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Jürgen Kögge schien völlig wiedergenesen zu sein; nur in seinen Augen lag mitunter ein fremder, unheimlicher Schimmer, den sie vordem nicht gehabt und welcher Frau Wencke einigermaßen besorgt machte; aber diese Besorgnis schien völlig unberechtigt. An einem stürmischen Septembertage jedoch kam eilig und aufgeregt die Magd aus dem Leuchtturm nach dem Hause des Kapitäns und rief:
»Frau, kommt schnell zu uns, der Jürgen ist toll geworden!«
Das Weib sprang entsetzt auf und lief sogleich fort. Als sie in die Stube ihres Vaters trat, hörte sie ein wildes, zorniges Brüllen, wie das eines gereizten Tieres, und sah mit Schrecken, wie Thomas Kogge sich bemühte, seinem gewaltsam widerstrebenden Sohne die Arme festzuhalten. In der Stube aber lagen Trümmer von mancherlei Hausgerät und verrieten, was geschehen war. Jürgens Gesicht war hochgerötet, seine Augen traten aus den Höhlen, und um den Mund lag ein leichter Schaum.
»Um Gotteswillen, Jürgen, was thust du?« rief das Weib, indem es auf die beiden Männer zueilte und ihre Hände auf die Schultern des Bruders legte. Bei dem Worte und der Berührung zuckte Jürgen auf, irr und fremd blickte er seine Schwester an, dann sank er schlaff zusammen, die Augen verloren den fremden, stieren Glanz, und über die zuckenden Lippen irrte das Wort: »Was ist mit mir gewesen?«
Er schwankte, und Frau Wencke griff rasch zu; im Verein mit Thomas führte sie ihn nach seinem Lager, auf welchem er niedersank und ruhig liegen blieb, mit geschlossenen Augen, wie ein Schlafender.
Vater und Schwester standen an seiner Seite, und der erstere fragte: »Wie ist dir?«
»Mir ist besser!« antwortete Jürgen müde – »aber ich möchte schlafen!«
So ließen sie ihn allein und traten zusammen in die tiefe Fensternische, und Frau Wencke fragte:
»Vater, um des Himmelswillen, wie ist das gekommen?«
»Ich kann es selber nicht sagen«, antwortete der Alte. »Er war den Tag über wie immer, aber nachmittags, wie der Wind mit einem Male heftiger wehte, bei dem plötzlichen pfeifenden Ton, schrie er auf, daß ich zusammenschrak, und im nächsten Augenblicke hatte er auch schon ergriffen, was nicht niet- und nagelfest war, und schleuderte es krachend zu Boden. Da habe ich ihn gepackt und festgehalten und ruhig zugeredet, aber er hat getobt und gebrüllt wie ein Besessener. O Gott, wenn das nur nicht wiederkommt! Er muß sich doch einen Schaden im Kopf gethan haben.«
Frau Wencke neigte trübe das Haupt; da war das, was sie gefürchtet hatte nicht bloß ihres Bruders, ihres Vaters und ihretwillen selbst, sondern auch wegen Knut, dem es aufs neue die Seele zermartern würde, wenn er es erführe. Und erfahren mußte er es, denn die alte Magd hatte es in ihrem Entsetzen allen mitgeteilt, welchen sie nur begegnete, und bald lief es wie ein unheimliches Gerücht von Hütte zu Hütte.
Und Frau Wencke hatte recht. Auf Knut machte es einen niederschmetternden Eindruck; das ruhige Behagen, welches in seine Seele einkehren zu wollen schien, machte wieder der Verstimmung und Verbitterung Platz, und auch Wilm und Grete mußten seinen Unmut neuerdings empfinden. Hätte man ihm Klaus nicht entrissen, das wäre alles nicht gekommen, und darum war Wilm schuld an allem. Und dieser saß im Glücke, während er wie ein Schuld- und Fluchbeladener lebte. O wie er Wilm wieder haßte!
