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Daß Conchita nicht wahnsinnig wurde, bewies, welch großer Irrenarzt Talvanne war, denn er allein bewahrte sie davor. Er fand das rechte Wort, um sie zu beruhigen, und er hatte die Genugthuung, der einzige zu sein, der es fand! Rameau drückte ihm so gerührt und innig die Hand, wie er es seit zwanzig Jahren nicht gethan, und der alte Junggeselle fühlte sich dank den Rechten, die ihm sein Beruf verlieh, mehr als je daheim im Hause des Freundes.
Conchita, deren Miene ebenso düster und finster war, wie das Schwarz ihrer ernsten Trauerkleidung, hatte ihre Thüre ohne Gnade und Erbarmen jedem Besucher verschlossen und schien für alle Zeiten an ihrer Trauer festhalten zu wollen. Münzel, der nur während des Tages zu förmlicher Besuchsstunde zuweilen angenommen wurde, aber auf die gemütlichen Abende im Freundeskreis ganz verzichten mußte, legte darüber eine seltsame Aufregung an den Tag. Er, der sonst so gleichmäßig in seiner Stimmung, so ruhig und gelassen gewesen, wurde launenhaft und reizbar und setzte Talvanne durch eine unerklärliche Heftigkeit in Erstaunen, ja er steigerte sich so weit, das ganze Leben erbärmlich zu finden und mit dem Schicksal zu grollen, wozu freilich niemand weniger ein Recht hatte, als eben er.
Konnte je bei einem Menschen von »Glück haben« die Rede sein, so war es bei ihm der Fall. Mitten hineingezogen in den Strahlenkreis des großen Mannes, war er durch ihn mit den ersten Künstlern und mit Männern von bedeutendem Einfluß in Berührung gekommen, hatte sehr jung schon größere Aufträge und hohe Preise erhalten. Sein Ruf hatte sich schnell verbreitet und er nahm jetzt mit achtunddreißig Jahren eine hervorragende Stellung ein. Die Zeit lag hinter ihm, wo einige tausend Gulden Prozeßkosten den Vater dem Bankerott ausgesetzt hatten, ein authentischer »Franz Münzel« war jetzt seine dreißigtausend Franken wert, und für ein Porträt von seiner Hand mußte man sich lange vorher einschreiben, auch nahm er den Auftrag nur noch an, wenn der Kopf ihn ansprach.
Oft und viel hatte er sich's von Conchita erbeten, daß sie ihm sitze, aber die junge Frau hatte seine Bitte stets und zwar mit sichtlichem Uebelwollen abgewiesen. Einmal hieß es, daß ihre gesellschaftlichen Pflichten ihr nicht Zeit dazu ließen, ein andermal, daß sie sich vor der Zahl und Dauer der Sitzungen fürchte, kurz, immer hatte sie einen Vorwand für ihr entschiedenes Nein gefunden. Schließlich war die Mutter krank geworden, und nun hoffte Münzel in der Stille dieser Trauerzeit, bei der großen Oede in Conchitas Dasein eher zum Ziel zu gelangen und wagte sich angesichts der düstern Langeweile, die sichtlich an ihr zehrte, von neuem mit seinem Anliegen hervor.
»Es fehlt Ihnen an einer Beschäftigung, an etwas, um Ihre Gedanken auszufüllen,« sagte er, »und die Sitzungen helfen Ihnen wenigstens den Tag herumbringen. Sie sind unglücklich – ich achte Ihren Schmerz; Sie brauchen nicht zu sprechen, und ich werde auch schweigen, werde auf jede Bedingung eingehen, die Sie mir auferlegen, werde mich im voraus willenlos Ihren Geboten unterwerfen.«
Mit einer gewissen eigensinnigen Verranntheit sagte Conchita abermals nein, und sie gab sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe, einen Vorwand zu suchen, um ihr Widerstreben zu beschönigen: sie schlug ihm die Bitte rundweg ab. Machte Rameau ihr sanft und liebevoll Vorstellungen darüber, daß sie nicht ein bißchen liebenswürdiger sei gegen den armen Maler und dessen guten Willen so wenig anerkenne, so hatte dies nur zur Folge, daß sie aufbrauste und ihren Mann durch die Heftigkeit und Bitterkeit ihres Widerstandes in Erstaunen setzte, und eines Tages begegnete sie Münzel selbst in so verletzender und schroffer Weise, daß dieser sich, bleich vor Erregung, erhob und mit bebender Stimme erklärte, daß wenn seine Gegenwart so leidige Verstimmungen hervorrufe, so ärgerlichen Streit veranlasse, er es vorziehe, nicht wiederzukommen. Trotz Rameaus herzlicher Abbitte, trotz all seiner liebevollen Gegenvorstellungen hielt er Wort, ja er verließ, um vor jeder eignen Schwäche gesichert zu sein, Paris und begab sich für längere Zeit zu seinen Angehörigen in Deutschland.
Vier Monate etwa blieb er fern. Man sprach nicht einmal mehr von ihm, und Talvanne war höchlich befriedigt über diese Wendung der Dinge, als plötzlich eines Morgens nach dem Frühstück mit der Post eine aus Deutschland an Frau Rameau adressierte große Kiste anlangte. Ohne besondre Neugierde wurde der Deckel losgemacht und man erblickte einen großen Ebenholzkasten mit eingelegter goldner Platte, von der sich ein zierlich ciselierter und emaillierter Vergißmeinnichtstrauß abhob. Conchita, der Doktor und Talvanne warfen einander überraschte, fragende Blicke zu, jedem aber dämmerte eine Ahnung der Wahrheit auf. Da die junge Frau sich gar nicht beeilte, der Lösung des Rätsels näher zu kommen, drehte Rameau den Schlüssel des Kastens, schlug den Deckel zurück und man erblickte nach Art eines Quentin Metsy oder Antonio Moro in einer holländischen oder italienischen Bildersammlung sorgfältig und kostbar eingerahmt Frau Etchevarrays Porträt.
Das Bild war in kleinem Maßstab ausgeführt und genremäßig behandelt. Den Kopf herabgeneigt, ihren Strickknäuel auf den Knieen, saß die würdige Dame in ihrem gewohnten Lehnstuhl am Tisch und strickte. Die Aehnlichkeit war eine so sprechende, daß Conchita und Rameau, förmlich überwältigt, keine Worte fanden. Sprachlos standen sie dieser Wiederauferstehung der Toten gegenüber, hingerissen von der Macht einer Kunst, die ihr Wollen so überzeugend zum Ausdruck brachte. Die junge Frau ließ das Bild in ihrem Zimmer unterbringen, und es war ihr fast, als ob die, welche sie von morgens bis abends unaufhörlich in der schmerzlichen Oede des verwaisten Hauses suchte, jetzt wieder in ihrer Nähe weile.
Einige Tage darauf traf Franz selbst in Paris ein und sein erster Gang galt den Freunden in der Rue Saint Dominique. Wie hätte Conchita ihren Dank besser ausdrücken können, als indem sie dem Maler aus freien Stücken gewährte, was sie ihm bisher verweigert hatte? Dies Porträt der Mutter mußte ihm doch wahrlich das Recht eintragen, die Tochter malen zu dürfen! Sie selbst war es nun, welche die Bitte aussprach, ihm sitzen zu dürfen, eine Bitte, bei der es wie ein flüchtiger Sonnenstrahl über die schwermütigen Züge Münzels huschte. Man verabredete sofort, wie und wann die Arbeit begonnen werden sollte, und zum erstenmal betrat Conchita des Künstlers Werkstatt. Rameau selbst, der überglücklich war über das wiederhergestellte gute Einvernehmen, brachte seine Frau hin, besprach Stellung und Beiwerk mit Franz und war Zeuge des Entstehens der ersten skizzenhaften Striche auf der Leinwand. Von da an jedoch beteiligte er sich, wie immer ganz in Anspruch genommen von seinem Beruf, nicht mehr an den Sitzungen.
