu einer Figur »Reinheit« zu dienen. Als diese Dame aus mir damals unbekanntem Grunde nicht mehr zu den Sitzungen kam, bat ich Dich, sie zu veranlassen, mir weiter Modell zu stehen. Du hast erklärt, es sei Dir nicht gelungen, dazu die Dame zu bewegen. Du batest mich dann, Dir die Figur zu zeigen, um mich zur Beendung meiner Arbeit zu bringen. Ich habe Dir mein Tonmodell gezeigt. Dann haben wir uns nicht wiedergesehen. Die Dame dagegen erschien in, wie ich glaube, körperlich, bestimmt jedoch seelisch verändertem Zustande bei mir. Ich hätte sie als Modell nicht mehr brauchen können. Das sagte ich ihr, und sie gestand mir, daß ein Herr in nächste Beziehungen zu ihr getreten sei, indem er ihre Schwäche ausgenutzt habe. Auf mein Befragen hat sie mir endlich den Namen dieses Herrn mitgeteilt. Der Name nun ist – Deiner.

Ich habe keinen Anlaß, an der Wahrhaftigkeit dieser Aussage zu zweifeln, dennoch halte ich es für ausgeschlossen, daß Du Dich einer Handlungsweise schuldig gemacht haben könntest, die ich nicht anders als »ehrlos« zu bezeichnen vermöchte.

Ich bitte Dich also, mich zu ermächtigen, Dich gegen diese Beschuldigung in Schutz nehmen zu dürfen.

Dein .....

Auf diesen Brief erhielt ich keine Antwort, dagegen bekam ich folgendes Telegramm von Fräulein Rigmor B. aus Kopenhagen:

Bildhauer ... Berlin, J...straße.

Bitte vielmals, Namen nicht gebrauchen.

R.

Diese Depesche kam am 11. Februar 4.30 in meine Hände, nachdem der Brief an Herrn Ernst W. am gleichen Tage kurz vor zehn Uhr morgens abgegangen war. Es vergingen mehrere Tage, bis ich endlich am 16. Februar folgenden gewöhnlichen Brief erhielt:

Köln, 15. Februar 19..

Mein lieber ...

Mach doch keinen Unsinn! Ist die Sache gar nicht wert. Die kleine Danske ist abgedampft und kommt nicht wieder. Was geht's uns an!

Übrigens:

»Ein Tor ist immer willig, wenn eine Törin will.«

Arbeite fleißig. Bin bald zurück. Herzlichen Gruß

Dein alter
Ernst W.

Eine Erledigung dieser Angelegenheit in solchem Ton erschien mir ausgeschlossen, angesichts des Umstandes, daß ich die Handlungsweise des Herrn Ernst W., die er, wenn auch in unwürdiger Form, eingestanden, als »ehrlos« bezeichnet hatte. Ich sah mich daher veranlaßt, Herrn Ernst W. meine Ankunft in Köln für den 17. Februar anzuzeigen und ihn um eine Unterredung zu bitten.

Diese fand am 17. Februar abends 9 Uhr in Köln im Hotel »Zum römischen Kaiser« statt. Sie nahm den nachstehenden Verlauf:

Herr Ernst W. begrüßte mich scheinbar guter Dinge, in Wirklichkeit jedoch einigermaßen verlegen. Ich ging sofort auf den Grund meines Kommens ein. Er wollte der Sache eine scherzhafte Wendung geben. Ich aber machte ihn darauf aufmerksam, welchen Ausdruck ich in meinem Briefe gebraucht hatte, und daß er es nicht für nötig gehalten, darauf etwas zu tun. Er erwiderte: unter Freunden nähme man so etwas nicht so genau. Ich gab zurück, mir sei die Sache durchaus ernst. Unser Gespräch lautete nicht dem Worte, aber dem Sinne nach richtig, folgendermaßen:

Herr W.: »Was geht das eigentlich dich an?«

Ich: »Ich lasse sie nicht beschmutzen.«

Herr W.: »Du weißt ja gar nicht, wie es sich zugetragen hat.«

Ich: »Mir genügt: sie war rein, und du hast« –

Herr W. (spöttisch): »Das getan, was geschieht, seitdem die Erde steht.«

Ich: »Aber sie durfte es nicht sein, und nicht du.«

Herr W. (höhnisch): »Vielleicht war ich es nicht einmal.«

Ich: »Wer sonst?«

Herr W. (plötzlich): »Weshalb kümmerst du dich eigentlich so darum?«

Ich: »Was soll das heißen?«

Herr W.: »Nur so« – –

Ich: »Ich will wissen, was du damit meinst!«

Herr W.: »Nun denn – sie hätte es mir sagen müssen, falls ich ältere Rechte verletzte.«