Die Tobsuchtsanfälle Jürgens kehrten nur ab und zu wieder und niemals mehr mit der Heftigkeit des ersten, so daß sich Thomas und Frau Wencke der Hoffnung hingaben, es würde dennoch alles wieder gut werden. Seltsam war es, daß diese Zustände nur bei heftigerem Sturme eintraten, während Jürgen sonst ganz ruhig und vernünftig war, und ebenso seltsam, daß Frau Wencke mit einigen sanften Worten und mit ihren ruhigen, klaren Blicken den Aufgeregten, auf den sonst niemand Einfluß hatte, zu besänftigen vermochte.
Auch Knut war jetzt wieder öfter auf dem Leuchtturm und that alles, was er Jürgen nur an den Augen abzusehen vermochte, so daß dieser sich gleichfalls mit einer gewissen Herzlichkeit an ihn anschloß. Sie saßen manchmal zusammen oben hart unter der Laterne in dem kleinen Wächterstübchen, wenn Jürgen Dienst hatte und Knut kam, zumal bei unruhiger See zur großen Beruhigung des Leuchttürmers, der seine Sorge hatte, es könnte einmal während seines Nachtdienstes ein so böser Anfall eintreten. Als aber erst eine Sturmnacht vorübergegangen war, während welcher Jürgen seiner Pflicht im Turme gewissenhaft nachgekommen, war der Alte einigermaßen ruhiger und gab die Absicht, die er anfangs gehegt hatte, auf, sich einen andern Gehilfen von der Regierung zu erbitten.
Sommer und Herbst vergingen. Der Anfang des November war gekommen und die kleine Insel hatte einen Bewohner mehr erhalten, freilich einen winzigen und ungebärdig schreienden, ein kleines Knäblein, das im Hause Wilms das Licht der Welt erblickt hatte. Es war große Freude bei den Eltern und kaum minder bei Svanholts, zumal sich der Kapitän mit Stolz als »Großvater« fühlte. Wilm selbst hatte Knut das freudige Ereignis mitgeteilt und ihn zugleich gebeten, Patenstelle bei seinem Neffen zu übernehmen, aber er hatte die rauhe Antwort erhalten: »Laß mich ungeschoren! Ich will nichts von euch – verlangt auch nichts von mir – wir kommen einmal nicht zusammen!«
Und so hatte der nächste Verwandte bei der Taufe des Kindes gefehlt, die drei Wochen nach der Geburt stattfand. Seine Paten waren der Kapitän und sein Weib, Thomas Kögge und Keno Pinhagen, und im Hause Svanholts saßen die fröhlichen Gäste und feierten das heitere Familienfest, während Knut, ärgerlich über sich selbst und verbittert gegen alle Welt, erst stundenlang an dem Strande hin und her lief und dann im Leuchtturm mit Jürgen zusammensaß. An demselben Tage aber hatte Wilm eine Aufforderung erhalten, in Angelegenheit der Rettungsstation nach Bremen zu kommen, und da er wußte, daß nach zwei Tagen ein Bekannter von ihm mit seinem Schiffe von Emden aus nach Bremen fahre, um von dort eine Ladung nach England zu bringen, so beschloß er die Gelegenheit zu benutzen und bereits am nächsten Tage sich auf die Reise zu machen.
Er brach zeitig auf, und Keno Pinhagen begleitete ihn, um das Boot zurückzubringen; er brachte auch noch einen Gruß an Grete, die nun zum erstenmal allein war, allein unter einem Dache mit Knut, und es war ihr einigermaßen beruhigend, daß sie ihr Kind hatte.
Der Aufenthalt Wilms in Bremen verzögerte sich länger, als er gemeint hatte, und den schlichten Mann erfaßte eine nie empfundene Sehnsucht nach seinem kleinen Eiland und nach seinem stillen Familienglück, und jeden Tag hatte er mit seiner unbeholfenen Hand einige Zeilen geschrieben und sie der Post anvertraut, die sie nach der Heimat beförderte. Er selbst hätte zur Rückkehr wohl die Eisenbahn benutzen können, aber er war in seinem Leben niemals mit derselben gefahren und empfand davor ein wahres Grausen, und weil nur um einen Tag später, als er abreisen konnte, sein Freund, mit welchem er hergekommen, die Anker lichtete, beschloß er wieder dessen Schiff zu benutzen, und der andre versprach ihm, bei der Insel anzuhalten und ihn mit dem Boote hinüberfahren zu lassen.