Lange Stunden waren Münzel und Conchita in vertraulicher Einsamkeit auf einander angewiesen. Es war zu Ausgang des Winters und schon machte sich das Längerwerden der Tage deutlich fühlbar. Kam der Doktor, um seine Frau abzuholen, so fand er die beiden häufig schon seiner harrend; durch das geöffnete Fenster drang der letzte Abendschein herein, in dessen rötlichem Licht die Waffentrophäen, welche das Atelier schmückten, warm erglänzten und der da und dort einem blanken Schild ein Blitzen und Funkeln entlockte. Auf einer geschnitzten Truhe stand ein reizend geformtes Krystallglas mit Blumen, die im Hinwelken betäubende Düfte aushauchten. Conchitas Gestalt, die mehr liegend als sitzend auf einem Diwan ruhte, war in ihrer schwarzen Kleidung schon tief in das hereinbrechende Dämmerlicht getaucht, und Münzel saß am Flügel und spielte träumerisch einen Straußschen Walzer oder ein Chopinsches Notturno. Mitten in das geheimnisvolle Dunkel und den Melodieenstrom trat dann des Doktors hohe Gestalt, und frohgemut nahm er Frau und Freund mit nach Hause zur Mahlzeit, bei der sich meist auch Talvanne einfand, und nach welcher man den Abend behaglich und traulich verplauderte.
Der Psychiater war zwar seit Münzels Rückkehr schlechter Laune und machte nicht im geringsten ein Hehl daraus. Rameau, der an solche Wunderlichkeiten bei dem Freunde gewohnt war, kümmerte sich nicht darum, ja sein Gemütszustand schien ihm gar nicht unwillkommen, um in alter Weise seine spitzen Pfeile gegen den Kameraden loszuschießen. Allein Talvanne, der sonst so fehdelustig und schlagfertig war, ließ die Angriffe ruhig an sich abgleiten und war nicht aus seinem mürrischen Schweigen herauszubekommen. Mit entschiedener Absichtlichkeit lehnte er jedes Gespräch über das Porträt ab. Vom ersten Augenblick an hatte ihn alles, was zu diesem fortgesetzten Beisammensein Conchitas mit Münzel führte, peinlich berührt, und getreu seiner überall Gefahren witternden Natur neigte er von vornherein zu der Annahme, daß die Vertraulichkeit, die zwischen dem Künstler und seinem Modell mit Notwendigkeit entstehen mußte, von übeln Folgen sein werde. Anfangs enthielt er sich jeder Bemerkung darüber, nach und nach aber ward es ihm doch unmöglich, bei seinem Stillschweigen zu verharren, und als er eines Tages mit Rameau allein war, äußerte er kurz und unwirsch: »Du gehst seit ein paar Tagen nicht mehr mit zu den Sitzungen?«
»Nein. Ich habe keine Zeit.«
»Wer begleitet denn jetzt deine Frau?«
»Niemand. Sie ist, dächte ich, groß genug, um allein zu gehen.«
Talvanne runzelte die Stirn und warf ärgerlich hin: »Groß genug – ja! Alt genug – nein!«
»Um zu Franz zu gehen?«
»Um sich mit irgend einem Mann drei Stunden des Tages einzuschließen!«
»Schwatz doch nicht so dumm!«
»Mache solche Dummheit nicht mir zum Vorwurf, sondern der Welt. Ich versichere dich, daß kein Mensch es passend fände, eine junge hübsche Frau wie die deinige einen Monat lang Tag für Tag mit einem Maler allein zu lassen.«
»Mit einem Maler, der mein Freund ist?«
»Was keinen Menschen abhalten wird, darüber zu reden.«
»Wer redet, wer denn? Man? Du alter Geselle bist nicht mehr und nicht weniger als eine richtige Klatschbase! Gerede! Was mach ich mir daraus! Aber du bist und bleibst immer der Alte und hast deine heimliche Feindseligkeit nie überwunden! Sieht dir ganz ähnlich, das Urteil und die Bosheit der Welt vorzuschieben, wenn du Münzel einen Streich spielen möchtest!«
»Ja, du! Daß das Bild vielversprechend ist und sich sehr gut anläßt, das kriegst du nicht hinunter! Weil du es nicht bist, der es macht, wär' dir's am liebsten, es würde ein greulicher Schmarren daraus. Egoistisch bist du und neidisch . . . bei Licht besehen ein recht häßlicher Geselle!«
Die Bestürzung, die sich bei dieser freundschaftlichen Anrede auf den Zügen des Psychiaters malte, war so groß, daß Rameau nicht umhin konnte, zu lachen.
»Ich weiß ja wohl, daß du mir all das Zeug nur aus Freundschaft vorredest, aber es gibt Menschen, die unter Freundschaft nichts andres verstehen, als sich unangenehm zu machen . . . So besinn' dich doch nur einmal, was du da eigentlich behauptet hast! Glaubst du etwa, daß ich dir nicht ohne jeglichen Hintergedanken und ohne die leiseste Besorgnis meine Frau anvertrauen würde?«
»Was bei meinem Alter und bei meinem Gesicht eben kein großes Wagstück wäre!«
»Dein Alter? So viel ich weiß, sind wir gleich alt!«
»Ja, aber du, das ist was andres, du bist ein Prachtmensch! . . . Während ich einfach komisch wirke.«
»Mir gefällst du gar nicht übel,« lachte der Doktor, setzte aber sogleich ernster hinzu: »Uebrigens hast du am Ende so unrecht nicht, und es hat keinen Sinn, der öffentlichen Meinung Trotz zu bieten, wo man es vermeiden kann – von morgen an soll Rosalie meine Frau begleiten.«
Talvanne schwieg, aber sein Gesicht erheiterte sich, und er atmete erleichtert auf. Als er aber abends wieder in die Rue Saint Dominique kam, empfing ihn Frau Rameau mit ungewohnter Kühle. Er drückte ihr sein Befremden darüber aus und sie sagte mit spöttischem Lächeln: »Sie haben allerdings alle Ursache, ein freundliches Gesicht von mir zu erwarten, es scheint, daß Sie in nettem Ton von mir sprechen, wenn Sie mit meinem Mann allein sind!«
»Ich weiß wahrhaftig nicht, was Sie damit sagen wollen!«
»Offenbar verdanke ich doch Ihren weisen Ratschlägen den Beschluß, daß ich nicht mehr ohne Duenna aus dem Haus gehen soll.«
»Ach! Darauf läuft es hinaus,« sagte Talvanne lachend.
»Ja, darauf! Sie sind ein mißtrauischer Mensch – Sie hätten einen schlechten Ehemann abgegeben.«
»Deshalb bin ich auch keiner geworden!«
»Und Sie halten die Ruhe und Sicherheit eines Gatten durch eine derartige Tugendwache für gesichert?«
»Wahrhaftig – nein! Ich halte dieselbe auch nur der äußeren Form wegen für nötig und habe sie nur im Hinblick darauf verlangt.«
»In meinem Fall ist der Schutz sehr hinfälliger Natur, denn Rosalie ginge für mich durchs Feuer und würde infolgedessen eher die ganze Welt verraten, als mich in Gefahr bringen.«
»Sie bedürfen auch keines andern Schutzes, als sich selbst.«
»Nun, da haben Sie sich hübsch herausgewunden, und dieser Schluß klingt wesentlich besser als der Anfang! Glauben Sie mir, den Frauen gegenüber ist Vertrauen die klügste Vorsichtsmaßregel.«
Rameaus Eintritt machte hier der Unterredung, von welcher Talvanne ein widerlicher Nachgeschmack zurückblieb, ein Ende. Er hatte Conchita erregt, gereizt und erbittert gefunden und hatte die Empfindung, daß sie vor einer inneren Krisis stehe. Die Leere, welche der Tod der Mutter in ihr Leben gerissen, war durch nichts ausgefüllt, und es war kein Kind da, dessen süßes Geplauder das unklare Sehnen und die gefährlichen Träumereien verscheucht, dessen liebkosendes Händchen alle Enttäuschungen hätte vergessen lassen und vor dessen klarem Blick alle Phantasiegebilde hätten verblassen und verschwinden müssen. Sie war allein, und zwischen ihr und dem Gatten hatte sich ein Abgrund aufgethan. So wenig Erfahrung er auch im Verkehr mit Frauen hatte, so lag dies alles doch klar vor Talvannes Blick und er, der eifrige, treue, ergebene Freund, sah die Ruhe des Mannes, dem er ohne Zaudern sein eignes Glück zum Opfer gebracht haben würde, von den ernstesten Gefahren bedroht.