Ich: »Wessen Rechte?«

Herr W.: »Das weiß ich doch nicht!«

Ich: »Wessen Rechte, frage ich!«

Herr W.: »Na, wenn du mir die Pistole auf die Brust setzest, also – deine!«

Wir standen einander Auge in Auge. Ich fühlte mich in meiner Künstlerehre schwer getroffen. Ich, der ich das Bild der »Reinheit« schuf! Ich, der ich alles Menschliche niedergekämpft habe, das in mir schlief – um des Gedankens willen. Denn alles ist nur Idee und die Wirklichkeit Zufall. Mir war es, als würde angegriffen in mir meine Kunst, der ich die Jugend geopfert habe, die ich hätte leben können. Die Kunst, die mir des Daseins Inhalt gewesen ist. Mir war es, als hätte mit diesem Wort der andere das Werk besudelt, das fertig in meiner Werkstatt steht, an dem kein stinkender Erdenrest hängt. Mir war es, als sei der Mann, der mein Freund gewesen, mein Feind geworden. Und das alles sammelte ich in einem Worte, das ich ihm in die Fratze warf gleich einem Hiebe: »Schuft!«

Er hob den Arm und schlug mit der Faust nach mir, stieß dabei an einen Stuhl, der zwischen uns stand, kippte nach vorn, und die erhobene Hand fuhr durch die Luft.

Ich blieb stehen. Wir sahen uns an. Er senkte den Blick. Ich verließ das Zimmer, ohne Herrn W. zu grüßen. Ich kehrte mit dem Nachtzuge nach Berlin zurück. Am 18. Februar suchte ich einen Kameraden des Regiments auf, bei dem ich Leutnant der Reserve bin: Oberleutnant S., zur Kriegsakademie befehligt. Ich bat ihn, Herrn Ernst W. meine Forderung zu überbringen. Oberleutnant S. meinte, es sei vielleicht möglich, die Angelegenheit beizulegen, da ein tätlicher Angriff, wenn auch beabsichtigt, so doch nicht zur Ausführung gekommen sei. Ich konnte dem nicht beistimmen, von der Anschauung ausgehend, daß die Tat nur immer Zufälligkeit bleibt, während der Gedanke allein gilt.

Alles, was in dieser Angelegenheit weiter zu erfolgen hat, bleibt Oberleutnant S. und dem anderen Herrn, den er zuzog, allein überlassen, da ich von dem Augenblick an, seit ich die Wahrung meiner Ehre in ihre Hände gelegt habe, mit allem einverstanden bin, was die Herren für nötig erachten.

Oberleutnant S. und Leutnant M. erschienen bei mir am 22. Februar 5 30 und teilten mir die Schritte mit, die sie in meiner Sache unternommen hatten. Danach wird am 24. Februar 7 00 an einer bezeichneten Stelle am Wannsee zwischen Herrn Ernst W. und mir ein Zweikampf auf Pistolen stattfinden. Die Bedingungen lauten: zwanzig Schritt, zweimaliger Kugelwechsel auf Zählen.


Für den Fall, daß ich im Zweikampf am 24. Februar bleiben sollte, ist dieses mein

Letzter Wille.

1. Als alleinigen Erben setze ich hierdurch meinen Bruder ein, indem ich ihm zum letztenmal danke für alle brüderliche Liebe, die uns immer verbunden hat, für sein Interesse an meiner Kunst, für seine Nachsicht mit mir, dem nervösen und nicht immer leicht zu verstehenden und zu behandelnden Künstler, der ich nun einmal bin.

2. Künstler bin ich immer gewesen in all meinem Fühlen und Denken. Alles habe ich durch Künstleraugen gesehen: den Gang der Welt, das Treiben der Menschen. In meiner Kunst habe ich Grenzen und Schranken nie anerkannt, es sei denn solche, die mir durch meine Fähigkeiten von der Natur selbst gezogen worden sind.