Das schrieb Wilm auch an Grete und teilte ihr den Tag mit, da er voraussichtlich ankommen würde. Das war ein sonniger Tag zu Ausgang des November, und Grete lief schon früh mit ihrem Kinde nach dem Strande, um hinauszuspähen, ob sie das Schifflein sähe, welches den lieben Mann bringen sollte. Daheim hatte sie keine Ruhe, sondern sie begab sich, nachdem sie eine Zeitlang an dem Strande hin und her geschritten und in der Besorgnis, daß der frische Wind doch ihrem Kleinen schaden könnte, zu Svanholt, von dessen hochgelegenem Häuschen aus ein guter Ausblick über das Meer möglich war und wo noch dazu ein treffliches Fernglas ihr zur Verfügung stand.
Der Kapitän, mit welchem es in der letzten Zeit etwas besser geworden war, so daß er an zwei Stöcken langsam einen Gang durch die Stube machen konnte, freute sich an dem munteren kleinen Jungen, und scherzte mit ihm nach rauher Seemannsart, aber das kleine Wesen ließ sich all das ruhig gefallen, und Svanholt sagte: »Pass' auf, Wencke, das wird 'n ganzer Kerl; der lernt dir einen Puff vertragen – der ganze Wilm!«
Aber der Vormittag verging, ohne daß das erwünschte Fahrzeug in Sicht kam. Wohl sah das Weib mit seinen sehnenden Augen wiederholt weiße Segel auf der Höhe draußen vorüberziehen, aber keines hielt an, wie es doch nach dem Briefe geschehen sollte. Grete blieb des Mittags bei Svanholt, brachte ihren Kleinen auf dem Lager von Frau Wencke zur Ruhe und ging dann mit erneuter Unruhe an das Fenster und legte immer wieder das Auge an das Glas.
Es kam die Ebbe, allmählich wich die See zurück, und wo vor kurzem noch die graugrünen Wellen spielten, trat der Schlickgrund zu Tage mit seinen zahlreichen Rinnen, und der Kapitän sagte: »Nun kommt er erst mit der Flut!«
Grete bezwang mühsam ihre Unruhe und Erregung; sie hatte sich vom Fenster abgewendet und setzte sich an das Bett des Kindes. Nach einer Weile hörte sie Svanholt sagen: »Da ist ein Schoner draußen, der bei der Ebbe nicht weiter kann; der liegt fest!«
Grete war aufgesprungen und zu dem Kapitän getreten; auch sie sah bei dem klaren Tage deutlich und scharf umrissen das kleine Schiff, und ihr Herz pochte heftiger.
»Dort ist er gewiß und kann jetzt nicht herüber!« sagte sie erregt.
»Na, er könnte wohl, aber ratsam wär's nicht. Er könnte allenfalls über das Schlick herüberlaufen, und wie der Himmel aussieht, scheint es ungefährlich, aber man darf bei solchen Dingen nicht trauen. Da wirst du wohl Geduld haben müssen, bis die Flut kommt.«
Das junge Weib schwieg und wandte sich wieder ihrem Kinde zu, das eben erwacht war. Sie nahm es aus dem Bette auf ihren Arm, trug es tänzelnd im Zimmer auf und ab, und für einige Zeit war ihre Aufmerksamkeit von dem Schiffe draußen und auch von Wilm abgelenkt. Es war mehr als eine Stunde vergangen, während welcher Svanholt fast unverwandt nach dem Seegrund hinausgespäht hatte, welcher sich grau mit mattem Schimmer ausbreitete. Dabei war er ganz gegen seine sonstige Art sehr schweigsam geworden. Jetzt sagte er – und in seiner Stimme lag ein seltsam ernster Klang: »Da ist der Nebel. Gnade Gott dem, der jetzt über das Schlick laufen wollte!«
Auch Grete sah zum Fenster hinaus, und ein unheimlicher Schauer überlief sie. Über dem Seegrunde wogte es grau und schwer wie aufsteigende unheimliche Schatten, die sich immer mehr reckten und dehnten und vorwärts und in die Höhe zugleich zu streben schienen.
»Weshalb ist das Schlicklaufen so schlimm, Vater?« fragte das junge Weib mit bebenden Lippen.