Zum erstenmal im Leben war es ihm jetzt eine wahre Freude, Münzel bei Tisch im Hause der Freunde zu treffen oder ihn des Abends dort vorsprechen zu sehen. »Solange er Rameaus Blick auszuhalten vermag und ihm mit offener Stirn gegenübertritt, kann er sich nichts vorzuwerfen haben,« sagte der Arzt, den andern nach sich beurteilend. Hätte er dem Maler und Conchita ins Herz blicken können, so wäre es mit diesem Trost bald vorbei gewesen.
Seit er die junge Frau zu malen angefangen, war Münzel nicht mehr der alte. Sein trüber Sinn war einem heiteren Uebermut gewichen; er zeigte sich jugendlich, begeisterungsfähig und mitteilsam, und staunend lernte Conchita einen Menschen in ihm kennen, von dessen Vorhandensein sie all die Jahre nichts gewußt. An dem großen Malfenster sitzend, welches das Licht voll auf ihre Stirn fallen ließ, hörte sie dem Maler zu, wenn er ihr von seiner Kindheit erzählte, von den Seinigen, den Schwestern und dem alten Vater, der seinen wohlverdienten Ruhestand dazu nützte, Kantaten und Hymnen für fürstliche Geburtstage zu komponieren. Dann kamen seine Reisen nach Holland, Spanien und Italien aufs Tapet; er schilderte ihr, wie er vor irgend einem der Meisterwerke seiner Kunst im Museum zu Amsterdam oder im Palazzo Pitti ganze Tage in wahrer Verzückung hingebracht, oder er schwärmte von dem Zauber der Gondelfahrten in Venedig in lauwarmen Sommernächten unter sternbesätem Himmel, im Gefolge der mit Mandolinenspielern und Sängern besetzten Barken, die allerorten ihre Serenaden darbringen, und den langen Stunden gesammelter Betrachtung in der goldschimmernden Herrlichkeit der Markuskirche.
Wie wohl that ihm die gespannte Aufmerksamkeit der jungen Frau, wenn er ihr mit weicher Stimme in seinem etwas singenden Ton, leuchtenden Auges seine künstlerische Auffassung kirchlicher Pracht vortrug. An seiner Seite durchwandelte sie in Gedanken die hohen Marmorhallen im geheimnisvollen Helldunkel der bunten Kirchenfenster, sie fühlte, wie ein frischer Hauch vom hohen Gewölbe herab ihr die Stirn umfächelte, während sie den Blick staunend erhob zu den mächtigen Fresken; die ganze erhabene Poesie dieser jahrhundertealten Wunderwelt, die hervorgerufen und beherrscht war von dem einen großen Gottesgedanken, that sich vor ihr auf. Und ein unsägliches Hochgefühl war es für sie, von Seiten des Malers kein Wort des Hohnes, kein Rütteln an dem, was ihr heilig, gewärtigen zu müssen. Er dachte wie sie, er verehrte, was sie ehrte, er glaubte, er betete wie sie; mit ihm stand sie in seelischer Gemeinschaft. Die etwas phrasenhafte und zuweilen naive Frömmigkeit entzückten sie, im Geiste stellte sie diese bezaubernde Unbefangenheit und Kindlichkeit neben Rameaus herbe Weisheit, und die wissenschaftliche Klarheit und Genauigkeit des einen erschien ihr neben dem romantischen Sinn des andern doppelt abschreckend.
Münzel hatte, wenn er Conchita sein Herz und seinen Geist erschloß, wie er sie einst Rameau erschlossen, keine Hintergedanken dabei; er fragte sich nicht, welche Empfindung ihn dazu antrieb. Hätte er sich selbst das Geständnis ablegen müssen, daß er die Frau seines Freundes liebe und daß er unbewußt daran arbeite, ihre Gegenliebe zu erringen, so würde er sich mit Schauder von seinem eignen Ich abgewendet haben. Auf der schiefen Ebene, die er schon betreten, bewegte er sich verbundenen Auges, von schönen Redensarten berauscht, in Gefühlen schwelgend und ohne zu gewahren und zu bedenken, daß alles, was er sagte, in Conchitas Herzen Widerhall fand. Seit lange schon hatte er sich verletzt gefühlt durch den entschiedenen Vorzug, den sie Talvanne einräumte; von Anfang an hatte er immer aufs neue versucht, sich in Gunst zu setzen, und immer war es vergeblich gewesen; jetzt, da er sein Ziel erreicht fühlte, wollte er es sich zu nutze machen. Hätte jemand ihm zugerufen: »Du machst dieser Frau ganz regelrecht den Hof,« so wäre er wohl aus den Wolken gefallen, hätte dann aber vielleicht doch Einkehr in sich gehalten und, von der Warnung erschreckt, sich Rechenschaft gegeben über das, was im Grunde seines Wesens vor sich ging. Leider aber unterblieb dieser Mahnruf. Talvanne vermied ihn geflissentlich, Rameau hielt an seinem unerschütterlichen Vertrauen fest und Conchita war zu wenig mitteilsam und lebhaft, als daß er durch ein Aufgeben ihrer kühlen Zurückhaltung zur Erkenntnis der Gefahr gekommen wäre.
Nichts in ihrem Wesen verriet die Umwandlung, die sich in ihr vollzog, und das erwachende Gefühlsleben kam in keiner Weise zum Ausdruck. Sie hörte gern zu und sprach wenig, und das ernste Gesichtchen und der ruhige Blick deuteten keinerlei innere Erregung an, ja selbst wenn Münzels Erzählungen sie ganz und gar hinrissen, so legte sie nicht mehr als freundlichen, wohlwollenden Anteil an den Tag. Für den Künstler, der an ihre vollständige Gleichgültigkeit gewöhnt war, lag freilich auch darin schon ein großer Triumph, aber wie weit war er nicht entfernt, auch nur zu ahnen, welche Fortschritte er im Herzen seines Modells gemacht!
So verbrachten sie die Tage eins an der Seite des andern, plauderten von äußeren Dingen, die mit dem, was ihre Herzen erfüllte, nichts zu thun hatten, führten Gespräche, in denen das Wort, um das es sich handelte, auch nicht ein einziges Mal vorkam, und standen doch beide unter dem Banne einer geheimnisvollen Erregung, die sie sich nicht zugestehen, nicht klar machen wollten. Es war, als ob sie die weiseste Ueberlegung daran setzten, sich so lang als möglich in dieser geflissentlichen Unkenntnis ihres Geisteszustandes zu erhalten, und als ob sie, die sich ohne Worte verstanden, einen großen Genuß darin fänden, den Augenblick, in dem sie sich der Wahrheit bewußt werden müßten, hinauszuschieben und zu verzögern. Früher oder später freilich mußte die Stunde kommen, die ihnen Klarheit gab, aber möglich war es immerhin, daß der Lichtstrahl, der das dunkle Rätsel ihrer Herzen erhellen sollte, zu einer Zeit kam, wo es äußerlich für sie zu spät war.