3. Als Mensch aber wurden mir Grenzen gezogen durch die militärische Erziehung, die ich, Sohn einer Soldatenfamilie, in meinem Regimente erhielt. Ich habe diese wohl hier und da als Zwang empfunden, gegen den ich mich auflehnte. Aber wenn die Dienststunde, die mir den Kopf warm gemacht, vorübergegangen war, bin ich immer dankbar gewesen. Was mir der soldatische Zwang beigebracht hat: Stählung des Körpers, Beugung eines selbstherrlichen Willens, der drohte, mich zum Sklaven des eigenen Ichs zu machen, empfindliches Ehrgefühl, das hat mir als Künstler nur Segen gebracht.

Ein schwacher Künstler, den das lähmte! Ein trauriger Künstler, dem Selbstzucht nicht der ewige Jungbrunnen seines Schaffens geworden wäre!

4. Ich trete den Gang morgen früh nicht an mit leichtem Sinn, das könnte nur ein Unreifer, ein Klopffechter oder ein Verzweifelter, aber ich gehe auch nicht hinaus unter gesellschaftlichem Zwang, als Opfer einer Kaste. Ich stelle mich morgen früh dem Manne, der einst mein Freund hieß, gegenüber, weil dieser Mann etwas getan hat, das kein Richter ahndet, nämlich eine Seele verdorben, einen Wert geraubt, der mir, seinem Freunde, das heißt meiner Kunst gehörte.

Nicht der gegen mich erhobenen Hand wegen begegnen wir uns. Ich wollte ihn treffen, nicht er mich.

Er hat die Gestalt, die mein (meiner Kunst) war, entwendet, unter der Maske der Freundschaft gegen mich, gegen meine Kunst. Das ist die Sünde wider den Geist. Und die wird nie vergeben, auch wenn das Gesetz sie nicht straft, denn die Sünde ist im Gedanken.

5. Mein künstlerischer Nachlaß besteht, außer den fertigen, schon der Öffentlichkeit bekannten Werken und einer Reihe von Entwürfen, die ich nicht wünsche ausgestellt zu sehen, nur aus der Gestalt der »Reinheit«. Sie allein habe ich in den letzten anderthalb Jahren meines Lebens geschaffen. In ihr liegt alles, was ich als Künstler durch Naturanlage und eiserne Arbeit erworben habe. Sie ist fertig. Sie lebt. »Die Reinheit«, die Fleisch und Blut war, von der ich sie nahm, ist tot. So bleibt nur die Marmorfigur in meiner Werkstatt. Sie gehört mir allein und nach meinem Tode (Punkt 1) meinem Bruder.

Was er mit seinem Besitz tun will, steht ihm frei.

Berlin, 24. Febr. 19 ... 40. .....


Damit endete die Herausgabe der Aufzeichnungen. Sie waren zuerst voller Sensationsgier verschlungen worden, dann ließ das Interesse etwas nach, da sie die erwarteten Enthüllungen nicht brachten, aber viele Leser – nicht immer die geistig bedeutendsten, doch die menschlich wertvollsten – legten sie nachdenklich aus der Hand. Sie hatten in ein Leben und Fühlen geblickt, ihnen nicht ähnlich, doch das eines hochdenkenden, reinen Menschen. Es zerstörte ihnen das Märchen vom berühmten Künstler, der aus dem Handgelenke schaffend Ruhm und Gold einheimst. Es zeigte ihnen, wie die Tüchtigen aller Berufe nur ein Ziel kennen: Selbstzucht zur Arbeit. Das Bild leichtsinnig-fröhlicher Genialität, das sie vom Künstler gehabt, ward abgetan, und an dessen Stelle trat die Anschauung, daß jeder nur gibt, was er hat, und wir in dem, was er gibt, den ganzen Menschen wiederfinden.

Das schuf manchem einen ruhigen Trost. Den Kleinen die freudige Erkenntnis, daß auch Große keine Götter sind. Den Besten die Gewähr, daß hohe Gesinnung noch unter Menschen weilt.

Alle aber empfanden das gleiche: den Wunsch, die Gestalt der »Reinheit« zu sehen. Neugierde war es bei diesen, Mitgefühl bei jenen, bei vielen – und darunter zählten die Schlechtesten nicht – jedoch das Bedürfnis, eine stille Minute vor jenem Werk zu verweilen, das einem ehrlichen Künstler den höchsten Traum seines Lebens bedeutet hatte.

Wieder begann die Forderung der öffentlichen Meinung sich zu äußern. Einer verlangte die Ausstellung. Andere fielen ein. Neue verstärkten den Chor. Schließlich klang er einmütig.

Wie früher schwieg die Familie.