»Warum? – Weil jeder sich verläuft in dem Nebel, die Richtung verliert, sich abhetzt, und wenn die Flut kommt, spült sie ihn mit!« –
Der Kapitän sah in das totenbleiche Gesicht Gretes und erschrak über seine eignen Worte, darum fügte er rasch bei:
»Wegen Wilm brauchst du dir keine Sorge zu machen, der kennt die Gefahr und ist vorsichtig; laß gut sein, er kommt mit der Flut!«
Das Weib bemühte sich ruhiger zu werden und ging wieder mit ihrem Kinde auf und nieder. Still war's in der Stube, so daß man nur den Pendelschlag der Uhr hörte, dann sprach Frau Wencke scheinbar ruhig von den gleichgültigsten Dingen. Aber Grete wurde das Herz immer banger und schwerer. Es kam der Abend herein, der Nebel schien immer grauer und dichter zu werden, und in ihrer Seelenangst schrie das junge Weib jetzt auf:
»O mein Gott, und wenn Wilm doch herüberlaufen wollte! Ich habe eine so furchtbare Ahnung!«
Der Kapitän und seine Frau suchten sie zu beruhigen, aber die Aufregung des sonst so besonnenen Weibes stieg.
»O wenn irgend jemand ihm entgegeneilen könnte!«
»Das ist ja unmöglich, Grete! Und wo sollte man suchen? Laß sein, eh' die Flut kommt, fällt auch vielleicht der Nebel, und wenn er ja auf dem Schlick wäre, was ich aber nicht glaube, würde er ja den Schein des Leuchtturms gewahren!«
So redete Svanholt, und Grete bezwang wieder eine Zeitlang ihre Angst. Aber je mehr der Abend sank, desto mehr wuchs aufs neue ihre Erregung, und als es nicht mehr fern war vom Eintreten der Flut, da vermochte sie sich nicht zu halten. Sie ergriff ihr Kind und eilte fort, und der bestürzte, ratlose Kapitän, der es in dieser Stunde am bittersten empfand, daß er an die Stube und an seinen Sitz gebannt war, rief seinem Weibe zu, ihr zu folgen, damit sie nicht eine Thorheit begehe. Es hätte der Mahnung nicht bedurft. Frau Wencke hatte schon ein Tuch ergriffen und umgeschlagen, und nun eilte sie der Flüchtigen nach, die wie von einem Feinde gehetzt, angsterfüllt nach ihrem Hause jagte. Sie hatte sich vergebens einzureden versucht, daß sie sich vor einem Gebilde ihrer Phantasie fürchte, das entsetzliche Bangen zog ihr die Seele zusammen, und sie vermochte sich dessen nicht zu erwehren.
So stürzte sie hinein zu Knut, der fast erschrocken von seinem Sitze aufsprang, als er sie sah mit ihren flatternden Haaren und ihrem angstvollen Gesicht, auf welches zuckend der Schein der Lampe fiel, die von der Zimmerdecke niederhing.
»Was ist geschehen?« rief er rauh, aber durch den Ton seiner Stimme zitterte doch eine schlechtverhaltene Erregung.