Im tiefen Wirrsal dieser seelischen Verwickelungen schritt die mechanische Arbeit ungehemmt vorwärts und das Bild nahte mit Riesenschritten seiner Vollendung. Je mehr aber das Werk gewann, und es wurde in der That hervorragend schön, desto schweigsamer wurde seltsamerweise der Meister, und von Tag zu Tag verfinsterte sich seine Stirn mehr, gleich als ob die Beendigung seiner Arbeit ihm als ein drohendes Mißgeschick erscheine. Conchita, der diese Wandlung in seiner Stimmung keineswegs entging und die in erster Linie darunter zu leiden hatte, denn Münzels fröhliches Aussichherausgehen und seine liebenswürdige Plauderhaftigkeit machten allmählich einer trübseligen Einsilbigkeit und Bitterkeit platz, beklagte sich doch keineswegs darüber, sondern schien im Gegenteil eher eine gewisse Befriedigung darüber zu empfinden. Sie selbst legte eine Ruhe und Heiterkeit an den Tag, die den Maler vollständig außer sich brachte, sobald er aber seine Gereiztheit verriet, lachte sie, neckte ihn und that ihr Möglichstes, ihn ganz aus der Fassung zu bringen. Er hüllte sich dann in den meisten Fällen in eigensinniges Schweigen und die Sitzung verlief stumm und düster, oder aber er fing mit unnatürlich gesteigertem Feuer, als ob er sich des Uebermaßes von Gedanken nach außen hin entledigen wollte, zu sprechen an und Conchita vergaß des Spottes im Ergriffen- und Gefesseltsein von dem, was er vortrug, noch mehr aber von der Erregung, dem Tonfall und der Stimme, womit es vorgetragen wurde.
Nur noch wenige Sitzungen sollten stattfinden. Als sie heute gekommen war, hatte sie Münzel noch verstimmter als sonst gefunden. Auch sie fühlte sich matt und doch innerlich ruhelos; ihre schwachen Versuche, des Malers üble Laune zu verscheuchen, waren erfolglos geblieben, auch wurde ihr selbst das Sprechen schwer und nur mühsam fand sie die Worte zusammen. Eine große Dumpfheit lastete auf ihr und sie mußte sich Gewalt anthun, um nicht völlig in Schweigen zu versinken. Franz an seiner Staffelei war äußerst wortkarg und arbeitete eifrig, ohne doch mit den Gedanken recht dabei zu sein.
»Das Bild scheint mir schon sehr weit gediehen zu sein,« bemerkte die junge Frau nach längerem Schweigen aufs Geratewohl. »Wird es bald fertig?«
Ein vorwurfsvoller Blick des Künstlers traf sie und er sagte bitter: »O ja, Ihre Qual wird nicht mehr lange währen . . . ich werde heute damit zu Ende kommen . . . Eigentlich hätte ich schon seit ein paar Tagen die Natur entbehren können, aber ich war selbstsüchtig genug, Sie trotzdem herzubemühen. Sie sehen, ich bin wenigstens ehrlich! Sind Sie mir böse darum?«
»Nein,« erwiderte sie und schüttelte das reizende braune Köpfchen.
Dann stand sie auf und trat hinter den Stuhl des Malers. »Nein, denn diese Sitzungen werden mir eigentlich fehlen . . . ich habe mich so daran gewöhnt, meinen halben Tag hier zuzubringen . . .«
Er drehte sich nicht um, aber sie sah, daß er ganz bleich wurde und daß die Palette, auf die er sich tief hinabbeugte, in seiner Hand zitterte.
In der Angst, daß er etwas und was er sagen würde, fuhr sie hastig fort: »Auch meine alte Rosalie, die immer mit ihrem Strickzeug draußen bei Ihrem Diener sitzt, meinte heute: ›Ach, Frau Doktor, was werden wir nur von jetzt an des Nachmittags anstellen?‹ Sie sehen daraus, wie sehr Gemaltwerden ins Leben eingreift!«
Sie lachte erzwungen. Er ließ ihr Zeit, ihre Heiterkeit zu erschöpfen, blieb aber sehr ernst.
»Sie sprechen von sich,« begann er langsam, »was soll ich dann erst von mir sagen? Dieser trauliche Verkehr, der mich beseligte, wird aufhören; nachdem ich Sie ganz für mich gehabt, werde ich Sie hergeben müssen und Sie nie mehr als die wiederfinden, die Sie während dieser, ach! so kurzen Wochen gewesen. Ehe ich Sie hier bei mir gesehen, kannte ich Sie nicht. Sie hatten sich mir gegenüber allezeit streng und herb, wo nicht feindlich gezeigt, und die Anmut und Herzlichkeit Ihres Wesens hatte ich nicht geahnt . . . Diese flüchtigen, so rasch entschwundenen Tage werden die schönsten meines Lebens gewesen sein . . . wie viel Glück und Herzensfreude sie mir gebracht, wird nie jemand wissen oder verstehen – aber es ist vorüber! Sie werden nicht mehr kommen; meine Werkstatt, der Ihre Gegenwart Licht und Leben gab, wird wieder einsam und traurig sein; erst werden Sie wegbleiben, dann wird Ihr Bild Ihnen nachziehen, und ich behalte von all dem Glück nichts als eine Erinnerung! . . .«
Die weiche, ein wenig dünne Stimme, deren Zauber die junge Frau diesen ganzen langen Monat umsponnen gehalten, brach wie schluchzend ab, und unwillkürlich legte Conchita ihre Hand tröstend und beruhigend auf die Schulter des Malers – er sollte fühlen, daß sie mit ihm litt. Er wandte sich nicht um. Mit leichtem, zartem Pinselstrich gab er der anmutigen Gestalt, die vor ihm auf der Leinwand stand, einen Büschel jener deutschen »Blaublümelein«, wie er sie schon auf dem Schrein von Frau Etchevarrays Bild hatte anbringen lassen, in die Hand, und die sentimentale Blume, die so gut zu Franz Münzels ganzem Wesen paßte, schien Conchita zu sagen: »Jetzt wirst du mich immer vor Augen haben, und wirst auch den nicht vergessen können, dessen einziges Begehr es ist, in deinem Gedächtnis fortzuleben.«
Ein plötzliches Rühren schwellte das Herz der jungen Frau, Thränen, die sie selbst nicht verstand und die sie nicht zurückhalten konnte, strömten über ihre Wangen und sanken heiß herab auf den Arm des Malers. Er wandte sich hastig um und beider Blicke senkten sich so glühend ineinander, als ob sie sich nie wieder lassen könnten. Dumpfes Schweigen herrschte rings. Kein Laut aus den Nebenräumen, kein Flüstern, kein Schritt, nichts, was sie hätte gemahnen können, daß sie nicht allein miteinander auf der Welt, und daß sie mit Pflicht, Recht und Sitte der Menschheit sich abzufinden hätten, daß ein Freund, ein Gatte vorhanden, der ihrer Treue, ihrer Anhänglichkeit vertraute, und den zu verraten ehrlos war. Jedes von ihnen sah nichts als die Glut, die im Auge des andern loderte, als den Kuß, der auf beider Lippen bebte, als die Liebe, die unwiderstehlich und siegreich ihr ganzes Sein und Wollen umschloß.