Die Kritik regte sich, in den Blättern wie in den Mündern. Da gab es welche, vielleicht jene gar, die am eifrigsten die Veröffentlichung der Aufzeichnungen belobt, die nun ein Zurückhalten jenes Skizzenbuches für richtiger gehalten hätten. Sie fanden, noch am Leben befindliche Personen würden unnütz bloßgestellt.

Andere zeigten sich beunruhigt, empört, daß durch die dem modernen Zeitgeist widerstrebende, ins finstere Mittelalter zurückleitende Unsitte des Duells der Kunst ein Mann entrissen worden sei, vielleicht berufen, der Plastik nie geahnte Weltteile oder Länder, zum mindesten jedoch Provinzen zu erobern. Als ob die Natur nicht tausend Mittel hätte, durchzusetzen, was ans Licht muß, und auf ein armes Menschenleben die Entwicklung gestellt sei. Als ob nicht ein Mann, der einmal abberufen, unrettbar im Vorwärtsgange der Erde seinen Platz bereits ausgefüllt hätte und gewiß nichts neues mehr leisten würde, hielte man ihn auch künstlich im Leben zurück.

Von allen Seiten fiel man über jene Rigmor B. her. Sie sei das Verhängnis zweier Männer geworden. Man spürte ihr nach, als wolle man sie aus Kopenhagen ans Berliner Licht zerren. Bis die Erkenntnis gleich einem Scheinwerfer in dunkler Nacht die Geister wendete, daß, wie die Namen verändert worden waren, so gewiß auch Land und Ort. Sollte man sie in Italien suchen? In England? Gar über dem großen Wasser? Fruchtloses Beginnen!

Und da man sie doch nicht fand, gab es edle Kämpfer für das Recht der Frau, die, alle Bloßstellung der Dame für empörend haltend, behaupteten: »Jeder mag tun, was er will!«

An Herrentischen erhitzte man sich über die geistreiche Frage, ob von Mißbrauch einer Schwachheit des Weibes zu reden überhaupt möglich sei. Erfahrene behaupteten, ohne der Dame Willen würden alle Künste des falschen Freundes vergeblich gewesen sein.

Damit erstanden ihm Verteidiger. Verwirrende Gerüchte traten auf, abenteuerliche, dennoch geglaubt: Rigmor B. habe Trost gefunden in der Liebe eines Dritten. Ihr ward eine Tochter gegeben. Nein – zwei Söhne. Welcher Irrtum: Ernst W. wollte sie heimführen!

Nun meinte jeder eingreifen zu sollen. Man fand, der tote Künstler sei der Schuldige, er habe einen braven Menschen gefordert. Man beurteilte das Benehmen der Zeugen, obwohl kein Mensch von ihnen etwas wußte. Jeder der Beteiligten konnte gewiß sein, wenn er rechts gegangen war, zu hören, er hätte links gehen müssen, war er aber links geschritten, rechts sei der wahrhaft richtige Weg. Zum Schluß aber kam ein Weisester und deutete streng auf den Mittelgang. Kurz, jeder Narr fühlte sich zum Urteil berufen.

Und in all dem Hexensabbat gemeiner Klatschsucht erschien ganz still, ohne daß jemand um Rat oder Erlaubnis gebeten worden, die Ankündigung: In der Ausstellung der Sezession sei von Montag ab eine Marmorfigur vom früh verstorbenen Bildhauer Christoph Lentz ausgestellt.


Ganz allein stand sie im Saal, gleich einem Götterbilde im Tempel. Es erhob sich im Hintergrunde, von einem einzigen Oberseitenlicht gedämpft getroffen. Davor lag freie Fläche. Ein dunkler Teppich deckte den Boden. Einfache matt bespannte Wände umschlossen die Gestalt. Keine grünen Pflanzen luckten ab. Nichts war im Raume als die »Reinheit«.

Sie stand etwas erhöht auf einer Marmorplatte, von der Stufen herab gedacht schienen. Über den Beschauer hinweg blickte sie hinaus in den dunkelnden Raum. Der mattrosige Marmor hatte nichts vom Stein, nein, es war, als müsse die schlanke Gestalt leben. Aber sie erweckte kein Gefühl platter Wirklichkeit: einer Gottheit, unnahbar, schien sie gleich.

Zu ihren Füßen lagen ein paar frische Rosen, als bescheidenes Opfer niedergelegt.

Hunderte traten drängend, lärmend, schwatzend ein.

Hunderte verstummten.

Hundert Augen starrten scharf, neugierig hin.

Hundert Augen wurden ruhig.

Alles schwieg.

Es war wie in einer Kirche.



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