»Ach, Knut, heute wollte Wilm zurückkommen aus Bremen, draußen liegt der Schoner, mit dem er gefahren ist, aber er ist über das Schlick gegangen, hat sich verirrt – und nun kommt die Flut!«
So rief in Hast das junge Weib, dem Fischer aber war einen Augenblick das Blut aus den Wangen getreten, dann murrte er:
»Ach, dummer Schnack! Woher willst du denn das wissen? – Das macht Wilm nicht!«
»Er hat's gemacht, ich fühl's an der Angst meiner Seele. Ach, Knut, erbarme dich, fahre hinaus mit den andern und sucht nach ihm! Gebt ihm Zeichen durch Rufen und Pfeifen – – o Knut, sei nicht hart – steh nicht da wie ein Stein, während mir die Angst das Herz zerreißt!«
In ihrer Seelennot war sie mit ihrem Kinde vor ihm auf die Kniee gesunken und hob die bittenden Blicke nach ihm empor. Durch seine Seele aber ging ein seltsames Empfinden. Dämonisch blitzte einen Moment lang die Schadenfreude auf, aber sie wurde von einer besseren Regung sogleich überwunden. Das harte, höhnische Wort, das ihm schon auf den Lippen lag, erstarrte, ehe es noch gesprochen wurde, und er rief, noch immer rauh, aber mit unverkennbarer Ergriffenheit:
»Steh auf! Ich glaub's nicht, daß er über das Schlick gegangen, aber ich will hinausfahren und mitnehmen, wen ich finde. Sei nur ruhig!«
Er ergriff Ölpaktje und Südwester, das junge Weib aber faßte nach seinen Händen, und es schien, als wollte sie dieselben küssen! Er entriß sie heftig, und in diesem Augenblicke trat Frau Wencke ein. Bei ihrem Anblick rief Knut: »Sorgt für Grete!« und dann rannte er wild davon. Nach wenigen Augenblicken pochte er an die Nachbarhütten, und dann eilten Männer hinab nach dem Strande, und um die Boote begann in dem Nebel, der alles umhüllte, ein reges Leben und Treiben. – –
Mit dem Schoner, der draußen lag, war Wilm thatsächlich gekommen; das Schiff hatte widrigen Wind gehabt, und da es in die Ebbe kam, blieb es liegen, und Wilm hatte nun freilich die unangenehme Aussicht, bis zum Herankommen der Flut warten zu müssen, ehe ihn ein Boot hinüberbringen konnte an den heimischen Strand. Eine unendliche Sehnsucht erfaßte das Herz des schlichten Mannes. Er sah im Sonnenschein sein kleines Eiland da drüben liegen, so deutlich, daß er die Häuser genau erkannte; dort drüben war das Liebste, was er auf der Erde besaß, und er sollte noch stundenlang fern sein? – War denn diese Verzögerung wirklich notwendig? Er sah hinaus auf den Meeresgrund, der, nicht überflutet von den Wellen, so lockend vor ihm lag, und der Gedanke erwachte in ihm, hinüberzuwandern nach der heimischen Küste. Was konnte auch heute für Gefahr dabei sein? – Der Tag war hell und freundlich, und ehe die Sonne völlig gesunken war, also lange vor der wiederkehrenden Flut, mußte er die Heimat erreicht haben und bei seinen Lieben sein. Der Gedanke daran hatte etwas geradezu Überwältigendes, daß er dem sonst so ruhigen Manne die kühle Besonnenheit raubte und er seine Absicht dem ihm befreundeten Führer des Schiffes mitteilte.
Dieser warnte:
»Hab Geduld, Wilm, und warte die paar Stündchen ruhig ab. Sicher ist sicher, und das Schlicklaufen hat der Teufel erfunden!«
»Ich thu's ja nicht aus Bösem, sondern aus Liebe!« sagte Wilm dagegen, und dabei blieb er trotz aller Warnungen, und so verließ er das Schiff. Es ging anfangs ganz gut, und er schritt kräftig aus auf dem weichen Sandgrunde, unbekümmert um die silberglänzenden Fische, welche in Todesnot zappelten, des Lebenselementes beraubt, sowie um die mannigfachen Schaltiere, welche langsam und schwerfällig im Sand und Schlamm fortkrabbelten; er hielt die Augen unverwandt hinübergerichtet nach der kleinen Insel mit ihren weißen Häusern und ihrem ragenden Leuchtturm und war ärgerlich über die Rinnen, in denen sich das Wasser gestaut hatte, und um welche er einen Umweg machen mußte.
So war er kaum eine Viertelstunde gewandert, als er mit einem Male den Schritt anhielt, und mit der Hand nach der Stirn und nach den Augen fuhr, als wolle er etwas aus denselben verwischen. Was war das auch? – Das freundliche Bild der Heimat war plötzlich vor ihm verschwunden, ein grauer Vorhang senkte sich nieder vor seinen Blicken und wogte um ihn her – das war Nebel, dichter, schier undurchdringlicher Nebel, der von allen Seiten plötzlich herandrängte, vom Himmel herabzukommen und aus dem Boden heraufzuquellen schien.