Schon that sich Franz' Mund auf, um es auszusprechen, das Wort, das sich nicht zurücknehmen, nicht auslöschen läßt: »Ich liebe dich!« – aber noch hielt eine innere Gewalt ihn zurück. In aller Verwirrung der Sinne fühlte er, wie sein Herz sich bang zusammenpreßte in der unklaren Empfindung, daß er an der Schwelle des Verbrechens stehe, sein schwankendes Ehrbewußtsein empörte sich noch einmal, und wie um sich dem Minnezauber zu entziehen, stand er hastig auf. Er blickte auf die junge Frau, die blaß und bebend wie er selbst dastand, und stammelte: »Wir sind Wahnsinnige!«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn und ging zum Fenster, das er mit Ungestüm aufriß, um das süße betäubende Gift, das ihm die Gedanken benahm und den Kopf schwindeln machte, den Winden preiszugeben. Er beugte sich weit hinaus und kühlte seine glühende Stirn in dem kühlen Hauch, der aus den nach hinten gelegenen friedlichen Gärten herüberströmte. Wie von einer unwiderstehlichen Macht nachgezogen, gesellte sich Conchita auch hier zu ihm und stützte sich neben ihm auf das Fenstergesims. Durchdringender Erdgeruch, von der ersten heißen Frühlingssonne dem Boden entlockt, drang zu ihnen herauf; der Rasen keimte, die Knospen an den Bäumen strotzten von Saft, die Vögel verfolgten sich flügelschlagend von Ast zu Ast, eine geheime Glut durchbebte die ganze Natur, und alles um sie her atmete Liebe. Franz wollte sich abwenden und die Flucht ergreifen, da fiel sein Blick auf die junge Frau, die mit ungewissem, verschwommenem Blick und durstigen Lippen ins Weite starrte, einer Blume gleich, die verschmachtend das Köpfchen neigt. Da stockte ihm der Atem, seine Kehle schnürte sich zu, ein verzehrendes Feuer durchglühte seine Brust, er glaubte den feurigen Sonnenball herabsinken und ihm die Augen versengen zu fühlen; wortlos umfing er den süßen Leib, der sich ihm willenlos hingab, und alles war vergessen und versunken in Liebesseligkeit.
Von dieser Stunde an kam es nicht mehr vor, daß Talvanne den Maler in der Rue St. Dominique begegnete, und die Besorgnis des Arztes steigerte sich mehr und mehr. Er beobachtete Conchita, aber ihre Mienen waren undurchdringlich. Die Frau besitzt die Fähigkeit, ihre Gefühle zu verbergen, im höchsten Grad; wo der Mann sich zehnmal verrät, erregt sie noch nicht den leisesten Verdacht. Aber der Maler hielt sich fern, und darin lag für den Psychiater das Bekenntnis einer Schuld, der er unermüdlich nachspürte, und vor deren Entdeckung ihm graute. Rameau schenkte natürlich den Gründen, womit Münzel sein Ausbleiben entschuldigte, harmlos Glauben, und tobte und wetterte darüber, daß er auf seine Gesellschaft verzichten solle. Als er eines Tages etwas vor Beginn der Sitzung in die medizinische Akademie kam, ging er auf Talvanne zu, setzte sich neben ihn und sagte: »Wenn die Geschichte hier zu Ende ist, gehe ich zu Franz ins Atelier, um das Porträt anzusehen. Willst du mitkommen?«
Talvanne schnitt ein Gesicht und gab keine Antwort.
»Weißt du, daß du ein unausstehlicher Geselle bist?« fuhr der Doktor fort. »Und wär's auch nur meiner Frau zuliebe, so könntest du dich wohl zu etwas mehr Artigkeit aufschwingen. Für sie ist die Vollendung des Bildes ein Ereignis, und du kümmerst dich ganz und gar nicht darum . . . das muß ihr auffallen.«
»Gut, gut! Ich gehe mit!«
»So ist's recht!«
Als Rameau nach der Sitzung die Treppe hinabstieg, trat ihm einer der Kollegen in den Weg, nahm ihn in Beschlag und schleppte ihn abseits in eine Fensterbrüstung. Das Gespräch zog sich in die Länge, Talvanne ging, den Freund erwartend, in der Galerie auf und ab. Nach einiger Zeit aber kam Rameau mit ernster Miene zu ihm herüber und sagte: »Ich kann nicht mit dir gehen . . . Boneuil hat mich eingefangen und ich werde ihn wohl oder übel zu einem Kranken begleiten müssen . . .«
»Eine schwere Operation?«
»Sehr schwer, und allein will er sie nicht wagen . . . Thue mir den Gefallen und gehe jetzt ohne mich zu Franz und sage Conchita, daß sie nicht auf mich warten solle, auch nicht mit dem Essen, falls ich nicht zur bestimmten Stunde daheim bin.«
»Schön, werd's bestellen.«
Rameau drückte dem Freunde die Hand und verließ mit seinem Kollegen das Gebäude. Hinter ihm stieg Talvanne die Treppe hinab und schlug sofort die Richtung nach Münzels Atelier ein. Unterwegs ging ihm allerlei durch den Sinn; er ließ die verschiedenen Schattierungen, welche sein Freundesverhältnis zu dem Maler getragen hatte, an sich vorüberziehen und erinnerte sich, daß er zu keiner Zeit jenes unwillkürliche Gefühl des Mißtrauens gegen ihn ganz überwunden hatte, obwohl bis heute nichts geschehen war, dasselbe zu rechtfertigen.
»Von vornherein lag es an seinem Schädel,« brummte er zwischen den Zähnen, »ein Brachykephale, mit allen Protuberanzen der Selbstsucht, allen Anlagen zum Verheimlichen, der konnte mir kein Vertrauen einflößen . . . Er hat etwas vom Kuckuck, dem Faulenzer und Dieb unter den Vögeln, der seine Eier in fremde Nester legt. Habe es Rameau oft genug gesagt, aber er wollte ja nicht sehen. Offenbar hat diese Menschensorte eine gewisse Anziehungskraft, sie gefällt, man hat sie lieb . . . Ich mußte mir tüchtig Mühe geben, um mich den Leuten auch nur erträglich zu machen, und Zeit genug hat's gekostet! Es ist ja wahr, ich bin ein Mesokephale, so ein Mittelmensch von der Sorte, die ziemlich viel inneres Gleichgewicht mit Anlage zum kritischen Denken hat, und von Mystizismus keine Spur!«
In diesem Selbstgespräch war er vor Münzels Haus angelangt. Franz bewohnte jetzt nicht mehr einen fünften Stock in irgend einer Mietkaserne, wo es von Malern wimmelt, sondern eine kleine Villa, durch einen Hof von der Straße getrennt, nach hinten mit einem hübschen Garten. Das Erdgeschoß enthielt eine schöne Vorhalle, den Salon, Speisezimmer und ein beruflichen Zwecken dienendes Empfangszimmer; im ersten Stock, zu dem eine künstlerisch geschnitzte Treppe hinaufführte, befand sich das sehr geräumige Atelier, ein kleines Wohn- und Münzels Schlafzimmer. Rosalie, welche sich während der zwei Stunden, die sie auf ihre Dame warten mußte, gern im Haus nützlich machte, öffnete die Hausthür, und ein freudiges Lächeln erhellte ihr runzeliges Gesicht, als sie Talvanne erkannte.
»Ach! Der Herr Doktor!« sagte sie vertraulich. »Sie wollen natürlich das Bild sehen? Ich verstehe ja nichts davon, aber mir kommt's wunderschön vor . . . es fehlt nur gerade, daß sie den Mund aufmachen und sprechen würde! Wenn Sie wollen, werde ich Sie anmelden . . .«
»Danke, danke! Machen Sie sich keine Mühe . . . ich kenne den Weg . . .«
Die alte Dienerin ging wieder an ihre Arbeit und Talvanne stieg die hübsche Treppe nach dem ersten Stock hinauf. Als er das kleine Wohnzimmer betrat, drangen die Klänge des Flügels an sein Ohr.