Einen Augenblick stand Wilm starr, und ein Schauer rann durch seine Glieder. Aber er war kein Mann der bleichen Furcht. Sein erster Gedanke war, nach dem Schiffe zurückzukehren, von dem er noch nicht allzuweit entfernt war. Er wandte sich um, aber von dem Schoner war nichts zu erspähen in dem wogenden Nebelmeere, und so hielt es der einsame Mann für das Bessere, die bisherige Richtung weiter einzuhalten, die ihn doch nach dem heimischen Strande führen mußte.
Und wiederum schritt er aus. Aber er sah nicht mehr den Pfad vor sich, den er zu gehen hatte, sondern wanderte ins Ungewisse, hier im tiefen, zähen Schlamme watend, dort um große Rinnen hinschreitend, in die er zuletzt, beim Bestreben, sie zu überspringen, doch hineingeriet, manchmal auch stehenbleibend, um sich ruhiger betreffs der Richtung sichern zu können. So ging er lange, rastlos und hastig, aber die ersehnte Küste wollte nicht kommen, und Wilm fühlte, wie es ihn mit eisigem Schauer überrann, und wie ein kalter Schweiß seinen Körper bedeckte. Der mutige Mann, der sein Leben so oft gewagt hatte für andre, fühlte zum erstenmal etwas wie Todesangst durch seine Glieder rinnen und seinen Mut und seine Kraft erlahmen. Er dachte an Weib und Kind, er betete ein Vaterunser, und dann schritt er wieder aus, jetzt aufs Geratewohl, denn das eine war ihm fürchterlich klar, daß er bei den mannigfachen Wendungen, bei dem Umwandern der Rinnen längst die Richtung verloren hatte.
Noch hoffte er darauf, daß der Schein des Leuchtturms durch den Nebel dringen und ihm den Weg weisen könnte, aber all sein Spähen nach dem trostvollen Lichte war vergebens. Und die Zeit verrann mit tödlicher Peinlichkeit, und der abgehetzte, todmüde Mann konnte kaum weiter. Dazu merkte er wohl an manchem Zeichen, daß die Flut bereits langsam wiederkehrte. Die Rinnen verbreiterten sich zusehends, die Wasserfährten wurden immer zahlreicher, mit kreischendem Schrei flogen riesige Mantelmöwen über seinem Kopfe hin, und bald merkte er, wie seine Füße im Wasser standen, wohin er auch schreiten mochte.
Und wenn die Flut kam, so war er verloren, denn er war todmüde und hätte nicht daran denken dürfen, durch Schwimmen sich zu retten. Wieder durchrieselte ihn der entsetzliche Frost, und wieder brach der kalte Schweiß ihm aus allen Poren. Was sollte er noch weiter gehen? – Er blieb stehen und hielt wieder Umschau. Da gewahrte er fern einen müden Schimmer, der aus der Höhe herüberkam, und einen Augenblick war es ihm, als müsse er aus tiefster Seele aufjubeln. Der Nebel begann zweifellos zu sinken, und das war das Licht des Leuchtturmes der Heimat. Aber die Freude war nur kurz. Mit entsetzlicher Deutlichkeit erkannte er auch, wie unendlich weit er sich verirrt hatte, und wie er nicht vor der Flut heimkommen konnte.
Dennoch nahm er all seine Kraft zusammen und begann in der Richtung hinzulaufen, von woher ihm der Gruß der Heimat winkte. Aber das Element war schneller als er. Immer tiefer und breiter wurden die Rinnen, und bei jedem Schritte folgte ihm das Wasser nach, als ob es aus der Erde quölle, und bald umspülte es die Knöchel des gehetzten Mannes, der nur den Gedanken hatte an Weib und Kind. Für sich selbst fürchtete er den Tod nicht, der ihn doch einmal in den Fluten erreichte, wie seinen Vater; aber um der Seinen willen hätte er gern noch gelebt, und wenn es ja gestorben sein mußte, so hätte er untergehen mögen in der Pflicht und bei einem Werke der Nächstenliebe, rasch und im kühnen Wagen. Aber dieses langsame Hinsterben, dies langsame Nachlassen der Kräfte, dies unaufhaltsame stetige Anwachsen des Wassers – das war entsetzlich und mehr, als selbst ein Mann wie Wilm zu ertragen vermochte.
Nur ab und zu schöpfte er einmal tief Atem, dann spähte er immer wieder aus, hinüber nach dem Leuchtturm, der nicht näher zu kommen schien, obwohl sein Licht jetzt beinahe völlig klar durch die Nacht blinkte – und wohl auch hinter sich, von woher er ein unheimliches Brausen und Rauschen vernahm, und von wo es, wie er durch den jetzt völlig gewichenen Nebel merkte, wie eine graue Masse herankam. In gewaltigen Sprüngen drang er vorwärts, so daß das Wasser aus den Rinnen hoch aufspritzte unter seinem eiligen Fuß, bis er in eine Vertiefung bis an die Brust einsank. Der zähe Schlamm schien hier den Todgeweihten festhalten zu wollen, der mit dem Aufgebote aller Kräfte sich endlich wieder aus der grauenvollen Tiefe losrang und vorwärts strebte.
Aber umsonst, schon rauschte es um die Kniee, so daß ihm dieselben wankten und von der Erregung des Laufes doppelt zitterten, und nach wenigen Schritten hielt er wieder an und preßte die Hände gegen die schweratmende Brust und hob die Augen empor zum Himmel. Da oben standen hell und schön die ewigen Sterne und schauten kalt und groß herab auf den ringenden Mann, und doch kam bei ihrem Anblick ein Fünklein Trost in seine Seele. Dort oben, hoch über jenen Welten wohnte nach seinem schlichten ehrlichen Glauben ein ewiger Gott, ohne dessen Willen kein Haar vom Haupte eines Menschen fällt – sollte er hier einen verlassen, der so fest auf ihn vertraute? – Und wie die Wasser immer heftiger rauschten, begann Wilm zu beten; er empfahl sich und die Seinen dem großen Steuermann aller Welten, und er schien wieder einigen Mut zu gewinnen.
Das Auge nach dem Leuchtturm gewendet, begann er aufs neue sich vorwärts zu arbeiten; aber die Wellen stiegen murmelnd, raunend, grollend, einzelne Wogen trafen seine Hüften, ja seinen Nacken, und wieder hielt er an. Sein letztes Hoffen war, sich auf den Rücken zu werfen und schwimmend treiben zu lassen; aber er fühlte sich todmüde, unfähig auch zu einem solchen Kampfe mit den Wellen, und wie es jetzt dichter, zorniger, höher heranbrauste, wie ihm die kalte Flut den Hals umspülte, wie er sich kaum mehr auf den Füßen zu erhalten vermochte, da ergriff ihn eine wilde Verzweiflung. Seine gepreßte, gequälte Brust mußte sich Luft machen – zum letztenmal – und so schrie er auf in Schmerz, Angst und Erregung, daß es grauenhaft über das Wasser hinschallte.
Da – gaben die Wellen ein Echo? – – Was war das? – Sein in der Todesnot geschärftes Ohr hatte ganz deutlich einen Antwortruf vernommen. Seine Lebensgeister erwachten von neuem; mit der plötzlich sich regenden Hoffnung kam frischer Mut; noch einmal erhob er seine Stimme, er schrie und pfiff, und wieder klang die Antwort – diesmal näher, und wie er nach der Richtung des Schalles spähte, da sah er es herankommen über die Wellenkämme – – wie ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln wollte es ihm dünken – es war kein Zweifel – ein Boot.
Und er jauchzte inmitten der auf ihn einstürmenden, über ihn wegrollenden Wogen auf, dann warf er sich wild in sie hinein und ließ sich von ihnen tragen, und obwohl ihm war, als müsse ihm das Bewußtsein schwinden, so hielt er doch mit eherner Widerstandskraft seine sinkenden Lebensgeister wach, bis kräftige Hände nach ihm faßten und ihn über den Bord des kleinen Fahrzeugs hereinzogen, auf dessen Boden er bewußtlos liegen blieb.