»Ja, wenn auf diese Weise gemalt wird, nehmen die Sitzungen freilich kein Ende,« brummte er vor sich hin und schnitt eine Grimasse.
Unwillkürlich blieb er stehen und lauschte; es war ein ansprechendes Lied von Mendelssohn, das Münzel spielte und sang. Die Worte waren nicht deutlich zu verstehen, der Ausdruck war weich und schmachtend. Er öffnete die Thür vollends und betrat den kleinen Raum, dessen dicht verhängte Fenster nur ein schwaches, gedämpftes Licht hereinließen, ein dicker Teppich machte den Schritt unhörbar. In dem dämmerigen Zimmer blieb Talvanne wieder einen Augenblick stehen – zart und innig schmiegte sich die Melodie den nun deutlich vernehmbaren Textesworten an:
Sag' ihm, aber sag's bescheiden,
Seine Liebe sei mein Leben!«
Plötzlich ein Mißton, als ob beim letzten Akkord die Hand nur so zufällig auf die Tasten gesunken wäre, die Musik verstummte, und durch den schweigenden Raum drang das leise Geräusch eines Kusses. Talvanne fühlte das Blut in seinen Adern erstarren, kreideweiß stürzte er hastig vorwärts, und den schweren Vorhang aufhebend, welcher an der Verbindungsthür von Wohnzimmer und Atelier hing, erblickte er am Klavier Franz und Conchita, die sich eng umfangen hielten; der Kuß, den er gehört, hielt ihre Lippen noch verbunden. Im selben Augenblick fragte Conchitas Stimme: »Was ist denn?« und Münzel erwiderte: »Es kommt jemand!« Erschrocken, wie wenn er selbst der Missethäter wäre, ließ Talvanne die Portiere sinken, entfloh durch den Salon und hielt erst an der Treppe wieder inne, weil er sich, um nicht umzufallen, ans Geländer anklammern mußte.
Kaum hatte er diesen Rückzug bewerkstelligt, als Münzel ihm nachgeeilt kam und, ihn erkennend, mit gemachter Freude ausrief: »Ach, Sie sind es, lieber Freund!«
Eine Sekunde lang standen sich die beiden Männer regungslos gegenüber, die Augen fest aufeinander geheftet, dann senkte der Maler den Blick und nötigte Talvanne, ihm voran, wieder ins Zimmer zu treten.
»Es ist Talvanne, Frau Rameau.«
Der Arzt betrat das Atelier, wo Conchita, mit dem Rücken gegen das Licht neben der Staffelei stehend, ihn erwartete. Prüfend überflog sie die verstörten Züge des Freundes und streckte ihm dann gelassen und nachlässig die Hand hin, die er nicht ergriff.
»Ich komme im Auftrag Ihres Mannes,« sagte er, noch kaum Herr seiner Erregung, »Ihnen zu sagen, daß er Sie nicht abholen kann und Sie bitten läßt, ohne ihn nach Hause zu gehen.«
»Gut,« sagte Conchita mit größter Ruhe.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Bild zu, das in ungemein günstiger Beleuchtung vor dem Beschauer stand.
»Wie finden Sie es?« fragte sie.
Die Stirn des Arztes zog sich finster zusammen, seine Züge verzerrten sich förmlich, und ohne auch nur einen Blick auf die Leinwand zu werfen, erwiderte er: »Bewunderungswürdig!«
Dann heftete sich sein Auge in wilder Drohung auf den Maler, der seine ganze Kraft aufbot, um diesem Blick standzuhalten. Ton und Haltung Talvannes waren der jungen Frau nicht entgangen; sie wußte, daß, wenn sie jetzt ging und die beiden Männer miteinander allein ließ, das Schlimmste zu befürchten war.
»Da mein Mann mich wie gewöhnlich im Stich läßt,« sagte sie mit einem Lachen, das sehr erkünstelt klang, »so begleiten Sie mich wohl nach Hause, Talvanne?«
»Sie bedürfen meiner nicht,« versetzte der Doktor in dumpfem Ton. »Rosalie wartet ja auf Sie.«
»Rosalie wird nach Hause geschickt und Sie kommen in meinem Wagen mit mir!«
»Entschuldigen Sie mich, eine frühere Verabredung . . .«
»Wird nicht eingehalten,« erklärte sie und setzte, um ihm jeden weiteren Widerspruch abzuschneiden, gebieterisch hinzu: »Ich will es so haben!«
Er neigte zustimmend den Kopf und schweigend, ohne sich von Münzel auch nur mit einer Handbewegung zu verabschieden, folgte er ihr in den kleinen Salon. Sie nahm Mantel und Hut, und nachdem sie in einem fieberischen Händedruck alles zusammengefaßt, was sie Franz kundthun wollte und nicht in Worte zu kleiden wagte, ging sie. Talvanne hielt die Thür des Coupés in der Hand, sie stieg ein, ließ ihn neben sich Platz nehmen, rief dem Kutscher zu: »Nach Hause!« und der Wagen rollte davon. Schweigend saßen Talvanne und Conchita nebeneinander, jedes beobachtete das andre und jedes zögerte, das erste Wort zu sprechen, welches ja mit Notwendigkeit zu einer furchtbaren Auseinandersetzung führen mußte. Die Frau war es, welche zuerst die Geduld verlor und vermessener Hand die Umhüllung von dem Geschehenen abriß. Flammenden Blickes mit scharfer, harter Stimme warf sie die Worte hin: »Sie haben Ihrem Freunde soeben ein sonderbares Gesicht gezeigt.«
»Verzeihung, Frau Rameau,« fiel ihr der Arzt mit gewaltsam unterdrückter Heftigkeit, die sich aber dennoch Bahn brach, ins Wort, »der Mensch, von dem Sie da sprechen, ist Gott sei Dank niemals mein Freund gewesen! . . . Ich habe mich nie von ihm täuschen lassen. Vom ersten Tag an war er mir im Innersten zuwider und diese Empfindung schwankte nie und war keinem Wechsel unterworfen . . . Ein Ehrloser, ein Feigling und ein Lügner, so habe ich ihn von der ersten Stunde an beurteilt! Nein, nein! Mein Freund ist er nicht, wohl aber der Ihres Gatten!«
Der zwischen Schmerz und Vorwurf schwankende Ton, womit er die letzten Worte gesprochen, ließ Conchita erbeben; ihr Gesicht war wie mit Blut übergossen und ein heftiges Zucken durchlief ihren Körper.
»Talvanne,« rief sie, »welch schrecklichen Verdacht haben Sie denn?«
»Ich habe keinen Verdacht,« versetzte er, »ich habe die Gewißheit. Als ich heute sein Atelier betrat, habe ich Sie in den Armen des Elenden überrascht . . . Es zerreißt mir das Herz, solch grauenvolle Anklage erheben zu müssen gegen Sie, Sie, für die mein Herz voll Liebe, Ehrfurcht und treuer Ergebenheit gewesen. Sie konnten den Mann, der Sie vergöttert, den Mann, der an Geist und Herz so groß ist, einem Münzel opfern! Was nützt es denn, alle zu überragen, ein Genie zu sein, die Bewunderung der ganzen Welt zu genießen, wenn der erste beste Farbenkleckser mit schmachtenden Blicken und hohlem, sentimentalem Geschwätz unsre Ehre stehlen und uns dessen berauben kann, was unsres Daseins reinste Freude ist? Ach! Was Sie da thaten, ist schlecht! schlecht! Wie haben wir Sie lieb gehabt! Wie standen Sie im Mittelpunkt unsres Denkens, wie war, Sie zu erfreuen, Sie glücklich zu machen, unsre erste, vornehmste Sorge! . . . Und das alles verraten und hingeworfen in einem Augenblick, aufgeopfert und wofür? Wofür? Das frage ich Sie! Ach! Sie haben unrecht und undankbar gehandelt und ich werde Ihnen das nie und nimmer verzeihen!«
Mehr und mehr war die Rührung über ihn gekommen und sein Zorn löste sich in Thränen, die Conchita mehr zu Herzen gingen als seine Heftigkeit. Sie wagte nicht zu sprechen; sie sah ihn nur an, wie er neben ihr saß, das Gesicht in Thränen gebadet, mit zuckenden Lippen, widerstandslos seinem tiefen Schmerz preisgegeben. Er trocknete sich die Augen, er zwang sich mit Gewalt zu einem ruhigeren Ton.
»Und dabei welche Unvorsichtigkeit! Sich der Gefahr aussetzen, von dem ersten besten Besucher oder jemand von der Dienerschaft auf solche Weise überrascht zu werden! . . . Wenn ich mir vorstelle, daß es ein reiner Zufall, ein gottgesegneter Zufall war, daß Ihr Mann nicht mit mir hinkam . . . Wenn er Sie so gefunden hätte! . . . Wissen Sie denn, daß er der Mann gewesen wäre, euch beide auf der Stelle zu töten?«
»Das weiß ich,« sagte sie ganz leise.
Er wandte ihr das Gesicht zu und fuhr etwas milder fort: »Kommen Sie, mein theures Kind, lassen Sie mich zu Ihrem Herzen reden und leihen Sie mir ein offenes Ohr. Es ist ja ganz unmöglich, daß Sie so schuldig sein sollen, wie der Schein mich glauben machen könnte. Sie haben sich hinreißen lassen, haben einer überschwenglichen Regung Raum gegeben, im Grunde aber sind Sie noch die gute, brave Frau, die Sie waren und die Sie wieder sein werden, sobald Sie zur Besinnung gekommen sind, sich gefaßt haben . . . Bedenken Sie doch, Conchita, was Sie in Ihrem Wahn aufgeben und preisgeben, worauf Sie verzichten und welche armselige Entschädigung Ihnen dafür wird! Denken Sie an sich selbst, an Ihren Gatten . . .«
Unter den finster zusammengezogenen Brauen Conchitas schoß ein wilder, schlimmer Blick hervor, der Ausdruck namenlosen Hasses trat auf ihre Züge, die Zähne gruben sich tief in ihre Unterlippe und ihre feinen Nasenflügel zitterten vor innerer Erregung.
»Mein Gatte!« stieß sie heiser hervor. »Mein Gatte ist es ja, der die Schuld trägt! Sein ist das Verbrechen! Er hat mich ins Verderben geführt! Er hat Rechenschaft abzulegen für meinen Fall!«
»Er! Er!« rief Talvanne außer sich. »Herr Gott im Himmel, was Sie da sagen, ist ruchlos, ist ungeheuerlich!«
»Und ist wahr! Und wenn er jetzt an meiner Seite wäre, hier, an Ihrer Stelle, ich würde es ihm ins Gesicht schleudern und er müßte mir die Antwort schuldig bleiben. Woher hat er das Recht, es ein Verbrechen zu nennen, wenn man dem Rausch der Sinne gehorcht, er, der nur an die Materie glaubt? Nur der Instinkt beherrscht, seiner Ueberzeugung nach, den Menschen, den nichts von der Bestie unterscheidet. Weshalb also sollte ich mir Zwang auferlegen? Aus Pflichtgefühl? Aber das Pflichtgefühl ist Sache des Gewissens und zum Gewissen gehört die Seele, und, Sie wissen's ja, daß er sagt, wir hätten keine! Ach, noch klingt mir sein Hohnlachen im Ohr, mit dem er mich heimschickte, als ich, mit meinem kleinen Kopf voll Aberglauben, wie er sich ausdrückte, den Versuch machte, meine Religion zu verteidigen! Sie sind Zeuge dieser Auftritte gewesen, Sie haben meine Partei ergriffen und haben auch nichts andres erreicht, als von seiner hoffärtigen Weltweisheit gerüffelt zu werden. In frevelhaftem Leichtsinn hat er alle Schranken, die mich hätten zurückhalten können, mit eigner Hand niedergerissen! Die Gebote meines Gottes lehrten mich Treue und Ehrfurcht: er sagte mir, daß kein Gott sei und der Himmel leer. Von Kindheit an hat mir die Mutter gesagt, daß man gut und ehrlich und brav sein müsse hienieden, um in der Ewigkeit Lohn dafür zu empfangen: er hat mir bewiesen, daß nichts von uns übrigbleibt nach dem Tod. Und was gab er mir an Stelle dieses tröstlichen Glaubens, dieser heilsamen Furcht? Allgemeine Moralsätze, die wandelbar sind, weil dem Wandel unterworfene Geister sie ersonnen, hinfällig, weil menschlichen Ursprungs: und da geraten Sie in Empörung, wenn ich Ihnen sage, daß er die Schuld trägt an allem, was geschehen, weil ich ihn verantwortlich mache für mein Vergehen? Ja, ich wiederhole es laut und halte daran fest, daß wenn ein Verbrechen geschah, er der Missethäter ist und in meinen Augen ein um so ruchloserer, weil ich weiß, daß ich treu und ergeben hätte sein können, ihn hätte lieben können von ganzer Seele! Er hat alles gethan, mich abtrünnig zu machen, und darin liegt meines Elends tiefstes Maß.«
»Aber er hat Sie geliebt, er liebt Sie bis zur Raserei,« rief Talvanne, der von diesen Bekenntnissen namenlos erschüttert war.
»Er liebt mich, o ja! Aber sehen wir uns diese Liebe einmal näher an!« erwiderte Conchita leidenschaftlich. »Was hat er denn an mir geliebt? Meine Schönheit! Was hat er in mir gesucht als die äußerlichen Reize; nach meinem Besitz trug er Verlangen, weil ich jung war und schön! Die Leidenschaft des Materialisten galt der Materie und niedrig, abstoßend, beleidigend war seine Glut. Er hat mich zur Dirne erniedrigt, zu einer Dirne, die er in den Arm nahm, wenn sein Blut danach verlangte. Wonach meine Seele sich sehnte, was mein Herz erträumte, daran wollte er keinen Teil haben, alles Ideale wies er von sich. Er brauchte ein Weib, wie er eine Mahlzeit braucht, nicht mehr und nicht weniger, und so nahm er mich. Nun, und mich hat das empört, mich hat es angewidert, und deshalb sage ich noch einmal und nicht als leeres Gerede, sondern fest und bestimmt, nicht um mich rein zu waschen, sondern um ihn zu verklagen: sein ist die Schuld!«
Ein Augenblick des Schweigens trat ein. Der Wagen fuhr seines Weges, aber keines von ihnen achtete darauf, wo sie sich befanden; was zwischen ihnen vorging, was eins dem andern zu sagen hatte, nahm ihr ganzes Denken gefangen, Talvanne war namenlos erschrocken über das, was er vernommen; so wild hatte er sich die Gärung nicht gedacht, solche Bitterkeit hatte er in dieser Frauenseele nicht vorausgesetzt. Er fühlte ja wohl, daß all die Theorieen, die sie vorbrachte, leicht umzustoßen waren, aber er gab sich auch Rechenschaft von den Verheerungen, die Rameaus Denkart im Geiste des jungen Weibes angerichtet hatte, und seine klare Vernunft bäumte sich dagegen auf, nicht leugnen zu können, daß der Mann, dessen Recht so festgegründet und sonnenklar war, all die Unklugheiten und all die Mißgriffe, welche das Unheil herbeigeführt, wirklich begangen hatte.