Daheim aber saß das junge Weib, angstvoll und auf jedes Geräusch lauschend, das von draußen hereindrang, und Frau Wencke suchte mit wahrer Mutterliebe sie zu beruhigen. Und die Stunden rannen langsam, unendlich langsam, und Grete vermochte es nicht in der Stube auszuhalten. Sie mußte hinunter an den Strand, zu sehen, wann die Flut käme – vielleicht hatte er doch auf dieselbe gewartet und kam auf sicherem Boote, während sie in Angst verging. Frau Wencke verließ sie keinen Augenblick. Sie hatte eine Nachbarin gebeten, bei dem Kinde zu bleiben, und in Tücher gehüllt standen die beiden Frauen nun da, fröstelnd in der Kühle der beginnenden Novembernacht und schweigsam, und hielten sich umschlungen.
Auch sie sahen die Zeichen der nahenden Flut; aber Frau Wencke war es auch, welche bemerkte, daß der Nebel zu sinken begann, und welche darauf hinwies, wie das Licht des Leuchtturms ihm jetzt den Pfad weisen müßte, auch wenn er über das Schlick gegangen wäre. Und die Wellen kamen, sie rollten murmelnd heran, sie schwollen immer höher, und allmählich ward es klar über den Wassern, und der Mond, der emporgekommen war, goß seinen bläulichen Schimmer über die spiegelnde Fläche.
Zwischen den glitzernden Wellen aber hob sich etwas Dunkles ab, und das scharfe Auge der Liebe ahnte, noch ehe es deutlich sah, was es sei. Aus der Brust Gretes rang es sich wie ein jubelnder Aufschrei: »Ein Boot!« dann küßte sie heftig das tiefatmende Weib an ihrer Seite und eilte nun bis hinein in das Wasser, das ihre Füße bespülte. Immer näher kam es heran, drei Männergestalten konnte man erkennen, welche die Ruder kräftig handhabten, und da diese wohl auch die Frauen am Ufer bemerkten, schrieen sie laut und freudig auf, und für Grete war kein Zweifel mehr, es kam ihr Wilm.
Und nur noch wenige Minuten – dann lag sie an seiner breiten Brust, und in einem wilden Aufschluchzen löste sich die furchtbare Spannung der so lang gequälten Seele; Wilm aber deutete rückwärts nach den beiden andern, die dem Boote entstiegen, und sagte:
»Ohne diese beiden hätten wir uns niemals wiedergesehen!«
Jetzt wußte sie es gewiß, er war über das Schlick gegangen, und ihre entsetzliche Ahnung hatte recht gehabt, und sie riß sich los von dem Gatten und eilte auf die beiden Fischer zu:
»Knut, Peter – wie soll ich euch danken?«
Sie streckte ihnen die zitternden Hände entgegen, aber nur der eine ergriff sie mit seiner rauhen Rechten; der andre wandte sich ab und sagte:
»Was soll das Reden? 's ist gut, daß es so gegangen ist, und Wilm hätt' es an meiner Stelle ebenso gehalten.«
Damit schritt er hinein in die Nacht; Grete aber atmete tief auf und stöhnte: »Er bleibt, wie er stets gewesen!«
Da umschlang sie Wilm liebkosend, und wieder wie einst sprach er:
»Laß ihn, er wird uns noch kommen, denn sein Wesen ist gut! Nun habe nochmals tausend Dank, Peter!«
Er reichte dem andern gleichfalls die Hand, die dieser kräftig drückte mit den Worten:
»Nicht Ursache, Wilm – und dank's deinem Weibe, denn sie hat uns hinausgedrängt zur Fahrt. Gute Nacht!«
Auch Frau Wencke war glücklich, und während Wilm und Grete freudigen Herzens heimwärts schritten, eilte sie zu ihrem Manne, um ihm zu erzählen, was geschehen war. Selbst Svanholt geriet in außergewöhnliche Erregung:
»Schockschwerewetter! Solch dummes Zeug hätt' ich Wilm gar nicht zugetraut. Aber Knut, das ist 'n ganzer Kerl – 's Herz hat er auf dem besten Fleck; wenn er nur nicht so 'n höll'schen Dickkopf zwischen den Schultern hätte. Na Mutting – die Rettung müssen wir feiern – brau' mir 'mal noch 'nen steifen Grog und trink 'nen lütten Schluck mit – das wird dir nicht schaden und mir gut thun, denn ich sitz' all die Stunden hier wie 'n Seehund, der bei der Ebbe aufs Trockene geraten ist!«
Und diesmal besorgte Frau Wencke gern das ersehnte Getränk. – –