Wie oft hatte er selbst ihm nicht entgegengehalten, daß der Materialismus auf die Sittlichkeit der Frau zerstörend wirken müsse. Sobald das Dasein des Menschen in die kurze Spanne zwischen Geburt und Tod beschränkt, sobald nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten war von einem Jenseits, hatte das Leben keinen andern Zweck mehr als das Vergnügen, und »Genießen« hieß die Losung. Von Pflicht, von Selbstüberwindung konnte nicht mehr die Rede sein: alles, was nicht auf der Stelle und handgreiflich Genuß bot, war ein leerer Wahn, und damit gelangte man in kürzester Frist zu einer vollständigen Verneinung aller sittlichen Pflichten, zu jener liebenswürdigen Milde, die im Ehebruch nichts sieht, als die naturgemäße Befriedigung eines sinnlichen Bedürfnisses.
Die junge Frau entriß ihn diesen Betrachtungen, indem sie weiter sprach: »Glauben Sie aber ja nicht, daß ich deshalb, weil ich meinen Gatten anklage, mich freispreche. Er hat nichts gethan, um mich durch ein unzerstörbares Band an ihn zu knüpfen, er hat den reinen Glauben meiner Jugend in mir zu vernichten versucht, aber es ist ihm nicht gelungen. Ich glaube an Gott, ich glaube an einen strengen und gerechten Richter, welcher Gesetze gibt und ihre Uebertretung bestraft. Vor ihm bin ich schuldig und ich empfinde diese Schuld als heiße Qual. Ich habe mich hinreißen lassen, weil nichts mich gegen die eigne Schwachheit schützte, aber ich fluche dieser Schwachheit und ich weiß, daß ich grausam dafür büßen werde.«
Bei diesen Worten atmete Talvanne freier.
»Und auf welche Weise gedenken Sie die Schuld zu sühnen?«
»Wird das Bewußtsein meiner Erniedrigung nicht Folterqual genug sein? Glauben Sie, daß ich meinen Mann so wild verklagen würde, mich nicht an der That verhindert zu haben, wenn ich diese That nicht bitter bereute? Und das ist noch nicht alles. Ich bin eine Gläubige geblieben und ich zittre bei dem Gedanken an die ewige Verdammnis –«
»Wenn Sie Ihre Schuld so aufrichtig bereuen, so werden Sie fest entschlossen sein, nicht wieder in dieselbe zu verfallen?«
Conchitas Züge drückten tiefste Niedergeschlagenheit aus; ihre Hände flogen in krampfhaftem Zittern.
»Was verlangen Sie denn von mir?«
»Daß Sie Münzel nie wieder sehen!« erwiderte er streng.
»Werde ich dazu die Kraft haben?«
»Sie müssen sie haben!«
»Und wenn Sie da mehr von mir fordern, als ich zu vollbringen vermag? Sie haben keine Ahnung davon, wie groß sein Einfluß auf mich ist, er hat sich meiner ganzen Seele bemächtigt, ich gehöre ihm innerlich im vollsten Sinne des Worts an. Meine Gedanken und seine Gedanken sind eins und mein Herz ist seinem Willen unterthan, wie der Sklave seinem Gebieter. Was er träumt, was er ersehnt und erstrebt, das träume ich, das ersehne ich, das erstrebe ich, ich bin nichts als ein Wiederhall seines Wesens. Wir haben denselben Geschmack, dieselben Neigungen, denselben Glauben, und wenn je ein Weib geboren wurde nur für den einen, einen Mann, so bin ich es für ihn. Seit ich ihn zum erstenmal gesehen habe, hatte ich das unklare Bewußtsein dieser Zusammengehörigkeit, und unwillkürlich habe ich mich dagegen zur Wehr gesetzt, mich von ihm abgewendet, mein Möglichstes gethan, ihn fernzuhalten, bis uns eine Gewalt, die unabhängig von meinem Wünschen und Wollen war, zusammengeführt hat und der Augenblick kam, da unsre Seelen sich erkannten und sich jauchzend vereinten. Ich habe alles verleugnet, jeden Eid gebrochen und vergessen. Ich war nicht mehr ich selbst, ich war er und ich sehe auch heute noch keine Möglichkeit, wie ich dem hätte widerstehen können. Wie können Sie von mir das Gelöbnis fordern, in Zukunft stärker zu sein?«
»Nehmen Sie sich in acht,« rief Talvanne, von diesem leidenschaftlichen Geständnis zur Verzweiflung gebracht, »wenn Sie die Kraft nicht haben, ihn zu vermeiden, so werde ich mir die Macht aneignen, ihn zu entfernen. Ich konnte mild mit Ihnen verfahren, weil ich Sie wahr und herzlich lieb habe, wie ein Vater sein Kind, aber Ihre Schuld verabscheue ich und die Fortdauer derselben zu dulden, hieße selbst Teil daran haben. Machen Sie sich keine Hoffnungen auf eine derartige Schwäche meinerseits. Ich habe Ihren Klagen Raum gegeben, deshalb aber keine Sekunde außer Auge gelassen, wie unendlich mehr Recht zur Klage Ihr Gatte hat. Ein Wort der Aufklärung an ihn, und die Lage wird fürchterlich. Zwingen Sie mich nicht zu diesem Aeußersten, lassen Sie mir die Möglichkeit, seine Ruhe heilig zu halten und die Ihre zu sichern und wiederherzustellen . . . Sobald ich Sie nach Haus gebracht, suche ich Münzel auf . . .«
»Das verbiete ich Ihnen, das dürfen Sie nicht!« rief Conchita mit funkelnden Augen. »Eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Ihnen darf nicht stattfinden . . . um einen derartigen Auftritt zu vermeiden, zwang ich Sie ja, mich zu begleiten . . .«
»Dann bleibt nur eins: er muß fort, und Sie selbst müssen ihn entfernen. Er ist nicht gebunden, eine Künstlerlaune, eine Studienreise kann Rameau gegenüber zum Vorwand genommen werden. Er darf nicht mehr in die Lage kommen, ihm ins Auge zu sehen. Rameau wird unter der Trennung leiden, denn er hat ihn sehr lieb! Die ewige Komödie der Menschheit! Gehen Sie auf diese Bedingungen ein?«
»Ich unterwerfe mich denselben.«
»Tragen Sie jedenfalls Sorge, daß dieser Aufbruch nicht allzu plötzlich und nicht ohne Vorbereitungen stattfinde. Damit Ihrem Manne jeglicher Verdacht erspart bleibe, gilt es, daß jeder von uns eine Rolle spielt und daß er sie gut spielt. Ihn zu schonen ist die Hauptsache; ein Mann wie er, der seinen Nebengeschöpfen so viel ist, darf nicht solch niedrigem, alltäglichem Unglück ausgesetzt sein, das seinen klaren Geist trüben könnte. Der Gatte ist geopfert worden, wahren wir wenigstens die Achtung vor dem Gelehrten.«
Conchita schüttelte ernst und traurig den Kopf.
»Nehmen Sie sich in acht, Talvanne, ihm anhängen, heißt in sein Verderben gehen. Der Atheist zieht Gottes Strafgericht herbei . . . wer um ihn ist, wird davon mit betroffen! Mir wird es die gerechte Züchtigung sein, aber für Sie . . .«
Der Arzt sah der jungen Frau aufmerksam ins Auge und sagte dann mit ruhigem, gelassenem Lächeln: »Komme, was kommen soll. Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich Rameau lieb wie einen Bruder, und glauben Sie mir, ich bin ein guter Katholik, aber ich versichere Sie, daß ich lieber mit ihm in der Hölle als mit einem, den ich jetzt nicht nennen will, im Paradiese wäre.«
Der Wagen bog in die Rue Saint Dominique ein, Talvanne stieg aus, bot der jungen Frau mit achtungsvoller Zärtlichkeit die Hand und beide traten ins Haus.